Kostbare Tage

Als die Ergebnisse aus dem Labor kamen, führte die Krankenschwester sie beide ins Untersuchungszimmer. Der Arzt, der eintrat, sah sie nur an und bat sie, Platz zu nehmen. An seinem Gesichtsausdruck war abzulesen, wie die Dinge standen.

Na los, sagte Dad Lewis, raus mit der Sprache.

Leider habe ich keine allzu guten Nachrichten für Sie, sagte der Arzt.

Als sie zurück zum Parkplatz gingen, war es später Nachmittag.

Fahr du, sagte Dad, ich will nicht.

Geht es dir so schlecht, Liebling?

Nicht schlechter als vorhin. Ich möchte nur die Aussicht genießen. Hierher werd ich wohl nicht mehr kommen.

Es macht mir nichts aus, zu fahren, sagte sie. Und wir können herkommen, wann immer du willst.

Sie ließen Denver hinter sich, dann die Berge, fuhren zurück auf die Hochebene: Salbeisträucher, Palmlilien, Moskito- und Büffelgras auf den Weiden, Weizen und Mais auf den bestellten Feldern. Von beiden Seiten des Highways gingen unter dem klaren blauen Himmel Landstraßen ab, alle gerade wie Zeilen in einem Buch, mit nur wenigen vereinzelten Kleinstädten auf dem flachen offenen Land.

Das zweistöckige Haus hatte ein rotes Schindeldach, war mit Holz verkleidet und umgeben von einem altmodischen schwarzen Schmiedeeisenzaun, dessen Tor mit Speerspitzen und Schnörkeln verziert war. Dahinter gab es noch eine alte rote Scheune, eine von hohem Unkraut überwucherte Koppel und jenseits davon nur offenes Land.

Er ging ins Haus, zog sich im Schlafzimmer im Erdgeschoss eine alte Hose und einen Pullover an und setzte sich dann auf einen Gartenstuhl auf der vorderen Veranda.

Sie kam zu ihm. Möchtest du jetzt zu Abend essen? Ich könnte dir ein Sandwich machen.

Nein. Ich möchte nichts. Aber vielleicht könntest du mir ein Bier bringen.

Du willst nichts essen?

Iss du ohne mich.

Nein.

Sie ging hinein und kehrte mit der eiskalten Flasche zurück.

Danke, sagte er.

Sie ging wieder hinein. Er trank aus der Flasche, saß da und schaute auf die Straße, ruhig und verlassen an diesem Sommerabend. Auf das gelbe Haus ihrer Nachbarin Berta May und die anderen Häuser dahinter bis hin zum Highway, auf das leere Grundstück direkt gegenüber und die Eisenbahngleise drei Blocks entfernt in die andere Richtung. Dieser ganze Teil der Stadt zwischen seinem Grundstück und den Gleisen war immer noch unbebaut. In den Bäumen vor dem Haus raschelten die Blätter leise im Wind.

Sie brachte ein Tablett mit Crackern, Käse, einem geviertelten Apfel und einem Glas Eistee. Magst du etwas davon? Sie hielt ihm das Tablett hin. Er nahm ein Stück Apfel, und sie setzte sich auf den Stuhl neben ihn.

Tja, das war’s dann, sagte er. So sieht es jetzt also aus, oder?

Vielleicht irrt er sich. Manchmal irren sie sich auch, sagte sie. So sicher ist das alles nicht.

Ich will so nicht denken. Sie haben recht, ich spüre es. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr.

Ach, das will ich nicht glauben.

Ja. Aber ich bin mir trotzdem ziemlich sicher, dass es so kommen wird.

Ich möchte nicht, dass du schon gehst, sagte sie, streckte die Hand aus und griff nach seiner. Das will ich nicht. Sie hatte Tränen in den Augen. Ich bin noch nicht so weit.

Ich rufe sie an.

Sag ihr, sie braucht nicht sofort zu kommen. Lass ihr ein bisschen Zeit.

Er betrachtete die Bierflasche, hielt sie sich vor die Augen und nahm einen kleinen Schluck.

Vielleicht sollte ich mir besseres Bier genehmigen, bevor es zu Ende geht. Ein Typ, mit dem ich mich neulich mal unterhalten habe, sagte was von belgischem Bier. Vielleicht probier ich das mal. Falls ich hier so was kriegen könnte.

Er saß auf der Veranda, trank und hielt die Hand seiner Frau. Er würde also sterben. Das war es, was sie gesagt hatten. Noch ehe der Sommer vorbei war, wäre er tot. Anfang September würde man draußen auf dem Friedhof, drei Meilen östlich von der Stadt, Erde über ihn schütten, auf das, was von ihm übrig war. Man würde seinen Namen auf einen Grabstein meißeln, und dann wäre es so, als hätte es ihn nie gegeben.

Um neun Uhr morgens saß er im Wohnzimmer in seinem Sessel neben dem Fenster und blickte hinaus zu dem dunklen Schatten unter dem Baum im Garten und dem schmiedeeisernen Zaun hinter dem Baum. Er war schon fertig mit seinem Frühstück. Er hatte keinen Hunger gehabt, aber trotzdem etwas gegessen, und jetzt sagte er sich, dass er nichts mehr essen würde, was er nicht wollte, und dass er den Zaun in diesem Leben nicht mehr streichen würde, und dann kam Mary herein.

Sie hatte eine Gießkanne in der Hand. Nachdem sie das Frühstücksgeschirr gespült, abgetrocknet und wieder in den Schrank gestellt hatte, war sie in den hinteren Teil des Gartens gegangen, um den Rasensprenger anzustellen, und jetzt wollte sie im Wohnzimmer die Pflanzen gießen. Es war ein klarer heißer Tag. Nicht eine einzige Wolke am Himmel. Doch als sie den Raum durchquerte, brach sie plötzlich auf dem Boden zusammen wie ein loser Haufen Wäsche. Dabei ließ sie die Gießkanne los. Das Wasser spritzte auf die Rosentapete, und auf der Wand bildete sich ein Fleck, der immer größer wurde.

Liebling, sagte Dad. Ist alles in Ordnung? Was ist los mit dir?

Sie rührte sich nicht. Antwortete nicht.

Er stand auf und beugte sich über sie. Ihre Augen waren geschlossen, das Gesicht verschwitzt und rot. Aber sie atmete.

Mary. Liebling.

Er kniete sich neben sie und legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie fühlte sich heiß an. Er zog sie an sich und schob einen Arm unter sie, um sie aufzusetzen und ans Sofa zu lehnen. Kannst du mich hören? Ich muss jemanden anrufen. Ich bin gleich wieder da. Sie regte sich nicht. Ist es okay, wenn ich dich kurz allein lasse? Ich bin sofort wieder da. Er rannte in die Küche und wählte den Notruf des Krankenhauses. Dann kehrte er zurück, kniete sich erneut hin, hielt sie in den Armen und sprach leise auf sie ein. Er küsste sie auf die Wange, strich ihr über das feuchte weiße Haar, streichelte ihren Arm und wartete. Kurz darauf hörte er draußen die Sirene, und dann verstummte sie, Menschen kamen über die Vorderveranda zur Haustür und klopf‌ten.

Kommen Sie rein, rief Dad. Allmächtiger! Was klopfen Sie? Kommen Sie rein.

Sie betraten das Haus, zwei Männer in weißen Hemden und schwarzen Hosen. Sie warfen einen Blick auf Dad und seine Frau auf dem Boden, knieten sich daneben und untersuchten sie. Was ist passiert?

Sie ist ohnmächtig geworden. Sie ist durchs Zimmer gegangen, und auf einmal fiel sie einfach hin.

Der Jüngere stand auf, ging zum Krankenwagen und kam mit einer Tragbahre zurück.

Könnten Sie bitte zur Seite rücken?

Was soll das?, sagte Dad. Was meinen Sie?

Doch, doch, mir geht es gut. Tun Sie, was Sie tun müssen, und beeilen Sie sich.

Sie hoben die weißhaarige alte Frau auf die fahrbare Trage und zogen die Gurte über Rumpf und Beinen fest. Dad stand auf und beobachtete sie. Dann berührte er sie sanft mit der Hand.

Passen Sie bloß auf, dass ihr nichts zustößt.

Ja, Sir, wir tun unser Bestes.

Das meine ich nicht. Ihr Bestes könnte nicht gut genug sein. Das ist meine Frau. Sie bedeutet mir alles auf der Welt.

Ich verstehe. Aber …

Nein. Keine Widerrede. Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Machen Sie schon. Dann beugte er sich zu ihr hinab, strich ihr über die Wange und küsste sie.

Die beiden Männer rollten sie auf der Bahre zum Krankenwagen. Einen Augenblick später hörte er, wie die Sirene vor dem Haus aufheulte und dann, als sie auf der Straße davonfuhren, leiser wurde.

Fast drei Tage lang blieb sie im Holt County Memorial Hospital am südlichen Ende der Main Street. Die Ärzte fanden nichts Schlimmes, nur, dass sie alt war, zu viel gearbeitet und sich verausgabt hatte, weil sie sich ganz allein um ihren Ehemann kümmerte.

Am Abend dieses ersten Tages, als es dämmerte, fühlte sie sich schon ein bisschen besser. Doch im Krankenhaus meinte man, sie bräuchte Bettruhe. Haben Sie denn niemanden, der zu Ihnen kommen könnte, um Ihnen zu helfen?, erkundigte sich die Krankenschwester.

Ich weiß nicht, sagte sie. Vielleicht. Aber ich mache mir Sorgen um meinen Mann. Er ist ganz allein.

Ihr Mann hat gesagt, er käme gut zurecht.

Wem hat er das gesagt?

Den Sanitätern. Sie haben ihn gefragt, und anscheinend hat er ihnen erklärt, es gehe ihm gut.

Nun, das stimmt aber nicht. Er würde niemandem sagen, wie es ihm wirklich geht, erst recht keinen Fremden.

Sie meinten, sie hätten den Eindruck, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen ist.

Nein, das stimmt nicht. Er hat nur seine eigenen Ansichten über alles. Er meint es nicht böse. Aber es geht ihm gar nicht gut. So ganz allein in dem Haus ohne mich.

Vielleicht. Sie sah sich im Raum um. Könnten Sie mir mal das Telefon von da drüben reichen?

Wollen Sie einen Nachbarn anrufen? Es ist ein bisschen spät, Mrs. Lewis.

Ich möchte mit Dad sprechen. Mit meinem Mann.

Aber Sie sollten jetzt mit niemandem mehr telefonieren. Sie dürfen sich nicht aufregen.

Würden Sie es mir bitte bringen, sagte sie. Ich möchte einen privaten Anruf machen.

Die Krankenschwester sah sie an, dann brachte sie das Telefon, stellte es auf den Nachttisch und verließ das Zimmer. Es dauerte lange, bis er abnahm.

Ja, Dad Lewis am Apparat. Seine Stimme klang rauh und alt.

Wie geht es dir, Liebling?

Bist du es?

Ja, ich bin’s. Ich wollte wissen, wie es dir geht.

Du solltest längst schlafen. Ich dachte, du würdest dich ausruhen.

Ich will nur wissen, wie es dir geht.

Haben sie dir gesagt, dass ich heute Morgen und dann noch mal nachmittags angerufen habe?

Nein. Davon hat mir keiner was gesagt.

Tja. Jedenfalls hab ich angerufen.

Was haben sie dir über mich gesagt?, fragte sie.

Sie sagten, du brauchst Ruhe. Du müsstest dich schonen und wieder zu Kräften kommen.

Ich bin völlig erledigt, Liebling, sagte sie. Als ich hierher kam und aufwachte, war ich schweißgebadet.

Nein.

Aber du wirst dich wieder erholen, oder was meinen sie?

Dass ich nur gerade keine Kraft habe. Das ist alles.

Draußen auf dem Gang unterhielten sich Leute, und die Schwester war zurückgekommen, um nach ihr zu sehen.

Sie sagt, ich muss jetzt auf‌legen. Hast du was zu Abend gegessen, Liebling?

Ja. Hab ich.

Was denn?

Ich habe mir eine Suppe warm gemacht. Aber du musst auf dich aufpassen, sagte Dad. Versprichst du mir das?

Gute Nacht, Liebling.

 

Sie schliefen nach wie vor im selben Bett, seit der ersten Nacht vor so langer Zeit, in ihrem weichen alten Ehebett im Erdgeschoss, obwohl er jetzt krank war, sterbenskrank, und sich nachts unruhig hin und her wälzte. Sie bestand darauf, bei ihm zu sein, in seiner Nähe, etwas anderes kam für sie nicht in Frage. Jetzt war die Nacht ungewohnt und einsam, und er fühlte sich verlassen ohne sie. Gegen drei Uhr wachte er auf und ging ins Badezimmer, dann kehrte er ins Bett zurück, lag lange wach und dachte nach, bis das Zimmer allmählich grau wurde und er die Messinggriffe der Schubladen an der Kommode und den Spiegel an der Schranktür ausmachen konnte.

Am Vormittag kam die alte Nachbarin vorbei, klopf‌te an die Tür und öffnete sie ein wenig, ohne abzuwarten, ob jemand kam. Hallo? Dad, bist du zu Hause?

Berta May von nebenan.

Ach so. Alles klar.

Darf ich reinkommen?

Ja, komm nur.

Sie hatte ein Mädchen bei sich; beide blieben im Wohnzimmer stehen und betrachteten ihn. Er trug eine Jogginghose und ein altes Flanellhemd.

Mary hat mich angerufen, sagte Berta May. Sie hat gesagt, du bist ganz allein zu Hause.

Tja, keine Ahnung, warum sie dich deswegen anruft.

Sie macht sich Sorgen um dich.

Kann schon sein, aber mir geht’s gut.

Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

Dad musterte erst sie und dann das Mädchen. Willst du dich nicht setzen? Ich werde nicht aufstehen.

Nein. Ich wollte nur nachsehen, ob ich irgendwie helfen kann. Ob du was brauchst.

Ich brauche nichts.

Bist du sicher?

Ich komme zurecht. Wen hast du denn da mitgebracht?, fragte er.

Das ist Alice, meine Enkelin. Hast du sie noch nicht kennengelernt?

Ich sehe sie manchmal draußen im Garten, auf der anderen Seite des Zauns.

Sie wohnt jetzt bei mir. Sag guten Tag zu Dad Lewis, Schätzchen.

Das Mädchen war acht Jahre alt, ein dünnes braunhaariges Ding in Jeans-Shorts und weißem T-Shirt.

Hallo, wie geht’s?, antwortete Dad.

Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich in der Küche nach dem Rechten sehe, oder?, meinte Berta May.

Da ist alles okay. Nur nicht aufgeräumt.

Ich seh mal kurz nach. Damit verließ sie das Zimmer. Das Mädchen blieb, sah sich um und betrachtete dann Dad Lewis in seinem Sessel.

Warum heißen Sie so?

Wie denn?

Dad.

Weil ich eine Tochter habe, wie du. Als sie zur Welt kam, haben die Leute angefangen, mich so zu nennen. Das ist lange her.

Ich habe keinen Dad. Ich weiß nicht mal, wo er ist. Ich kenne ihn nicht.

Das tut mir leid.

Sind Sie krank oder so was?, sagte sie.

Kann man so sagen. Ich habe Krebs, er frisst mich auf.

Sie musterte ihn einen Augenblick. Sitzt er in Ihrer Brust? Da hatte meine Mutter ihren.

Er sitzt überall in mir.

Werden Sie sterben?

Ja. Jedenfalls haben sie mir das gesagt.

Sie blickte aus dem Fenster. Man kann Grandmas Haus von hier aus sehen. Und auch den Garten hinter dem Haus.

Da habe ich dich gesehen. Gestern warst du da draußen, sagte Dad.

Was habe ich gemacht?

Weiß ich nicht. Ich konnte nicht sehen, was du machst.

Ja, ich glaube ja.

Dann habe ich gearbeitet.

Was denn?

Pusteblumen ausgraben. Grandma zahlt mir was für jede. Sie hat jede Menge davon.

Du könntest rüberkommen und das hier auch machen.

Wie viel würden Sie mir zahlen?

Dasselbe wie deine Großmutter.

Ich weiß nicht, sagte sie. Ich glaube, ich geh mal nachsehen, ob sie Hilfe braucht.

Berta May spülte das Geschirr und fegte die Küche, und danach ging sie mit ihrer Enkelin zurück nach Hause. Am Mittag schickte sie das Mädchen mit einem Tablett vorbei, das mit einem weißen Küchentuch bedeckt war. Alice kam herein und fragte: Wo soll ich es hinstellen?

Was hast du denn da mitgebracht?

Grandma hat Ihnen Lunch gemacht. Das Mädchen stellte das Tablett auf einen Stuhl und zog das Küchentuch weg. Es gab Kartoffelchips, ein Schinken-Sandwich, einen Klacks Hüttenkäse auf einem Pappteller und ein Stück Kuchen, in Wachspapier eingewickelt. Grandma meinte, Sie könnten dazu Wasser trinken oder sich einen Kaffee machen.

Möchtest du etwas davon? Ich hab keinen Hunger.

Grandma wartet mit dem Mittagessen auf mich.

Sag ihr vielen Dank. Machst du das?

Das Mädchen lief hinaus, und durchs Fenster konnte er sehen, wie sie am Zaun entlang ging und in dem gelben Haus verschwand.

 

Herrgott! Was machst du denn hier?

Sie haben mich entlassen, sagte sie.

Ich habe keinen Wagen auf der Straße gehört. Wie bist du hergekommen?

Zu Fuß.

Was meinst du damit, zu Fuß?

Ich bin zu Fuß gekommen.

Du bist vom Krankenhaus bis hierher gelaufen?

Sie konnten mich nicht sofort fahren. Wahrscheinlich hatten sie irgendwo einen Einsatz. Außerdem dachte ich, die Kosten könnten wir uns sparen. Es wird ohnehin teuer genug sein. Sie sagten, ich solle warten, aber das wollte ich nicht. Ich wollte nach Hause.

Meine Güte, sagte Dad. Du bist dort gelandet, weil du erschöpft warst, und jetzt läufst du in der Nachmittagshitze durch die ganze Stadt.

Es ist jetzt nicht mehr so heiß.

Was haben die sich dabei gedacht, dich gehen zu lassen?

Sie wollten mich nicht gehen lassen. Ich bin einfach gegangen. Ich wollte dir was Schönes zum Abendessen machen.

Er starrte sie an. Herrgott noch mal, sagte er. Wenn du so weitermachst, kratze ich lieber gleich ab und ziehe es nicht weiter in die Länge, bloß, damit du so was nicht noch mal machst.

Er wandte den Blick ab.

Ich meine es ernst. Das verbitte ich mir. Du brichst mir noch das Herz, du verdammter alter Mann. Wahrscheinlich wirst du das ohnehin tun. Aber so etwas darfst du nicht sagen. Also, was wünschst du dir zum Abendessen? Ich weiß nicht mal, was wir noch im Haus haben.

Ich weiß nicht. Es ist mir auch egal.

Ich möchte dir was Schönes kochen.

Sie beugte sich vor, küsste ihn aufs Haar, legte einen Arm um seine Schultern und hielt seine altersfleckige Hand zärtlich an ihre Wange.

Ich geh jetzt in die Küche, sagte sie. Es kommt mir vor, als wäre ich drei Wochen weg gewesen und nicht drei Tage.

 

Nach dem Abendessen, als sie das Geschirr gespült und Dad ins Bett gebracht hatte, rief sie Lorraine in Denver an. Ich glaube, es wird jetzt Zeit, dass du nach Hause kommst, Kleines. Wenn du kannst.

Geht es Daddy schlechter?

Ja. Ich wollte es dir eigentlich noch nicht sagen.

Was sagen?

Der Arzt meint, er hätte noch ungefähr einen Monat.

Mom, seit wann weißt du es?

Seit letzten Freitag.

Wieso hast du mich nicht angerufen?

Mom.

Ich war im Krankenhaus, sagte sie. Das kannst du jetzt ruhig auch wissen.

Was heißt das jetzt wieder?

Sie haben mich ins Krankenhaus gebracht. Vor ein paar Tagen.

Warum? Was ist passiert?

Ich sei erschöpft, haben sie gesagt. Ich bin ohnmächtig geworden, hier im Wohnzimmer auf dem Boden.

Mein Gott, Mom, geht es dir jetzt wieder besser?

Ja, ja, mach dir keine Sorgen. Aber es wäre gut, wenn du kommst und mir ein bisschen hilfst. Ich hatte Berta May gebeten, vorbeizuschauen, aber eigentlich geht das nicht. Du bist unsere Tochter.

Ich komme, sobald ich kann. Ich muss im Büro Bescheid sagen. Aber ich komme.

Das wäre gut. Ich habe noch gar nicht gefragt, wie es dir geht, Kleines.

Gut.

Und Richard?

Auch gut. Richard ändert sich nie.

Tja.

Ich weiß. Ist auch egal. Ich komme, so schnell ich kann.

 

Am Abend darauf, nach Sonnenuntergang, als die blauen Straßenlaternen an den Kreuzungen schon angegangen waren, fuhr Lorraine auf dem Highway 34 nach Holt hinein.

Dad hatte sich bereits hingelegt, und sie ging mit ihrer Mutter zum Schlafzimmer.

Schläft er denn schon? Es ist erst halb neun.

Ich weiß nicht, ob er schläft. Er geht früh zu Bett. Das hat er schon immer getan. Weißt du doch.

An der Tür blieben sie stehen. Er lag im Bett, das Fenster offen, das Laken bis zum Kinn hochgezogen. Er schlug die Augen auf. Ist das etwa meine Tochter?, sagte er.

Ich bin’s, Daddy.

Komm näher, damit ich dich sehen kann.

Sie ging durch das Zimmer, setzte sich auf die Bettkante und gab ihm einen Kuss. Mary ging hinaus, damit er Lorraine für sich allein haben konnte. Dad schaute sie eine ganze Weile an. Lorraines Augen wurden feucht; sie nahm eins von seinen Kleenex-Tüchern und wischte sich über Augen und Wangen.

Ach, Daddy.

Ja. Was für ein verdammter Mist!

Nein. Momentan nicht.

Wirklich gar keine?

Ich nehme was dagegen. Sonst schon. Vorher hatte ich jedenfalls welche. Du siehst gut aus.

Danke.

Wie war die Fahrt?

Okay. Viel los auf dem Highway, aber nur Gegenverkehr, in Richtung Berge.

Was macht die Arbeit?

Läuft alles gut.

Haben sie dir freigegeben, damit du herkommst?

Es blieb ihnen nichts anderes übrig.

Ja. Er lächelte. Recht so.

Kannst du schlafen, Daddy?

Noch ja, wenigstens das. Solange Mom da ist. Als sie weg war, habe ich kaum ein Auge zugetan. Sie mussten sie ins Krankenhaus bringen. Hat sie es dir erzählt?

Ja.

Und dann ist sie zu Fuß wieder nach Hause. Hat sie dir das auch erzählt?

Nein.

Zu Fuß. Es war höllisch heiß da draußen. Ich bin froh, dass du da bist. Sie ist völlig erschöpft. Ich hatte Angst, sie könnte schlapp machen. Das hab ich nie gewollt, dass sie sich so um mich kümmern muss.

Ich weiß, Daddy.

Na ja. Jetzt ist alles gut. Du bist da.

Versuch zu schlafen. Wir reden morgen weiter.

Ich weiß, Schätzchen.

Er ist so dünn geworden. Und so blass.

Er will nichts essen. Sagt, er hätte keinen Hunger. Stochert nur bisschen drin rum.

 

Am Sonntagmorgen stand auf der Rückseite des Gemeindebriefs der Community Church in der Birch Street eine Mitteilung zu Mary Lewis. Sie sei ins Holt Memorial Hospital eingewiesen und wieder entlassen worden, und bei Dad Lewis sei keine Besserung eingetreten. Die Gemeinde wurde aufgefordert, weiter für ihn zu beten. Zudem hieß es, Lorraine sei inzwischen auch nach Hause gekommen.

Am Montagnachmittag kamen fast gleichzeitig Reverend Lyle und die beiden Johnson-Frauen, um nach ihnen zu sehen. Rob Lyle war Ende vierzig und erst seit Kurzem in der Stadt, ein großer, schlanker Mann mit schwarzem Haar und dunklen Augen. Die Johnsons wohnten schon lange im Bezirk Holt. Willa Johnson war Witwe, sie hatte langes weißes Haar, zu einem altmodischen Knoten geschlungen, und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Alene, ihre unverheiratete Tochter, war über sechzig und Frührentnerin, nachdem sie mehr als vierzig Jahre in einer Kleinstadt an der Front Range als Lehrerin gearbeitet hatte. Sie war nun für den Sommer und vielleicht auch länger nach Hause zurückgekehrt. Die beiden wohnten im Osten von Holt, eine Meile südlich des Highways, an einer Landstraße in den Sandhügeln.

Als sie das Haus betraten, saß Lyle im Wohnzimmer auf

Na, Dad? Wie geht es dir heute?, fragte Willa. Ein bisschen besser?

Schwer zu sagen. Es geht mir besser, weil meine Tochter nach Hause gekommen ist, so viel wenigstens weiß ich.

Ja, im Gemeindebrief stand, dass sie hier ist. Willa wandte sich Lorraine zu. Jetzt wolltest du sicher unbedingt hier sein, stimmt’s?

Ja, vor allem, nachdem Mom im Krankenhaus war.

Das stand auch drin. Da erst haben wir davon erfahren. Du hättest uns doch anrufen können, Mary.

Ich wollte euch nicht behelligen, sagte Mary. Ihr hättet es umgekehrt genauso gemacht.

Na ja, aber Dad hätte anrufen können.

Ich bin froh, dass er es nicht getan hat.

Jetzt ist Lorraine da, sagte Dad. Das reicht.

Na schön, ich bin ja schon still. Ich weiß, wann ich den Mund halten soll.

Du sollst nicht den Mund halten. Darum geht es nicht, sagte Mary.

Es wäre auch das erste Mal, dass sie das tut, sagte Alene.

Jetzt muss sich auch noch meine Tochter mit mir anlegen.

Alle lachten ein bisschen.

Danke, dass Sie gekommen sind, sagte sie.

Ich möchte Ihren Vater nicht stören, aber ich komme wieder, wenn es recht ist.

Ja. Ich glaube schon.

Ich weiß nicht, ob er besonders gläubig ist.

Nein. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn.

Verstehe. Auf seine eigene Art vielleicht.

Vielleicht.

Nun ja. Ich muss jetzt gehen. Er streckte die Hand aus, und sie überraschte ihn mit einer Umarmung. Er war um einiges größer als sie.

Danke, dass Sie gekommen sind, sagte sie noch einmal.

Er ging über den Pfad zu seinem an der Straße geparkten

Hallo, Alice.

Woher weißt du, wie ich heiße?

Meine Mutter hat es mir erzählt. Warum kommst du nicht rauf und unterhältst dich mit mir?

Ich weiß nicht, wer du bist.

Ich habe früher auch hier gewohnt. Als ich so klein war wie du.

Ich weiß nicht.

Du kannst ja deine Großmutter fragen, wenn du willst. Deine Mutter und ich haben früher zusammen gespielt.

Die Kleine stand da und sah sie an, dann blickte sie wieder auf die Straße. Schließlich öffnete sie das Tor und kam auf die Veranda.

Du kannst dich auch setzen, wenn du magst. Hier neben mich.

Das Mädchen glitt auf die Hollywoodschaukel, und sie schwangen leicht hin und her. Lorraine holte erneut ihre Zigaretten hervor.

Rauchst du viel?

Hin und wieder.

Der Freund von meiner Mutter hat immerzu geraucht.

Was hast du mit meiner Mom gespielt?

Lass mich überlegen. Sie war jünger als ich. Ungefähr so alt wie mein Bruder Frank. Abends spielten wir unter der Straßenlaterne da drüben an der Ecke, und sonst hinten in der Scheune.

Wie war meine Mutter?

Sie war sehr nett. Es machte Spaß, mit ihr zusammen zu sein.

Ja?

Ja wirklich, und es tut mir leid, dass sie so jung sterben musste, sagte Lorraine. Sehr leid. Sie war ein guter Mensch. Sie fehlt mir.

Grandma sagt, ich hab Glück, dass ich jemanden habe, der sich um mich kümmert.

Ja, das finde ich auch. Da kannst du wirklich froh sein. Und du kannst immer rüberkommen und uns besuchen, wenn du Lust hast.

Er wird auch sterben, nicht?

Mein Vater?

Er stirbt, oder?

Du musst aber keine Angst vor ihm haben. Er ist nur ein alter kranker Mann. Er tut dir nichts. Du kannst ja mich besuchen. Wir könnten was zusammen unternehmen.

Was denn?

Weiß ich nicht. Das können wir dann ja sehen.

Bist du mit dem Rauchen fertig?

Für diesmal ja.

Danke, sagte Lorraine und drückte die Zigarette aus.

Bitte sehr.

Sie brachte den Aschenbecher zurück, setzte sich wieder hin, und sie schaukelten durch den heißen Nachmittag.

 

Die Frauen im Haus unterhielten sich noch immer.

Ist er Mexikaner, weiß das jemand?, fragte Willa. Er hat so dunkles Haar.

Nein, sagte Mary. Ich glaube nicht.

Mütterlicherseits, meine ich.

Nein.

Vielleicht Italiener.

Nicht, wenn er in der Freikirche ist. Ein Mexikaner wäre kein Geistlicher in einer protestantischen Kirche. Er wäre katholisch.

Er sieht ziemlich gut aus, sagte Alene.

Ihre Mutter schaute sie an, ihre Augen wirkten riesig hinter den dicken Gläsern.

Stimmt doch, sagte Alene.

Er ist verheiratet. Er hat eine Frau und einen Sohn im Teenageralter.

Er kann doch trotzdem gut aussehen.

Sie haben ihn aus einer Gemeinde in Denver hierher geschickt, sagte Willa. Dort war er stellvertretender Pfarrer.

Das haben wir auch gehört, sagte Mary.

Ich glaube nicht, dass er sich mit Kleinstädten auskennt.

Dann sollte er aber schleunigst damit anfangen, sagte Dad.

Hier passiert nichts, ohne dass alle Leute es mitkriegen.

Sie warteten. Doch mehr sagte er nicht.

Nach einer Weile ergriff Willa wieder das Wort. Er hatte irgendwelchen Ärger in Denver, hab ich gehört. Vermutlich haben sie ihn deswegen hierher versetzt.

Was für Ärger?, fragte Mary.

Es heißt, er sei gemaßregelt worden, weil er sich in Denver für einen anderen Geistlichen einsetzte, der sich als homosexuell entpuppt hatte. Ich glaube, so was in der Art.

Woher hast du das denn, Mutter?

Von einer Freundin, die nicht von hier ist. Sie hat es mir erzählt.

Sind ja auch nur Menschen, sagte Alene.

Klar. Das weiß ich. Aber das meine ich gar nicht. Ich meine, es zeigt, was für eine Art von Mensch er ist. Womit wir rechnen können.

Es wurde still im Raum. Sie hörten Lorraine und das Mädchen auf der Veranda, ihre leisen Stimmen und das regelmäßige Quietschen der Schaukel. Durch das Fenster hinter Dad strömte heißes Sonnenlicht herein.

Ich glaube, ich gehe auch mal nach draußen, sagte Alene. Entschuldigt mich bitte.

Es gibt noch Kaffee, sagte Mary.

Danke nein. Es war schön, dich zu sehen, Dad.

Er sah zu ihr hinüber und nickte.

Alene stand auf, strich den Rock ihres Kleids glatt und trat hinaus auf die Veranda. Willa und Mary sahen ihr nach.

Sie ist nicht glücklich, sagte Mary.

Niemand ist glücklich. Aber sie muss nicht so unfreundlich sein, wenn sie bei jemand zu Besuch ist.

Wir freuen uns jedenfalls, sie zu sehen, sagte Mary, stand auf und ging durchs Esszimmer in die Küche. Sie sah aus dem Fenster nach Westen. Dort lag der Garten im Schatten der Bäume, die Scheune und die Koppel dahinter im hellen Sonnenlicht. Sie nahm die Kaffeekanne mit und schenkte Willa nach.

Nur noch eine halbe Tasse, sagte Willa. Ich muss bald aufbrechen.

Mary sah zu Dad hinüber. Er schlief jetzt, der kahle alte Kopf war auf die Brust gesunken, die großen Hände im Schoß gefaltet.

 

Draußen auf der Veranda machten sie auf der Schaukel Platz für Alene, und dann schwangen sie in der Hitze langsam zu dritt weiter. Lorraine stellte Alene das Mädchen vor.

Ich habe schon darauf gewartet, dich kennenzulernen, sagte Alene.

Kennst du meine Großmutter?

Ja, schon lange. Meine Mutter und sie sind seit vielen Jahren befreundet.

Grandma hat viele Freundinnen.

Ja, das stimmt.

Aber sie unternimmt nichts mit ihnen.

Das macht man auch nicht, wenn man älter ist. Vielleicht könnten du und ich was zusammen unternehmen.

Wir sollten alle zusammen etwas unternehmen, sagte Lorraine.

In welcher Klasse bist du, Kleines?

Dieses Jahr komme ich in die dritte.

Das ist die Klasse, die ich unterrichtet habe.

Ich kenne meine Lehrerin hier noch nicht. Ich weiß nicht, wer das ist.

Willst du es denn wissen?

Ich glaube schon.

Dann gehe ich mit dir in die Schule, wenn du das möchtest. Vielleicht können wir sie treffen. Oder zumindest herausfinden, wer es ist.

Unterrichtest du auch hier?

Nein. Ich war an einer anderen Schule in der Nähe der Berge. Aber jetzt unterrichte ich nicht mehr.

Wir haben früher in der Nähe der Berge gewohnt. Als meine Mutter noch lebte.

Willa kam auf die Veranda, und sie machten sie mit Alice bekannt; dann gingen die beiden Johnsons zu ihrem Wagen und fuhren nach Hause in die Sandhügel, und Alice ging zurück ins Haus ihrer Großmutter.