Virginia Pitts Rembert

 

 

 

BOSCH

 

Hieronymus Bosch und die Lissabonner Verführung:

Eine Perspektive aus dem dritten Jahrtausend

 

 

 

 

 

Autorin: Virginia Pitts Rembert

Übersetzung: Dr. Martin Goch

 

Layout:

Baseline Co. Ltd

61A-63A Vo Van Tan Street

4. Etage

Distrikt 3, Ho Chi Minh City

Vietnam

 

© Confidential Concepts, worldwide, USA

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© Kingdom of Spain, GALA-Salvador Dali Foundation / Artists Rights Society, New York, USA / VEGAP, Madrid

 

Weltweit alle Rechte vorbehalten

 

Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.

 

ISBN: 978-1-78310-624-0

Inhalt

 

 

Vorwort

Einleitung

Kapitel I: Erklärungen verschiedener Studien von Bosch

Kapitel II: Die Interpretation von Fränger

Kapitel III: Fränger und darüber hinaus

Kapitel IV: Eine prosaischere Perspektive

Kapitel V: Der Heilige Antonius und der Teufel

Kapitel VI: Das Lissabonner Triptychon

Schluss

Bibliographie

Index

Anmerkungen

 

1. Pieter Jansz Saenredam (1597-1665), Der Chor der Kirche Sankt Johannes in s-Hertogenbosch, Zeichnung, British Museum, London.

 

2. Pieter Jansz Saenredam (1597-1665), Ansicht von s-Hertogenbosch mit der Kirche Sankt Johannes, 1632, Musées royaux des Beaux Arts de Belgique, Brüssel.

 

 

Vorwort

 

 

Jemand hat die Geschichte einmal als ein Webstück ohne Nähte bezeichnet. Der Mensch besteht allerdings darauf, die Geschichte willkürlich in Abschnitte zu unterteilen. Während die Zeiteinheiten Stunde, Monat und Jahr in erster Linie praktische Funktionen erfüllen, messen wir Jahrzehnten und Jahrhunderten große Bedeutung zu. Im Französischen gibt es für die gewisse Endzeitstimmung gegen Ende eines Jahrhunderts mit fin de siècle sogar einen eigenen Ausdruck. Das Ende eines Jahrtausends ist noch bedeutsamer, besonders, weil Christus versprach, tausend Jahre nach seinem Tod zurückzukehren, um die Gläubigen und die Ungläubigen zu richten.

Als sich das Jahr 1000 näherte, glaubten die Menschen, dass das von Christus vorhergesagte Jüngste Gericht unmittelbar bevorstehe. Als sich diese Erwartung nicht erfüllte, schrieb der Chronist und Kluniazensermönch Raul Gabler:

… in der ganzen Welt, vor allem in Italien und Gallien, wurden Kirchen wieder aufgebaut. Obwohl es davon bereits eine große Zahl gab und sie nicht stark genutzt wurden, wetteiferten alle christlichen Völker, erhabenere Kirchen zu bauen. Es war, als ob die ganze Welt sich geschüttelt und alle Menschen ihre alten Kleider gegen die weißen Roben der Kirche ausgetauscht hätten. So verschönerten die Gläubigen schließlich alle Bischofssitze und die Klöster der verschiedenen Heiligen und auch die weniger wichtigen Gebetsstätten in den Städten …

(übersetzt aus Holt, 48)

Der New York Times des Vortages zufolge begann in den Vereinigten Staaten der Countdown für das dritte Jahrtausend bereits am 6. April 1997.

 

3. Die Kathedrale Sankt Johannes in s-Hertogenbosch.

 

4. Skulptur in der Kathedrale Sankt Johannes in s-Hertogenbosch.

 

 

Die Fanfare, die ihn einleitete, verwies schon auf die Feierlichkeiten in aller Welt, die am 1. Januar 2000 stattfinden sollten. Restaurants nahmen bereits Reservierungen für den Silvesterabend 1999 / 2000 an. Es gab düstere und optimistische Prophezeiungen für den Jahrtausendwechsel. US-Präsident Clinton, der den demokratischen Wahlkampf von 1996 unter das Motto Brücke ins 21. Jahrhundert stellte, sagte Amerika und der Welt eine große soziale und wirtschaftliche Zukunft, der er den Weg bereiten würde, voraus.

Doch wurden die utopischen Aussichten durch lästige Pannen gestört. Man erwartete, dass die Computer „00“ nicht als die Jahreszahl 2000, sondern als 1900 erkennen und Ausfälle bewirken würden, die öffentliche Einrichtungen beeinträchtigen könnten: von der Zahlung durch Krankenversicherungen bis zur Kontrolle über den landesweiten Flugverkehr. Tatsächlich sagten manche voraus, dass das Ausbleiben einer weltweiten Lösung des Problems zu katastrophalen globalen Konsequenzen führen würde.

Es waren deutlich mehr religiöse und prophetische Kulte entstanden, als dies bei einer bloßen Jahrhundertwende üblich war. Schon 1980 bildete sich der erste der vielen Überlebenskulte, von denen es in den folgenden zwei Jahrzehnten noch mehrere geben sollte. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt warnte ein gewisser Kurt Saxon aus Arkansas das Publikum einer Fernsehshow,

… dass sich jeder darauf einstellen sollte, sich aus dem Land zu ernähren und sich Waffen zu besorgen, um sich der plündernden Banden im Gefolge des nuklearen Holocaust zu erwehren.

(Arkansas Gazette, 29.7.1980).

 

5. Unbekannter Maler, Bildnis des Hieronymus Bosch, ca. 1550, rote und schwarze Kreide aus dem Arras-Codex, 41 x 28 cm, Stadtbibliothek Arras.

 

 

Die rituellen Visionen des Weltuntergangs erreichten den Höhepunkt ihrer Neubelebung im Jahre 1997, als sich 39 Mitglieder einer Cyber-Sekte auf Anweisung ihres Führers, Marshall Herff Applewhite, vertraglich zum Selbstmord verpflichteten, um sich dann zu einem Raumschiff hinauf zu versetzen, das angeblich dem Schweif des Kometen Hale-Bopp folgte, der in jenem Jahr über den Himmel zog. Ein Feuilletonist in The New Yorker kommentierte ihre fantastisch irrsinnige Mission:

Obwohl die Wissenschaft heute stärker ist als zu der Zeit, als Galileo vor der Inquisition kniete, bleibt sie die Denkweise einer Minderheit, und ihre Zukunft ist sehr ungewiss. Blinder Glaube beherrscht das Universum zur Jahrtausendwende, dunkel und ausufernd wie der Weltraum selbst (14. April 1997, Seite 32).

Dass viele Menschen glaubten, das Schicksal der Wissenschaft und des vernünftigen Denkens stehe auf dem Spiel, wurde in einem Artikel in der New York Times (6. Juni 1995) unter dem Titel Wissenschaftler beklagen Flucht vor der Vernunft deutlich. Wissenschaftler, Ärzte, Pädagogen und andere Intellektuelle, die sich zu einem Kongress über das Thema an der New York Academy of Sciences (NYAS) eingefunden hatten, riefen zum Kampf gegen die unterschiedlichen Bedrohungen des vernünftigen Verhaltens auf. Diese schlossen traditionelle Schreckgespenster wie Astrologie oder religiösen Fundamentalismus ein, neu hinzugekommen waren die „postmodernen“ Wissenschaftskritiker, die behaupteten, dass die Wahrheit in der Wissenschaft vom jeweiligen Standpunkt abhinge und nicht etwa von absoluten Inhalten.

 

6. Der Tod des Geizhalses, Seitenflügel, um 1485-1490.

Öl auf Holz, 92,6 x 30,8 cm. National Gallery of Art, Washington (soll über dem Bett Philipps II. im Escorial zur Zeit seines Todes gehangen haben; heute vermutet man darin den Teil eines Altarbildes).

 

 

In diesen Kreisen hieß es auch, dass sich das irrationale Gedankengut zum verbreiteten Handelsprodukt entwickelt habe. Zu den paranormalen Mittelchen von steigender Beliebtheit in der Öffentlichkeit gehörten der Glaube an Engel, das Aus-sich-heraus-Gehen und Erfahrungen von Todesnähe sowie die Entführung durch Außerirdische und mehrfache Wiedergeburten.

Die Annahmen des Kongresses an der NYAS schienen auch durch zahlreiche Belege in den Medien bekräftigt, dass das Interesse an Astrologie, psychischen Phänomenen und Magie sowie den verwandten Gebieten des Satanismus und der Hexerei angestiegen sei.

Ein Artikel über Hexerei (New York Times vom 31.10.1998) stellte eine Gruppe von Wiccans - so der moderne Name so genannter Hexen, hergeleitet von einer neopaganen, pseudoreligiösen Gruppe namens Wicca – in den Mittelpunkt, die ihren Praktiken in Salem, Massachusetts, nachgingen. Diese Stadt, in der die Hexenprozesse des 17. Jahrhunderts stattgefunden hatten, sollte aufgrund ihrer toleranten Haltung das Zentrum für alternative Spiritualität, wie der New Age-Bewegungen und der aktuellen Hexenvereinigungen wie des Tempels der Neun Wohltaten und des Hexenbundes für Öffentliches Bewusstsein, geworden sein:

Die Wiccans sehen sich als Vertreter einer friedlichen, naturverbundenen Religion und haben sich, ganz anders als frühe Gesellschaften von Teufelsanbetern, aufklärerisch und sogar politisch organisiert, um falsche Vorstellungen über Hexen und deren moderne Beweggründe auszuräumen.

Ein Artikel in einer Boulevardzeitung zitierte aus einer Liste weltweit führender Bibelforscher, die vorhersagten, dass das bevorstehende Ende der Welt und die kommende Apokalypse, die damit verbunden sei, am Jahrtausendende stattfinde (Weekly World News vom 14. Mai 1996). Darin wurden neben den alten Prophezeiungen der Offenbarung des Johannes auch neuere zitiert, wie diejenigen des Nostradamus aus dem 16. Jahrhundert über entsetzliche Naturereignisse, die am Ende unseres Jahrtausends geschehen sollten und mit den klimatischen Abweichungen von El Nino im Jahr 1998 überein zu stimmen schienen.

Die Tatsache, dass diese so unheilvoll dargestellten Ereignisse nicht stattfanden, ließ die Jahrtausendwende beinahe enttäuschend erscheinen – zumindest bis zum 11. September, den viele als das Armageddon der USA betrachteten.

Ähnliche Vorhersagen und Merkwürdigkeiten hatten das Jahrzehnt vor dem Halbmillenium von 1500 charakterisiert. Als ob man sich um das Jahr 1000 herum bezüglich des Zeitpunkts des Jüngsten Gerichts geirrt hätte, gingen zeitgenössische Denker davon aus, dass es unweigerlich nun kommen werde. Der Kunsthistoriker Charles Cuttler beschreibt die emotionale Atmosphäre dieser Zeit folgendermaßen:

Es war eine Zeit der Pest und der Unrast, der wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Unruhen; eine Zeit, die an den Chiliasmus, den Antichrist und apokalyptische Visionen glaubte; an Hexerei, Alchemie und Astrologie … Es war ferner eine Epoche eines extremen Pessimismus, der eine natürliche Folge des von der Kirche selbst beförderten Glaubens an Dämonen war … (übersetzt aus Lisbon, Seite 109)

Wie stets gab es dabei Künstler, die dem an sich Unvorstellbaren Stimme und Gestalt verliehen. Dichter, anonyme und namentlich bekannte wie Francois Villon, und auch romanische Bildhauer hatten ihre Visionen der Schrecken am Weltende plastisch dargestellt. Später, in der Periode der Proto-Renaissance, bildeten zahlreiche Maler diese Anomalien in ihren Altarbildern ab. Die wohl anschaulichsten und detailliertesten Darstellungen aber waren jene des Holländers Hieronymus Bosch.

 

7. Buchmalerei aus dem 15. Jahrhundert (ca. 1470-1480), Flandern. Russische Nationalbibliothek, St. Petersburg.

 

 

Einleitung

 

 

Im 17. Jahrhundert pries ein englischer Botschafter in Holland die Überlegenheit der Malerei gegenüber der Bildhauerei mit folgenden Worten:

„Ein ausgezeichnetes Bild ist meiner Meinung nach das bewundernswertere Objekt, weil es einem künstlichen Wunder nahe kommt“

(Zitat übersetzt aus Fuchs, 103).

Fuchs wiederholt den Ausdruck „künstliches Wunder“ mehrere Male, um auf die holländische Vorliebe für die detaillierte Wiedergabe von beobachteten Dingen zu verweisen. Dieser Terminus könnte das gesamte Spektrum der holländischen Kunst von Jan van Eyck bis hin zu Jan Dibbets in Bezug auf die beißende und gleichzeitig forschende Kombination von Sujet und Essenz charakterisieren, die so typisch holländisch ist. In diesem Sinn passt der Ausdruck sogar zu scheinbar so unterschiedlichen Künstlern wie Hieronymus Bosch und Piet Mondrian. Der eine machte das Unwirkliche wirklich und der andere das Wirkliche unwirklich, aber beide verfolgten ihre Ziele mittels sorgfältig gestalteter Oberflächen, die sie als „künstliche Wunder“ überdauerten.

Meiner Ansicht nach bestehen zwischen Bosch und Mondrian weitere wichtige Verbindungen. Sie gehören zu jenen europäischen Künstlern, die dem Kunsthistoriker Oskar Hagen zufolge niemals mit der bloßen Reproduktion eines Gegenstandes zufrieden waren. Beide Maler lebten in einem Jahrhundert, das sich des Milleniums bewusst war und beide verarbeiteten dieses Bewusstsein in ihrer Kunst.

Mondrian, der sich hinsichtlich der Zeit, der Umstände und der Ideologie in großer Entfernung zu Bosch befindet, war aus einem gewissen Blickwinkel ein Milleniums-Künstler unserer Zeit. Er präsentierte eine Version, wie die moderne Welt sein könnte, wenn wir uns mehr um Harmonie als um Tragik kümmern würden, die er nicht nur im Krieg, sondern auch in kulturellen Erzeugnissen manifestiert sah, die sich auf Einzelheiten und nicht auf die Essenz konzentrierten. In den Jahren, die Piet Mondrian zwischen den beiden Weltkriegen in Paris und London verbrachte, entwickelte er eine Malerei, die nicht die existierende Realität wiedergab, sondern das, was Mondrian eine „neue Realität“ nannte, „imaginativ konstruierte“ (Mondrian, Plastic, 10). Durch ihre Abgeschlossenheit, Reinheit und die harmonische Anordnung von Einzelteilen schuf Mondrian mit seiner Kunst einen eigenen ästhetischen Kosmos, die „klare Vision“ der „puren Realität“, von der er hoffte, dass sie auch in der idealen Welt der Zukunft verwirklicht werden würde.

Ganz offensichtlich unterscheiden sich Mondrians Arbeiten durch eine völlig anders geartete Sensibilität von jenen Boschs am Ausgang des Mittelalters – oder enthüllen die beiden Künstler an der Schwelle eines (Halb-)Milleniums einfach nur die dunkle und die helle Seite des Menschen? Zeigen Mondrians Bilder vielleicht, was wir werden könnten, wenn wir in Harmonie mit dem Universum lebten und Boschs Bilder, was wir werden würden, wenn wir Gott nicht gehorchten – aus zwei unterschiedlichen Perspektiven, fünf Jahrhunderte voneinander getrennt?

Nach einigen einleitenden Kapiteln werde ich mich auf eines von Boschs Bildern konzentrieren, die Versuchungen des Heiligen Antonius (heute in Lissabon), weil dieses Bild vermutlich um 1500 herum vollendet wurde, dem Jahr des Halbmilleniums. Zudem wirken die dort dargestellten Ideen und Ängste – wie schon bemerkt – einigen der unseren sehr verwandt.

Im Jahr 1951 wurde Wilhelm Frängers Werk Das Tausendjährige Reich. Grundzüge einer Auslegung (1947) in die englische Sprache übersetzt und damit der internationalen Kunstgeschichte zugänglich.

Das Buch, das vor allem Boschs Gemälde Der Garten der Lüste (Frängers Titel lautete Das Tausendjährige Reich) interpretierte, war sowohl in der wissenschaftlichen Welt als auch der kunstinteressierten Öffentlichkeit eine Sensation. Ein Artikel über das Buch mit Farbillustrationen im Life Magazine trug wohl mehr als alles andere dazu bei, dass Bosch, zu dem es bis dahin kaum englischsprachige Publikationen gegeben hatte, weltweite Popularität erlangte. Frängers Interpretation, dass Bosch seine großen Altarbilder nicht für orthodoxe religiöse Zwecke, sondern für quasi-religiöse Kulte geschaffen habe, wurde als ein Wendepunkt für das Verständnis dieses rätselhaften Künstlers angesehen.

Während die meisten Kunsthistoriker, die sich nach Frängers Tod im Jahr 1964 mit Bosch beschäftigten, diese These zurückgewiesen haben, gibt es immer noch Anhänger von Frängers Position, dass ein Hochmeister eines Adamitenkults Bosch seine geheime Zeichensprache diktierte, die dieser dann in seinem großen Gemälde Der Garten der Lüste (heute im Prado, Madrid) und in einer Reihe weniger bedeutsamer Bilder offenbarte.

Nach dem Studium der umfangreichen publizierten Fachliteratur und seitdem ich mich erstmals mit Bosch beschäftigte, habe auch ich den Eindruck gewonnen, dass die meisten Autoren das tun, was schon Fränger kritisierte, nämlich für jedes Bild und Bildelement eine Unzahl von Quellen anzuführen, ohne dass daraus eine Erklärung dafür resultierte, warum ein Künstler mit einem doch einigermaßen beschränkten Hintergrund wie Bosch ein solches Bild oder solche Bildelemente schaffen sollte. Meiner Ansicht nach ist zunächst eine umfassende Untersuchung der zu Boschs Zeit verbreiteten symbolischen Systeme des Bösen erforderlich, die er, indem er manches ausließ und manches hinzufügte, zusammenführte, um hieraus seine einzigartige Bilderwelt zu schaffen.

Der Hauptgrund für ein weiteres Buch über Bosch war die offensichtliche Wiederkehr vieler der in seiner Zeit verbreiteten Ansichten anlässlich des Übergangs vom zweiten ins dritte Jahrtausend. Ich hoffe, dass die folgenden Ausführungen auch für Bosch-Kenner Anregungen und Einsichten bieten.

 

8. Die Wappen der Liebfrauenbruderschaft, Ausschnitt: Weißes Wappen von „Hieronymus Aquens alias Bosch“, s-Hertogenbosch, Illustre-Lieve-Vrouwebroederschap.

 

9. Das Steinschneiden, Ölgemälde, 48 x 35 cm, Prado, Madrid.

 

 

Kapitel I: Erklärungen verschiedener Studien von Bosch

 

 

Bevor ich an die detaillierte Studie eines einzelnen von Boschs Bildern herangehe, möchte ich einen kritischen Überblick über einige kunstgeschichtliche Sichtweisen des Künstlers und seines Werks geben. Dies um so mehr, als es von seiner ersten Erwähnung im 16. Jahrhundert bis zum heutigen Tage ein sehr breites Spektrum an Positionen gibt. Die Autoren, die sich in den fast fünf Jahrhunderten seit seinem Tod mit ihm befasst haben, verliehen ihm einen so nachhaltigen Ruf als „faizeur de diables“ (Gossart), dass er bis zur Moderne kaum als Künstler galt. Vor allem seine Höllenszenen zogen diese Art Aufmerksamkeit auf sich. Er stellte die Kreaturen und Orte dieser „Höllen“ mittels eines unendlich detailreichen Naturalismus so überzeugend dar, dass sie wie wahre Dämonenbeschwörungen wirkten. Für die mittelalterliche Mentalität konnte jemand, der seine eigenen schlimmsten Ängste so deutlich offenbaren konnte, nur selbst ein Zauberer oder Wahnsinniger, vielleicht sogar ein Werkzeug des Teufels, sein.

Spätere Autoren vertraten entweder ebenfalls diese Ansicht oder sahen – im rationalistischen Gefolge der Renaissance und der Reformation – in Bosch die schlimmsten Seiten des Mittelalters verkörpert. Wenn er erwähnt wurde, dann nicht so sehr als Künstler denn als ein Kuriosum. Schließlich geriet Bosch in Vergessenheit. Es dauerte über zwei Jahrhunderte, bis das Interesse an ihm im späten 19. Jahrhundert wieder auflebte. Im 20. Jahrhundert war die Sicht Boschs als Künstler so ausgeprägt wie noch nie zuvor, und dieser Trend hält auch im 21. Jahrhundert an.

Man könnte eigentlich erwarten, dass die italienischen Autoren der Hochrenaissance die Eigenartigkeit Boschs betonen würden, da seine Gedankenwelt sich so sehr von der des Südens unterschied. Der florentinische Historiker Giucciardini schrieb in seiner Beschreibung der gesamten Niederlande (1567) von „Jerome Bosch de Boisleduc, sehr edler und bewunderungswürdiger Erfinder fantastischer und bizarrer Dinge“ (132). Im Jahr 1568 nannte der italienische Kunsthistoriker Vasari die Erfindungen Boschs „fantastiche e capricciose“ (439). Lomazzo, der Autor der erstmals 1584 erschienenen Abhandlung über die Kunst der Malerei, der Bildhauerei und der Architektur, schrieb über „den flämischen Girolamo Bosch, der bei der Darstellung merkwürdiger Erscheinungen und Angst einflößender sowie schrecklicher Träume einzigartig und wahrhaft göttlich war“ (201-202).

In nördlicheren Teilen Europas wurden zu dieser Zeit ähnliche Aussagen über die Arbeiten des Malers gemacht, wobei es stets um seine Dämonen und Höllendarstellungen ging. Der niederländische Historiker Marcus van Vaernewijck nannte Bosch 1567 „den Macher von Teufeln, da er in der Kunst der Abbildung von Dämonen keinen Rivalen hatte“ (1:137). Carel van Mander, ein Kunsthistoriker wie Vasari, bemerkte zu Boschs Arbeiten nicht viel mehr, als dass sie „… grauenhafte Bilder von Gespenstern und schrecklichen Phantomen der Hölle …„ seien (65).

Zahlreiche Aussagen ähnlichen Inhalts finden sich im Gefolge des Auftauchens vieler Bilder Boschs um die Mitte des Jahrhunderts in Spanien in dort entstandenen Schriften. König Philipp II. selbst war vor allem verantwortlich für die Popularität des Malers in Spanien. Im Jahr 1581, als der König nach Lissabon reiste, bedauerte er in einem Brief an seine Töchter, dass sie nicht bei ihm waren, um die Fronleichnamsprozessionen zu sehen, „… obwohl …“, wie er hinzufügte, „Euer kleiner Bruder, wenn er auch bei uns wäre, von einigen Teufeln, die jenen in Bildern von Hieronymus Bosch ähneln, erschreckt würde.“[1] Philipp besaß 36 dieser Gemälde.[2] Angesichts der Tatsache, dass Boschs Gesamtwerk vermutlich kaum 40 Stücke umfasst hat (Abb. 4), ist dies eine sehr hohe Zahl. Eine in wenigen Jahren nach dem Tod des Künstlers entstandene so große Sammlung ist ein Beleg für die Faszination, die der König empfand – eine Haltung, die die ersten wirklich einsichtsvollen Schriften über Boschs Werk provozierte. Denn der Mönch Joseph de Siguença, der nach dem Tode Philipps im Jahr 1598 ein Verzeichnis der Gemälde des Königs erstellte, meinte, das obsessive Interesse des Königs an Bosch entschuldigen zu müssen. Vielleicht fürchtete Bruder José auch eine Zerstörung durch die Inquisition, denn er verfasste eine ausgearbeitete Verteidigung der Rechtgläubigkeit und Naturtreue des Malers:

Von den deutschen und flämischen Gemälden, die, wie ich betone, zahlreich sind, sind viele Gemälde von Hieronymus Bosch im ganzen Haus verstreut (Escorial); ich möchte aus verschiedenen Gründen etwas länger über diesen Maler sprechen, denn sein großes Genie verdient es, obwohl die Leute im Allgemeinen seine Gemälde die ‚,disparates (Farcen) des J. Bosch nennen, Leute, die wenig aufmerksam betrachten, was sie sehen, und ich glaube, deshalb nennt man ihn zu Unrecht einen Ketzer, und ich habe – und um hiermit zu beginnen – von der Frömmigkeit und dem Glaubenseifer des Königs, unseres Stifters, eine solche Meinung (dass ich glaube) wenn dem so gewesen wäre, er die Gemälde nicht zugelassen hätte in seinem Haus, in seinen Klöstern, in seinen Schlafzimmern, in den Ordenskapiteln, in der Sakristei, während doch alle diese Räume mit ihnen geschmückt sind: Außer diesem Grunde, der mir sehr gewichtig erscheint, gibt es noch einen anderen, den ich aus den Bildern ableite, denn man sieht auf ihnen fast alle Sakramente und die Rangstufen und Klassen der Kirche, vom Papst bis zu den Geringsten, zwei Punkte, an denen alle Ketzer straucheln, und er hat sie gemalt mit seinem ganzen Eifer und mit großer Genauigkeit, was er als Ketzer nicht getan hätte, und mit den Mysterien unseres Heils hat er das Gleiche getan. Ich möchte nun zeigen, dass diese Bilder keineswegs Farcen sind, sondern wie Bücher von großer Weisheit und Kunst, und wenn auf ihnen dumme Handlungen gezeigt sind, dann sind es die unsrigen, nicht die seinen, und, gestehen wir es ein, es handelt sich um eine gemalte Satire der Sünden und der Unbeständigkeit der Menschen.[3]

Siguenças Interesse an den Bildern richtete sich auf ihre Funktion als religiöse Kommentare und nicht auf ihre künstlerische Bedeutung. Obwohl seine Verteidigung von Boschs Rechtgläubigkeit zu einem wesentlichen Teil naiv auf der Vorliebe des frommen Königs für sie beruhte, sind seine weiteren Bemerkungen zu einzelnen Bildern recht hellsichtig, wie später durch weitere Zitate belegt werden wird.

 

10. Das Steinschneiden, Detail.

 

11. Der Gaukler, Ölgemälde, 53 x 65 cm, Stadtmuseum, Saint-Germain-en-Laye.

 

12. Die sieben Todsünden, Ölgemälde, Oberfläche einer Tischplatte, 120 x 150 cm, Prado, Madrid.

 

13. Die sieben Todsünden, Detail.

 

14. Die sieben Todsünden, Detail.

 

15. Die sieben Todsünden, Detail.

 

 

Eine interessante Gegenreaktion auf den Mönch ist die später, 1649, geschriebene Aussage von Francesco Pacheco, dem Lehrer und Schwiegervater von Velasquez:

Es gibt genug Dokumente, um über die höheren und schwierigeren Dinge zu sprechen, über die Persönlichkeiten, wenn man Zeit findet für solche Vergnügen, die immer verachtet worden sind von den großen Meistern. – Nichtsdestoweniger suchen einige diese Vergnügen: dies ist der Fall bei den genialen Einfällen des Hieronymus Bosch für die verschiedenen Formen, die er seinen Dämonen gegeben hat, für die Erfindungen, an denen unser König Philipp II. so viel Freude fand, was bewiesen wird durch die große Anzahl von Gemälden, die er gesammelt hat. Doch Pater Siguença lobt ihn über alles Maß und macht aus diesen Phantasien Mysterien, die wir unsern Malern nicht empfehlen. – Und wir gehen nun zu angenehmeren Sujets der Malerei über … [Pacheco war ein spanischer Maler und Kunsthistoriker der Periode zwischen dem Manierismus und dem Barock. Er hatte die manieristische Freude an der bloßen Form abgelegt und ein Interesse an der naturalistischen Illusion entwickelt. Aus beiden Blickwinkeln musste er Boschs Werk als inakzeptabel empfinden.] (431-432; aus de Tolnay, 362)

Obwohl Pacheco sich für Bosch als einen Künstler interessierte, verwarf er ihn als ein Kuriosum. Diesen Ruf behielt Bosch für die nächsten etwa 250 Jahre. Während dieser Zeit befassten sich Gelehrte kaum mit Kunst, die nicht aus Südeuropa kam; wenn sie in den Blickpunkt geriet, wurde Bosch von den großen niederländischen Malern von Van Eyck bis hin zu Brueghel in den Schatten gedrängt.

Es dauerte bis zum Ende des letzten Jahrhunderts, bis sich ernst zu nehmende Wissenschaftler mit Bosch beschäftigten. Möglicherweise ging dies auf den realistischen Impuls zurück, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts Eingang in die Malerei fand, da Historiker nun nach Vorläufern dieser Herangehensweise in der Vergangenheit Ausschau hielten. Sie interessierten sich wieder für andere europäische Kunsttraditionen und „entdeckten“ Bosch, indem sie erneut Brueghels Bedeutung hervorhoben.

Brueghel war in seinen frühen Arbeiten nicht nur wesentlich von Boschs „Merkwürdigkeiten“ beeinflusst worden, sondern sein Interesse an der Genremalerei war vermutlich außerdem durch das Studium der Werke Boschs stimuliert worden. Bosch hatte mehr als alle Maler vor ihm heilige Personen (und die sie begleitenden Teufeleien) in zeitgenössische Interieurs und Landschaftspanoramen eingeführt. Dieser Künstler verdiente ganz offensichtlich die Aufmerksamkeit der Gelehrten, aber es war praktisch nichts über dieses „Rätsel“ der flämischen Schule bekannt. Selbst um die Daten seines Lebens herauszufinden, bedurfte es noch der Grundlagenarbeit.

Historiker wie Ebeling und Mosman durchforsteten die Archive seiner Heimatstadt s-Hertogenbosch, eine niederländische Stadt in der Nähe der deutschen Grenze, mit enttäuschendem Resultat. Das Jahr seines Todes (1516) fand man in einem Verzeichnis von Namen und Wappen.[4] Sein Geburtsdatum ließ sich aber nicht ermitteln. Da sein Porträt, das im Arras-Codex entdeckt wurde, aber einen Mann von etwa 60 Jahren zeigte, ging man davon aus, dass er um 1450 herum geboren worden war.[5] Es gibt im Archiv der Bruderschaft Unserer Lieben Frauen in s-Hertogenbosch nur wenige Erwähnungen Boschs zwischen diesen Eckdaten. Mehrere beziehen sich auf die Zahlung verschiedener Summen für Auftragsarbeiten an Bosch. Er erhielt z.B. einen bescheidenen Lohn für den Entwurf eines Buntglasfensters, das er auf „einige Betttücher“ gemalt hatte – während das Fenster von dem Glaser Willem Lombard (Pinchart, 273, Anm. 3) angefertigt wurde. Es werden auch größere Summen erwähnt, wie die fünf Gulden, die er für einen Altar erhielt.[6]

 

16. Allegorie auf Maßlosigkeit und Wollust,

Öl auf Holz, 35,8 x 32 cm,

Yale University Art Gallery, New Haven.

 

17. Das Narrenschiff, oberer Teil des Seitenflügels,

nach 1491. 57,9 x 32,6 cm, Ölgemälde, Louvre, Paris.

 

 

Bosch muss als ein Laienmitglied seiner Bruderschaft aktiv gewesen sein; er muss an der Vorbereitung des Essens für die Treffen beteiligt gewesen sein, da ihm einmal für 24 Pfund Rindfleisch, „ein Philippspfennig pro Pfund“, vier Unzen Ingwer, zwei Unzen Pfeffer, eine halbe Unze Safran und ein Maß Wein bezahlt wurden. (übersetzt aus Pinchart, 269, Anm. 5)

All dies verriet kaum wesentliche Details seines Lebens außer, dass er offensichtlich als Künstler geschätzt wurde, da er einmal als „berühmter Maler“ (268) bezeichnet wurde. Es gibt, jedenfalls auf der Basis dieser Erwähnungen, keinen Anlass anzunehmen, dass Boschs Freunde ihn als Zauberer oder Wahnsinnigen ansahen.

Da Boschs Name häufig die Ergänzung van Aeken trägt,[7] nahm man an, dass seine Familie aus Aachen stammt. Vor Hieronymus werden in den Akten der Stadt fünf van Aekens erwähnt. Einer, ein Lehrer mit Namen Jan van Aeken, erscheint in den Archiven der St. Jans-Kathedrale von s-Hertogenbosch in Eintragungen, die sich über mehrere Jahre erstrecken (1423-1434). Die Historiker nahmen an, dass es sich hier um Boschs Großvater und wahrscheinlich den Maler des Freskos der Kathedrale handelte, so dass man glaubte, dass er einen wesentlichen Einfluss auf seinen Enkel ausübte. Im Jahr 1464 wird Laurent van Aeken, vielleicht der Vater von Hieronymus, als ein Bürger von s-Hertogenbosch erwähnt.[8]

Dies ist im Grunde der gesamte gesicherte Datenbestand über den Künstler. Die Historiker waren deshalb gezwungen, sich wieder den Bildern als Quellen zuzuwenden – aber keines von ihnen war datiert oder wurde in zeitgenössischen Schriften erwähnt. Es verwundert nicht, dass diese Situation zu verwirrenden Resultaten bei der historischen Bewertung der Bilder führte. Weil sie mit vorgefassten Meinungen an die Arbeit gingen, machten die Gelehrten Fehler, die man heute als offensichtlich empfindet. Louis Demonts versuchte 1919 z.B., die Entwicklung der Bilder und ihrer Themen auf der Basis der These zu deuten, dass Bosch sich von einer traditionellen theologischen Perspektive zu einem persönlichen moralischen Urteil entwickelt habe. Dies ließ Demonts Das Steinschneiden, Der Taschenspieler und Das Narrenschiff als Spätwerke begreifen – während man sie später anhand stilistischer Merkmale in Boschs Jugendzeit datierte. Seine Grundthese verleitete Demonts andererseits dazu, Die Anbetung der Könige (heute im Prado) als ein Frühwerk anzusehen, während spätere Historiker wie de Tolnay und Combe das Bild für eine großartige Synthese von Boschs Lebenswerk halten.

Erst mit Charles de Tolnays im Jahr 1937 geschriebener maßgeblicher Untersuchung konnten überhaupt eine zufrieden stellende Chronologie etabliert und die Arbeiten Boschs von denen seiner Schüler oder Kopisten unterschieden werden. De Tolnay untersuchte die technisch-stilistischen Merkmale der Bilder. Er erkannte, dass der Anfänger Bosch durch Archaismen verraten wird – steife Gestalten mit langen Leibern und unbeholfener Körperhaltung, die über keine echte Existenz im Raum und keine Beziehungen untereinander oder mit dem Hintergrund verfügen und deren Kleidung nur wenige und willkürliche Falten aufweist. Indem de Tolnay derartige Charakteristika in Boschs Arbeiten studierte, war er in der Lage, eine überzeugende Entwicklung von den Bildern des jungen Bosch bis hin zu ihrer klaren Antithese in Stil und Anlage der späteren Arbeiten nachzuzeichnen. De Tolnay demonstrierte erfolgreich, dass sich Bosch zu einem großen Landschaftsmaler und einem ausgezeichneten Koloristen entwickelte. Obwohl er nie die Gewandtheit eines italienischen Meisters der Hochrenaissance erlangte, schuf er in späteren Werken sogar einen sfumato-Effekt, der die Figuren und den Hintergrund zu einer harmonischen Einheit verschmolz.

 

18. Die Krüppel, Federzeichnung, 28,5 x 20,8 cm,

Graphische Sammlung Albertina, Wien.