Lydia Drosberg

DIE
RATTE
KOMMT

Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2015

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Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto: Superkid playing violin © Sergey Nivens

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Mein Einzugsgebiet

Meine Eltern

Meine Schwestern

Sonja

Die Kinder in unserer Straße

Das Nesthäkchen

Meine Ausflüge

Familie Kaufmann

In der Wohnung

Familie Lucke

Ein Missverständnis

Im Kindergarten

Immer wieder sonntags

Elas Missgeschick

André

Das gibt es nur sonntags

Mittwochabends

Unsere Untermieter

Auf dem Gut in Polen

Flucht und Rückblick

Tante Lena

Onkel Franz, der Spaßvogel

Eindrücke

Das Weihnachtsgeschenk

Tante Sonja

Erwin

Onkel Gert

Typisch Vati

Peinlich

Vati und ich fahren zu Tante Ella und Oma

Die Verwandtschaft

Im Schloss

Oma

Tante Ella

Ein seltsames Erlebnis

Flucht nach draußen

Tante Mia und Tante Antonia

Die Floh-Nacht

Die „Ostsee“

Peinliche Erinnerung

Abgeblitzt

Wieder zu Hause

Tante Inga und ihre Jungs

Susi, Marlenes Freundin

Sommer

Auf dem Dachboden

Schwitzspiele

Katzen im Bett

Das „Telefon“

Herr Teufel

Ungewollte Einblicke

Ein Paket

Zwischen matschigen Kartoffeln und Kellerasseln

Bootsfahrt zum Baden

Fast ertrunken

Vati und der Monteur

In Magdeburg

Mein neuer „Spielplatz“

Franka

Senta und Barbara im Gottesdienst

Oma Herold

Herolds Kinder

Herolds tolle Spiele

Völkerball

Eklig

Eine FDGB-Reise

Verspätete Einschulung

Musikschule

Kartoffeln stoppeln

Ein seltsames Geräusch

Winter

Wir backen Pfefferkuchen

Weihnachtsfeier im Stahlwerk

Mit Mutti beim Arzt

Weihnachten

Unverhoffter Besuch

Stress in der Musikschule

Jost

Ein lästiger Verehrer

Fasching

Winterferien

Onkel Tom Zitte

Marlene und Susi

Marlene und Martina

Peter und Konrad

Zu viel Tratsch

Der letzte Schultag vor den Ferien

Im Ferienlager

Zeit zum Spielen

Ein Wettkampf

„Westkontakt“

Frankas Katze stirbt

Allein mit der Straßenbahn

Herr Deckert rastet aus

Probleme in der Schule

Annes Verlobung

Die Stieftochter

Vatis Wellenlänge

Die neue Kaufhalle

Die falsche Freundin

Endgültig Schluss

Verdorbener Badespaß

Eine Pechsträhne

Ilsenburg

Mein Paket

Daniela

Sabrina und die Nachbarjungs

In der dritten Klasse

Im Kinderorchester

Opfertypen

Im Hort

Maike

Wochenende

Mein Gedicht

Marlene in der Ausbildung

Das ist meine Wurst!

Betet ihr nicht vor dem Essen?

Odett

Die Neuen

Der Spielplatz

Positives und Peinliches aus der Schule

Ferienarbeit

Neptunfest

Wieder in Ilsenburg

Anne und Bestensee

Mutti leidet

In Rostock

Vierte Klasse und das neue Fahrrad

Selbst entschieden

Theateraufführung

Im Kinderchor

Disco

Rolf und sein Kumpel

Die seltsame Suppe

1. Mai

Das Geburtstagsgeschenk

Enttäuschungen

Susanna

Karsten

Konzert in der Nervenklinik

Kleider machen Leute

Herr Bäckers Fauxpas

Schwiegereltern

Eine neue Familie

Campingurlaub

Verwechselt

Hartmanns

Simona

Waltraud

Der künstliche Arm

Stippvisite in Rostock

Der Swimmingpool

Fragen über unsere Kirche

Streit

Kampf um Tanja

Arne und Rolf

Missgeschick

Im Turnverein

Selbstkritisch

Christin

Eine seltsame Frage

Hochzeitsvorbereitungen

Hochzeit

Weihnachten allein

Vati kennt kein Pardon

Fluktuation

Arnes seltsames Verhalten

Marlenes Hochzeit

MEIN EINZUGSGEBIET

Wir wohnen – umgeben von großen Feldern – in einer Siedlung am Rande der Stadt. Zwischen den Feldern schlängeln sich zwei Bahngleise. Eins führt zur Nervenklinik, das andere in Richtung Stadtmitte. Das Gebiet, in dem ich aufwachse, reicht bis zum Kanal. Dahinter ragt ein riesiges Stahlwerk aus der Erde. Viele Leute sagen, es ist furchtbar laut. Doch wir hören das schon gar nicht mehr. Nur wenn die Arbeiter einen Abstich machen, dann zischt und kracht es ziemlich gewaltig. Im Dunkeln werden wir dafür von einem wunderschön erleuchteten Himmel belohnt. Also halb so schlimm.

Zwischen dem Kanal und den Bahngleisen befinden sich die Rieselfelder und eine Jauchegrube. Ihre Oberfläche sieht aus wie ein riesiger Tanzboden. Die Jauche wird in Abständen über die Felder gepumpt. Das stinkt natürlich fürchterlich, doch was hier wächst ist einzigartig. Am Rand der Felder sind mannshohe Betontonnen im Boden eingelassen. Sie heißen Silo und in ihnen wird Viehfutter für den Winter gelagert.

Jenseits der Bahn reihen sich Zweifamilienhäuser wie Perlen auf einer Kette aneinander und ergeben eine lange Straße. Von solchen Straßen gibt es sieben, fünf parallel und zwei quer verlaufende. Zu jeder Doppelhaushälfte gehört ein 1000 Quadratmeter großer Garten. Unser Haus liegt fast am Ende der Straße. Neben unserem Garten verläuft ein schwarzer Weg durch das ganze Gebiet. Er endet bei den Neubauten, die für die Armeeangehörigen hochgezogen wurden.

Wir haben einen ziemlich bunten Gartenzaun: eine Latte grün, eine blau, eine gelb, eine braun. Je nachdem, welche Farbe sich gerade im Schuppen befindet. Vati verstreicht alles, was weg muss.

Irgendwann im Winter entdeckt Mutti etwas Buntes mitten auf dem verschneiten Feld. „Guck mal, Heinz, was steht denn da hinten im Schnee?“, fragt sie und zeigt mit dem Finger in Richtung Bahn.

Vati schaut ebenfalls aus dem Fenster in diese Richtung. Er kneift die Augen zusammen, als wenn er nicht richtig sehen kann.

„Sag mal, Heinz, siehst du auch, was ich sehe?“, fragt meine Mutter erstaunt.

Meine Schwestern kommen schnell herbeigerannt. „Ist denn das zu fassen, dort steht unser Gartentor!“, ruft mein Vater belustigt.

Meine Schwestern und ich drücken uns die Nasen am Fenster platt. Und tatsächlich, weit weg, mitten auf dem Feld steht mutterseelenallein unsere Gartentür im Schnee und leuchtet in der Sonne.

„Wie ist denn die da hingekommen?“, wundert sich meine Mutter.

„Da hat sich wohl einer einen schlechten Scherz erlaubt“, sagt mein Vater und schmunzelt.

„Ich will ja nichts sagen, aber ich kenne nur eine Familie, die so etwas drauf hat“, behauptet eine meiner Schwestern, und jeder von uns weiß, wer damit gemeint ist.

„Sicher zweifelt niemand daran, dass es unsere Eingangstür ist“, denke ich laut. „Keiner, außer uns, besitzt solch einen bunten Gartenzaun. Und wenn wir sie dort auf dem Feld sehen, dann kann auch jeder andere aus unserer Straße sie erblicken und sich seinen Reim darauf machen.“

Meine Schwestern schämen sich fast zu Tode, dass sie das Tor vom Feld holen müssen. Doch Vati besteht darauf und akzeptiert keine Widerrede.

Der Vorgarten ist im Sommer genauso bunt wie unser Zaun. Für den Garten ist meine Mutti zuständig. Er ist gepflegt und voll schöner Blumen. Der Hof und der Vorgarten sind durch eine Mauer getrennt. Um auf den Hof zu kommen, muss man ein großes Tor durchschreiten. Der Hof liegt fast den ganzen Tag in der Sonne.

Unser Haus hat zwei Etagen. Unten wohnen wir und oben die Untermieter. Dem Haus zugewandt liegen übereck Veranda, Küche und Bad. Die Stallungen sind gleich am Bad angebaut. Gegenüber befinden sich der Schuppen und ein Platz für die Hollywoodschaukel. Der Apfelbaum im Hof trägt die besten Äpfel der Welt. Neben dem Stall und hinter dem Apfelbaum kann man die Teppichstange und die Fäkaliengrube sehen. Vati kann froh sein, dass wir da noch nicht reingefallen sind, denn die Abdeckung ist echt lebensgefährlich. Die Grube ist mir zwar bisher erspart geblieben, dafür bin ich aber, als meine Eltern das Dach gestrichen haben, mit dem Hintern in flüssigen Teer gelandet. Das war genauso unangenehm. Da mussten sie mir den Teer vom Po abziehen, nachdem er erkaltet war. Die Teppichstange ist aus massivem Eisen und sie ist Mutti schon mal beim Teppichklopfen auf den Kopf gefallen. Da brummte ihr aber mächtig der Schädel.

Hinterm Schuppen stehen unsere Kaninchenställe. Die sind krumm und schief gebaut, erfüllen aber ihren Zweck. Ratet mal, wer die gebaut hat? Der Garten ist voller Obstbäume. In den Flächen dazwischen wachsen dicht gedrängt Erdbeeren und verschiedenste Gemüsesorten.

Wir lieben unser Haus, jedenfalls im Sommer. Sommer heißt: Alles ist warm und gemütlich, es gibt viel Platz und viel frische Luft. Im Winter ist es kalt und wir müssen zusammenrücken. Und alle warten sehnsüchtig auf die warme Jahreszeit.

Wir, das sind Mutti, Vati, meine drei Schwestern und ich.

MEINE ELTERN

Vati hat das Haus gekauft, als meine älteste Schwester schon geboren war. Meine Mutter trennte sich kurzzeitig von meinem Vater und lebte eine Weile bei ihrer ältesten Schwester. Doch Vati holte sie mit dem Haus wieder zurück. Mutti arbeitete damals noch als Rollgangfahrerin im Stahlwerk. Bis zum dritten Kind war sie dort tätig. Meine drei älteren Schwestern gingen derweil in die Wochenkrippe.

Als ich auf die Welt komme, entschließt sich meine Mutter, nicht mehr im Stahlwerk in drei Schichten arbeiten zu gehen. Jetzt bekommt nur noch einer in unserer Familie ein Einkommen und das Geld ist immer knapp. Da meine Mutter über kein eigenes Geld verfügt, ist Vati unser großer Boss. Er meint, wenn er die Mäuse nach Hause bringt, kann er auch bestimmen, was damit geschieht. Das gefällt Mutti gar nicht und sie will es auch nicht akzeptieren. Sie ist der Meinung, dass sie genauso viel zu Hause arbeiten muss wie Vati auf seiner Arbeit. Außerdem, meint sie, ist oft mehr Geld für Vatis Bedürfnisse übrig, als für ihre und die der Kinder. Doch da kann sie sagen, was sie will, Vati lässt sich in dieser Hinsicht nicht erweichen. So muss sie noch ein bisschen nebenbei arbeiten gehen, um sich und uns manch kleinen Wunsch erfüllen zu können.

Mutti ist sehr geschickt. Sie kann nähen, tapezieren, bekommt jeden Nagel in die Wand und kann arbeiten wie ein Pferd. Sie ist sich nicht zu fein, Gelegenheitsarbeiten anzunehmen, die sonst keiner machen will. So arbeitet sie im Winter in der Firma Korten und im Sommer auf dem Feld in Werder. Beides sind harte Jobs mit wenig Verdienst. Aus Werder bringt sie Obst in Hülle und Fülle mit. Da können wir uns satt essen, und der Rest wird eingeweckt. Manchmal weckt sie tagelang bis spät in die Nacht ein. Zum Schluss ist ihr ganz übel und sie möchte die Arbeit am liebsten hinschmeißen, weil sie das Einwecken so satt hat. Das ist aber die Ausnahme. Meistens ist sie gern im Haus tätig und sie singt bei der Arbeit alle Volkslieder, die sie als Kind lernte. Auch die, die man nicht singen sollte, wie zum Beispiel „Schwarzbraun ist die Haselnuss“. Dann sagt sie im Flüsterton: „Das darfst du draußen nicht singen, das ist verboten.“

Zu Hause bekommt sie alles im Griff. Nur außerhalb unserer vier Wände fühlt sie sich etwas verloren. Naja, Mutti schämt sich dafür, dass sie nicht so gut Deutsch sprechen kann. Das behindert sie sehr im Umgang mit anderen Leuten. Die Behördengänge muss deshalb Vati erledigen. Ich finde das mit der Sprache gar nicht so schlimm. Es gibt ihr eher eine persönliche Note, wenn sie ihr „Polnisch rückwärts“ redet. Eigentlich hört es sich ganz niedlich an. Wie Mutti eben. Aber mir glaubt sie ja sowieso nicht.

Mutti hat eine Freundin, die redet genau so wie sie. Mit der fährt sie nach Werder. Die Frau hat zwei Söhne mit roten Locken, die sind ein klein wenig älter als ich und ziemlich aufgeweckt. Ihr Mann ist super nett. Und sie wohnen in unserer Siedlung, nicht weit von unserer Kirche entfernt. Manchmal schaut Mutti nach dem Gottesdienst bei ihnen vorbei.

Einmal fahre ich mit den beiden Jungs und dem Vater in ihrem Trabbi mit. Ich betätige aus Versehen einen Knopf, der meine Tür nicht mehr aufgehen lässt.

„Ach du Schreck, was hast du denn jetzt angestellt?“, fragt der Mann ganz erschrocken und rüttelt an seiner Tür. „Mann, die geht auch nicht mehr auf!“

Ich reagiere panisch, weil wir jetzt nicht mehr aus dem Auto rauskommen und versuche verzweifelt, meine Tür zu öffnen. Da fangen die drei an zu lachen und ich merke, dass ich veräppelt werde. Mit hochrotem Kopf sitze ich auf der hinteren Bank bei den Jungs, während sie mir erklären, dass der Knopf nur herausgezogen werden muss und dann ist alles wieder in Ordnung. Wahrscheinlich sehen wir in dem Moment aus wie Drillinge. Mein rotes Gesicht und der wilde Ausdruck darin passen gut zu ihren roten Locken.

Apropos rote Haare. Die Haare erinnern mich an das Buch „Der Zauberer Faulebaul“. Der luchst einem Jungen, der zu faul ist zum Lernen, seine wunderschönen roten Locken ab und lässt ihn dafür, ohne lernen zu müssen, gut in der Schule sein. In diesem Buch könnten die beiden die Hauptrolle spielen, vom Aussehen und auch vom Charakter her.

Mein Vater ist sehr gewissenhaft und pünktlich, was seine Arbeit betrifft. Gestiefelt und gespornt fährt er mit dem Fahrrad von zu Hause los, als wenn es etwas zu tun gibt, was ganz wichtig und unverschiebbar ist. Nach der Arbeit ist er kaputt und legt sich mit einem Kissen auf dem Bauch hin. Oberstes Gesetz ist es jetzt, ihn nicht beim Schlafen zu stören. Auch wenn er aus der Nachtschicht kommt, müssen wir mucksmäuschenstill sein.

Vati ist auf eine gewisse Regelmäßigkeit in seinem Leben bedacht. So darf er auf keinen Fall seine geliebte Tagesschau verpassen. Egal was passiert. Punkt 19 : 00 Uhr muss er vorm Fernseher sitzen.

Vati verreist auch gerne. Wenn seine Arbeit ihm ein paar freie Tage beschert, dann kann es passieren, dass er nach Hause kommt und sagt: „Mutti, zieh die Kinder an, wir fahren jetzt zu Oma!“ Das findet meine Mutti gar nicht witzig. Oft ist sie mitten in der Arbeit und soll dann alles stehen und liegen lassen? Aber eins ist gewiss: Vati fährt! Mit oder ohne Mutti. Manchmal wählt Mutti die letzte Variante. Einmal wollte Vati auch Hals über Kopf wegfahren und bedrängte meine Mutter so doll, dass sie sich furchtbar anstrengen musste, ihre Arbeit zu schaffen. Dabei kam sie mächtig ins Schwitzen. Als sie das Fenster öffnete, um den frisch gebohnerten Fußboden schneller trocknen zu lassen, stand sie natürlich im Zug und wurde dadurch furchtbar krank. So hat sie es jedenfalls erzählt. Das will sie auf keinen Fall noch einmal riskieren.

Vati wird des Öfteren von seinem Betrieb zur Kur geschickt. Dann fährt er sehr leidend hin und kommt voller Schaffenskraft wieder nach Hause zurück. Dreimal dürft ihr raten, was Mutti dazu sagt.

Doch einmal kommt er nicht wie gewohnt nach ein paar Wochen sichtlich erholt, sondern vorzeitig und etwas deformiert in einem Krankenwagen zurück. Er erzählt uns dazu folgende Geschichte. Vati will am Sonntagmorgen die Kirche besuchen. Doch das Kliniktor ist noch verschlossen. Da hopst er einfach aus dem Fenster und über die Klinikmauer. Das ist scheinbar keine gute Idee, denn er bricht sich dabei ein Bein. „Was mache ich nur?“, denkt sich mein Vater verzweifelt. „Wenn die Klinikleitung das rausbekommt, muss ich den Kuraufenthalt selber bezahlen. So viel Geld habe ich nicht!“ Er liegt im Dreck in seinem guten Anzug und jammert vor Schmerzen vor sich hin. Aber auch seine Lage lässt ihn verzweifeln. Da sehen ihn seine Zimmergenossen vom Fenster aus und erkennen die Situation. Sie ziehen ihn wieder über die Mauer zurück und auch noch durchs Fenster wieder hinein. Mein Vater kann die Schmerzen beim Hin- und Herzerren kaum ertragen, aber da muss er jetzt durch. Zum Schluss legen sie ihn unterhalb einer Treppe im Heim ab. So sieht es so aus, als wäre er die Treppe hinuntergestürzt und hätte sich dabei das Bein gebrochen. Als der Arzt kommt, fragt er skeptisch: „Was? Hier soll Herr Wedding hinuntergefallen sein? Da stimmt doch etwas nicht!“ Die Zimmergenossen halten vor Schreck den Atem an und mein Vater schaut niedergeschlagen und voller Schmerzen ganz dumm aus der Wäsche. „Na, wollen wir das mal glauben“, meint der Doktor und macht sich daran, alles für Vatis Genesung in die Wege zu leiten. Mein Vater wird seinen Zimmerkameraden und dem Arzt, der mitspielte, immer dankbar sein.

„Das hätte ganz schön ins Auge gehen können“, sagt er am Ende ernst. Doch dann sitzt ihm wieder der Schalk im Nacken und er meint grinsend: „Da bin ich wohl noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen.“

MEINE SCHWESTERN

Nun liegt Vati zu Hause und ist auf seine drei Mädels angewiesen, wenn Mutti nicht daheim ist. Zum Glück sind gerade Sommerferien. Die drei bekommen die Aufgabe, meinem Vater morgens das Wasser zum Waschen zu bringen und sie müssen ihm außerdem noch das Essen machen. Doch kaum sind sie aufgewacht, schmieren sie sich erst einmal selber eine Stulle und sind sofort nach draußen verschwunden. Beim Spielen denken sie nicht an ihren Vater und sein kaputtes Bein. Bis sie etwas Gestreiftes auf dem Verandafußboden entdecken. „Ach du Schreck, das ist doch Vati in seinem Pyjama“, geht es ihnen schuldbewusst durch den Kopf. „Den haben wir ja ganz vergessen!“

Er kriecht mit hochrotem Kopf auf der Erde entlang und schafft es gerade so, auf den Hof zu gelangen. Dort macht er sich schimpfend bemerkbar. „Was soll das denn, ihr spielt hier und ich bekomme kein Wasser zum Waschen und kein Essen! So geht das aber nicht!“

Die Mädels schämen sich unheimlich, ihren Vater vergessen zu haben. Wie er da so auf dem Fußboden liegt, tut er ihnen unendlich leid. Auf einmal wissen sie ganz genau, wie sie handeln müssen. Erst helfen sie ihm ins Bett, dann rennen sie schnell los, um alles zu erledigen. Eine flitzt und holt die Wasserschüssel mit frischem Wasser. Die andere bringt die Handtücher und die dritte sorgt dafür, dass das Frühstück neben dem Bett steht.

Dieses Erlebnis hält sie aber nicht davon ab, den alten Rollstuhl, den Mutti von Oma für Vati geliehen hat, zum Spielen zu benutzen. Das alte Monster zieht sie magisch an. Ein großer, schwarzer Lederstuhl mit drei Rädern - zwei große neben dem Stuhl und ein kleines, bewegliches in der Mitte hinten. Die Fußstütze, ein schwarzer Holzkasten, kann man hoch- und runterklappen. Durch das dritte Rad, das bewegliche, ist der Rollstuhl ganz schön mobil. So kann man sich mit ihm blitzschnell um die eigene Achse drehen. Das macht großen Spaß.

„Kommt, wir spielen mit dem Ding draußen“, schlägt Marlene vor. Es ist gerade Nachmittag und die Stahlwerker kommen von der Schicht nach Hause. Marlene sitzt im Stuhl, Ela steht dahinter und versucht, ihn mit voller Kraft in Gang zu bringen. Erst geht es ziemlich schwer. Dann fängt sie an zu rennen. Zum Schluss rast der Rollstuhl fast von alleine los. Das bringt Marlene auf eine Idee: „Ela, komm, setz du dich jetzt mal rein!“

Sie rennt mit Eleonora und dem Wagen einer ganzen Traube Arbeitern entgegen. Kurz bevor sie sie erreichen, gibt sie dem Ungetüm noch einen gewaltigen Schups und Eleonora rast samt Rollstuhl in die Menschenmassen. Eleonora schämt sich fast zu Tode, als sie so durch die vielen Arbeiter rast. Die springen schnell zur Seite. Manche schimpfen, manche finden es auch witzig und lachen über meine Schwestern.

Die Peinlichkeit ist schnell vergessen und das Spiel geht von vorne los. Wer auf dem Stuhl sitzt, schämt sich und schreit, und der andere schupst und lacht sich halb kaputt.

Annedore ist eigentlich ein süßes Mädchen, jedoch mit sich und ihrer Umwelt nicht ganz zufrieden. Zum Beispiel ärgert sie sich ständig, dass Eleonora und Marlene solche schönen lockigen Haare von meinem Vater geerbt haben und sie nicht. Zudem hätte Anne auch liebend gerne ein Instrument gespielt. Doch meine Eltern sind erst bei Eleonora und Marlene auf die Idee gekommen, ihre Kinder in die Musikschule zu schicken. Einmal kommt sie zu mir in mein Bett, umklammert mich und weint bitterlich: „Du hast so eine zarte Haut und ich so ein beschissenes Pickelgesicht.“

Kein Wunder, geht es mir durch den Kopf, ich bin erst fünf Jahre alt und du 15, mitten in der Pubertät. Dabei muss sie gar nicht so jammern! So schlimm wie sie tut, sieht sie doch gar nicht aus. Irgendwie kann sie das Leben nicht so nehmen, wie es ist. Mutti macht sich große Sorgen um Anne. Meine Schwester fühlt sich schon frühzeitig für Ela und Marlene verantwortlich. Es kommt schon mal vor, dass sie die beiden mit ihren Fäusten verteidigt.

Einmal kommen alle drei vom Kindergarten, da begegnet ihnen ein Mann mit Motorrad. Der fragt: „Will nicht eine von euch mit mir eine Runde drehen?“ Ela und Marlene sind schon ganz heiß auf die Motorradfahrt. Sie reißen und ziehen an Annes Hand und streiten sich, wer zuerst mit dem Mann mitfahren darf. Anne hält die beiden mit Gewalt fest. Zu dem Motorradfahrer sagt sie unmissverständlich, dass sie jetzt nach Hause müssten.

„Ein Glück, dass Anne so reagiert hat“, sagt meine Mutter später. „Wer weiß, was sonst noch passiert wäre?“

Meine Mutter kann sich hundertprozentig auf Anne verlassen, wenn sie ihr die Kleinen anvertraut. Lange vor dem Ereignis ist sie, um das zu prüfen, den dreien hinterhergeschlichen. Sie wirft sich einen alten, schwarzen Mantel mit Kapuze über und fängt extra stark an zu humpeln. Die drei merken schon lange, dass jemand hinter ihnen her ist und bekommen es mit der Angst zu tun. Jetzt fangen sie an zu rennen. Doch die unheimliche Frau beschleunigt ebenfalls ihren humpelnden Gang. Annedore, Eleonora und Marlene erreichen gleich ihr Ziel. Noch ein paar Schritte und sie können der bösen Frau durch unser Gartentor entfliehen. Schnell öffnet Annedore die Tür und lotst ihre kleinen Geschwister hinter den rettenden Zaun. Dabei wirft sie noch einen letzten Blick auf die schreckliche Gestalt. Die bleibt ebenfalls stehen, zieht ihren Mantel aus und lacht sich halb kaputt. „Mutti“, ruft Anne ungläubig, „was machst du denn hier?“ Mutti weiß jetzt, dass sie sich auf Anne verlassen kann.

In der Schule ist Anne immer gewissenhaft und fleißig, so wie Vati auf der Arbeit. Ihre Klassenkameradinnen will sie nicht mit nach Hause bringen, denn sie hat ihnen erzählt, dass wir ganz tolle Spielsachen besitzen. Was natürlich nicht stimmt. Die Angeberei der anderen ist ihr mächtig auf die Nerven gegangen. Da erfand sie halt unsere tollen Spielsachen. Nun muss sie aufpassen, dass ihre Lügen keine langen Beine kriegen!

Anne wehrt sich lange gegen das Eintreten in die FDJ – wegen der Kirche. Ihre Klassenlehrerin stellt sie jeden Tag deswegen zur Rede. Bis sie keine Lust mehr hat, auf ihre Fragen zu antworten und doch noch in die FDJ geht. Dort muss sie jeden Tag sagen: „Das geloben wir!“ Diese Aussage gefällt ihr ganz und gar nicht und sie wandelt den Satz einfach um in: „Das globen wir!“ Obwohl das ja fast dasselbe bedeutet, hilft es ihr, den Satz zu entschärfen. Vati hat uns mal erzählt, dass die Leute im Krieg anstatt „Heil Hitler“ „Heil Schitler“ gerufen haben, um ihrer Überzeugung treu zu bleiben. Ich glaube, diese List hat Anne hier auch angewendet.

Vati wäre es am liebsten, wenn Anne so schnell wie möglich die Schule verlässt und selbst Geld verdient. Doch ihre Lehrerin ist da anderer Meinung: „Anne, du bist doch so ein intelligentes Mädchen, warum machst du denn nicht zehn Klassen?“ Anne gesteht, dass sie eigentlich weiter zur Schule gehen will. Die Klassenlehrerin schreibt kurzerhand einen Brief an den Betrieb, in dem Anne lernen soll, und ermöglicht ihr damit, zwei Jahre weiter in die Schule zu gehen.

Eleonora ist die Hübscheste von uns allen. Mit langen Locken und viel Charme erobert sie die Herzen ihrer Familienmitglieder im Sturm. In der Schule kann sie die Lehrer anschauen, als würde sie sich nur für den Unterricht interessieren. Dabei ist sie schon längst in ihre Fantasiewelt verschwunden. Am liebsten hält sie sich zu Hause bei Mutti und ihren Geschwistern auf. Ela ist meistens sehr umgänglich und angepasst. Doch wenn ihre Schwestern Dummheiten aushecken, will sie natürlich auch mit dabei sein. Wenn meine Eltern nach einem langen Tag in Ruhe gelassen werden wollen, dann geht es für die drei erst richtig los. Sie toben, dass sich die Balken biegen. Das neueste Spiel heißt: Von einem kleinen Schrank auf einen großen Schrank klettern und dann vom großen Schrank ins Bett der Eltern springen. Das macht großen Spaß und wird so lange wiederholt, bis Vati kommt, um den Mädels eine Tracht Prügel zu verpassen. Doch wenn Vati sich ein Kind schnappt, um es zu verdreschen, brüllen die anderen so laut, dass die Nachbarn denken, Weddings bringen ihre Kinder um. Die drei schwören bei allem, was ihnen heilig ist, nie wieder unartig zu sein. Doch kaum ist Vati aus der Türe raus, geht die Sache von vorne los!

Einmal bedarf es nicht einmal der Androhung von Prügel, um sie zur Vernunft zu bringen: Meine Schwestern sind allein zu Hause. Sie üben Salto vorwärts über die Bettkante von einem in das andere Bett. Plötzlich hören sie unter sich ein Geräusch. Es ähnelt einer menschlichen Stimme, die etwas unheimlich und langgezogen „Hu“ sagt.

„Habt ihr das eben gehört?“, fragt Annedore.

„Ja“, meinen die beiden anderen ängstlich.

Die Situation kommt den dreien so gruselig vor, dass sie sich augenblicklich hinlegen und schlafen. Annedore ist voll und ganz überzeugt, dass die Stimme von „oben“ kam, um sie zu warnen, mit dem Mist aufzuhören, damit nicht noch etwas Schlimmes passiert!

Eleonora geht zur Musikschule und lernt zuerst Akkordeon und dann Klavier spielen. Sie hat mal erzählt, dass der Lehrer in der Musikschule stets hinter ihr steht und an ihrer Schulter und ihren Haaren herumstreichelt. Das kommt ihr sehr seltsam vor. Doch da er nur ihre Haare und ihre Schultern berührt und sie obendrein kräftig lobt, ist es dann doch nicht so schlimm.

Ela kann auch gut andere Leute nachmachen. Sie stellt sich vor den Spiegel und nennt das Pantomime. Am besten gefällt mir, wie sie meinen Vater imitiert, wenn er seine Tabletten schluckt. Das ist echt bühnenreif. Sie nimmt die imaginären Tabletten, tut so, als wenn sie einen Schluck Wasser hinterherkippt, schüttelt alles mit gesenktem Kopf in ihrem Mund durcheinander, um dann das Fantasiegemisch mit einem Ruck in ihrem Rachen verschwinden zu lassen.

Marlene und Ela sehen sich ziemlich ähnlich. Deshalb halten Fremde sie oft für Zwillinge. Doch Marlene ist in Wirklichkeit über ein Jahr jünger als Ela, und vom Wesen her trennen sie Welten.

Marlene ist wild und voller verrückter Ideen. Sie bringt alle ihre Freundinnen mit nach Hause und ist überall beliebt. In die Schule geht sie gern und in der Hofpause ist sie immer von einer Traube Mädchen umringt. Ihre treueste Freundin ist Martina, mit ihr geht sie durch dick und dünn. Die witzigen Ideen sprudeln nur so aus Marlene heraus.

Als Eleonora und Marlene gemeinsam vom Religionsunterricht kommen, hat Marlene zum Beispiel mal wieder solch eine glorreiche Idee: „Komm, Ela, wir werfen jetzt unsere Taschen soweit wir können nach vorne. Guck mal, so!“ Und sie demonstriert ihrer Schwester, wie sie es meint und schmeißt ihre Tasche im hohen Bogen in die Weltgeschichte. Das Spiel kann beginnen. Sie pfeffern ihre Taschen in die gezeigte Richtung. Ein, zwei Mal mit Erfolg. Das dritte Mal landet Marlenes Tasche in einem Vorgarten, genau unter einem Fenster, das offen steht.

„Mist, was jetzt?“, fragt Ela.

„Los, du stehst Schmiere und schaust, ob die Leute nicht grade aus dem Fenster gucken, wenn ich in ihrem Vorgarten rumkrieche“, sagt Marlene schelmisch.

Marlene schleicht an der Gartenpforte vorbei, huscht hinter den nächsten Busch, kämpft sich unterm Fenster vorbei und schmeißt sich in den Dreck, um ihre Tasche zu bekommen.

Ela jammert: „Marlene, mach schnell, dahinten kommen Leute!“

Marlene robbt auf dem Bauch dem Ausgang entgegen und kommt auf allen vieren aus der Tür herausgekrochen. „Wo sind denn die Leute?“, fragt sie.

„Die sind zum Glück da hinten abgebogen. Aber im Haus war jemand. Der schaute immer so komisch her. Jetzt ist er wieder verschwunden“, meint Eleonora.

Ela hilft Marlene hoch und sie rennen lachend davon.

Oder ein anderes Beispiel: Anne, Ela und Marlene kommen von der Kirche nach Hause. Marlene stiftet sie dazu an, im Gleichschritt zu laufen. „Los, rechts fangen wir an!“, befiehlt sie. „Rechts, links und rechts, links!“ Die Mädchen sind so mit ihrem Gleichschritt beschäftigt, dass sie gar nicht mehr auf die Straße achten. „Und rechts und links“, müssen sie sich immer wieder sagen, um nicht aus dem Tritt zu kommen. Sie geraten dabei etwas auf die rechte Seite der Straße. Ehe sie sich versehen, knallen sie heftig gegen die Hinterseite eines stehenden Autos. Ein Mann, der sie dabei beobachtet, schüttelt vor Verwunderung den Kopf. „So viel Blödheit geht ja auf keine Kuhhaut“, sagt er und wendet sich achselzuckend ab.

SONJA

Marlene geht auch zur Musikschule, sie lernt bei Herrn Deckert Geige spielen. Dort hat sie Sonja kennen gelernt. Sonja ist im Sommer bei uns.

Ich sitze gerade auf unserem Kirschbaum und lasse die Beine baumeln. Ein Ast des Baumes ist so gewachsen, dass man gut drauf sitzen, aber auch „Schweinebaumeln“ daran machen kann. Sonja gesellt sich zu mir und fängt an, mit mir zu quatschen. Dabei steckt sie sich eine Kirsche nach der anderen in den Mund. Sie isst die Kirschen mit so viel Genuss, dass es eine Freude ist, ihr dabei zuzuschauen. Ich weiß aber, dass die Kirschen dieses Jahr voller Maden sind und teile es Sonja mit. Die sagt nur: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, und futtert genüsslich weiter. Habe ich mich vielleicht getäuscht und es sind gar keine Maden in den Kirschen? Ich esse genau so gerne Kirschen wie Sonja und es wäre toll, diese Früchte verspeisen zu können. Von außen sehen sie ja sehr lecker aus. Doch halt, ich werde mal nachschauen, wie es in der Frucht aussieht. Ich teile die Kirsche in zwei Hälften. Igitt, vier Maden tummeln sich darin. Ich habe es doch gewusst, dass man die Früchte nicht essen kann, denke ich verächtlich. Jetzt ist mir der Appetit auf Kirschen gänzlich vergangen. Wie Sonja die Maden runterschlucken kann, ist mir ein Rätsel!

DIE KINDER IN UNSERER STRASSE

In unserer Straße gibt es eine ganze Menge Kinder für meine Schwestern zum Spielen. Da sind die zwei Mädchen, die am Anfang der Straße wohnen, Bolle und Kläuschen, Herolds Kinder, Iris Sander und die vielen Kinder von Kopinskies. Iris beschäftigt sich gerne mit unseren Mädels, obwohl sie schon etwas älter ist und in einer ganz anderen Liga mitspielen könnte.

Mutti sagt immer: „Du bist doch schon viel zu alt für meine Kinder, die passen doch gar nicht zu dir.“

„Mir macht es aber solchen Spaß, mit ihnen zu spielen“, verteidigt sich Iris.

Was soll meine Mutter dazu noch sagen?

Iris hat immer lustige Ideen. Da ist sie bei meinen Schwestern an der richtigen Adresse. Iris schnappt sich Marlene, verfrachtet sie in unseren alten Kinderwagen und legt ein, zwei Decken über sie. Obendrauf thront unser Kater Peter. So sieht es aus, als würden sie mit Peter spazieren gehen.

Anne und Ela geben drinnen Bescheid: „Mutti, Marlene ist weg, wir müssen sie unbedingt suchen.“

Iris rennt mit dem Kinderwagen voraus und meine beiden Schwestern hinterher. Draußen freuen sie sich diebisch über die gelungene Täuschung und spazieren noch eine ganze Weile die Straßen hoch und runter.

Kläuschen ist ein gutmütiger Kerl. Er hilft meinen Schwestern, wo er nur kann. Meine Schwestern dürfen nur raus, wenn sie bestimmte Arbeiten erledigt haben. Davon gibt es viele, zum Beispiel Unkraut jäten oder Gras holen. Oder, wie in jenem Sommer, Holz sägen. Denn eines Tages hält bei uns ein Eisenbahnwaggon mitten auf der Strecke und es werden Berge von Holz abgeladen. So ziemlich jeder aus unserer Straße kommt mit Schubkarren, Handwagen oder Eimer, um sich seine Portion vom dicken Kuchen zu holen. Gutes, trockenes Holz zum Verfeuern. Anne schuftet wie eine Alte, sodass Mutti schon wieder Angst um sie hat. Ich darf auch mit. Wir wühlen tagelang in dem Holz herum und holen raus, was nur rauszuholen ist. Es geht alles gut. Bis zu der Spanplatte, die zweimal größer ist als ich und voller Nägel steckt.

„Vati, ich kann sie nicht mehr halten!“, schreie ich. Dann rutscht sie mir aus der Hand und ich spüre einen Schmerz im Oberarm. Dabei merke ich, wie ich im wahrsten Sinne des Wortes an der Spanplatte festgenagelt bin.

Mein Vater kommt angerannt und befreit mich von der Last und zieht mir dabei den Nagel aus dem Arm. „Mädel, die ist doch viel zu groß für dich!“ Erst dann sieht er die Bescherung. Ela kommt herbeigeeilt und zieht mir den Pullover aus. Sie stellt fest, dass ich ganz schön blute. Dann nimmt sie meinen Oberarm in den Mund und saugt daran. Angeekelt spuckt sie das Blut wieder aus. Sie saugt noch und noch einmal, als hinge ihr Leben davon ab. „So kannst du wenigstens keine Blutvergiftung bekommen“, erklärt sie mir. „Das habe ich in einem Film gesehen.“ Zum Schluss wickelt sie mir ein dreckiges Taschentuch um die Wunde.

„Na, das ist aber nicht gerade blütenweiß“, sage ich. „Ich meine nur, wegen der Blutvergiftung …“

Doch Ela findet das ganz in Ordnung so. In ihrem Film haben die das wahrscheinlich auch so gemacht. Für heute bin ich außer Gefecht gesetzt. Doch meinen Schwestern steht noch das Beste bevor.

Nun dürfen sie so lange nicht mehr baden gehen, bis das Holz gesägt und im Stall verschwunden ist. Abwechselnd stehen Bolle und Kläuschen vor unserer Tür, um unsere Mädels zum Baden abzuholen. Mein Vater sagt: „Wenn ihr mit den dreien baden gehen wollt, dann müsst ihr erst einmal kräftig mithelfen.“ Das ist Vatis Taktik: Nimm immer, was du kriegen kannst. Bolle ist gleich verschwunden. Kläuschen lässt sich auf den Deal ein. Sie sägen und sägen und die Schweißtropfen rennen schon von ihren Gesichtern.

Als Erster ist mein Vater verschwunden. Dann machen sich meine Schwestern wegen irgendeines läppischen Vorwandes aus dem Staub. So steht Kläuschen zum Schluss alleine da und sägt, was das Zeug hält. Wenn ich mich nicht täusche, sind die Mädels schon lange mit Bolle zum Baden verschwunden!

Mit Bolle sind meine Schwestern am liebsten zusammen. Er hat immer so tolle Ideen und es ist nie langweilig mit ihm. Jetzt ist er schon im ersten Lehrjahr. Zu seiner Brigadefeier will er natürlich auch eine Begleiterin mitbringen. So geht er zu meinem Vater und bettelt: „Ach, Herr Wedding, geben Sie mir doch eine Ihrer Töchter zum Fest mit. Nur eine, Eleonora oder Marlene.“

Mein Vater antwortet: „Nein, die sind zu jung, die kriegst du nicht!“

Bolle lässt nicht locker: „Ach, Herr Wedding, geben Sie Ihrem Herzen doch einen Ruck. Am liebsten wäre mir Marlene.“ „Nein, die ist doch erst recht zu jung“, sagt mein Vater empört. „Dann Eleonora“, bettelt Bolle weiter. Nach langem Hin und Her sagt mein Vater: „Na gut, Annedore kannst du haben.“ Aber die will Bolle nicht!

DAS NESTHÄKCHEN

Ich bin das Nesthäkchen unserer Familie und zehn Jahre jünger als meine älteste Schwester. Als es mit meiner Geburt losgeht, steht meine Mutter gerade am Waschtrog und wäscht unsere Wäsche. Dabei platzt ihr die Fruchtblase. „Marlene, Eleonora, Annedore, kommt schnell her! Ihr müsst sofort zum Stahlwerk laufen und euren Vater holen!“

Tapfer rennen sie über die Stahlwerkbrücke und erzählen dem Pförtner, was passiert ist. „Wir sollen auch noch sagen, dass Vati gleich den Krankenwagen bestellen muss“, fügen sie aufgeregt hinzu.

In den ersten Jahren bin ich ziemlich oft krank. Als ich das erste Mal ins Krankenhaus muss, habe ich massiven Durchfall. Zuvor wurde meine Mutter vom Arzt ausgeschimpft, weil sie seiner Meinung nach viel zu spät in seine Praxis kam. „Mit Wasserverlust bei einem Kleinkind ist nicht zu spaßen, Frau Wedding“, sagt er streng.

Das zweite Mal komme ich ins Krankenhaus, weil meine Mandeln raus sollen. Ich habe andauernd Fieber und Atembeschwerden. Dabei ziehe ich die Luft geräuschvoll wie ein Asthmakranker ein und stoße sie ebenso laut wieder aus. Meine Schwestern machen mir in dem Fall ein Dampfbad und schieben meinen Kopf erbarmungslos über eine Schüssel mit heißem Wasser. Dann wird noch ein dickes Handtuch über Kopf und Schüssel gelegt, und ich habe das Gefühl zu ersticken. Der Dampf beißt mir in Nase und Augen. Doch meine Schwestern halten mich mit eiserner Hand fest. Nach einer Weile wird es erträglicher und meine Atemwege werden frei. „So, weil du so schön brav gewesen bist, bekommst du eine ganze Schüssel Pudding für dich alleine“, sagen sie.

Der Löffel liegt griffbereit in der Schüssel. Ich brauche nur noch zuzugreifen. Voller Erwartung stecke ich ihn mit dem Pudding in den Mund. Statt des wunderbaren Puddinggeschmacks schmecke ich aber etwas widerlich Bitteres und fange an zu würgen.

„Runterschlucken!", befehlen mir meine Schwestern.

Wie konnte ich nur denken, sie würden mir ohne Hintergedanken Pudding schenken? Und dann noch eine ganze Schüssel für mich alleine. Diese wundervolle Süßspeise mit Medikamenten zu versauen, ist ja wohl das Letzte.

Ich muss mich des Öfteren mit solchen Infekten rumplagen. Deshalb beschließt der Arzt: „Die Mandeln müssen raus!“

Nun sitze ich mutterseelenallein in einem sterilen Krankenhauszimmer. Neben mir liegt ein etwas älterer Junge, der mir ständig die roten Schuhe meiner Puppe klaut und sie dann auch noch zu seinem Schniedelwutz in den Schlüpfer steckt. Wie eklig! Außerdem übernimmt er das Regiment über uns beide. Was ihm in den Sinn kommt, das muss gemacht werden. Wenn ich nicht willig bin, schnappt er mich und trägt mich einfach in der ganzen Kinderabteilung umher.

Meine Schwestern finden das natürlich niedlich: „Ramona hat einen kleinen Freund und der trägt sie sogar auf Händen.“

„Hahaha!“, sage ich da nur.

Die Operation ist auch nicht witzig. Eine grobe Schwester nimmt mich auf den Schoß. Ich sehe fast gar nichts, weil es erst dunkel ist und mich dann ein furchtbar grelles Licht blendet. Die Schwester klemmt ihr rechtes Bein um meine Beine, und meinen Oberkörper hat sie ebenfalls fest im Griff. Ich soll den Mund weit öffnen. Ein Mann im weißen Kittel, von dem das grelle Licht kommt, sitzt mir gegenüber. Er greift mir zweimal mit einer Art Zange in den Mund und reißt mir ratzfatz die Mandeln aus der Kehle. Ich spucke ziemlich viel Blut.

Nach der Operation geht es zurück ins Zimmer. Der blöde Kerl aus dem Nachbarbett ist immer noch da und grinst mich besitzergreifend an. Wenigstens gibt es am nächsten Tag leckeres Eis in Hülle und Fülle.

MEINE AUSFLÜGE

Bis vor kurzem durfte ich mich nur im Garten und im Haus bewegen. Alleine das Grundstück verlassen war immer tabu. Doch das ist okay, der Garten ist groß genug. Im hinteren Haus wohnt eine junge Frau mit ihrer Mutter und zwei kleinen Kindern. Mit dem älteren Jungen freunde ich mich an. Im Zaun zum Nachbargarten gibt es ein Loch, durch das ich durchkriechen kann. Mit Rausgehen meinten meine Leute sicher die Gartentür und nicht diese Öffnung im Zaun. So krabbeln wir durch das Loch und besuchen uns gegenseitig. Er besitzt eine tolle Schaukel, auf der man bis zum Mond und zurück fliegen kann. Seine Oma findet mich niedlich mit dem Spielhöschen und den blonden Locken auf dem Kopf. Sie freut sich jedes Mal, wenn ich sie besuchen komme und mit ihrem Enkel spiele.

FAMILIE KAUFMANN

Manchmal darf ich auch zu Kaufmanns gehen. Sie wohnen neben uns. Bei ihnen im Stall steht ein Schaf, das guckt ziemlich blöde. In der Stube gibt es eine Klappe, die führt zu einem dunklen, unterirdischen Raum. Ich habe selbst gesehen, wie Frau Kaufmann den Wohnzimmertisch und den Teppich zur Seite räumt und die Luke nach unten öffnet. Meine Schwestern würden mir sicher wieder irgendein Ammenmärchen bezüglich dieses Loches erzählen. Doch Frau Kaufmann kommt mit eingewecktem Obst an die Oberfläche zurück. Also kann das da unten nur ihr Keller sein.

Herr Kaufmann hat nur wenige Haare auf dem Kopf und trägt Brillengläser so dick wie Aschenbecher. Der Arbeitskollege von Herrn Kaufmann geht jeden Tag an unserem Haus vorbei. Meistens ist Frau Kaufmann zu der Zeit ebenfalls im Vorgarten. Sie begrüßt den Bekannten überschwänglich und sieht dabei sehr glücklich aus.

Heute gehe ich ganz stolz mit zwei Schokoladenlollis zu Kaufmanns rüber. Den einen möchte ich Gabi schenken, sie ist Kaufmanns Tochter und etwas älter als ich. Den anderen will ich selber essen, denn ich liebe Schokoladenlollis.

Die andere Tochter von Kaufmanns ist so alt wie meine Geschwister und deshalb nicht so interessant für mich. Eleonora und Marlene spielen oft mit Karin. Anne und Karin sind nicht so gern zusammen. „Die beiden können sich wahrscheinlich nicht riechen, weil ihre Charaktere sich so sehr ähneln“, meinen Eleonora und Marlene.

Beim Spielen kommt Karin auf die Idee, Eleonora und Marlene den Pony zu schneiden. Sie schnippelt an Marlenes Haaren herum, und je mehr sie schneidet, umso schiefer wird die ganze Sache. „Mann, das muss doch gehen“, denkt Karin sich. Verzweifelt schneidet sie ein letztes Mal. Jetzt ist es nicht nur schief und krumm, sondern auch noch viel zu kurz. Na, Prost Mahlzeit! Das hält sie aber nicht davon ab, den Pony meiner anderen Schwester auch noch zu verschandeln. Zum Glück kommt Karin nicht auf die Idee, den beiden gleich die ganzen Locken abzuschneiden. Da würde Anne aber auf die Barrikaden gehen. Trotzdem ärgert sich meine Schwester sehr darüber und der Streit zwischen Anne und Karin ist schon wieder vorprogrammiert.

In der Veranda treffe ich auf Herrn Kaufmann. Er steht vor mir wie eine Wand und schaut mich mit seinen großen Augen an, die durch die Brille noch viel größer wirken. Weder die Worte, die er zu mir spricht, noch seinen Gesichtsausdruck kann ich deuten, deshalb starre ich ihn ebenfalls nur an. Ich komme mir vor, wie das dumm glotzende Schaf im Stall. Eigentlich will ich ja gar nicht unhöflich sein, aber wenn er so schlecht spricht, kann ich ihn nicht verstehen und ihm demzufolge auch nicht antworten. Nur so dastehen, ohne etwas zu sagen, finde ich auch blöde, und deshalb renne ich einfach an ihm vorbei in die Wohnstube. Dort treffe ich auf Frau Kaufmann, die immer sehr freundlich zu mir ist. Meistens kann sie sich vor Freude nicht mehr halten, zum Beispiel, wenn ich pünktlich zum Mittagsschlaf behaupte: „Ich muss jetzt nach Hause; schlafen. Du weißt schon, wegen meiner Nerven.“

IN DER WOHNUNG

Wenn es draußen regnet, muss ich drinnen bleiben. Dabei spiele ich viel lieber an der frischen Luft. Drinnen habe ich durch meine Kletterkünste, zum Leidwesen meiner Mutter, schon so manchen Blumentopf zerbrochen. Die von mir zerbrochenen Gefäße sahen aber auch wirklich schick aus. Weißes Porzellan mit wunderschönen Blumen drauf, dazu ein Goldrand und Goldfüßchen. Da muss ich meiner Mutter schon recht geben, wenn sie schimpft: „Wie kann man so etwas Schönes nur kaputt machen!“ Verflixt, warum stehen die mir beim Klettern aber auch immer im Weg?

Jetzt befinde ich mich im Wohnzimmer. Meine Mutter klappert mit dem Geschirr in der Küche und singt alle Lieder hoch und runter, die sie aus der Jugendzeit kennt. Mir ist auch nicht langweilig. Ich springe mit viel Schwung auf dem Sofa hin und her. Das macht großen Spaß! Dabei schaue ich mir ganz genau unser Wohnzimmerbild an, als hätte ich es noch nie im Leben gesehen. Ziemlich blasse Farben, finde ich. Außer der Rock der Frau, der sieht besonders interessant aus - dunkelrot. Man kann sogar die Falten im Stoff sehen. Die Frau steht mitten im Bild an eine Heugabel gelehnt. Wo sie nur hinschaut? Leider kann ich ihr Gesicht nicht sehen, nur die zusammengebundenen Haare von hinten. Man könnte sich aber vorstellen, dass sie sehnsüchtig auf jemanden wartet.

Meine Mutter reißt mich aus meinen Gedanken: „Ramona, hier hast du was zu essen.“ Was kann es Schöneres geben, als eine Stulle mit Bierschinken? Mutti bringt ihre Nähsachen mit und setzt sich zu mir an den Tisch. Unterm Tisch steht jetzt der offene Nähkasten. Sie ist ganz vertieft in ihre Arbeit. Ich rutsche geschickt vom Sofa und knie mich vor das Objekt meiner Begierde. Da sind Garnrollen in vielen Farben und die unterschiedlichsten Knöpfe zu bewundern und sogar eine Rasierklinge.

Schnell schaue ich mich nach Mutti um, ob die Luft rein ist und dann nehme ich das Ding aus den Kasten. Vielleicht ist die Rasierklinge scharf, denke ich noch und habe mir schon in den Finger geschnitten. Mir wird ganz übel. Mist, das war doch keine so gute Idee!

„Was machst du denn da unten?“, fragt mich meine Mutter da plötzlich. „Immer wenn du so still bist, muss ich aufpassen, dass du keine Dummheiten machst! Hab ich es mir doch gedacht!“ Und bei den Worten: „Da muss ich dir wohl ein Pflaster holen“, fängt sie fürchterlich an zu lachen. Sie kann sich gar nicht mehr einkriegen vor Lachen. Ich frage mich nur, was daran so witzig ist, wenn ich hier halb verblute?

FAMILIE LUCKE

Zu Luckes durfte ich auch schon mal mit. Sie wohnen eine Straße weiter. Frau Lucke ist eine recht resolute Frau.

Mein Cousin will Marlene von Luckes abholen. Aber als er vor ihrer Tür steht, bekommt er von Frau Lucke rechts und links eine geballert. „Bist du etwa einer von denen, die hier klauen wollen?“, schreit sie.

„Nee, ich will nur Marlene abholen“, sagt Erwin kleinlaut.

„Na, dann geh rein zu Marlene und hol sie raus!“

Erwin ist die Lust darauf zwar vergangen, doch jetzt muss er. Er schwört sich aber, wenn er dort drinnen gewesen ist, nie wieder einen Fuß auf dieses Grundstück zu setzen. „Die Bewohner sind ja lebensgefährlich! Was bildet die Alte sich ein, mir einfach so eine zu ballern? Ich habe ihr doch gar nichts getan“, denkt er und hält sich seine schmerzenden Wangen.

Luckes haben einen Untermieter. Der heißt Herr Ebersdorf. Er ist ein ziemlich alter Mann mit weißen Haaren. Martina, die beste Freundin meiner Schwester Marlene, meint, wir könnten ihn ja mal besuchen. Der Untermieter bittet uns herein. Er bietet uns sogar Kekse und Milch an, wie bei einem richtigen Besuch. Er selber trinkt Kaffee. Der alte Mann ist zwar nett, aber ziemlich langweilig. Der weiß sicher mit uns Mädels nichts anzufangen. Marlene und Martina schlagen mir vor, Handstand an der Wand zu machen. Ebersdorf ist auch gleich begeistert. Beim Handstand rutscht natürlich mein Kleid bis zum Kinn und alles, was ich drunter trage wird entblößt. Meinen Schlüpfer kann man in voller Schönheit sehen. Die Mädels fangen an zu lachen und Ebersdorf wird ganz rot und grinst doof in sich hinein. Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Warum lachen die denn so blöde? Ist mein Schlüpfer etwa kaputt und hat obendrein noch Bremsspuren? Das ist ja mal wieder typisch für Marlene und Martina. Mann, ist mir das peinlich! Das passiert mir aber auch nicht noch einmal.

EIN MISSVERSTÄNDNIS

Manchmal ist Martina auch die Dumme, wenn sie mit Marlene zusammen ist. Martina muss Marlene zur Musikschule begleiten, weil Marlene ihren Geigenlehrer etwas unheimlich findet. Heute sitzt sie im großen Saal vorm Theorieraum. Draußen regnet es und ihr ist langweilig. Als sie sich so im Raum umschaut, entdeckt sie an der schönen Täfelung etwas, das aussieht wie ins Holz gekratzt. Sie stellt sich hin, um die Worte besser lesen zu können, und tippt jedes Wort mit ihrem Regenschirm an. Doch sie wird nicht schlau aus dem Text.

Auf einmal öffnet sich die Tür vom Sekretariat und der Direktor rennt mit großen Schritten auf sie zu. Er packt sie am Schlafittchen und schleift sie in sein Zimmer. „Was hast du da gemacht? Warst du der Schmierfink, der das da eingeritzt hat?“, schreit er.

Martina weiß gar nicht, wie ihr geschieht. „Ich habe das auch erst eben entdeckt“, verteidigt sie sich. „Ich warte doch nur auf meine Freundin Marlene, die im Theorieunterricht ist.“

Marlene wird aus dem Theorieunterricht geholt und ebenfalls verhört. Sie müssen sich ganz schön anstrengen, damit der Direktor ihnen Glauben schenkt und kommen gerade noch so mit einem blauen Auge davon. Martina schämt sich natürlich sehr und würde am liebsten nicht mehr mit Marlene in die Musikschule fahren. Aber da Marlene sie braucht, lässt sie sich dann doch wieder erweichen.

IM KINDERGARTEN

Wenn Mutti arbeiten geht, muss ich in den Kindergarten. Ich gehe nicht gerne in diese Einrichtung