Text: Patrick Bade

Übersetzung: Antje Kroschewski

 

Layout:

Baseline Co. Ltd

61A-63A Vo Van Tan Street

4. Etage

Distrikt 3, Ho Chi Minh City

Vietnam

 

© Parkstone Press International, New York, USA

© Confidential Concepts, worldwide, USA

Image-Bar www.image-bar.com

© de Lempicka Estate / Artists Rights Society, New York, USA / ADAGP

© Denis Estate / Artists Rights Society, New York, USA / ADAGP

© Lepape Estate / Artists Rights Society, New York, USA / ADAGP.

© Dix Estate / Artists Rights Society, New York, USA / VG Bild-Kunst.

© Pierre et Gilles. Galerie Jérôme de Noirmont, Paris

© O’Keeffe Estate / Artists Rights Society, New York USA

© Lotte Lasterstein.

Alle Rechte vorbehalten.

 

Ohne Genehmigung des Urhebers ist es weltweit nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus zu reproduzieren der zu übernehmen. Soweit nicht anders angegeben, liegt das Urheberrecht für die reproduzierten Werke beim jeweiligen Fotografen. Trotz ausführlicher Nachforschungen ist es dem Verlag nicht in allen Fällen gelungen, das Urheberrecht festzustellen. Für etwaige Hinweise sind wir dankbar.

 

ISBN: 978-1-78310-639-4

Patrick Bade

 

 

 

Tamara de Lempicka

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

EINLEITUNG

DER BEGINN IHRER KARRIERE

ART DÉCO

WENDEPUNKT

MEISTERWERKE

BIBLIOGRAPHIE

BIOGRAPHIE

BILDVERZEICHNIS

Tamara de Lempicka im Abendkleid, um 1929.

Schwarze und weiße Photographie auf Papier. 22,3 x 12 cm.

 

 

EINLEITUNG

 

 

Tamara de Lempicka hat mit ihren Bildern einige der größten Kultsymbole des 20. Jahrhunderts geschaffen. Das Werk keines anderen zeitgenössischen Künstlers ziert so viele Buchumschläge wie ihre Porträts und Aktzeichnungen aus den Jahren 1925-1933. Die Verleger wissen sehr wohl, dass diese Reproduktionen die Aufmerksamkeit auf sich lenken und das Interesse der potenziellen Käufer anregen. In den letzten Jahren haben die Originalbilder bei Auktionen von Christie’s und Sotheby’s Rekordsummen eingebracht. Gekauft werden sie nicht etwa nur von Museen, sondern sie sind beliebte Sammlerobjekte von Film- und Popstars.

Im Mai 2004 veranstaltete die Royal Academy of Arts in London eine große Ausstellung der Werke de Lempickas – und dies nur gerade ein Jahr, nachdem die Künstlerin einen zentralen Platz in einer anderen großen Ausstellung des Art déco im Victoria und Albert Museum (ebenfalls in London) eingenommen hatte. Die Besucher kamen in Scharen, trotz kritischer Reaktionen von beispielloser Feindseligkeit gegenüber einer Künstlerin mit solch fundiertem Ruf und Marktwert.

In einer Sprache voll moralischer Verurteilung, wie sie seit Hitlers Denunziation moderner Kunst auf dem Reichsparteitag in Nürnberg und der von den Nazis veranstalteten Ausstellung über Entartete Kunst nicht mehr gehört worden war, wetterte der Kunstkritiker der Sunday Times, Waldemar Januszczak:

“Ich hatte sie für eine manierierte und seichte Hausiererin der Art déco Banalitäten gehalten. Aber hier hatte ich Unrecht. Lempicka war viel schlimmer als das. Sie war eine mächtige Kraft des ästhetischen Verfalls, sie korrumpierte einen großartigen Stil auf melodramatische Weise und förderte leere Werte, ein entarteter Clown und eine in Wirklichkeit wertlose Künstlerin, deren Bilder wir zu unserer großen Schande haben absurd teuer werden lassen.”

Laut Januszczak kam de Lempicka 1919 nicht als unschuldiger Flüchtling der Russischen Revolution nach Paris, sondern in bösartiger Mission und mit der Absicht, “den menschlichen Anstand und die künstlerischen Standards ihrer Zeit zu verletzen”. Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, was genau die Kunst de Lempickas an sich hat, dass sie solch hysterische Schmähworte provoziert. Vielleicht gibt Januszczaks folgender scharfer Kommentar hier Aufschluss: “Luther Vandross sammelt scheinbar ihre Werke. Madonna. Streisand. Diese Art von Leuten.” Die Feindseligkeit ist vielleicht eher politisch als ästhetisch motiviert, denn was einige ihrer Kritiker am meisten ärgerte, war der glamouröse Lebensstil sowohl von Tamaras Sammlern als auch ihren Modellen.

DER BEGINN IHRER KARRIERE

 

Porträt der Baroness Renata Treves, 1925.

Öl auf Leinwand, 100 x 70 cm.

Barry Friedman Ltd., New York.

 

 

Tamara de Lempickas Herkunft und ihr frühes Leben sind geheimnisumwoben. Unser Wissen über ihre Herkunft setzt sich aus einigen höchst unzuverlässigen und lückenhaften autobiografischen Fragmenten sowie den Äußerungen ihrer Tochter, Baroness Kizette de Lempicka-Foxhall, gegenüber de Lempickas amerikanischem Biografen Charles Phillips zusammen. De Lempicka war eine Meisterin im Erfinden von Geschichten und im Mythologisieren ihrer eigenen Person; sie war durchaus in der Lage, ihre eigene Tochter und sogar sich selbst zu täuschen. Ein großer Teil ihrer Geschichte, wie ihre Tochter sie erzählt, erinnert an einen Liebesroman oder ein Drehbuch und ist wohl in vieler Hinsicht auch nicht viel authentischer.

Sowohl Geburtstort als auch Geburtsdatum de Lempickas variieren von Erzählung zu Erzählung. Darin braucht man jedoch weiter nichts zu sehen als die Eitelkeit einer schönen Frau. (Zu Tamaras Lebzeiten hatten Opernsängerinnen mit dem Titel Kammersängerin im Österreichisch-Ungarischen Reich offiziell das Recht, ihr Geburtsdatum um bis zu fünf Jahre nach hinten zu korrigieren.)

Schon eher bedeutsam ist, dass sie ihren Geburtsort von Moskau nach Warschau verlegte, wie dies zumindest manche behaupten. Es wurde darüber spekuliert, dass de Lempicka auf väterlicher Seite jüdischer Herkunft gewesen sei, und dass die Verschleierung ihres Geburtsortes helfen sollte, diese Tatsache zu verdecken. Ohne Frage war de Lempickas Fähigkeit, sich an neuen Orten immer wieder neu zu erfinden, wie sie sich im Laufe ihres Lebens öfters manifestierte, ein Überlebensmechanismus, den sie mit vielen Juden ihrer Generation teilte. Die Vorahnung der von Nazi-Deutschland ausgehenden Gefahr einer ansonsten unpolitischen Frau und ihr Wunsch, Europa 1939 zu verlassen, geben ebenfalls Grund zur Vermutung, dass sie Halbjüdin war.

Der offiziellen Version zufolge kam Tamara Gurwik-Gorska als Tochter wohlhabender Eltern der polnischen Oberschicht im Jahre 1898 in Warschau zur Welt. Nach drei Teilungen gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde ein Großteil Polens, und somit auch Warschau, Teil des Russischen Reiches. Der im 19. Jahrhundert aufkommende Nationalismus brachte fortlaufende Auflehnungen gegen die russische Herrschaft mit sich und resultierte in immer härteren Versuchen, die Polen zu russifizieren und ihre polnische Identität zu unterdrücken. Tamara scheint sich nie mit den kulturellen und politischen Bestrebungen des polnischen Volkes identifiziert zu haben. Sie fand sich im Gegenteil in der herrschenden Klasse des zaristischen Regimes wieder, das Polen unterdrückte. Die Tatsache, dass sie nach ihrer Flucht aus dem bolschewistischen Russland zusammen mit tausenden russischen Aristokraten das Exil in Paris dem Leben im gerade befreiten und unabhängigen Polen vorzog, scheint für sich zu sprechen.

Die Familie ihrer Mutter, Malvina Decler, war wohlhabend genug, um die “Saison” in St. Petersburg verbringen und in die mondänen Kurbäder Europas reisen zu können. Auf einer dieser Reisen sollte Malvina Decler ihren zukünftigen Ehemann Boris Gorski treffen. Über ihn ist außer der Tatsache, dass er als Anwalt für eine französische Firma arbeitete, sehr wenig bekannt. Aus welchem Grund auch immer, Boris Gorski war nicht jemand, den Tamara in den Erzählungen über ihr frühes Leben besonders hervorzuheben pflegte.

Aus Tamaras späteren eigenen Äußerungen lässt sich schließen, dass sie zusammen mit ihrem älteren Bruder Stanczyk und ihrer jüngeren Schwester Adrienne eine glückliche Kindheit verbrachte. Ihr eigensinniges Temperament, das sich schon in jungen Jahren zeigte, wurde eher gefördert als gezügelt. Als Tamara im Alter von zwölf Jahren für ihr Porträt sitzen soll, wird dies zu einem wichtigen und offenbarenden Ereignis. “Meine Mutter traf die Entscheidung, mein Porträt von einer berühmten Frau malen zu lassen, die mit Pastellfarben arbeitete. Ich musste stundenlang am Stück still sitzen, es war eine Tortur. Später würde ich andere quälen, die für mich Modell sitzen mussten. Als sie fertig war, konnte ich dem Bild nichts abgewinnen, es war nicht ... präzise.

Die Linien waren nicht fournies, nicht sauber gemalt. Das war nicht ich. Und ich beschloss, dass ich das besser konnte. Ich kannte die Technik nicht. Ich hatte nie gemalt, aber das war unwichtig. Meine Schwester war zwei Jahre jünger. Ich nahm mir die Farbe. Ich zwang sie, für mich Modell zu sitzen. Ich malte und malte, bis ich endlich ein Ergebnis vorliegen hatte. Es war imparfait, aber ähnelte meiner Schwester mehr, als das Bild der berühmten Künstlerin mir ähnelte.”

Bauernmädchen beim Gebet, um 1937.

Öl auf Leiwand, 25 x 15 cm. Privatsammlung.

Das polnische Mädchen, 1933.

Öl auf Holz, 35 x 27 cm. Privatsammlung.

 

 

Wurde Tamaras Berufung, wie sie hier behauptet, in diesem Augenblick geboren, so verstärkte sich ihr Interesse noch mehr, als sie ihre Großmutter im Jahr darauf auf einer Reise nach Italien begleitete. Laut Tamaras Angaben versuchte sie zusammen mit ihrer Großmutter ihre Familie davon zu überzeugen, dass die Reise aus gesundheitlichen Gründen notwendig sei. Das junge Mädchen heuchelte eine schlechte gesundheitliche Verfassung vor und ihre Großmutter war nur zu bereit, sie in wärmere Regionen wie Rom, Florenz und Monte Carlo zu begleiten, um ihrer Spiellust zu frönen. Die ältliche polnische Frau und ihre atemberaubend schöne Enkeltochter müssen einen ähnlich exotischen Eindruck gemacht haben wie die polnische Familie, die Aschenbach in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig beobachtet. Besuche der Museen von Venedig, Florenz und Rom hinterließen bei Tamara eine lebenslange Leidenschaft für die Kunst der italienischen Renaissance, die ihre besten Arbeiten in den 1920er und 30er Jahren beeinflusste. Ein zerrissenes und geknicktes Foto aus Monte Carlo zeigt sie als typisches junges Mädchen de bonne famille der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Ihr sorgfältig gekämmtes Haar fließt in präraphaelitischer Fülle über ihre Schultern und reicht fast bis zu ihrer Taille. Sie posiert beim kindlichen Diabolospiel, aber ihre üppigen Lippen und ihr kühler selbstbewusster Blick täuschen über ihr Alter von dreizehn Jahren hinweg. Es würde sicher nicht mehr lange dauern, bis sie für das nächste große Abenteuer in ihrem Leben bereit war – für die Zeit der Umwerbung und Ehe. Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs und des Todeskampfs der russischen Monarchie ist die Geschichte, die durch Tamara und ihre Tochter überliefert wurde, wie so oft in de Lempickas Leben, reif für einen populären Liebesroman oder Film.

Als Tamaras Mutter erneut heiratet, zieht die Tochter als Ausdruck ihrer ablehnenden Haltung zu ihrer Tante Stephanie und ihrem wohlhabenden Ehemann, einem Bankier, nach St. Petersburg, wo sie durch den Ausbruch des Krieges und die anschließende Besetzung Warschaus durch die Deutschen festsitzt. Kurz vor dem Ausbruch des Krieges, Tamara war gerade fünfzehn, hatte sie in der Oper einen gut aussehenden jungen Mann gesehen, der von wunderschönen und gebildeten Frauen umgeben war, und sie hatte sofort beschlossen, ihn für sich zu gewinnen. Sein Name war Tadeusz Lempicki. Obwohl zum Rechtsanwalt ausgebildet, war er so etwas wie ein Playboy und stammte aus einer wohlhabenden Familie, die große Güter besaß. In ihrer üblichen Dreistigkeit und ohne jegliche Hemmungen setzte sich das junge Mädchen über sämtliche Konventionen hinweg, näherte sich Tadeusz und machte vor ihm einen kunstvollen Knicks. Tamara hatte die Möglichkeit, den Eindruck, den sie auf Tadeusz bei ihrem ersten Treffen gemacht hatte, noch zu verstärken, als ihr Onkel etwas später im selben Jahr einen Kostümball gab, zu dem Lempicki eingeladen war. Zwischen den eleganten und gebildeten Damen in ihren modernen, von Poiret inspirierten Kleidern erschien Tamara als bäuerliche Gänsemagd, eine lebendige Gans an der Leine führend. Selbst Barbara Cartland und Georgette Heyer hätten sich keinen besseren Trick einfallen lassen können, um die Aufmerksamkeit des gut aussehenden Helden zu gewinnen. In einer Darstellung, die der Wahrheit ziemlich nah zu kommen scheint, gestand Tamara ein, dass das Aushandeln ihrer Hochzeit mit Tadeusz durch ihren Onkel alles andere als romantisch war. Der wohlhabende Bankier suchte den gut aussehenden jungen Mann in der Stadt auf und sagte: “Hören Sie mir zu. Ich werde meine Karten auf den Tisch legen. Sie sind ein gebildeter junger Mann, aber sind nicht sonderlich vermögend. Ich habe eine Nichte, eine Polin, die ich gern verheiraten würde. Wenn Sie sie als Braut akzeptieren, werde ich ihr eine Mitgift geben. Jedenfalls kennen Sie sie bereits.”

Bauernmädchen mit Krug, um 1937.

Öl auf Holz, 35 x 27 cm. Privatsammlung.

Das Bauernmädchen, um 1937.

Öl auf Leinwand, 40,6 x 30,5 cm. Lempickas Erben.

Die Wahrsagerin, um 1922.

Öl auf Leinwand, 73 x 59,7 cm.

Barry Friedman Ltd., New York.

Die Zigeunerin, um 1923.

Öl auf Leinwand, 73 x 60 cm. Privatsammlung.

 

 

Als die Hochzeit 1916 in der Malteserkirche im gerade umbenannten Petrograd stattfand, war das Russland der Dynastie Romanow unter dem Angriff der deutschen Armee am Rande des Zusammenbruchs und kurz davor, von der Revolution überwältigt zu werden. Die Erlebnisse des frisch verheirateten Paares nach der Machtübernahme der Bolschewiken gehören weniger in die Handlung eines Romans als in die einer Oper, mit Tamara in der Rolle der Tosca und Tadeusz als Cavaradossi.

Zieht man den gesellschaftlichen Hintergrund und die Lebensweise des Paares sowie die reaktionären politischen Sympathien und Aktivitäten Tadeuszs in Betracht, so ist es kaum verwunderlich, dass dieser unter dem neuen Regime in Gefangenschaft geriet. Tamara erinnerte sich, dass sie und Tadeusz gerade miteinander schliefen, als die Geheimpolizei mitten in der Nacht mit den Fäusten an die Tür schlug und Tadeusz ins Gefängnis beförderte. In ihren Bemühungen, ihren Ehemann ausfindig zu machen und seine Flucht aus Russland zu ermöglichen, nimmt Tamara die Hilfe des schwedischen Konsuls in Anspruch, der wie Scarpia in Puccinis Opernmelodram als Gegenleistung sexuelle Dienste verlangt. Glücklicherweise war das Ende anders als in Puccinis Oper und keine der beiden Parteien betrog die andere. Tamara gab dem schwedischen Konsul, was er wollte, und er hielt sein Versprechen: Er verhalf nicht nur Tamara zur Flucht aus Russland, sondern erzwang auch die Freilassung und ermöglichte die Flucht ihres Ehemanns. Mit einem falschen Pass reiste Tamara über Finnland, um in Kopenhagen mit ihren Angehörigen wieder vereint zu sein. Dies war ein Weg, den zahlreiche russische Adelige, Künstler und Intellektuelle gingen, unter ihnen viele, deren Geschichte nicht weniger abenteuerlich als jene von Tamara und Tadeusz war. Die wunderschöne und sehr weiblich geformte Sopranistin Maria Kouznetsowa, ein Liebling des kaiserlichen Russlands, entkam auf einen schwedischen Frachter, etwas unglaubwürdig als Schiffsjunge verkleidet.

Flüchtlinge der Russischen Revolution verteilten sich über die ganze Welt, aber Paris, das schon lange die Heimat vieler betuchter Russen gewesen war, wurde zum Mekka vieler Weißrussen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Unweigerlich zog es Tamara und Tadeusz zusammen mit Tamaras Mutter und ihrer jüngeren Schwester (ihr Bruder verlor sein Leben im Krieg) dorthin. Im Gegensatz zu vielen anderen Flüchtlingen, die ohne Geld und Freunde in Paris ankamen, konnten sie sich zumindest auf die Hilfe ihrer Tante Stefa und besonders deren Ehemann verlassen, dem es gelungen war, seinen Reichtum zu behalten und an seine frühere Karriere als Bankier anzuknüpfen.

Seit der Jahrhundertwende ermutigte die politische Allianz zwischen Russland und Frankreich, die der Eindämmung der Gefahr des Wilhelminischen Deutschlands galt, die Entstehung kultureller Verbindungen zwischen den beiden Ländern. Der große Impresario Sergei Diaghilew nutze dieses politische Klima, um sich in Paris eine Stellung zu verschaffen. 1906 organisierte er eine Ausstellung russischer Porträts im Grand Palais, die die Vorarbeit für eine fantasievollere Präsentation von Gemälden und Skulpturen leistete. Im Anschluss an diesen Erfolg arrangierte er Konzerte, in denen dem französischen Publikum zum ersten Mal die Musik von Komponisten wie Glazunow, Rachmaninow, Rimski-Korsakow, Tschaikowsky und Scriabin präsentiert wurde.

Die junge Generation französischer Musiker, die aus dem Schatten Wagners treten wollte, war begeistert von dieser Musik, die frisch und neu und nicht deutsch war. Das Jahr 1908 sah Diaghilews erste westliche Inszenierung der größten aller russischen Opern, Mussorgskys Boris Godunow, an der Pariser Oper. Paris war nicht nur von der Originalität und Urgewalt von Mussorgskys Musik begeistert, sondern auch von der bezwingenden Macht der Interpretation der Titelfigur durch den Bassisten Feodor Schaliapin. Schaliapin hatte das Publikum in Schrecken versetzt und dazu veranlasst, in der berühmten Szene mit der schlagenden Uhr auf die Sitze zu springen und nach dem Geist Ausschau zu halten, und etablierte sofort seinen Ruf als größter singender Bühnenschauspieler. Misia Sert, eine der einflussreichsten Schiedsrichterinnen dessen, was zu jener Zeit angesagt war, schrieb: “Ich verließ die Oper ergriffen und in dem Bewusstsein, dass sich etwas in meinem Leben verändert hatte”.

Frau im Profil, einen Schal tragend, um 1922.

Öl auf Leinwand, 61 x 46 cm.

Barry Friedman Ltd., New York.

Porträt einer jungen Damen in blauem Kleid, 1922.

Öl auf Leinwand, 63 x 53 cm. Barry Friedman Ltd., New York.

 

 

Im folgenden Jahr fanden Diaghilews Bemühungen in der Bekanntmachung des Pariser Publikums mit dem Russischen Ballett ihren Höhepunkt. Die Pariser waren von dem tänzerischen und choreografischen Talent eines Ensembles beeindruckt, zu dem so legendäre Namen wie Nijinski, Pawlowa, Karsawina und Fokine gehörten, und von dem Erlebnis des Balletts als eine Art Gesamtkunstwerk und nicht als triviale Unterhaltung. Diaghilew und sein Ballettensemble sollten das Pariser Publikum zwei weitere Jahrzehnte lang begeistern und erstaunen. Diaghilew hatte ein einmaliges Talent dafür, das Talent anderer vorauszuahnen und zu entwickeln. Ohne auch nur die Tänzer und Choreografen zu erwähnen, die unter seiner Regie das moderne Ballett schufen, ist die Liste der Künstler und Musiker, die für Diaghilew arbeiteten, ein Kompendium der größten Talente jener Zeit und schließt Strawinsky, Debussy, Ravel, Richard Strauss, Satie, Falla, Resphigi, Prokofjew, Poulenc, Milhaud, Bakst, Goncharowa, Larionow, Balla, Picasso, Derain, Braque, Gris, Marie Laurencin, Max Ernst, Miro, Coco Chanel, Utrillo, Rouault, de Chirico, Gabo, Pevsner und Cocteau ein.

Tamara de Lempickas Karriere fand 1929, im Todesjahr Diaghilews, ihren Höhepunkt, und der Verlauf der einzigartigen Karriere dieses Mannes hatte in mehr als einer Hinsicht einen Einfluss auf die Karriere von de Lempicka. Diaghilew hat wahrscheinlich mehr als irgendein anderer dazu beigetragen, den Mythos der russischen Kreativität und des Exotischen in der Kunst zu etablieren. Als aufgrund der Russischen Revolution der Nachschub an echten russischen Tänzern auf sich warten ließ und Diaghilew sich gezwungen sah, britische Tänzer zu engagieren, russifizierte er ihre Namen, um so ihre Mystik zu bewahren. So wurde aus Alice Marks Alicia Markowa, aus Patrick Healey-Kay Anton Dolin und aus Hilda Munnings, nach einer kurzen Phase unter dem unglaubwürdigen Namen Hilda Munningsowa, Lydia Sokolowa. In den 1930er Jahren hatte sich die Gleichsetzung von russisch mit glamourös und exotisch bereits in der Populärkultur durchgesetzt. In dem Film Ein Stern geht auf von 1937 wird das von Janet Gaynor gespielte junge Mädchen, das auf ein Leben als Berühmtheit vorbereitet wird, mehrfach von einem Angestellten der Werbeabteilung der Studios gefragt, ob sie russische Verwandte habe, in der Hoffnung, auf diesem Wege für die Öffentlichkeit ein aufregenderes Bild von ihr kreieren zu können.

Diaghilevs Bühnenbildner und Kostümdesigner, unter ihnen besonders Léon Bakst, spielten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Art déco Stils, mit dem de Lempicka sich assoziierte. Insbesondere Baksts Entwürfe für die Produktion der Sheherazade im Jahre 1910 hatten einen außergewöhnlichen Einfluss auf Mode und Innenarchitektur. Die gesamte nächste Generation der modernen Pariser Gastgeberinnen trug Kleider und dekorierte ihre Salons, als bereite man sich auf eine orientalische Orgie vor. Selbst in den späten 1920er Jahren zeigen Fotografien von Tamara de Lempickas Schlafzimmern Dekors, die – auch wenn sie sich von der Üppigkeit des Designs von Bakst abheben – diese so erscheinen lassen, als wäre hier Nijinskys Sexsklave als nächtlicher Besuch nicht fehl am Platze.

Das Paris zwischen den beiden Weltkriegen wimmelte von russischen Flüchtlingen. Es kursierte der Witz, dass jeder zweite Taxifahrer in Paris entweder ein echter oder ein vorgeblicher Großfürst war. Aus dieser Situation heraus wurde auch das beliebte Stück TovarichParis leste