Für meine Freundin und Lehrerin Ethel Sturtevant, von 1911 bis 1948 Assistant Professor für Englisch am Barnard College, der ich dieses Buch in Zuneigung und in der Hoffnung widme, daß es ihr in einem langen und glücklichen Ruhestand ein wenig Zerstreuung bieten möge.

Und meinen Dank an Dorothy Hargreaves und an Mary McCurdy für ihre Anteilnahme und für ihr Haus.

Der Glaube rechnet mit jedem Zufall …

Und wenn du verstehen willst, daß du lieben mußt,

dann ist deine Liebe auf ewig gesichert.

S. Kierkegaard

Bei den Hidalgos war etwas los, genau wie Theodore es erwartet hatte. Er sah zu den vier erleuchteten Fenstern im ersten Stock hinauf, aus denen Gelächter und einladendes Stimmengemurmel drang, rückte die schwere Mappe unter seinem rechten Arm zurecht, so daß er sie besser halten konnte, und fragte sich bereits zum zweiten Mal, ob er bei den Hidalgos klingeln oder wieder ein Taxi suchen und direkt nach Hause fahren sollte.

Zu Hause war es sicher kalt, die Möbel würden mit Tüchern abgedeckt sein. Inocenza, sein Dienstmädchen, war noch auf Besuch bei ihrer Familie in Durango, weil er ihr kein Wort von seiner Rückkehr geschrieben hatte. Außerdem war es noch nicht einmal Mitternacht, der Abend vor dem fünften Februar, einem nationalen Feiertag. Niemand würde morgen arbeiten. Andererseits schleppte er einen Koffer, eine Zeichenmappe und eine Leinwandrolle mit sich herum. Und eingeladen hatte man ihn auch nicht, doch bei den Hidalgos war das nicht so wichtig.

Oder sollte er lieber zu Lelia fahren? Der Gedanke war

Er ging zur Tür, stellte den Koffer ab und drückte fest auf die Klingel. Er schellte kein weiteres Mal, obwohl es bestimmt zwei Minuten dauerte, bis jemand aufmachte. Es war Isabel Hidalgo.

»Theodore, du bist wieder da!« begrüßte sie ihn auf englisch. Dann fuhr sie auf spanisch fort: »Komm herein. Wie schön von dir. Komm mit nach oben. Wir haben ein volles Haus.«

»Danke, Isabel. Ich bin gerade aus Oaxaca zurück.«

»Wie aufregend!« Isabel ging direkt ins Wohnzimmer, winkte und verkündete: »Theodore ist da! Carlos, Theodore ist da!«

Theodore setzte den Koffer in der kleinen Diele so ab, daß er möglichst nicht störte, lehnte die Zeichenmappe dagegen und stellte die Leinwandrolle neben den Koffer.

Carlos kam in die Diele, einen Drink in der Hand. Er trug eines seiner verwegen gemusterten Tweedjackets. »Don Theodore!« rief er und schlang einen Arm um ihn. »Sei gegrüßt! Komm herein und trink einen Schluck!«

Die meisten Gäste waren Männer, die grüppchenweise

»Nicht aufwecken, bloß nicht aufwecken«, protestierte Theodore rasch.

»Wo hast du dich rumgetrieben?« fragte Carlos.

»Ich war in Oaxaca«, sagte Theodore und lächelte. »Ich habe im letzten Monat ein halbes Dutzend Bilder gemalt.«

»Zeig her!« Er strahlte über das ganze Gesicht.

»Jetzt nicht. Hier ist nicht genug Platz. Ich hatte eine wunderbare Zeit. Ich …« Er hielt inne, weil Carlos davongestürmt war. Vielleicht wollte er ihm etwas zu trinken holen.

Theodore drehte sich langsam um und suchte nach einer Sitzgelegenheit. In der vagen Hoffnung, es könnte Lelia sein, musterte er flüchtig eine vom Flur hereinkommende Frau, aber sie war es nicht. Jemand rempelte ihn an. Der milde Qualm amerikanischer Zigaretten durchzog das Zimmer, in dem sich fünf oder sechs Amerikaner aufhielten, vermutlich Professoren und Dozenten vom Mexico City College oder von der Ciudad Universidad, an der Carlos Hidalgo Theaterwissenschaften unterrichtete. Auf einem Beistelltisch neben einem der Sofas standen mehrere Flaschen Gin und Whisky sowie einige Gläser.

Als Theodore zwei flüchtige Bekannte an einem Fenster stehen sah, ging er zu ihnen und sagte: »Guten Abend, Don Ignacio. Wie geht es Ihnen?«

Señor Ignacio Ortiz y Guzman B. leitete eine der staatlich geförderten Kunstgalerien der Stadt. Einmal, vor Monaten, hatte er sich hier in diesem Haus lange mit ihm über

»Malen Sie noch?« fragte Ortiz y Guzman B.

»Ja. Ich bin gerade aus Oaxaca zurück«, erwiderte Theodore, »da habe ich einen Monat gemalt.«

Ortiz y Guzman B. musterte ihn, schien ihn aber nicht gehört zu haben. Der Mann namens Vincente bot einer Frau in seiner Nähe zuvorkommend Feuer an.

Theodore fiel nichts ein, was er sagen konnte, und es entstand ein verlegenes Schweigen. Die beiden Männer begannen, sich wieder zu unterhalten. Theodore mußte an andere Gelegenheiten denken, bei denen er auf Partys oder bei einem Essen etwas gesagt hatte – zugegebenermaßen nichts Wichtiges – und vollständig ignoriert worden war, so als wäre das Gesagte unhörbar oder eine unsägliche Obszönität gewesen. Er fragte sich, ob anderen Leuten dies ebensooft wie ihm passierte. Unbedeutender aussehenden Männern, fand er, wurde zugehört, wie geistlos ihre Bemerkungen auch sein mochten. Die beiden Männer unterhielten sich mittlerweile über jemanden, den Theodore nicht kannte, und zu spät fiel ihm ein, daß Ortiz y Guzman B. vielleicht gern erfahren hätte, daß er gebeten worden war, bei einer Gruppenausstellung im Mai vier Bilder in einer der I.N.B.A.-Galerien auszustellen. Kurz darauf schlenderte Theodore davon und blieb an einer Wand stehen. Bestimmt wurde er nicht öfter ignoriert als alle anderen auch.

Theodore Wolfgang Schiebelhut war dreiunddreißig, schlank und groß – groß vor allem im Vergleich zum

»Wir freuen uns ja so, daß du vorbeigekommen bist, Teo«, sagte Isabel Hidalgo. »Carlos hat erst heute morgen gemeint, daß du eigentlich schon wieder zurück sein

»Muß wohl Gedankenübertragung gewesen sein«, sagte Theodore lächelnd. »Carlos sieht müde aus. Arbeitet er zuviel?«

»Na ja, wie immer. Alle sagen, er sollte sich mal eine Pause gönnen.« Sie lächelte, aber ihre blaugrauen Augen sahen irgendwie traurig aus. »Zusätzlich zu seinem Unterricht an der Universität leitet er gerade die Proben für Othello. Er halst sich einfach immer mehr auf. Selbst heute hat er bis spätabends gearbeitet, ohne was zu essen, und wenn er dann nach Haus kommt, steigt ihm der Alkohol natürlich sofort zu Kopf.«

Theodore lächelte nachsichtig und zuckte die Achseln, obwohl Carlos in der Öffentlichkeit wirklich zuviel trank. Die Gegenwart anderer Menschen schien ihn anzuregen, und er kippte den Alkohol wie Wasser in sich hinein. Noch war er nicht betrunken, aber Isabel wußte, daß es nicht mehr lange dauern würde, und begann deshalb jetzt schon, ihn zu entschuldigen. Daß er sich ständig mehr auflud, hing allerdings, wie Theodore wußte, weniger mit übermäßiger Energie als mit seinem Egoismus zusammen. Carlos sah den eigenen Namen gern auf möglichst vielen Programmzetteln und Plakaten. »Lelia wollte heute abend nicht zufällig vorbeikommen, oder?« fragte Theodore.

»Sie ist jedenfalls eingeladen«, erwiderte Isabel rasch. »Carlos! – Wolltest du nicht Lelia abholen?«

»Stimmt!« rief Carlos in voller Lautstärke quer durch den Raum. »Aber sie hat mich heute mittag in der Universität angerufen und gesagt, daß sie nicht kommen kann.

»Verstehe. Hat sie …« Doch Carlos kehrte ihm schon den Rücken zu und beugte sich wieder über den Plattenspieler. Theodore hatte ihn fragen wollen, ob Lelia für ihn gemalt hatte. Manchmal entwarf sie die Kulissen für seine Stücke. Isabel wollte er lieber nicht nach ihr fragen, da sie wußte – wissen mußte –, daß Carlos eine große Schwäche für Lelia hatte. Immerhin hatte er schon öfter mit ihr herumgealbert, einmal auch in Isabels Beisein, die jedoch so getan hatte, als merke sie nichts.

»Entschuldige, Teo«, sagte Isabel. »Da ist jemand an der Tür.« Sie strich ihm mit nervöser Hand flüchtig über den Ärmel und ging.

Theodore sah, wie Carlos einer Frau ein Glas aufdrängte, obwohl sie entschieden, aber vergebens ablehnte. Er fragte sich, ob Lelia deshalb so früh bei Carlos angerufen hatte, weil sie es vermeiden wollte, ihm erklären zu müssen, daß sie nicht zur Party kommen mochte, wenn er bereits in ihrer Wohnung stand. Carlos etwas abzuschlagen war nämlich fast unmöglich. Theodore betrachtete ein an der Decke hängendes Mobile, dessen Teile sich ständig zu berühren drohten, es aber niemals taten, und er dachte, wie seltsam es doch war, daß er sich in einem Raum voller Künstler, Schriftsteller und Professoren derart einsam fühlte. Selbst den Amerikanern mit ihrem stockenden Spanisch erging es besser als ihm. Als er sich vor gut einer Stunde im Flugzeug vorgestellt hatte, welche Begrüßung ihn erwartete, wenn er Ramón anrief und bei den Hidalgos

Theodore schaute sich um – und hätte sich von Carlos und Isabel verabschiedet, wenn sie zu ihm hinübergesehen hätten, doch war er froh, sich vor Carlos nicht für sein Gehen rechtfertigen zu müssen. Er trat in die Vorhalle, griff nach Zeichenmappe, Koffer und Leinwandrolle und ging aus dem Haus.

Er schleppte seine Sachen zwei Straßen weit bis zur Avenida de los Insurgentes und fand nach kurzem Warten ein libre. Ein letztes Zögern, ob er mit dem Taxi zu Lelia oder die kürzere Strecke nach Hause fahren sollte, dann: »Granaditas! Numero cien venty siete. Cuatro pesos. Está bien?«

Der Fahrer schimpfte über den Koffer, darüber, daß es so spät war und Feiertag, und verlangte fünf Pesos; Theodore stimmte zu und stieg ein.

Es war ein kühler, frischer Abend. Normalerweise hätte die Fahrt höchstens zehn Minuten gedauert, doch heute verstopften Autos und Fußgänger die Innenstadt von Juarez bis zum Zócalo. Der Fahrer schien sich die meistbefahrenen Straßen auszusuchen, damit es möglichst lange dauerte.

An einer Ampel steckte ein Rowdy den Kopf durch das Fenster und fragte: »Heißt hier jemand Maria?«

Grölendes Gelächter aus den Kehlen eines halben Dutzends junger Männer, und das betrunkene Gesicht zog sich zurück.

Theodore, der von der Kante des Rücksitzes aufgeschreckt war, kurbelte vorsichtshalber das Fenster ein

Vielleicht war Ramón auch da und verbrachte die Nacht mit ihr, dachte Theodore. Doch heute nacht war das nicht besonders wahrscheinlich, außerdem würde er erst anklopfen.

Das Taxi war angekommen. Theodore bezahlte den Fahrer und stieg aus. Mit den geschlossenen Geschäften und alten Häusern, die der Straße ihre hohen, verriegelten Türen zukehrten, war dies nachts ein ziemlich tristes Viertel. Lelias Haustür wurde von innen verriegelt, konnte aber von denen, die Bescheid wußten, mit einem in den Türspalt geschobenen Stock geöffnet werden. Ein Stock, eine

Keine Antwort.

»Lelia?« rief er. »Ich bin’s, Theodore. Laß mich rein!«

Jemandem, den sie nicht sehen wollte, machte sie die Tür nicht auf, aber Theodore gehörte nicht in diese Kategorie. Manchmal war sie in ein Buch vertieft, und wenn er allein oder zusammen mit Ramón kam, brauchte sie schon mal zwei, drei Minuten, bis sie an die Tür kam, doch sie wußte, daß sie geduldig warten würden.

Theodore klopfte etwas lauter. »Ramón? Ich bin’s, Theodore!«

Er rüttelte an der verschlossenen Tür und wünschte sich, er hätte ihren Schlüssel mitgenommen. Er trug ihn stets bei sich, doch aus irgendeinem Grund, vielleicht aus dem, sich eine Weile von ihr völlig frei zu fühlen, hatte er ihn vor seiner Abreise nach Oaxaca vom Schlüsselbund genommen. Das Oberlicht stand einen Spalt offen. Theodore stellte sich auf Zehenspitzen und stieß es weiter auf.

»Lelia?« rief er zum Oberlicht hinauf.

Vielleicht war sie bei einer Nachbarin oder ausgegangen, um zu telefonieren. Er schob seinen Koffer an die Tür,

Er stand auf, wischte sich den Staub von den Händen und blickte sich erleichtert in dem vertrauten, großen Zimmer um, an dessen Wänden ständig wechselnde Bilder und Zeichnungen hingen, dann schloß er die Tür auf und zog seine Sachen herein. Er knipste die Lampe neben dem Sofa an. Auf Lelias langem Tisch lag ein Strauß weißer Nelken, der in eine Vase gehörte. Außerdem stand eine Flasche Bacardi auf dem Tisch, sein Lieblingsgetränk, vermutlich

»Lelia?«

Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett, und auf dem Kissen war Blut, jede Menge Blut, ein roter Kranz um das schwarze Haar.

»Lelia!« Mit einem Satz sprang er zu ihr und riß die dünne, rosafarbene Tagesdecke fort.

Blut färbte ihre weiße Bluse und den rechten Arm, auf dem er einen gräßlichen, tiefen Schnitt entdeckte. Die Wunde war noch feucht. Zitternd und keuchend faßte Theodore sie behutsam an den Schultern, drehte sie um und ließ sie entsetzt wieder los. Ihr Gesicht war verstümmelt.

Theodore sah sich im Zimmer um. Eine Teppichecke war umgeschlagen. Das war das einzige Zeichen von Unordnung. Und das Fenster stand weit auf, was ganz untypisch für Lelia war. Theodore ging zum Fenster und schaute hinaus. Das Fenster ging auf den Innenhof, und im Innenhof gab es nichts, woran jemand nach oben klettern konnte, doch vom Dach, nur ein Stockwerk höher, führte ein Regenrohr wenige Zentimeter am Fensterrahmen vorbei und hörte einen Stock tiefer kurz über dem unteren Fenster auf. Theodore hatte Lelia schon ein dutzendmal gebeten, ein Gitter vor dem Fenster anbringen zu lassen. Vor allen Fenstern der übrigen Wohnungen in Lelias Stockwerk waren Gitter, ebenso ein Stockwerk höher. Aber jetzt war es zu spät, über Gitter nachzudenken. Unmittelbar danach setzte der Schock ein. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und schlug die Hände vors Gesicht.

»Ai-i-yai-i-i-i!« schrie eine Fistelstimme im Treppenhaus, und zugleich hämmerte jemand an die Tür.

Theodore rannte hin und riß sie auf. Jemand eilte nach unten. Theodore stürzte hinterher und hatte das Erdgeschoß erreicht, als er die Holztür zum Hof über den Zementboden scharren hörte. Er hastete auf den Gehweg und blickte in beide Richtungen, sah aber nur zwei Männer, die in ein Gespräch vertieft die Straße überquerten. Theodore suchte den dunklen Innenhof ab, doch er hatte ja die Holztür gehört. Mit einem Gefühl der Vergeblichkeit und der Ahnung, womöglich das Falsche zu tun, kehrte er zurück ins Haus und stieg die Treppe hinauf. Wenn es der Mörder gewesen war, selbst wenn er es wirklich gewesen war, wäre es sinnlos gewesen, ihm durch die Straßen nachzulaufen, ohne überhaupt zu wissen, in welche Richtung er laufen sollte. Vielleicht war es auch gar nicht der Mörder gewesen, sondern nur irgendein Straßengauner oder jemand von der Party, die, wie ihm erst jetzt auffiel, ein Stockwerk über

Kaum hatte er Lelias Tür hinter sich zugezogen, hielt er inne. Er mußte logisch vorgehen. Erstens: die Polizei anrufen. Zweitens: aufpassen, daß niemand in der Wohnung Fingerabdrücke verwischte. Drittens: Ramón finden und dafür sorgen, daß er mit seinem Leben für das zahlte, was er getan hatte.

Theodore ging wieder hinaus, schloß die Tür und wollte eine Straße weiter zu einer cantina gehen, in der es, wie er wußte, ein Telefon gab, doch begegnete er auf der Treppe im ersten Stock Lelias Nachbarin.

»Sieh an, Don Teodoro! Guten Abend!« sagte die Frau. »Einen frohen Fünften –«

»Wissen Sie, daß Lelia tot ist?« platzte es aus ihm heraus. »Sie ist ermordet worden! In ihrer Wohnung!«

»Aaaaaah!« schrie die Frau und schlug sich die Hand vor den Mund.

Sofort gingen zwei Türen auf. Stimmen riefen: »Was ist los?« – »Was ist passiert?« – »Wer ist umgebracht worden?«

Und Theodore hatte Mühe, die Treppe wieder hochzugehen, die er gerade heruntergekommen war, zurück zu Lelias Wohnung. Die Tür war nicht verschlossen, und schon liefen zwei Männer hinein.

»Bitte!« schrie Theodore. »Sie müssen wieder gehen! Sie dürfen nichts anfassen! Vielleicht lassen sich Fingerabdrücke finden!« Doch es war zwecklos. Zwölf oder fünfzehn Leute warfen einen Blick ins Schlafzimmer, schrien auf und rannten wieder hinaus, vor Entsetzen eine Hand vor den Augen.

Señora de Silva erbot sich, von ihrer Wohnung die Polizei anzurufen, doch ehe sie ging, sagte sie zu Theodore: »So um elf Uhr, vielleicht auch ein bißchen früher, da habe ich was gehört. Ein Poltern auf dem Dach. Aber sonst habe ich nichts gehört. Auch nicht, daß eine Scheibe eingeschlagen wurde.«

»Es ging kein Fenster kaputt«, sagte Theodore rasch. »Was haben Sie sonst noch gehört?«

»Nichts!« Sie starrte ihn mit weitaufgerissenen Augen an. »Nur dieses Poltern. Als ob jemand versucht, über das Dach zu klettern. Jedenfalls war da irgendwas auf dem Dach. Aber ich habe nicht nachgesehen. Heilige Mutter Gottes, ich hätte nachsehen sollen!«

»Haben Sie gehört, ob in der Wohnung gekämpft wurde?«

»Nein. Oder vielleicht doch? Ich bin mir nicht sicher. Ja, vielleicht habe ich tatsächlich so was gehört!«

»Bitte, gehen Sie und rufen Sie die Polizei«, sagte Theodore. »Ich muß hierbleiben und aufpassen, daß keiner in die Wohnung kommt.«

Eine murmelnde Menge hatte sich auf dem Flur vor der Tür versammelt, mehrheitlich Jugendliche von der Straße, dachte Theodore. Ein paar waren betrunken. Er schloß die Tür, sobald er einen der jungen Männer überreden konnte, die Hände vom Türrahmen zu nehmen.

Dann setzte er sich auf das rote Sitzkissen mit dem Gesicht zur Tür und wartete auf die Polizei. Er dachte an Ramón, dessen leidenschaftliche katholische Seele von

Mit heulenden Sirenen traf die Polizei ein. Es hörte sich an, als käme eine ganze Armee die Treppe herauf, aber sie waren nur zu dritt: ein kleiner, dickbäuchiger, etwa fünfzig Jahre alter Beamter mit einem Patronengurt über der Schulter sowie einem großen Revolver an jeder Seite und zwei hochgewachsene, junge Polizisten in hellen Khakiuniformen. Der Dicke zückte eine Waffe und hielt sie lässig auf Theodore gerichtet.

»Stellen Sie sich an die Wand«, sagte er. Dann wies er einen der Polizisten an, Theodore nicht aus den Augen zu lassen, während er ins Schlafzimmer ging, um sich die Leiche anzusehen.

Die Menge aus dem Flur quoll ins Zimmer, schaute sich neugierig um und unterhielt sich halblaut.

Abwechselnd (so daß Theodore ständig von mindestens zwei Beamten bewacht wurde) gingen die jungen Polizisten ins Schlafzimmer, um sich Lelia anzusehen. Einer stieß einen erstaunten Pfiff aus. Als sie zurückkamen, glotzten sie Theodore mit schockierten, versteinerten Mienen an.

»Name?« fragte der Beamte und zog Bleistift und Papier aus der Tasche. »Alter? … Sind Sie mexikanischer Staatsbürger?«

»Ja, eingebürgert«, erwiderte Theodore.

Die Menge sickerte ins Schlafzimmer.

»Gestehen Sie die Tat?« fragte der Beamte.

»Nein! Ich habe Sie doch hergeholt! Ich habe Lelia gefunden!«

»Beruf?«

Theodore zögerte. »Maler.«

Der Beamte musterte ihn von oben bis unten und wandte sich dann zu einem dunklen untersetzten Mann um, den Theodore nicht bemerkt hatte, obwohl er gleich vorn in der Menge stand. »Wollen Sie weitermachen, Capitán Sauzas?«

Der Mann trat einen Schritt vor. Er trug einen dunklen Hut und einen dunklen offenen Mantel. Zwischen den Lippen hing eine Zigarette. Mit seinen klugen, unpersönlich blickenden Augen sah er Theodore aufmerksam an. »Wieso sind Sie heute abend hier?«

»Ich wollte sie sehen«, sagte Theodore. »Sie ist eine Freundin.«

»Um wieviel Uhr sind Sie gekommen?«

»Vor etwa einer halben Stunde. Gegen ein Uhr.«

»Und hat sie Sie hereingelassen?«

»Nein! – Das Licht war an. Ich habe geklopft, aber es hat niemand aufgemacht.« Theodore blickte auf einen der Revolver, der kurz herumschwenkte und sich dann wieder auf ihn richtete. »Ich dachte, sie sei vielleicht eingeschlafen – oder wäre ausgegangen, um zu telefonieren. Also bin ich durch das Oberlicht geklettert. Nachdem ich sie gefunden hatte, bin ich losgelaufen, um die Polizei zu rufen. Dann traf ich Señora … Señora …«

»Ja«, sagte Theodore. »Ich habe es ihr erzählt, und sie hat gesagt, daß sie die Polizei für mich anrufen würde.« Die Menge im Zimmer, die sich so gruppiert hatte, daß sie Theodore und Sauzas zugleich sehen konnte, hörte mit verschränkten Armen und leichtem Erstaunen zu, doch lebte Theodore lange genug in Mexiko, um auch anscheinend nichtssagende Mienen deuten zu können. Die Menge war mehrheitlich davon überzeugt, daß er der Täter war, und Theodore las dieselbe Überzeugung in den Gesichtern der beiden jungen Polizisten, die ihre Waffen auf ihn gerichtet hielten.

»In welcher Beziehung standen Sie zur Ermordeten?« fragte Sauzas. Er machte sich keine Notizen.

»Sie war eine Freundin«, sagte Theodore und hörte amüsiertes Geraune von den Leuten.

»Wie lange haben Sie die Frau gekannt?«

»Drei Jahre«, antwortete Theodore. »Etwas länger.«

»Pflegten Sie sie öfter morgens um ein Uhr zu besuchen?«

Wieder kicherte es in der Menge.

Theodore richtete sich auf. »Ich habe sie oft spätabends besucht. Sie blieb lange auf«, sagte Theodore und versuchte, das Grinsen und Getuschel zu ignorieren. Einiges konnte er verstehen; sie nannten Lelia »una puta«, eine Hure.

Dann war da noch die Sache mit seinem Koffer. Wollte er einziehen? Nein? Was denn? Warum war er nach Oaxaca gefahren? Er war also zum Haus eines Freundes gefahren, nachdem er auf dem Flughafen gelandet war und bevor er

Plötzlich kam es zu einem Tumult, als zwei Männer in Zivil hereinkamen und die Menge laut aufforderten, die Wohnung zu verlassen. Die beiden Männer drängten einige Jugendliche zur Tür hinaus. Señora da Silva protestierte und durfte bleiben, nachdem Sauzas sich für sie verwandt hatte.

Kurz und gleichgültig faßte Sauzas Theodores Geschichte zusammen, erzählte, wie er hereingekommen war, und befahl den beiden Männern, im Schlafzimmer nach Fingerabdrücken zu suchen.

»Ich glaube, ich weiß, wer sie umgebracht hat«, sagte Theodore zu Sauzas.

»Wer?«

»Ramón Otero. Ich bin mir nicht sicher, habe aber Grund zu der Annahme, daß er es gewesen ist.« Obwohl Theodore sich Mühe gab, ruhig zu wirken, zitterte seine Stimme.

»Wissen Sie, wo wir ihn finden können?«

»Er wohnt in der Calle San Gregorio 37. Es ist nicht weit von hier. In Richtung Kathedrale und Zócalo.«

»Aha. Und sein Verhältnis zu der Ermordeten?« fragte Sauzas und steckte sich wieder eine Zigarette an.

»Er war auch ein Freund«, sagte Theodore.

»Ich verstehe. War er auf Sie eifersüchtig?«

»Nein, überhaupt nicht. Wir sind gute Freunde. Nur daß ich … daß ich eben weiß, wie emotional Ramón ist. Und wenn er wütend ist, wird er sogar gewalttätig. Ich muß

»Wie hat er ausgesehen?« fragte Sauzas.

»Ich habe ihn nicht zu Gesicht bekommen«, sagte Theodore, während er sich zugleich vorstellte, wie ein Junge mit dreckigem weißem Hemd und heller Hose über die Treppe floh, doch kam ihm das Bild wohl nur in den Sinn, weil so viele Randalierer auf dem Flur, die auf diese Weise an die Tür gehämmert haben könnten, Hose und weißes Hemd trugen. »Nein, ich hab ihn nicht gesehen, tut mir leid. Da war nur dieser ›Ai-i‹-Schrei, genau so, dann klopfte es, und er ist fortgerannt.«

»Hm«, brummte Sauzas nicht sonderlich interessiert. »Egal, Sie glauben jedenfalls, daß es Ramón gewesen ist.«

»Er war zumindest nicht der Junge, der geschrien hat. Aber ich glaube, ja, ich denke, es wäre zumindest möglich, daß es Ramón gewesen ist.«

»Wissen Sie, ob er heute abend hier war?«

»Nein, das weiß ich nicht.« Theodore sah zu Señora de Silva hinüber. »Wissen Sie, ob Ramón heute abend hier war?«

Señora de Silva hob Augenbrauen und Hände: »Quién sabe?«

»Die Fingerabdrücke werden es uns verraten«, sagte Theodore. Er war sich plötzlich sicher, daß man Ramóns Fingerabdrücke im Schlafzimmer finden würde.

»Also schön, machen wir uns auf die Suche nach Ramón.

Der Polizist salutierte und polterte die Treppe hinab.

»Sie waren ihr Freund«, sagte Sauzas, wieder zu Theodore gewandt. »Sie waren aber nicht ihr Liebhaber, oder?«

»Na ja, doch. Manchmal.«

»Und Ramón? Er war nicht auch noch ihr Liebhaber, oder? Kommen Sie schon. Señora de Silva hat gesagt, Sie wären es beide gewesen.«

Theodore warf ihr einen Blick zu. Sie mußte ziemlich schnell auf Sauzas eingeredet haben, wenn sie ihm das alles gesagt hatte, bevor sie ins Zimmer gekommen waren. Theodore hatte sich damit abgefunden, Lelia mit Ramón zu teilen, war es längst gewohnt, doch war er es keineswegs gewohnt, vor anderen Leuten davon zu sprechen. »Das ist durchaus richtig.«

»Und da gibt es keine Eifersucht zwischen Ihnen? Sie sind alle gute Freunde?«

»Das ist korrekt«, erwiderte Theodore und begegnete dem ungläubigen Blick des Kommissars mit Fassung. Er wußte, woran Sauzas dachte. Fast jeden Tag prangten auf den Titelseiten der Zeitungen Fotos von blutverschmierten Ehefrauen, Freundinnen und Geliebten, die von ihren Ehemännern und Liebhabern umgebracht worden waren. Na ja, vielleicht ging es hier letztlich um nichts anderes, nur war das Motiv sicherlich nicht Eifersucht gewesen.

»Welche Waffe haben Sie benutzt, Señor Schiebelhut?« fragte Sauzas. »Wo ist das Messer?«

Theodore schüttelte müde den Kopf, schreckte aber im nächsten Augenblick auf, als Sauzas seine Taschen abklopfte

»Aber – ich hatte sie gerade gefunden! Ich war auf dem Weg zu einem Telefon!« Theodore sah Señora de Silva an, deren erstarrtem Gesicht jetzt anzusehen war, daß sie sich ängstlich jeder Ansicht und Meinung enthielt. »Sie müssen doch feststellen können, wann sie gestorben ist. Warum sorgen Sie nicht dafür, daß sie von einem Arzt untersucht wird?«

»Ein Arzt ist unterwegs. Außerdem habe ich sie mir selbst angesehen«, sagte Sauzas gelassen. »Und ich würde sagen, sie ist seit ein, zwei Stunden tot. Ist schließlich nicht meine erste Leiche.« Sauzas ging auf und ab, musterte Lelias farbfleckigen Tisch, die weißen Nelken und die Rumflasche, die geöffnet, aber nicht angebrochen war. Sie war noch randvoll. »Haben Sie die Blumen mitgebracht?«

»Nein«, sagte Theodore. »Die waren schon hier.« Es sah Ramón gar nicht ähnlich, Blumen mitzubringen, dachte er. Wahrscheinlich hatte Lelia den Strauß selbst gekauft und dann aus irgendeinem Grund vergessen, ihn in die Vase zu stellen. »Sie sollten die Flasche auf Fingerabdrücke untersuchen lassen. Lelia kauft immer Rum für mich. Ihre Fingerabdrücke werden drauf sein, aber vielleicht auch noch die von jemand anderem.«

Sauzas nickte. »Enrique!« rief er einen der Polizisten im

Der Beamte kam sofort und beschäftigte sich mit Theodores Händen, wobei er Lelias Arbeitstisch als Ablage benutzte.

»Señora de Silva«, sagte Sauzas, »wie oft kommt Señor Schiebelhut her?«

Verlegen wie ein Schulmädchen zuckte sie rasch die Achseln. »Ich treffe ihn – vielleicht einmal die Woche. Aber Lelia hat mir erzählt, daß er öfter kommt.«

»Sie wohnen nebenan. Haben Sie je gehört, daß die beiden sich gestritten haben?«

»Ja, manchmal«, sagte sie mit einem Blick auf Theodore. »Nichts Ernsthaftes, glaube ich. Ich weiß nicht.«

»Und wie oft kommt Ramón her?«

Wieder zuckte sie mit den Achseln. »Genausooft. So oft wie Don Teodoro.«

»Und wie ist er? Mögen Sie ihn?«

Señora de Silva suchte die Antwort in den Zimmerecken. »Ah, . Er ist nett. Sieht gut aus. Er ist in Ordnung.«

»Welchen der beiden Männer hat sie lieber gemocht?«

Langes Zögern.

Die Tür ging auf. Ein untersetzter, beleibter Mann mit kleinem Koffer kam herein, grüßte Sauzas mit kurzer Handbewegung, und Sauzas zeigte auf das Schlafzimmer.

»Also, welchen hat sie lieber gemocht?« wiederholte er dann.

»Ich glaube … Ich weiß es wirklich nicht, Señor. Ich glaube, sie hatte beide gern. Sonst hätte Lelia sie nicht so oft zu sich gelassen. Sie hatte viele Freunde. Und ihre

»Auf der Fensterbank sind die Fingerabdrücke dieses Mannes da«, sagte einer der Beamten zu Sauzas.

Theodore verfluchte seine Unachtsamkeit. »Ich glaube, ich habe mich aus dem Fenster gebeugt, um in den Hof sehen zu können.«

»Sind sie auswärts gerichtet?« fragte Sauzas den Beamten, der darauf keine Antwort wußte und mit seinen Papieren zurück ins Schlafzimmer ging.

Carlos Hidalgo kam in Begleitung eines der jungen Polizisten. Er war betrunkener als bei ihrer letzten Begegnung – Theodore kannte die Anzeichen –, doch wirkte er bloß verblüfft und wie betäubt, bis er Theodore bemerkte. Dann stürzte er auf ihn zu und legte ihm die Hände auf die Schultern.

»Teodoro, mein Alter! Was ist passiert? Lelia ist ermordet worden?«

Theodore wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Carlos hätte ihn sowieso nicht hören können, da der junge Polizist lauthals Carlos’ Namen und Adresse ausrief, als kündige er dessen Ankunft auf einem Ball an; dann wollte Carlos zum Schlafzimmer, das die Beamten noch durchsuchten, aber der dicke Polizist hielt ihn am Arm zurück. Carlos taumelte und schaute mit großen, verängstigten Augen erst auf den Polizisten und dann im Zimmer umher.

»War dieser Mann heute abend in Ihrem Haus?« fragte ihn Sauzas.

»Von wann bis wann war er bei Ihnen?«

Carlos sah argwöhnisch zu Theodore hinüber, da er den Motiven der Polizei selbst in betrunkenem Zustand nicht traute. Doch Theodore reagierte nicht.

»Ich glaube von zwölf – bis etwa eins«, sagte Carlos, was Theodore überraschend exakt fand.

»Sie können nicht genau sagen, um welche Zeit er gegangen ist?«

»Ich hab ihn nicht gehen sehen. Es waren viele Gäste auf der Party. Vielleicht hat er sich ja von meiner Frau verabschiedet …« So verstohlen, wie sich Carlos beim Sprechen umsah, hätte er auch gelogen haben können.

»Ich habe mich nicht verabschiedet«, sagte Theodore. »Als ich gehen wollte, konnte ich keinen von euch beiden finden und bin deshalb einfach gegangen und mit einem libre zu Lelia gefahren.«

»Mit einem libre zu Lelia«, wiederholte Carlos, als versuche er, sich diese unwahrscheinliche Tatsache einzuprägen.

»Also«, sagte Sauzas und wandte sich Theodore zu. »Mit einem libre zu Lelia, nachdem Sie auf der Party sicher allen gesagt hatten, daß Sie auf dem Weg nach Hause waren. Dabei wollten Sie herkommen, Lelia so rasch wie möglich umbringen und anschließend mit einem weiteren libre nach Hause fahren, stimmt’s? So hätten Sie dann ein Alibi gehabt.«

»Oh, neiin!« rief Carlos mit seiner lauten Bühnenstimme. »Dieser Mann hier –«

»Mein Flugzeug ist um fünf nach elf gelandet«, sagte Theodore. »Es war die Maschine aus Oaxaca. Das können Sie überprüfen lassen. Außerdem hat es mindestens vierzig Minuten gedauert, bis ich bei diesem Verkehr in der Innenstadt war. Und ich bin gleich zu den Hidalgos gefahren.«

»Aber warum haben Sie sich aus dem Haus der Hidalgos geschlichen, ohne sich von irgendwem zu verabschieden?«

»Ich habe mich nicht aus dem Haus geschlichen. Alle waren nur so beschäftigt!«

Plötzlich lachte Carlos auf. »Genau! Beschäftigt! Wir waren heute abend alle sehr beschäftigt!« Als Theodore und Sauzas ihn nur anstarrten, verstummte er ernüchtert. »Ach, Teodoro«, sagte er dann mitfühlend. »Gibt’s denn hier nichts zu trinken?« Er wandte sich in Richtung Küche. Theodore sah ihn stocken, als er ihre Leiche im Zimmer dahinter sah, doch setzte er gleich darauf mit trunkener Entschlossenheit seinen Weg fort.

»Fassen Sie nichts an!« rief der dicke Polizist und lief ihm hinterher.

Theodore hörte einen Streit, dann wurde etwas in ein Glas gegossen, und er wußte, daß es sich um Lelias braunen Tequila handelte.

»Mein Freund braucht einen Drink«, sagte Carlos würdevoll und ging mit Glas und Flasche zu Theodore.

Theodore nahm das Glas dankbar an. Er zitterte so, daß es beim Trinken an seine Zähne schlug.

»Gut«, sagte Carlos, »sehr gut.« Er nahm Theodore das Glas ab und schenkte sich ein.

»Genug jetzt!« befahl der dicke Polizist.

»Das ist für mich«, sagte Carlos, trank von dem Glas und reichte es Theodore weiter, ehe der dicke Polizist es ihm abnehmen konnte.

Theodore fühlte sich plötzlich erschöpft. Er ging zum Sofa, setzte sich, lehnte sich zur Seite und stützte sich auf den Ellbogen auf.

Langsam watschelte der beleibte Arzt ins Zimmer, und Sauzas drehte sich zu ihm um. – »Sie ist seit – na, zwei, drei Stunden tot. Und sie ist vergewaltigt worden«, sagte der Arzt müde und schloß die letzte Schnalle an seinem Koffer.

Vergewaltigt. Theodore fühlte, wie ihn äußerster Ekel übermannte. Er beugte sich auf dem Sofa vor und preßte die Unterarme auf die zitternden Knie. Unruhig schob er den Ärmelaufschlag zurück; es war zehn vor zwei.

Der Beamte fragte Carlos über Ramón aus.

»Ich kenne Ramón nicht besonders gut. Er arbeitet auf einem ganz anderen Gebiet«, erwiderte Carlos etwas geziert. »Ich habe ihn vielleicht dreimal in meinem Leben gesehen.«

Er hat ihn wesentlich öfter gesehen, dachte Theodore, aber das war jetzt nicht weiter wichtig. Nichts war wichtig, solange Ramón nicht da war. Er schreckte auf, als Carlos bestürzt »Verstümmelt?« rief.

Und dann kam Ramón ins Zimmer.

Theodore stand auf.

Ramón sah sich bestürzt um, dann richtete sich sein Blick auf Theodore. Er war mittelgroß, hatte schwarzes Haar und dunkle Augen, eine kräftige, kompakte Figur und dazu jenes rätselhafte Etwas, eine gewisse Vitalität, vielleicht auch nur gewisse Proportionen, die Frauen so ungeheuer attraktiv finden. Sein Gesicht konnte blitzschnell den Ausdruck ändern, wirkte aber stets anziehend, selbst unrasiert, selbst mit wirrem, ungekämmtem Haar, die Art Gesicht, die Frauen fasziniert; und wie er nun in seinem billigen Anzug und mit zerzaustem Haar im Zimmer stand, spürte Theodore, daß jeder glauben mußte, Ramón wäre Lelias Liebling gewesen.

»Wo ist sie?« fragte Ramón.

Der Polizist, der ihn am Arm hielt, zog ihn zum Schlafzimmer, und die Beamten kamen hinterher, um seine Reaktion zu beobachten. Theodore ging mit. Lelia lag auf dem Rücken, den Kopf auf dem Kissen, die malträtierten Arme lang ausgestreckt. Es sah gespenstisch aus, fast als hätte sie sich nur für einen Moment hingelegt, in ihren Kleidern, und etwas Gräßliches wäre geschehen. Theodores angeschlagenem Verstand kam das Blut wie dunkelrote Farbe vor, die man einfach abwaschen konnte. Nur wer genauer hinschaute, sah, daß Lelia keine Nase mehr hatte.

Ramón hielt sich die Hand vor den Mund. Er sackte in sich zusammen und stieß einen seltsamen, halb erstickten Laut aus. Der Polizist zog ihn an der Schulter zurück,

»Wo sind Sie heute abend gewesen, Ramón Otero?« Wie ein Automat begann diesmal der kleine dicke Polizist mit dem Verhör.

Ein Beamter durchquerte mit zwei Schritten das Zimmer und zog Ramón vom Bett fort. Die Frage mußte mehrmals wiederholt werden. Ramón schien die Stimme oder den Verstand verloren zu haben. Wieder starrte er Theodore an.

»Wo bist du heute abend gewesen?« fragte ihn nun Theodore mit seiner tiefen Stimme.

»Zu Hause. Ich war zu Hause.«

»Den ganzen Abend?« fragte Sauzas.

Ramón sah ihn mit dumpfem Blick an, eine Gesichtshälfte naß von Tränen. Mit der rechten Hand hielt er sich den Bauch.

»Du warst doch heute abend nicht hier, oder?« fragte ihn Theodore.

»Um welche Zeit?« fragte Sauzas.

Ramón schaute ihn an, als müßte er weit in die Vergangenheit zurückblicken. Plötzlich beugte er sich vor und hielt sich den Kopf.

»Was ist mit ihm?« wollte Sauzas ungeduldig von Theodore wissen.

»Vielleicht hat er Kopfschmerzen. Die hat er öfter«, sagte Theodore. »Setz dich, Ramón.«

Einer der Beamten schob Ramón zu dem langen Tisch, an dem ein Stuhl stand. Ramón brach darauf zusammen. Der Beamte nahm seine rechte Hand und begann, Abdrücke der Fingerkuppen zu nehmen.