Autor: Hans-Jürgen Döpp

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ISBN: 978-1-78310-663-9

Hans-Jürgen Döpp

 

 

 

Musik & Eros

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

Einleitung: Musik & Eros

Intermezzo 1 – Alan Arkin

Intermezzo 2 – Ernest Borneman

Darwins brünstige Affen

Tänze bei den Naturvölkern

Der orientalische Bauchtanz

Intermezzo 3 – Falls es so ist...

Intermezzo 4 – Die Wollüstige

Die indischen Bajaderen

Prostitution und Tanz in der Antike

Die chinesischen Blumenmädchen

Gesänge des Teufels

Die Flöte des Dionysos

Hohe Minne und niedere Triebe Troubadoure und Minnesänger im Mittelalter

Intermezzo 5 – Goethe

Don Juan und die Musik

Beethoven: „An die ferne Geliebte“

Intermezzo 6 – Nancy Friday

Intermezzo 7 – Harry Mathews

Wagners parfümierte Erotik

Musik und frühe Erfahrung

Intermezzo 8 – Harry Mathews

Intermezzo 9 – Jorgi Jatromanolakis

Fast genussunfähig...

Vom Zauber des Zusammenspiels

Intermezzo 10 – Jorgi Jatromanolakis

Das Instrument als Partner

Der Reigen-Prozess

„... dieses tanzende Laster“ – Anita Berber

Intermezzo 11 – Jean -Michel Jarre über Sex

Intermezzo 12 – Erich Kästner

¡El Tango me ha tocado!

Rock, Pop und Sex

Electronic Vibrations

Finale

Intermezzo 13 – E.Th.A. Hoffmann

Coda: Lob der Stille

Index

Anmerkungen

Jean-Auguste-Dominique Ingres,
Türkisches Bad, 1862.

 

 

Einleitung: Musik & Eros

 

 

Für Doris

 

Der listenreiche Odysseus musste seine Schiffsgefährten dadurch vor dem verlockenden Gesang der Sirenen bewahren, dass er ihnen die Ohren mit Wachs verklebte. Er selbst will auf die Augen- und Ohrenweide, die ihm der Anblick und die Stimmen dieser gefährlichen Geschöpfe bereiten, nicht verzichten. So lässt er sich vorsichtigerweise an den Mast des Schiffes binden, um dem gefährlichen Gesang nicht zu verfallen.

Wie kann, was reiner Klang ist, sich in mächtiges Liebessehnen verwandeln? Wie ist es möglich, allein durch das Gehör Sinnlichkeit anzusprechen? Warum spielt Musik in der Liebe eine so hervorragende Rolle? Wir fragen nach dem Ursprung der tiefen erotischen Wirkung von Gesang, Tanz und Musik. Was erklärt den Zauber musikalischer Töne und Rhythmen?

Arnold Schönberg sprach einmal vom „Triebleben der Klänge“. In welchem Verhältnis steht dieses zum Triebleben des Menschen?

In Ovids Metamorphosen[1] werden Ursprung und Gehalt der Musik dargestellt. Schon in diesem Ursprungsmythos gehen Musik und Eros eine Verbindung ein: Der Klang der Panflöte soll die verlorene Geliebte erreichen. Ernst Bloch, dessen Darstellung wir seiner sprachlichen Schönheit wegen hier folgen, bezeichnet diesen Mythos als eines der schönsten Märchen der Antike[2]:

„Pan jagte sich mit Nymphen, stellte einer dieser, der Baumnymphe Syrinx, nach. Sie flieht vor ihm, sieht sich durch einen Fluss gehemmt, fleht die Wellen an, ihre ,liquidas sorores’, sie zu verwandeln. Pan greift nach ihr, da hält er nur Schilfrohr in Händen. Während seiner Klagen um die verlorene Geliebte erzeugt der Windhauch im Röhricht Töne, deren Wohlklang den Gott ergreift. Pan bricht das Schilf, hier längere, dort kürzere Rohre, verbindet die wohlabgestuften mit Wachs und spielt die ersten Töne, gleich dem Windhauch, doch mit lebendigem Atem und als Klage. Die Panflöte ist so entstanden, das Spiel schafft Pan den Trost einer Vereinigung mit der Nymphe, die verschwunden und doch auch nicht verschwunden, die als Flötenklang in seinen Händen blieb.“

So steht am Ursprung der Musik eine Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Im Flötenspiel wird das Abwesende zum Anwesenden; das Instrument, die Syrinx und die Nymphe sind eine Einheit. Die Nymphe ist entschwunden, und doch hält Pan sie in Gestalt der Syrinx in seinen Händen.

In den ersten Kapiteln wird die enge Verknüpfung von Musik und Geschlechtslust am Bespiel der künstlerischen „Prostitution“ skizziert, aufgezeigt an unterschiedlichen Kulturen; das Sinnlich-Körperliche wird insbesondere durch den Tanz und seine Rhythmen betont.

Dass Musik eine ungeheure Kraft ausübt, dokumentiert sich in all den Versuchen, sie zu reglementieren und ihren Einfluss einzuschränken.

Mit Philosophen wie Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard versuchen wir, die Luftwurzeln der Musik nachzuzeichnen, die in eine andere Welt als die uns gewohnte reichen.

Kompositorisches Schaffen als Möglichkeit, den unerfüllt gebliebenen Liebeswunsch in Beglückung zu verwandeln: Diesem Thema gehen wir am Beispiel Beethovens und Hugo Wolfs nach.

Literarische Beispiele (Tolstoi, Thomas Mann, Arthur Schnitzler) zeigen uns die zum Teil fatale Macht der Musik.

Dass diese immer auch ein Echo früherer Erfahrungen ist, zeigt uns das psychoanalytisch orientierte Kapitel: Musik evoziert die Anwesenheit eines Abwesenden.

Nicht nur das Zusammenspiel mit anderen kann beglückend sein. Auch das Verhältnis zum Instrument selbst kann für den Musizierenden zum Liebesverhältnis werden.

Stets bleibt das Körperliche die Basis der Erotik. Doch wurde dies Element in einem mit der Kulturentwicklung fortschreitenden Sublimationsprozess zunehmend zugunsten eines „Geistig-Seelischen“ zurückgedrängt. In den letzten Kapiteln, die sich der Musik und dem Tanz der Gegenwart widmen, entsteht der Eindruck einer Rückkehr des Körperlichen, die zugleich als „Befreiung der Sexualität“ gefeiert wird.

Doch schon die Suche nach der Erotik in der romantischen Musik führte zu der Entdeckung, dass sie auch Echo ist auf körpereigene Vorgänge: das Echo des eigenen Herzschlags, des eigenen Atems, des eigenen Begehrens.

Das Verhältnis von Erotik und Musik im Medium der Sprache zu beschreiben, kann nur als Versuch einer Annäherung bezeichnet werden. Wer versucht, eine schillernde Seifenblase in seinen Besitz zu bringen, wird sie zum Platzen bringen und hat statt ihrer eine kleine klebrige Pfütze an seinem Finger kleben. So kann es mit unserem Thema ergehen: Wir spannen das Gitter der Sprache aus, und was bleibt, sind einige Wort-Pfützen auf dem Papier, in denen das Geheimnis des Wechselverhältnisses nicht mehr zu finden ist. Aufgrund der Inkompatibilität der beiden Sprachen, der Sprache der Musik und der des Wortes, ist der Erkundung des Themas damit von vornherein eine methodologische Grenze gesetzt.

So lassen wir die schillernde Kugel dahinschweben. Was wir versuchen, ist, sie bei unterschiedlichem Lichteinfall und aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

Musik, wie auch Erotik, ist ein Medium des Übergangs in eine andere Welt. Dies erinnert an Jean Pauls Frage:

„O Tonkunst, bist Du das Abendwehen aus diesem Leben? Oder die Morgenluft aus jenem?“

Zu den ausgewählten Bildern: Unser Thema ist nur schwer, ja: unmöglich zu illustrieren. Ein Bild, das einen ekstatischen Gesichtsausdruck zeigt, könnte es genauso illustrieren wie eine harmonische niederländische Landschaft oder eine Zeichnung mit abstrakten, frei dahinschwebenden Linien. Noch das abstrakteste Kunstwerk steht mit den Kräften des Eros in Verbindung, und jedes Bild ließe sich in eine Klangkomposition verwandeln. So suchten wir ganz vordergründig Bilder aus, auf denen Eros und Musik vom Sujet her unmittelbar verknüpft sind. Ein Verfahren, das auch dadurch sich rechtfertigt, dass viele dieser hier gezeigten Bilder bisher noch nie zu sehen waren. Wem die Musik allerdings etwas „Heiliges“ ist, wird sie durch diese Bilder profaniert sehen. Andere aber mögen in ihnen das Lachen des Genius erblicken. Und so wenig wir in unserer Abhandlung zwischen E- und U-Musik unterscheiden wollen, so wenig wollen wir hier zwischen „hoher“ Kunst und Trivialkunst unterscheiden: Das Triebgeschehen liegt allen Werken zugrunde; alles andere ist eine Frage des Sublimationsgrades.

Anonym, Pan lehrt Daphnis das Flötenspiel,

400 vor unserer Zeitrechung. Neapel.

Correggio (Antonio Allegri), Leda und der Schwan, 1532.

Intermezzo 1 – Alan Arkin

 

 

Aus dem Jugendbuch Cassie liebt Beethoven von Alan Arkin

„Ist da etwas, was dich beunruhigt?“, fragte David.

„Ja, da ist etwas“, antwortete Cassie nachdenklich. „Die Musik, die ich gerade gehört habe, die hat mir – das Herz zerrissen. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.“

„Es tut mir Leid, dass die Musik dich aufgeregt hat“, sagte David ruhig. „Wir hatten gehofft, dass sie dich glücklich macht.“

„Bei Gott“, sagte Cassie, „sie hat mich glücklich gemacht. Glücklicher, als ich das je für möglich gehalten habe. Sie hat mich an Orte versetzt, von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Aber dieses letzte Stück... das hat mich fast überglücklich gemacht... es hat eine Sehnsucht in mir geweckt, nach Dingen und Orten, die es auf dieser Welt vielleicht gar nicht gibt.“

„Es tut uns sehr Leid, wenn die Musik dich so aufgewühlt hat“, sagte David ehrfürchtig.

„Ja, sie hat mich wirklich aufgewühlt“, sagte Cassie, „aber durch Träume von etwas ungeheuer Schönem und Großartigem. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn man auf diese Weise überwältigt wird. Ich fühle, wie mein Herz aufreißt, aber vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, um für schönere Dinge Raum zu schaffen.“

– (Cassie ist eine sprechende Kuh, die, um mehr Milch zu produzieren, mit Musik beschallt wird. Im Radio hörte sie die 6.Symphonie von Beethoven, die so genannte Pastorale).

„Hat Beethoven die Symphonie allein geschrieben?“ Cassie schüttelt langsam ihren dicken Kopf... „Woher weiß er das alles?“ fragte sie ehrfürchtig. „Wie kann er das alles fühlen? Und wenn, wie bringt er uns dazu, genauso zu fühlen? Wie macht er das, dass wir bei den Tönen an Felder denken und an das grüne Gras, die Hügel und Bäume und Flüsse, Blitz und Donner? Er macht die Klänge ja nicht einfach nach, der Donner hat seinen eigenen Klang, genau wie der rauschende Fluss, und seine Musik erinnert mich an all das, aber es klingt ja nicht genau so. Verstehst du, was ich meine?“

– (Cassie, die Kuh, ist weggelaufen:) „Sie ist verrückt geworden“, erklärte Myles. „Gestern war sie noch eine liebe, zufriedene Kuh. Was ist ihr bloß zugestoßen?! „Beethoven“, sagte David sanft und sah aus dem Fenster. „Beethoven ist ihr zugestoßen.“

Intermezzo 2 – Ernest Borneman

 

 

Aus:Ernest Borneman, Sex im Volksmund

Die enge Verknüpfung von Sexualität und Musik drückt sich im Volksmund durch eine große Zahl von auf Geschlechtsorgane und geschlechtliche Vorgänge bezogene Synonyme aus. Der Sexualforscher Ernest Borneman (1915 bis 1995) sammelte solche Ausdrücke in seinem Buche Sex im Volksmund172. Hier eine Auswahl:

. Geschlechtsorgan: Griffbrett, Klaviatur, Manual, Tastatur, Zupfinstrument, Zungeninstrument.

. Penis: Blockflöte, Bügelhorn, Coda, Einhandflöte, Englischhorn, Fagott, Flöte, Flügelhorn, Geigenbogen, Hohlflöte, Klarinette, Nachthorn, Oboe damour, Pfeife, Posaune, Rohrflöte, Sackpfeife, Schalmei, Schellenbaum, Taschengeige, Trompete...

. Kinderpenis: Hirtenflöte, Piccolo.

. Koitus: Abendlied, Abendmusik, Duett, Duo, Fuge, Kammermusik, Lieder ohne Worte, Nachtmusik, Notturno, Salonmusik, Schlaflied, Schlummerlied, Triller, Zwiegesang...

. koitieren: fiedeln, flöten, geigen, harfen, pfeifen…

. Frau, die im Stehen koitiert: Stehgeige

. Mann, der im Stehen koitiert: Stehgeiger

. Masturbator: Fiedler, Geiger, Harfner, Pianist, Spielmann, Zupfgeigenhansel.

. masturbieren: klimpern, leiern, orgeln, spielen.

. Scheide: Balalaika, Drehorgel, Gitarre, Glocke, Glockenspiel, Harfe, Harmonika, Klavier, Konzertina, Leierkasten, Mandoline, Pauke, Quetschkommode, Schlitztrommel, Spieldose, Wurlitzer.

Heinrich Lossow, Die Sirenen, 1890.

 

 

Darwins brünstige Affen

 

 

Am Anfang stand Darwin. In der Abstammung des Menschen (1875) schreibt er: „Wir müssen annehmen, dass die Rhythmen und Kadenzen der oratorischen Sprache aus vorher entwickelten musikalischen Kräften herzuleiten sind. Auf diese Weise können wir verstehen, woher es kommt, dass Musik, Tanz, Gesang und Poesie so sehr alte Künste sind.“ Wir können sogar noch weiter gehen und annehmen, dass musikalische Laute eine der Grundlagen für die Entwicklung der Sprache abgeben. In demselben Sinne spricht Darwin in dem Werk Über den Ausdruck der Gemütsbewegung (1872). Der Gesang der Vögel, so führt er aus, diene vor allem dem Zweck des Lockens, er drücke die geschlechtlichen Triebe aus und bezaubere die Weibchen. Zu demselben Zwecke soll nun der Mensch seine Stimme zuerst gebraucht haben, und zwar darum nicht als Wortsprache, weil diese eines der spätesten Produkte der menschlichen Entwicklung sei, musikalische Töne jedoch zum Zwecke der Lockung des Weibchens, oder auch umgekehrt, des Männchens, sich schon bei sehr niedrig stehenden Tieren finden.

Urquell der Musik sei der Ton in der Natur, und zwar sowohl der sich in Freude oder Schmerz der menschlichen Kehle entringende Ton wie auch der Ton, den das Tier ausstößt, zumal in seiner Brunst oder zur sexuellen Lockung. In der Brunst schreit das Tier (der Frosch, der Hirsch, das Pferd, der Löwe und viele andere), und in der Brunst singt und lockt der Vogel auf besondere Art. Die Wiederholung der Lockrufe in abgemessenen Zeiträumen führt zum Rhythmus und zum Gesang. Die rhythmische Wiederkehr derselben Töne besitzt etwas in hohem Grade Suggestives, Faszinierendes und dient so der sexuellen Anlockung. Noch Iwan Bloch (Das Geschlechtsleben unserer Zeit, Berlin 1906) sah hierin den Ursprung der tiefen erotischen Wirkung von Gesang und Musik.

„Dieser biologische Anlass zur Musik, der selbst bei Affen noch ein unmelodischer Schrei des geschwellten Kehlsacks ist, findet eine veredelnde Stufe zur menschlichen Musik durch den Gesang der Vögel“, meint der Sozialbiologe Elster. „Koloraturgesang der menschlichen Stimme ist oft nur eine Nachahmung von Passagen aus der Vogelwelt.“[3]

Aus Darwins klassischen Untersuchungen geht die innige Beziehung der Stimme zum Geschlechtsleben hervor. Besonders die männliche Stimme übe eine sexuell erregende Wirkung auf das Weib aus, aber auch die umgekehrte Wirkung einer Frauenstimme auf den Mann wird beobachtet. Darwin nimmt an, dass die Urerzeuger des Menschen, ehe sie das Vermögen, ihre gegenseitige Liebe in artikulierter Sprache auszudrücken erlangt hatten, sich einander in musikalischen Tönen und Rhythmen zu bezaubern suchten.

In einer aufgeklärten Zeit sind es nicht mehr die Götter, die durch die Musik hindurch sprechen: Anlass zur Musik ist ein biologischer. Wenn der Mensch Musik hervorbringt, dann ist dies eine Veredelung einer naturgegebenen Erscheinung. Ihre Beziehung zur Sexualsphäre kann durch solche Veredelung wohl verdeckt, aber nicht beseitigt werden. Sah nicht schon Schopenhauer die Musik als „… unmittelbares Abbild des Willens selbst“? Das Innerste der Erotik und der Musik verdeutliche sich im Willen zur Liebe. Gerade das Euphorische ist von beflügelnder Wirkung auf Erotisches und Sexuelles, was die zu allen Zeiten bewusst geübte Rauschwirkung der Musik beweist. Hierbei können Sexuelles, Religiöses und Musikalisches sich mischen, wobei die musikalische Ekstase eine Brücke zwischen sexueller und religiöser Ekstase bilden kann.

Ob nun die Sprache sich aus dem Gesang oder der Gesang aus der Sprache sich entwickelt habe, ist eine gesonderte Streitfrage. Für den Philosophen und Soziologen Georg Simmel (1858 bis 1918) steht fest, dass der Gesang sich aus der Sprache entwickelt habe; er sei zunächst nur eine durch den Affekt gesteigerte Sprache gewesen. Diese Affekte haben das rhythmische und modulatorische Element, das in der Sprache liegt, gestaltet.[4] Es ist der Rhythmus des gesteigerten Herzschlags, der die musikalische Äußerung beeinflusst. Indem er die dem Menschen eigene Sprache als das ihn vor allen Tieren Auszeichnende betont, scheint Simmel von Darwins Ursprungsthese abzurücken: Gesang entspringt nicht dem Urquell der Natur, sondern ist gesteigerte Sprache. Der Affe soll abgeschüttelt werden.

Gleichwohl, der Rhythmus ist ein spezielles Element, aus dem sich die besonderen Wirkungen der Musik auf körperlich-seelische Funktionen ergeben:

„Er hat feste Abmessungen, die man sicherlich mit Recht in Beziehung zu dem Rhythmus des Pulsschlags setzt. Das Tempo des normalen Pulsschlags ist ,mäßig’, moderato. Schnelleres Tempo: allegro giusto, scherzando, presto vermag schon lediglich infolge der Schnelligkeit belebend, aufreizend zu wirken; und insbesondere kann ein über viele Takte hinausgehendes accelerando (stringendo) eine stark adstringierende Wirkung haben – ohne Mithilfe des Melos, also bei verhältnismäßig gleich bleibender Melodie oder gar nur durch die Wiederholung derselben Tonfolge in jeweils gesteigertem Tempo.“

Wenn wir im Rhythmus den biologischen Urgrund für die Wirkung musikalischer Themen sehen, „… haben wir auch eine Erklärung dafür, warum der gregorianische Gesang, die mittelalterliche Kirchenmusik bis in die Schöpfungen Händels und Bachs hinein so unerotisch, ja antierotisch, so fromm und leidenschaftslos, so unanimalisch wirken konnten und mussten.“

So zeigt sich der Rhythmus als die dem Biologischen nächste Äußerung der Musik. Doch auch die Klangfarbe der Melodie sei biologischer Natur: „Je näher sie den ,süßen‘ Tönen der Natur und des geschlechtlichen Wesens kommt, um so stärker wird die Beziehung der Musik zur Erotik und zur Sexualität!“

Musik kann als „Gelegenheitsmacherin“ aber auch missbraucht werden. Dagegen helfe, so Elster, strengste künstlerische Selbstzucht. „Je weniger Abwehrmittel durch musikalische Bildung und Erziehung jemand hat, umso leichter verfällt er dem sinnlich berauschenden Gift sentimentaler Musik.“ Diese, zumal im Rhythmus des Tanzes und in der Süßlichkeit des Wiener Walzers, sei denn auch das, was für Chambres séparées, für Bordelle, für die Lokale der Prostitution beliebt und unentbehrlich sei. Der sittlich hoch stehende Mensch hat beides – die Sexualität und die Musik – veredelt. Wie in der Tierwelt, so benutze auch in der menschlichen Gesellschaft der Mann die Musik, um das Weib zu erotisieren und sexuell gefügig zu machen. „Das Weib in seiner sexualen Aufnahmefähigkeit für sentimentale und euphorische Musik folgt willig und unbewusst und bringt mit Hilfe der Musik leichter das erste Opfer seiner bürgerlich-sexuellen Ehre.“

Hendrick Ter Brugghen, Das Duett, 1628.

François Boucher, Mänade Flöte spielend, 1735-1738.

Vsevolod Salischev, Sirene, 1995.

Vsevolod Salischev, Sirene (Detail), 1995.

 

 

Mann und Frau werden hier in Naturkategorien gedacht. Zu diesem Denken passt auch die Vererbungslehre: Elster spricht von der Vererbbarkeit der musikalischen Begabung. „Die generelle Sexualität des Weibes ist musikalischer Mutterboden, in dem ein musikalisches Samenkorn des Mannes fast selbstverständlich Frucht trägt.“ Die Frau also als hütende Durchgangs- und Verbindungsstation männlicher Musikbegabung... Doch darf der Mann sich nicht zu sehr der Musik hingeben, sei doch beobachtet worden, dass bei sehr angeregt die Musik ausübenden Künstlern die Potenz zur Erfüllung des Liebessehnens ungenügend ist.

„Wer sich der Euphorie, die die Musik gibt, so mit seiner ausübenden Kraft ausliefert, dass seine Genusskraft sich zugleich mit der Ausübung der produzierenden oder reproduzierenden Kraft ausgibt, behält für die sexuelle Tumeszenz nicht mehr viel übrig; da ist dann ein Kunstwerk bereits vertan, hat sich auf der Geige oder auf dem Klavier ausgerast, ist erschöpft in dem Geschaffenen.“

Auch für die Ehe taugten solche Künstler oftmals nicht. Auf der anderen Seite steht die Verdrängung des „Naturhaften“ im Typ des Wissenschaftlers. Doch der Preis, den er für diese Kulturleistung bezahlen muss, ist, wie Darwin im Alter feststellt, der „Verlust des Glücks“. In seiner Autobiographie spricht er an einer Stelle auch über seine Erfahrung mit Kunst und Musik. Er berichtet, dass ihm bis zum Alter von 30 Jahren die Poesie großes Vergnügen und die Musik ein sehr großes Entzücken bereitet habe. Dieses Vergnügen ist dann durch die Arbeit in der Wissenschaft völlig verdrängt worden. Nun, im Alter, habe er diese Vorliebe und das Vergnügen beinahe verloren, was er als beklagenswerten „… Verlust des höheren ästhetischen Empfindens“ beschreibt. Er erklärt das damit, dass die entsprechenden Gehirnteile sich zurückgebildet haben, atrophiert seien, und bemerkt dazu:

„Wenn ich mein Leben noch einmal zu leben hätte, so würde ich es mir zur Regel machen, wenigstens jede Woche einmal etwas Poetisches zu lesen und etwas Musik anzuhören; denn vielleicht würden dann die jetzt atrophierten Teile meines Gehirns durch Gebrauch tätig erhalten worden sein. Der Verlust dieser Geschmacksempfindung ist ein Verlust an Glück und dürfte möglicherweise nachteilig für den Intellekt, noch wahrscheinlicher für den moralischen Charakter sein, da er den emotionalen Teil unserer Natur schwächt.“

Sollte etwa der Begriff der Entwicklung in der darwinistischen Theorie auch die Wegspanne angeben zum vermeintlich verlorenen Glück?

Pablo Picasso,
Faunmit Zimbeln, 1957. Keramik.

 

 

Tänze bei den Naturvölkern

 

 

Die Gangbewegungen vor und während des Geschlechtsaktes waren der Keim zu den erotischen Tänzen. Der Lyriker und Publizist Ludwig Jacobowski[5] (1868 bis 1900) legt dar, wie das primitive Sexualleben von der Lust an der Bewegung begleitet war, in der sich die eruptive Kraft der Triebe ungesucht und spontan betätigte, und wie im Laufe der Kulturentwicklung diese primitiven sexuellen Bewegungsimpulse immer mehr zurückgedrängt wurden, wie sich das gerade an der Geschichte des erotischen Tanzes überzeugend nachweisen lässt, der in seiner modernen Form (Contre, Francaise, Quadrille) nur „… verfeinerte, verschobene und verschrobene Modifikation und Variation des Suchens zu einem sexuellen Akt und des Entfernens nach einem solchen“ aufweist.

Auch die Musik und die freie Redeweise im erotischen Lied können als Formen der Auslösung solcher sexueller Bewegungsimpulse betrachtet werden, von denen das ganze primitive Liebeswerben durchdrungen ist und die in kombinierter Wirkung bei sexuellen Festen und Orgien sich betätigen, bei denen jene Selbstentäußerung, jener Rausch der Ekstase erreicht werden soll.

So bieten die Hos und die Mundaris, zwei Urvölkerstämme[6] „… Beispiele sexueller Zuchtwahl in ihrer gröbsten Form bei ihren jährlichen Festlichkeiten, während deren erregte dionysische Tänze und unzüchtige und lasterhafte Reden mit wilden Orgien aller untereinander verknüpft sind.“ Solche Volksfest mit wilden Rundtänzen und großer geschlechtlicher Freiheit kamen auch im malaysischen Gebiet und auf Formosa vor; der australische „Korroboree“, der hawaiische Hula-Hula, die Timoraditänze auf Tahiti, der obszöne Mädchentanz Kuthiol auf Yap (Mikronesien) waren teilweise ebenfalls mit Orgien eines ungezügelten primitiven Sexualtriebes verknüpft.

Vom Tanze des australischen Dieyerie-Stammes sagte Samuel Gason: „An diesem Tanz nehmen nur Männer und Weiber teil und halten vorzüglich Takt zu dem Rasseln der zusammengeschlagenen Boomerangs und dem Händeklatschen von ein paar Weibern. Auf den Tanz folgt promiskuer Geschlechtsgenuss, bei dem keine Eifersüchtelei geduldet wird.“ Von einem Herbstfest berichtet er: „Dem Tanz gehen wochenlange Vorbereitungen voraus; Streitigkeiten sind verboten; während des Festes herrscht geschlechtliche Promiskuität.“ Obszöne Tänze und wilde Bewegungen als Vorbereitung zum Koitus führten ferner die Watschandi in Australien aus, die Neger des Kuangogebietes in Westafrika, die Pari in Südamerika und die Mädchen der Pebasindianer.

Einen stark erotischen Tanz der Yolofs am Senegal beschreibt ein französischer Militärarzt, der anonyme Verfasser des Werkes Lamour aux Colonies[7]. Es ist der „Anamalis fobil“ oder „Danse du canard amoureux“ („Tanz des verliebten Enterichs“), wobei der Tänzer die Beischlafbewegungen dieses Tieres nachahmt, die Tänzerin ihr Kleid aufhebt und unter obszönem Gesange in höchst lasziver Weise den unteren Teil des Körpers hin- und her-, vor- und rückwärts bewegt und entblößt. Diese Tänze wurden auf offener Straße coram publico ausgeführt.

Der Pilu-Pilu-Tanz in Neukaledonien, der von Frauen und Männern in langsamem Rhythmus getanzt wurde, ahmte in allen Bewegungen den Koitus nach; auf den Neuen Hebriden wurde der gleiche Tanz von dem Schlagen des Tam-Tam und den wilden Sprüngen und Schreien der Frauen begleitet. Von noch größerer Ausgelassenheit war der Upa-Upa-Tanz, den die reich geschmückten Mädchen auf Tahiti und Pomotu nächtlicherweise mit Händeklatschen und lasziven Chorgesängen bis zur Ekstase ausführten. Das Ganze endigte mit geschlechtlicher Promiskuität. Der Karama-Tanz in Nordindien artete in regelrechte Saturnalien mit der zügellosesten Ausschweifung aus.

Mit der Ablösung der „primitiven“ Ungebundenheit des Sexuallebens durch die verschiedenen Formen der Ehe hat – Iwan Bloch zufolge – die Prostitution als Überrest des freien Liebeslebens auch deren künstlerischen und ekstatischen Elemente in sich aufgehoben. Bei vielen Völkern ist der Begriff „Tänzerin“ und „Sängerin“ gleichbedeutend mit „Prostituierte“.

So tanzt auf Yap jedes Geschlecht für sich, nur die „mongols“, die öffentlichen Mädchen aus den „Bawais“, dürfen bei den Tänzen der Männer, auch den obszönsten, zugegen sein. Ein solcher obszöner Tanz ist, nach dem Ethnologen Joachim Born, eine choreographische Ars Amandi, wie man sie sich mannigfaltiger und realistischer nicht denken könne.

„Koitusbewegungen in allen Stellungen, im Sitzen, Knien, Stehen, kurz in den mannigfaltigsten Variationen bilden seinen Inhalt. Dazwischen macht dann die ganze Reihe auf einmal eine Zeit lang Onaniebewegungen, wobei die Tänzer symbolische Geschlechtsteile von ungeheurer Größe andeuten, und ein solcher Tanz schließt gewöhnlich mit wilden „Mä-mä“-Rufen. Das letzte Wort ist der Yap-Ausdruck für koitieren und wird im alltäglichen Leben wohl nur äußerst selten von den Yapleuten in den Mund genommen. Die anwesenden Mädchen aus den großen Häusern verziehen auch bei den obszönsten derartigen Bewegungen keine Miene, mit der größten Gleichgültigkeit rauchen sie ihre Zigarette oder kauen ihre Betel weiter, ein Beweis dafür, wie häufig sie derartige Tänze nachts vor den Rathäusern zu sehen gewohnt sind.“

Diese Prostituierten sind dann auch ihrerseits dazu bestimmt, einen erotischen Tanz, den so genannten Dafell vor den Männern aufzuführen.

„Bei dieser Aufführung sitzen die Männer in einem großen Kreis zusammen, und in ihrer Mitte befindet sich, gleichfalls sitzend, ein Mädchen des großen Hauses. Nur leichte Bewegungen des Rumpfes und der Arme begleiten hier den Sprachgesang, der wechselseitig zwischen den Männern und den Mädchen hin und her geht und ausschließlich erotischer Natur ist.“

In vielen ethnologischen Berichten des 19. Jahrhunderts findet sich als Unterton ein Bedauern über die in der westlichen Welt verloren gegangene Körperfreiheit; vielfach wurden erotische Sehnsüchte auf so genannten „primitive Kulturen“ projiziert. Doch fand in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, was die Formen sexueller Beziehungen angeht, ein Prozess zunehmender Entsublimierung statt, mit der Folge, dass etwa ein australischer oder senegalesischer Ethnologe heute in den Tänzen der Love-Parade die vergangenen Riten seiner eigenen Ethnie glaubt wieder entdecken zu können.

Griechisch-ägyptische Fayence,

um Beginn unserer Zeitrechnung.