Real Tigers

Wie die meisten Varianten des Verderbens begann auch diese mit Männern in Anzügen.

Ein Wochentag am Rand der Stadt: feucht, dunkel, neblig, noch vor fünf Uhr früh. In den nahe gelegenen Hochhäusern, von denen einige bis zu zwanzig Stockwerke hoch aufragten, waren verschiedene Fenster beleuchtet, die zufällige Muster in den Glas- und Stahlrastern der Fassaden bildeten. Manche dieser Lichter bedeuteten, dass bettflüchtige Banker an ihren Schreibtischen saßen und die Märkte sondierten, doch hinter den meisten waren die anderen Stadtarbeiter am Werk, diejenigen, die Overalls trugen und deren frühmorgendliche Aufgaben im Staubsaugen, Wischen und Entleeren von Mülleimern bestanden. Paul Lowells Sympathien galten Letzteren. Du beseitigst entweder den Dreck anderer Leute oder nicht – genau darin bestand das Klassensystem, deutlicher ging’s nicht.

Er blickte auf die Straße hinunter. Achtzehn Meter waren ziemlich hoch, so von oben betrachtet. Er ging in die Knie und spürte, wie die entsprechenden Muskeln protestierten und sich der billige Stoff seiner Hose unangenehm um die Oberschenkel spannte. Der Anzug war zu klein. Lowell hatte gehofft, der Stoff wäre dehnbar genug, doch jetzt, im entscheidenden Moment, fühlte er sich eingeengt,

Vielleicht wurde er einfach zu dick.

Lowell befand sich auf einer Plattform – was wahrscheinlich nicht der richtige architektonische Begriff dafür war –, oben auf einem Überbau, unter dem die London Wall hindurchführte, die zweispurige Durchgangsstraße zwischen der Aldersgate und der Moorgate. Über ihm ragte ein weiteres Hochhaus auf, Teil einer schräg stehenden Doppelkonstruktion, in der eine der weltweit führenden Investmentbanken sowie eine der berühmtesten Pizzaketten ansässig waren. Hundert Meter entfernt verlief auf einem grasbewachsenen Hügel am Rand der Fahrbahn ein Stück der römischen Mauer, der die Straße ihren Namen verdankte, einer Mauer, die einst die Stadt umgeben hatte, noch Jahrhunderte nachdem ihre Erbauer längst unter der Erde lagen. Ein Symbol, das erkannte Lowell in diesem Moment. Manche Dinge überdauerten, überlebten den Wandel der Zeiten, und es lohnte sich, für den Erhalt ihrer Überreste zu kämpfen. Das war es im Grunde auch, warum er jetzt hier war.

Er wand die Schultern aus den Trägern seines Rucksacks, stellte ihn zwischen seine Knie, öffnete einen Reißverschluss und packte den Inhalt aus. In etwa einer Stunde würde sich der Verkehr in Richtung Stadtzentrum und nach Osten verdichten. Ein Gutteil davon würde unter dem Überbau durchfahren, auf dem er saß, und all diese Autos, Taxis, Busse und Fahrräder würden unweigerlich zu Zeugen werden. Und in ihrem Kielwasser würde das Unvermeidliche folgen: die Nachrichtenteams und Kameras, die seine Botschaft der Nation verkünden würden.

Er hörte etwas, drehte sich um und sah, wie sich eine Gestalt auf das hintere Ende der Plattform hievte, nachdem sie das Gebäude von der Straße aus erklettert hatte, so wie Lowell es zehn Minuten zuvor getan hatte. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, wer es war, aber dann klopf‌te sein Herz vor Aufregung, als wäre er wieder zwölf Jahre alt. Denn das war es, wovon jeder Zwölfjährige träumte, dachte er, als sich der Neuankömmling näherte. Das war der Stoff, aus dem die Träume kleiner Jungs gemacht sind.

Groß, breit und zielstrebig schritt Batman durch feuchte Nebelbänder auf ihn zu.

»Hey«, rief Lowell ihm zu. »Schickes Kostüm!«

Er blickte an seinem eigenen hinunter. Spiderman war kaum altersgerecht für ihn, aber er wollte schließlich nicht modisch punkten: Sein Ziel war es, in die Abendnachrichten zu kommen, und Superheldenanzüge triggerten die richtigen Medienkanäle. Es hatte schon vorher funktioniert und würde wieder funktionieren. Er war also Spiderman, und der Typ, den er heute zum ersten Mal traf und mit dem er alle Absprachen anonym über ein Message Board getroffen hatte, war Batman. Sie beide als Paar würden einen

Batman ignorierte Spidermans ausgestreckte Hand und schlug ihm ins Gesicht.

Lowell fiel rückwärts, die Welt geriet außer Kontrolle: Beleuchtete Bürofenster sausten vorbei wie Sternschnuppen, und alle Luft entwich seinen Lungen, als er auf feuchtes Mauerwerk aufschlug. Doch schon hatte sein Verstand in Arbeitsmodus geschaltet, und er rollte sich seitwärts, weg vom Rand, als Batmans Fuß mit voller Wucht niedersauste und seinen Ellbogen nur knapp verfehlte. Er musste auf die Füße kommen, aus der Bauchlage konnte niemand einen Kampf gewinnen, und darauf konzentrierte er sich für die nächsten zwei Sekunden, anstatt sich zu fragen, warum ihm Batman die Scheiße aus dem Leib prügelte. Seine Konzentration hätte sich beinahe ausgezahlt, denn er schaffte es auf die Knie, bevor ihn erneut ein Schlag am Kopf traf. Blut sickerte durch Lowells Spiderman-Maske. Er versuchte zu sprechen. Ein unverständliches Gurgeln war alles, was er hervorbrachte.

Und dann wurde er zum Rand der Plattform geschleift.

Er schrie, weil klar war, was als Nächstes passieren würde. Batman hielt ihn unter den Achseln gepackt, und er konnte sich nicht befreien – die Hände des Mannes waren wie aus Stahl. Er trat um sich und traf die Leinwand, die

Für einen Moment verharrten sie in einer Beinahe-Umarmung, Batman starr aufrecht, Spiderman baumelnd, als posierten sie für eine Cover-Illustration.

»Nein!«, flüsterte Spiderman.

Batman ließ ihn fallen.

Die Leinwandrolle kam vor Paul Lowell auf der Straße auf, war bis dahin aber keine Rolle mehr, denn sie wickelte sich über dem Asphalt auf und wurde anstatt des Banners, das er sich vorgestellt hatte, zu einem Teppichstreifen. In dreißig Zentimeter hohen Buchstaben zerfloss sein handgemalter Kampfschrei, GERECHTIGKEIT FÜR VÄTER, als die Bodennässe in den Stoff eindrang, zusammen mit einer nicht unwesentlichen Menge von Lowells Blut. Dennoch gab sie ein erfreulich nachrichtentaugliches Bild ab und würde noch vor Ende des Tages in vielen Sendungen erscheinen.

Von denen Paul Lowell jedoch keine mehr sah.

Was Batman anging, so war er schon längst fort.