Ich kann mir die
Arbeit nicht leisten

von

Rainer Voigt

Engelsdorfer Verlag

2015

Dieses Buch beschreibt einen Feldversuch am lebenden Menschen. Frank-Peter Sommer hat am eigenen Leib durchlebt, was es heißt, arbeitslos zu sein und allein wegen seines frühen Geburtsdatums gar nicht mehr zu Vorstellungsgespräche eingeladen zu werden. In der Regel verhinderte das familiäre Umfeld den Absturz in tiefere finanzielle Abgründe. Die seelischen Folgen eines solchen Absturzes auf Hartz-IV Niveau sind auch nicht zu unterschätzen. Bekanntermaßen spaltet dieses Thema die Nation. Während die einen sagen, für Nichtstun gibt es zu viel Geld, behaupten die Anderen, dieses Geld reicht nicht zum Leben. Die einen meinen, es macht bei der Fülle staatlicher Fürsorge keinen Sinn zu arbeiten und wiederum andere, der Staat ist nicht in der Lage, allen Menschen eine Arbeit zu ermöglichen. Man ist sich quasi selbst überlassen und muss als Alternative einen der inzwischen Gott sei Dank auslaufenden Ein-Euro-Jobs annehmen. Oft sind Arbeitsangebote in kleinen Firmen auch nicht anders – zum Teil mit Konditionen sogar unterhalb von Hartz-IV. Die zunehmende Zahl der so genannten „Aufstocker“, also derjenigen, die trotz Volltimejob noch Stütze bekommen, unterstreicht diese Tendenz1. Dabei haben viele von denen, die darüber reden, diese Situation nicht selbst erlebt. Vor allem die salbungsvollen Bemerkungen der meisten Politiker gehören eher zur Satire als zur Politik. Deshalb war es dem Protagonisten wichtig, die Erfahrungen selbst zu machen und nicht dem Gehörten über Dritte oder dem Schwager des Onkels des Nachbarn auf den Leim zu gehen. Natürlich ist alles gespickt mit den Erfahrungen, die in einem langen Arbeitsleben bereits gemacht wurden und den vielfältigen Problemen des Alltags, die auch Arbeitslosengeldempfänger bewältigen müssen. Herausgekommen ist ein authentisches Spiegelbild unserer Gesellschaft. Lösungen der Probleme werden nicht vorgegeben. Was ganze Generationen von schlauen Wissenschaftlern nicht in der Lage sind zu postulieren und die Lenker der Nation in Persona gut bezahlter Politiker nicht fertig bringen, kann man von einem kleinen Durchschnittsbürger schlichtweg nicht erwarten. Aber das Buch wird hoffentlich zum Nachdenken anregen und manchem das Erkennen der Schieflage der derzeitigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage erleichtern.

Trotz alledem sind alle Handlungen frei erfunden oder so anonymisiert, dass keine Rückschlüsse auf die tatsächlichen Handlungen oder Personen möglich sind. Sollte es Ähnlichkeiten mit heute lebenden Personen geben, hat dieses nichts mit dem in diesem Buch beschriebenen Sachverhalten zu tun.

Zum Autor

Rainer Voigt, Jahrgang 1952, ist „Autor aus Leidenschaft“. Nach einer Wendegeschichte aus dem Osten, zwei Science Fiktion nicht ohne Anspruch und einem humoristischen Unterhaltungsbuch, widmet er sich erneut der aktuellen Geschichte zu. Seinen Lebensunterhalt verdient er im turbulenten deutschen Arbeitsmarkt als Elektriker, Konstrukteur, oder Vertriebsingenieur, immer auf der Suche nach einer neuen Geschichte.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto © Tino Hemmann

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Zum Buch / zum Autor

Impressum

1. Vorstellung

2. Arbeitslos

3. Frank-Peters Mutter

4. Rückblick

5. Der neue Start

6. Ein verheißungsvoller Arbeitgeber

7. Wieder beim Entsorger

8. Historie - Aufbauhilfe West

9. Die nächste Etappe

10. Rückzahlung eines Knöllchens!

11. Wieder ein Wechsel

12. Das Pflegeheim

13. Zurück zu den Baustellen

14. Mindestlohn

15. Ohne Worte

16. Neue alte Arbeitsstelle

17. Neue Hoffnung

18. Neue alte Baustelle

19. Das neue Jahr mit Festanstellung

20. Ein Körnchen Wahrheit

21. Eine gefährliche Situation

22. Günther

23. Das Leben geht weiter

24. Burn out?

25. Wer hat, bekommt auch

26. Abstand

27. Fazit

28. Quellennachweis

29. Werke des Autors im selben Verlag

Fußnoten

Ich kann mir die Arbeit nicht leisten

1. Vorstellung

Es ist die Geschichte von Frank-Peter Sommer, einem Bürger, den man als normal einschätzen kann. Aber in all den Jahren, die er nun schon im Berufsleben ist bzw. ab und zu auch nicht, sind ihm so viele Dinge passiert, die man eigentlich der Fiktion zuschreiben würde. Oft saß Frank-Peter Sommer mit seiner Frau abends bei einem Bier oder einem Glas Rotwein zusammen und sie erzählten sich gegenseitig, was während des Tags so passiert war. Sie meinte dann, dass er das doch mal aufschreiben solle. Und auch wenn sich seine Nachbarin Waltraud, mit der sie schon seit Jahren befreundet sind, zu ihnen gesellte und sie ihren Geschichten lauschten kam wieder dieses Gefühl auf, dass man über solche spannenden, traurigen und teilweise frustrierenden Alltagsgeschichten viel zu wenig von den Leuten, die es selbst erlebt haben, aus erster Hand liest. Außerdem lernt man auf dem Bau interessante Leute kennen, die gern auch ihre authentischen Erfahrungen weitergeben. In Büchern und Filmen geht es doch meistens nur um Action oder Romanzen, und am besten alle mit einem Happy End. Leider funktioniert das im wahren Leben eher selten. Frank-Peter Sommer fing also an Tagebuch zu führen und solche Geschichten zu sammeln, die ihm so im Alltag passiert sind.

Frank-Peter Sommer hat Elektriker gelernt, damals, in der DDR. Da wurde den Lehrlingen in einem Großbetrieb nicht nur das schmale Fachwissen eingebläut, das nur für einen bestimmten Arbeitsplatz der auszubildenden Firma reichte, sondern es gab eine sehr umfangreiche Ausbildung. Beim Elektriker gab es zum Beispiel praktische Arbeiten bei der Wohnungsinstallation, Schaltschrankbau, Maschinen und Anlagen sowie Freileitungen und Kabel. Man konnte mit dieser Ausbildung in allen Bereichen bestehen. Gleichzeitig konnte er in dieser Ausbildung das Abitur erwerben. Nach dieser Ausbildung hat Frank-Peter Sommer ein Direktstudium zum Hochschulingenieur für Informationselektronik absolviert. Zugegeben, die Computertechnik, wie wir sie heute verstehen, steckte noch in den Kinderschuhen, ist mit der heutigen Technik nicht vergleichbar. Die Ausbildung beinhaltet aber die Grundlagen für eine Einarbeitung in nahezu jedes Fachgebiet. Lange arbeitete er auch in diesem Fach, projektierte Telefonanlagen kümmerte sich um die sichere Gestaltung von Maschinen und Produktionsabläufen. Die Wende beendete abrupt diese Arbeit.

Dann kamen erste Weiterbildungen, die zwar die verlernten Englisch-Kenntnisse auffrischten und den Anschluss an die Computernutzung brachten, aber auch viel warme Luft enthielten. Dermaßen ausgerüstet und nachgebildet konnte er in einer Kleinstadt in der Nähe von Leipzig das örtliche Kabelfernsehen mit aus der Taufe heben. Von der Planung bis zur Realisierung konnte er so Erfahrungen sammeln, die ihm später sehr hilfreich waren. Die neuen Firmenstrukturen waren noch nicht gefestigt und Aufgaben nicht in ausreichendem Maße verfügbar, so dass weitere Betriebswechsel und Lehrgänge folgten.

2. Arbeitslos

Ein Jahr war Frank-Peter Sommer schon arbeitslos, bereits ein ganzes Jahr! In dieser Zeit ist viel passiert. Die turnusmäßigen Besuche beim Arbeitsamt, die Durchforstung der auf einer Internetplattform des Arbeitsamtes für ihn bereitgestellten Arbeitsangebote, das zigfache Kopieren der Bewerbungsunterlagen und deren Versendung mit jeweils einem separaten Anschreiben, alles hielt ihn ordentlich auf Trab. Wenn man diese Bewerbungen gewissenhaft betreibt, bleibt kaum „Freizeit“. Außerdem besuchte er häufig seine Mutter, die unweit von ihm wohnte und half ihr beim Einkauf und anderen täglichen Dingen, über die noch berichten wird.

An Bewerbungen hat es Frank-Peter Sommer wahrlich nicht mangeln lassen. Seine Hoffnung, die Spezialisierung in einem CAD-Computerprogramm in die Waagschale zu werfen, ging leider nicht auf. Vermutlich hatte er ein Kainsmal in Form seines Geburtsjahres auf der Stirn. Vom Arbeitsamt, oder wie es neu heißt, von der Agentur für Arbeit oder Arbeitsagentur, der Begriff Jobcenter wird ab 2011 folgen, die wechselnden Namen sind für ihn irrelevant, kam bezüglich seiner Ingenieurqualifikation und seiner nachgewiesenen Erfahrungen nichts, gar nichts. Man beschränkte sich ausschließlich darauf, seine Berufsqualifizierung als Elektriker als einziges Kriterium zu verwenden. Aber in der Regel gab es bei den von der Arbeitsagentur vermittelten Stellen überhaupt keine Reaktion, nicht einmal telefonisch waren einige dieser Firmen erreichbar. Oder es waren Zeitarbeitsfirmen und private Arbeitagenturen. Wieso können die privaten Arbeitsagenturen die Aufgaben, die eigentlich die behördliche Arbeitsagentur selbst machen müsste, von dieser vermittelt bekommen? Gibt es hier Absprachen auf höherer Ebene, auf diese Art und Weise die Zeitarbeitsfirmen zu füttern und damit das Lohnniveau um einen deutlichen Betrag zu senken? Mehr als zwei Drittel der Vermittlungsvorschläge dieser privaten Arbeitsagenturen waren dann auch Beschäftigungsverhältnisse bei Zeitarbeitsfirmen und fast ausschließlich bundesweite Montage. In einem Gespräch mit einer Mitarbeiterin der Arbeitsagentur erfuhr Frank-Peter Sommer sehr viel später, dass viele dieser Mitarbeiter nur befristet angestellt sind und nach kurzer Zeit selbst wieder entlassen werden. Damit fehlt denen die Motivation für mehr Engagement im Job. Es sind halt auch nur arme Schlucker.

Weit mehr Aktivitäten als von der Agentur kamen deshalb von Frank-Peter Sommer selbst. Er durchforschte die Tageszeitungen ständig nach infrage kommenden Arbeitsplätzen, notierte sich die Telefonnummern und Emailadressen von Firmenfahrzeugen, die er in der Stadt sah und versuchte diese Firmen zu kontaktieren. Auch die Gelben Seiten wurden von ihm intensiv unter die Lupe genommen. Nach Drohungen der Agentur für Arbeit, flexibler werden zu müssen und auch einer Montagetätigkeit aufgeschlossen gegenüber zu stehen, schloss Frank-Peter Sommer, inzwischen 58 Jahre alt, einen Vertrag mit einer Zeitarbeitsfirma, die ihm vollmundig versprach, einen Einsatz im Tagespendelbereich zu gewährleisten. Das war ihm wichtig, denn er hatte die Betreuung seiner Mutter übernommen und die unzähligen Behördengänge ließen sich nicht mit einer Montagetätigkeit unter einen Hut bringen.

3. Frank-Peters Mutter

Das Schicksal hatte es mit der Mutter von Frank-Peter Sommer nicht immer gut gemeint. Ihr egozentrischer Charakter mit hypochondrischen Elementen war nicht förderlich, mit Männern auf Dauer gut zusammen leben zu können. Viele Episoden aus ihrer Jugend, die symptomatisch für die Erklärung ihres Charakters waren, erfuhr er sehr viel später von seinem Vater und der Schwester seiner Mutter. Nach der Scheidung von ihrem ersten Mann, seinem Vater, kurz vor der Silberhochzeit lernte sie mit knapp 50 Jahren einen 14 Jahre jüngeren Arbeitskollegen kennen. Dass dieser bis dahin Junggeselle geblieben war, erregte keinen Argwohn in ihr. Nach der unausweichlichen Scheidung, der zweiten, versicherte sie sich nach einiger Zeit doch wieder der Arbeitskraft ihres zweiten „Ex“, derer sie vor allem im Garten bedurfte. Nur hatte dieser jetzt wieder eine eigene Wohnung und damit ein Rückzugsgebiet. Trotzdem war er immer öfter in der Wohnung seiner Mutter, die nach kurzer Zeit wieder anfing, Kleinlichkeiten zum Streit zu suchen. Wenn sie in der Stube war, saß er in der Küche am zweiten Fernsehgerät. Den zusätzlichen Stromverbrauch des Fernsehers, die fehlende Hilfe im Haushalt, die sie erwartete, weil sie ihn bekochte und auch seine Wäsche wusch, kurz, es kam immer häufiger zum Streit, bei dem sicher auch ihr Ex nicht immer schuldlos war. Es gab keine größeren Reisen mehr, die sie anfangs mit ihrem zweiten Ehemann gern unternommen hatte. Frank-Peter Sommer hatte ihr ein Auto sehr günstig überlassen, weil er sich in seiner Familie zu dieser Zeit kein zweites Auto mehr leisten konnte. Diesen Skoda Favorit kaufte er nach der Wende als Neuwagen für weniger als 12.000 DM (!). Das Auto wurde nur von seiner Frau für ihre Fahrten zur Arbeit gebraucht. Mit diesem, „ihrem“ Auto fuhr ihr Ex sie nun gelegentlich zu gewünschten Zielen, mehr nutzte dieser das Auto aber für sich, was auch wieder Streit provozierte.

Als ihre Wohnung wegen der hohen Leerstandsquote in ihrem Dorf nicht mehr vom Vermieter gewartet und dem Verfall preisgegeben wurde, musste eine neue gesucht werden. Frank-Peter Sommer suchte eine in seiner Nähe, eine in der großen Stadt. Einmal konnte er ihr so besser helfen, wenn Hilfe gefordert war, zum anderen dachte er damals noch leichtgläubig, dass seine Kinder von der Oma verwöhnt werden könnten. Je mehr Zeit sie hatte, umso mehr Argumente erfand sie, dass es für sie unzumutbar wäre, den Enkeln mal ein Mittagessen zuzubereiten. „Ich soll wohl für die Enkel kochen? Dann kommt jeder zu einer anderen Zeit und ich muss die ganze Zeit das Essen warm halten. Und dann mäkeln sie vielleicht, weil ihnen mein Essen nicht schmeckt.“ Den Umzug bewältigte er nahezu allein. Der Balkon ihrer neuen Wohnung in der großen Stadt glich einem Garten. Über 30 Tomatenpflanzen versorgten sie mit Gemüse. Dazu kamen nahezu alle Küchenkräuter und jede Menge Blumen. Die Beschaffung der Blumenerde, deren Entsorgung im Spätherbst, alles waren Aufgaben für Frank-Peter Sommer. Aber zunehmend wurde sie bösartig. Zuerst gegen seine Kinder, dann gegen seine Ehefrau, selbst den Hausmeister zeigte sie mehrfach bei der Polizei an, weil dieser angeblich über die Feuerleiter Steine2 von ihrem Balkon geklaut haben sollte. Fast täglich vermutete sie Einbrüche in ihren Keller und wusste sofort den oder die Schuldigen. Nur gab es am Keller keinerlei Einbruchspuren. Zentimeterdick lag der Staub am Metallprofil über der Tür. Trotzdem sicherte sie ihren Keller fortan zusätzlich mit einer monströsen Eisenkette und einem weiteren Sicherheitsschloss. Unabhängig davon erzählte sie weiterhin von ständigen Einbrüchen und Diebstählen. Einen nach dem Anderen ihrer einstmals guten Bekannten vergraulte sie auf diese Art und Weise. Selbst ihre langjährige Klöppelfreundin aus dem Erzgebirge, die wöchentlich lange mit ihr telefonierte, geriet wegen aus dem Zusammenhang genommener Gesprächsfetzen in die böse Schublade, wurde als Erbschleichering denunziert und der Kontakt gemieden.

Mit unendlicher Geduld hatte seine Mutter früher neben ihrer Arbeit in drei Schichten in einem Braunkohletagebau Handarbeiten gemacht. Sie strickte Pullover, knüpfte Netze aus dicken Wollfäden, nähte aus Stoffresten Taschen und hatte sich, unterstützt durch einen Zirkel, sehr gut in die schwierige Klöppeltechnik eingearbeitet. Wahre Wunderwerke entstanden so unter ihren Händen. Das führte aber andererseits dazu, dass sie sich mit allen Dingen, die sie für brauchbar hielt, bevorratete, was später noch zu lesen sein wird. Mit der Rente hatte sie auch dafür mehr Zeit.

Klöppelarbeiten

Während Frank-Peter Sommer händeringend nach Arbeit suchte, erhielt er eines Tages die Hiobsbotschaft, dass seine Mutter, die jetzt in Leipzig unweit von ihm wohnte, in der Uniklinik lag. Mehrere Tage hatte er sie nicht besucht, was eigentlich nicht ungewöhnlich war. Oft genug meldete sie sich nach einiger Zeit, wenn größere Einkäufe zu tätigen waren oder sie anderweitig Hilfe brauchte. Frank-Peter Sommer erfuhr, dass ihr Zustand bedenklich war und wurde in die Uniklinik gebeten. Dort teilte man ihm mit, dass sie einen Schlaganfall und einen Herzinfarkt erlitten hatte und etwa zwei Tage in ihrer Wohnung gelegen haben musste, bis auf dem Hof spielende Kinder ihr Wimmern hörten und Hilfe riefen. Die kommenden 48 Stunden würden entscheiden, ob sie überleben wird. Sie überlebte, würde jedoch nach Einschätzung der behandelnden Ärztin nie mehr selbstständig laufen und sich selbst versorgen können.

Völlig unvorhergesehen kam dieser Zusammenbruch nicht. Seit geraumer Zeit war sie sehr eigen, mied Kontakte zu Frank-Peters Frau und seinen Kindern, sah immer und überall nur das Böse. Alle um sie herum würden sie bestehlen und ihr nach dem Leben trachten. Er ahnte, dass dieses eine Form ihrer Altersdemenz war und wunderte sich, dass die Hausärztin, mit der seine Schwester bereits telefoniert hatte, keine Möglichkeit sah, diesen Krankheitsverlauf zu verlangsamen. Scheinbar das Gegenteil war zu befürchten. Immer dann, wenn seine Mutter von der Hausärztin kam, gab es neuen Streit. „Die Ärztin hat auch gesagt, dass der Hausmeister mich beklaut“. Oder: „Ich soll meine Schwiegertochter nicht mehr ins Haus lassen!“ Frank-Peter Sommer besuchte sie in der Regel wöchentlich, auch wenn seine Besuche manchmal in Streit ausarteten. Seine Mutter erzählte in einer besserwisserischen Art irgendeine Geschichte, die wirklich nicht stimmte. Widersprach er nicht, kam bei nächster Gelegenheit: „du hast ja auch gesagt“ oder etwas in einer ähnlichen Art. Später musste er feststellen, dass sie alles, was gesagt wurde, auf winzige Zettelchen aufschrieb und somit beim nächsten Gespräch bestens vorbereitet war. Widersprach er, belehrte sie ihm, dass er nicht lügen solle oder dass er nicht die Meinung seiner Frau vorbringen solle. Sie diskutierte nicht ungeschickt solange, bis sie Recht bekam, auch wenn sie während der Diskussion oftmals ihren Standpunkt änderte. Es wurde immer schwieriger, mit ihr auszukommen. Frank-Peter Sommer half in dieser Situation, dass er sich im Internet intensiv mit der Demenz beschäftigte. Als er verinnerlicht hatte, dass dieses eine Krankheit ist, konnte er besser damit umgehen. Jetzt lag sie, dem Tode näher als dem Leben, in der Uniklinik.

Das große Glück in dieser Situation war, dass Frank-Peter Sommer die vorläufige Betreuung übernehmen und mit einem Attest der Uniklinik sofort die Pflegestufe eins beantragen konnte. Diese wurde auch umgehend, wenn auch vorläufig, genehmigt. Das ist nicht unbedingt alltäglich, wie es in manchen TV-Sendungen aufgedeckt wurde. Einen ganzen Tag telefonierte er eine Liste mit allen im Umfeld verfügbaren Pflegeheimen ab, die er von der Uniklinik erhalten hatte. Meistens erhielt er sofortige Ablehnungen, andere gaben an, dass vorübergehend alles belegt sei, aber das kann sich täglich ändern. Allerdings gibt es eine lange Warteliste. Am Ende des Tages hatte er Glück. Kurzfristig konnte er für seine Mutter einen Platz in einem Pflegeheim organisieren, wo sie bereits eine Woche später einzog. Nun lag sie, die eigentlich mehr vom Leben erwartet hatte, in einem Pflegeheim, nicht mehr in der Lage, ein Buch zu lesen oder eine Fernsehsendung zu verfolgen. Die durch die Demenz zunehmend in eine mehr oder weniger heile, zumindest aber in eine eigene Welt entrückte Dame begann auch im Pflegeheim zum Problemfall zu werden. Doch davon später mehr.

Seit über einem Jahr besuchte er nun wöchentlich, gelegentlich auch öfter, die betagte Dame im Pflegeheim. Nach einer sehr schweren Anfangsphase ging es ihr zunehmen besser, vermeintlich besser. Sie konnte sogar die Mediziner „überzeugen“, dass sie, obwohl überwiegend bettlägerig und auf einen Rollstuhl angewiesen, nicht die Pflegestufe II benötigt. Wenn das Personal mit ihr mehr üben würde, könnte sie längst wieder laufen, ließ sie die Ärzte bei der Einstufungsbegutachtung stolz wissen. Dabei schaffte sie es auch erstmals allein vom Bett in den Rollstuhl zu kommen. Zu einem regelrechten Zusammenbruch kam es, als Frank-Peter Sommer ihr offenbaren musste, dass dieses Zimmer nun ihr zuhause sei. Sie würde nie mehr in ihre Wohnung kommen. Für die alte Frau brach eine Welt zusammen. Sie schluchzte herzzerreißend und er vermochte nicht, ihr angemessen Trost zu geben. Frank-Peter Sommer oblag es in dieser Situation, ihre Betreuung dauerhaft zu übernehmen und die Wohnung aufzulösen. Zu dieser Zeit konnte Frank-Peter Sommer eher froh sein, von jeglicher organisierter Arbeit freigestellt zu sein, denn die Wohnungsauflösung erwies sich, wie später noch berichtet werden wird, zumindest für einige Monate als regelrechter Volltimejob. Man hat die Wahl, nahezu alles aus einer Wohnung wegzuschmeißen oder aber zumindest zu sichten, wichtige Dinge für die Nachwelt aufzubereiten und zu verschenken und erst dann wegzuschmeißen, wenn wirklich keine Verwendung mehr gegeben ist. Letzteres erschien Frank-Peter Sommer in Würdigung an seine Mutter und deren langem Arbeitsleben als die bessere Alternative. Trotzdem bemühte er sich auch in dieser schweren Zeit redlich um Arbeit.

4. Rückblick

Frank-Peter Sommer hatte vor seiner Arbeitslosigkeit fast zwei Jahre lang in einer mittelständischen Firma gearbeitet, die Schaltschränke produziert. Nach kurzer Montagetätigkeit in dieser Firma, die ihm durch eine Zeitarbeitsfirma vermittelt worden war, kam er mit dem Meister Karlheinz Jungnickel ins Gespräch. Karlheinz Jungnickel las in seiner Mittagspause immer Bücher. „Was für Bücher liest du da“, fragte er ihn. „Eigentlich alles“, antwortete er, „nur gut muss es sein“. Bei diesen Gesprächen erfuhr Karlheinz Jungnickel von Frank-Peter Sommers Computerkenntnissen und seiner Qualifikationen und delegierte ihn ins Büro, wo gerade ein Engpass bei der Computerbearbeitung der Revisionsunterlagen eingetreten war. Mit kurzer Anlernzeit konnte er mithalten, weil er mit einem ähnlichen Computerprogramm bereits Erfahrungen hatte. Später wurde er gebeten, eine Bewerbung zu schreiben. Von sich aus wäre er keinesfalls auf diese Idee gekommen, soweit lag sie außerhalb seiner Vorstellungskraft. Frank-Peter Sommer wurde dank seiner Ingenieurausbildung als Techniker fest eingestellt und erhielt den Auftrag, ein neues CAD-Programm in der Firma einzuführen. Diesem Programm war intuitiv sehr schwer beizukommen, die zweitägige Schulung mit zehn Projektanten lieferte nur Einstiegsinformationen zu Idealprojekten. Einen großen Teil seiner Freizeit nutzte er in den kommenden Wochen und Monaten, um sich über Internetforen und andere Quellen mit diesem Programm zu beschäftigen. Der Durchbruch war nicht einfach, einige Male schien die Stimmung in der Chefetage schon gegen dieses Programm zu pendeln, zumal überzogene Erwartungen damit verknüpft waren. Diese bestanden unter anderem aus unklaren Forderungen zu Standardisierungen, an denen sich einige Bereichsleiter seit Jahren erfolglos versuchten. Sicher hatten sie selbst schon eine Menge Zeit und Herzblut in derartige Ziele eingebracht, aber selbst mit ihren Erfahrungen, die nach Jahrzehnten zu messen sind, gelang ihnen bisher nicht einmal eine Einführung im kleinen Stil. Nun, mit dem neuen Programm konnte man die schwere Last von den Schultern werfen und dann jemand verantwortlich machen, wenn es nicht klappt. Die zweite überzogene Erwartung war, dass auf Knopfdruck die Unterlagen in einer anderen Sprache ausgegeben werden sollten. Erst einmal muss hierzu alles Erforderliche dem Computer beigebracht werden. Und letztendlich waren die Chefetagen davon überzeugt worden, dass ebenfalls auf Knopfdruck verschiedene Darstellungsarten der notwendigen Unterlagen bereit stehen. Vielleicht ist das in einer späteren Version des Programms problemlos möglich, aber hier galt es, Neuland zu betreten und alle Programmschritte einzeln vorzubereiten. Für jedes Schaltzeichen, das nicht standardmäßig als Zeichnungssymbol vorhanden war, musst selbiges erstellt werden und sorgte bereits hier für Kontroversen in den verschiedenen Betriebsebenen und bei den Projektanten. War dem einen ein Symbolelement zu groß, meinte der andere, er könne es nicht erkennen. Man kann es sicher nicht jedem Recht machen und an dieser Stelle hatte Frank-Peter Sommer weder die Autorität noch die Unterstützung von jemanden mit einer solchen und so begannen die verschiedenen Leitungsebenen sich in Details zu verlieren, ohne den mit dem neuen Programm erreichbaren Produktivitätsschub zu begreifen. Auch die Arbeitsverteilung in der Projektierung war eine Widerspiegelung der inneren Hierarchie und sorgte für ein angespanntes Betriebsklima.

Schließlich war Frank-Peter Sommer jedoch so sattelfest im Umgang mit dem CAD-Programm, dass er die Projektanten nun selbst schulen und relativ schnell erforderliche neue Artikel in die Datenbank eingliedern konnte. Auch gelang es ihm zusehends, Fehler der Projektanten im Umgang mit dem Programm zu lokalisieren und Standards durchzusetzen. In der Firma gab es jedoch in verantwortlichen Stellen einige Mitarbeiter, die diesem Programm grundsätzlich ablehnend gegenüber standen. Auch zählte Frank-Peter Sommer nicht zum inneren Zirkel seines unmittelbaren Chefs Peter Peisker, teilte mit ihm nicht die Rauchpausen. Frank-Peter Sommer war schon immer Nichtraucher. Ein junger Projektingenieur, Mathias Biedermann, der weder über Erfahrungen noch über sonderlich gefestigtes Fachwissen verfügte, schaffte es mit einer Art Bauernschläue, dem Chef, der ihm im Großraumbüro am Schreibtisch gegenüber saß die Fragen so zu stellen, dass dieser ihm die Lösung seiner Probleme praktisch vorkaute. Die Schleimspur war schon sehr breit, die dieser Kollege legte und die meisten anderen Kollegen außer dem Chef selbst merkten dieses angewidert. Der Choleriker Marco Haferkorn sonnte sich regelrecht in seinen Posen über die Widersprüche, die das Computerprogramm noch hatte und profilierte sich als oberschlauer Projektant. Marco Haferkorn beherrschte das Vorgängerprogramm dieses CAD-Programms, aber nicht als CAD-Programm, sondern in einer von ihm vergewaltigten Form als Zeichenprogramm. Jeden Fehler von Frank-Peter Sommer, auch vermeintliche und solche, die Marco Haferkorn wegen seiner Arroganz und seiner Lernunwilligkeit für das neue Programm als Fehler zu deuteten neigte, trug er in extra organisierten Tratschrunden in die nächste Instanz. Michael Dobrindt, der mit keinem der verwendeten Computerprogramme richtig klar kam, erst recht nicht mit dem CAD-Programm, entwickelte sich ebenfalls zur Betriebsbremse. Seine offensichtlichen eigenen Schwächen schob er nach der Methode „haltet den Dieb“ immer lauter auf das Programm und dessen Unvollkommenheit. In der Tat gab es einige wenige Probleme mit diesem Programm, die jedoch auch dank seiner Zusammenarbeit mit der Softwarefirma und einem sehr engagiertem Forum mit jedem update geringer wurden, aber mit denen Michael Dobrindt nie auch nur im Entferntesten konfrontiert wurde. Es war die Faulheit einiger Projektanten, einmal gelerntes mit dem geringsten Aufwand immer wieder zu verwenden und sich gegen alle Neuerungen zu sperren. Wer klug genug war, konnte sich ausmalen, dass bei sachgemäßer Anwendung des neuen CAD-Programms die Projekte in wesentlich kürzerer Zeit erstellt werden konnten und letztlich einige der Projektanten nicht mehr benötigt werden würden. In der Abteilung gab es auch Kollegen, die mit Frank-Peter Sommer sehr gut und auch gern zusammen arbeiteten und die mit dem Programm zunehmend erfolgreicher wurden. Kurz, es gab eine Reihe von ungelösten Problemen und es waren in der Chefetage Begehrlichkeiten entstanden, die Frank-Peter Sommer als Einzelkämpfer nicht einlösen konnte.

Als 2009 die vermeintliche Krise ihre Tentakel auch nach dem Mittelstand streckte wurde seitens der Geschäftsleitung die Gelegenheit genutzt, einige eingefahrene Wege zu verlassen und die Weichen in der Firma neu zu stellen, wie sie von den firmeneigenen Lobbyisten langfristig vorbereitet worden waren. Sehr viel später erfuhr Frank-Peter Sommer auf der Handwerkermesse „eva“ von einer Vertreterin der Softwarefirma: „Ach ja, sie waren doch derjenige, der in dieser Firma die Software zum Laufen gebracht hatte und als alles lief, hat man sich ihrer entledigt“. So wurde das Geld für die sicher sehr teuren Lizenzen des CAD-Programms gekürzt und sein Arbeitsplatz gestrichen. Seine über die Stechkarte nachweisbaren Überstunden konnte er nicht mehr abfeiern, bekam dafür auch keinen finanziellen Ausgleich. Etwa drei Arbeitstage musste er so dem Unternehmen schenken, das nicht einmal ein Dankeschön für sein Engagement übrig hatte. Heute werden in Deutschland Arbeitnehmer wegen des Verzehr einer Maultasche, die sonst in den Müll wandert oder eines eingelösten Pfandbons von weniger als einem Euro fristlos gekündigt, hier bemächtigt sich der Arbeitgeber an etwa fünfundzwanzig Stunden geleisteter Arbeitszeit zum Nulltarif, ohne das rein rechtlich die gleichen Normen wie für Arbeitnehmer gelten. Für Frank-Peter Sommer war es schon die zweite Erfahrung dieser Art, diese jedoch eher in einer für ihn banalen Größenordnung.

Die erste Erfahrung dieser Art hatte Frank-Peter Sommer, als er bei einer kleinen Elektrofirma arbeitete. Im Radio hörte er vom Fachkräftebedarf einer Elektrofirma, reagierte sofort und meldete sich beim Radiosender. Dort bekam er die Firmenanschrift, telefonierte umgehend mit dem Firmeninhaber und wurde eingeladen. Die Firma bestand neben dem Chef Otto Hermenau und dessen Ehefrau, welche die Buchführung übernommen hatte, aus einer Sachbearbeiterin, einer Praktikantin als Sekretärin, aus einem selbstständigen Mitarbeiter Falk Schuster, der neben seiner eigenen Selbstständigkeit 30 Wochenstunden ausschließlich für Antennen- und Telefonanlagen zuständig war und aus dem einzigen Elektriker Heinrich Keller. Ab und zu orderte der Chef noch die Hilfe des Sohnes des ehemaligen Firmeneigners Hilmar Keitel, dessen Namen die Firma noch verwendete und der seinerseits selbständiger Elektromeister war. Frank-Peter Sommer wurde auf der Basis einer 35-Stunden-Arbeitswoche eingestellt, natürlich mit sechs Monaten Probezeit. Mit Heinrich Keller war er also in dem Zweimannteam, das für vier unproduktive Planstellen die Kosten einspielen durfte. Seine Lohnkosten wurden zum überwiegenden Teil von der Arbeitsagentur getragen. Otto Hermenau war ein absoluter Pedant, der mit unrealen zeitlichen Vorgaben seine mangelhafte Kompetenz mehr als einmal unter Beweis stellte. Der Chef hatte auf den Baustellen niemals selbst mit gearbeitet, nur hin und wieder war er zu Kontrollen erschienen. Auf einer Baustelle eines seiner Bekannten wurde das gesamte für diese Baustelle zu verwendende Material in einem der Kellerräume eingelagert, die Baustelle aber immer wieder für eine oder zwei Wochen verlassen, weil der Bauherr den überwiegenden Teil der Bauarbeiten in Eigenleistung realisierte. Frank-Peter Sommer erfuhr durch seinen Kollegen, dass Otto Hermenau fast einen ganzen Tag seine beiden Büromädels sämtlich Lieferscheine für diese Baustelle durchsuchen ließ um am Ende festzustellen, dass ein Kleinteil von etwa 40 Cent verschwunden war. Die obligatorische Reaktion des Chefs war ein winziger Zettel in der für Frank-Peter Sommer bestimmten Ablage, auf der „bitte Rücksprache“ stand, oder in diesem Fall: „wo ist das Material mit der Bestellnummer xyz?“. Die Nummer sagte ihm nichts, er hatte das Material weder bestellt noch eine Übersicht, welche Bestellnummern die einzelnen Artikel hatten. Frank-Peter Sommer ignorierte erst einmal diesen unsinnigen Zettel, zumal die Rücksprachen in der Regel bedeuteten, dass nach Feierabend in der Firma angetanzt werden durfte. Die Schreibweise auf dem Zettel wurde aggressiver, die Rücksprache wurde zwingend vom Chef verlangt. Nun erfuhr er auch, um was es sich bei der angegebenen Bestellnummer handelte, ein kleines Zwischenrähmchen für einen Schaltereinsatz. Die Frage des Chefs nach dem Verbleib des verschollenen Teils war in einer unterstellenden Form: „Wo haben sie das fehlende Teil?“ „Mir geht das in diesem Fall nichts an“, antwortete er. „Die Baustelle war auf ihre Veranlassung mehrmals für längere Zeit verlassen worden, für das Material gab es keinen gesicherten Raum und außerdem ist der finanzielle Verlust durch die Beschäftigung von zwei Leuten fast über einen ganzen Tag zum Aufspüren dieses „Vorkommnisses“ ungleich größer als der vermeintliche Materialverlust.“ Frank-Peter Sommer beteuerte noch einmal, dass er sich nichts vorzuwerfen habe und mit den Zetteln von Otto Hermenau nichts anfangen kann. Bestimmt war das der Anfang vom Ende, wenn es Otto Hermenau nicht schon von vorneherein darauf angelegt hatte, ihn nur über den Zeitraum des von der Arbeitsagentur bezuschussten Lohnanteils zu beschäftigen. Sein Arbeitsvertrag war über täglich 35 Stunden abgeschlos- sen worden, was sich in der Praxis als nicht durchführbar zeigte. Er konnte nicht nach sieben Stunden sein Werkzeug fallen lassen, zumal er die erste Zeit mit Heinrich Keller zusammen arbeitete. Die Arbeitzeit betrug in der Regel 9 … 10 Stunden, um dem Aufgabendruck zu entsprechen. Für Frank-Peter Sommer waren diese überzähligen Stunden Bestandteil seines Überstundenkontos, dass er wöchentlich dem Chef zu melden hatte. Mehrmals musste er die Ehefrau des Firmeninhabers, die für die Buchhaltung zuständig war, anmahnen, ihm wenigstens am Jahresende eine Übersicht seiner Überstunden zu bestätigen, versprochen war ihm das monatlich. Die erste dieser Überstundenübersichten wies ein gehöriges Manko zu seinen Lasten auf und machte Frank-Peter Sommer das erste Mal stutzig. Nach seiner Intervention wurde es halbherzig korrigiert.

Zu den einzelnen Projekten gab es in dieser Firma keine Arbeitsberatungen und keinerlei Projektabsprachen, die erforderlichen Unterlagen wurden nur ungenügend bereitgestellt, einige zu erbringende Leistungen waren aus den Unterlagen gar nicht zu entnehmen. Nur Heinrich Keller wusste aus seiner langen Zeit in der Firma, was dann zu machen war. Frank-Peter Sommer konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass nach seiner Probezeit, die gleichzeitig das Ende der Förderung durch das Arbeitsamt bedeutete, eine Weiterführung des Arbeitsverhältnisses nicht gewünscht war. Als einmal neue Schaltertypen einzubauen waren, informierte der Chef nur den „Altknecht“ Heinrich Keller zu den Anschlussdetails, Frank-Peter Sommer durfte dem Gespräch nicht beiwohnen und wurde zwei Meter weiter an die „Arbeit“ verwiesen. Dann erfuhr er, dass bereits neue Mitarbeiter gewonnen worden waren, die aber niemals Kontakt zu Heinrich Keller und ihm hatten und auf „heimlichen“ Baustellen beschäftigt wurden. Obwohl ein Firmenfahrzeug ungenutzt in einer der Nebenstraßen parkend abgestellt war, musste Frank-Peter Sommer die ersten vier Monate zu allen Baustellen mit seinem privaten PKW fahren. Erst als die damit verbundenen Materialtransporte von ihm mit dem Hinweis, dass sein PKW kein Bestandteil der Firma sei, abgelehnt wurden und Heinrich Keller nun auch Frank-Peter Sommer auf abgelegenen Baustellen, auf denen er allein arbeitete, mit Material versorgen musste, bekam er das Firmenauto. Heinrich Keller hatte sich beim Chef beschwert, weil seine eigene Arbeit dadurch ineffektiv wurde, zumal die Baustellen oft weit auseinander waren. Der Firmenwagen, ein Renault Rapid, war ihm bereits mit der Einstellung zugesagt worden. Viel zu lange hatte er gewartet, dass der Chef seiner Zusage von selbst nachkam. Gespräche mit dem Arbeitgeber Otto Hermenau waren so gut wie nicht möglich und wenn es doch einmal klappte, endeten sie in formalen Kleinigkeiten.

Der ungerechtfertigte Leistungsdruck durch unrealistische Zeitvorgaben und das zunehmende Mobbing verursachten ernsthafte gesundheitliche Probleme. Ganz schlimm wurde es, als Heinrich Keller zu einer Leistenbruchoperation ins Krankenhaus einrückte und Frank-Peter Sommer ohne richtige Übergabe angefangene Objekte allein fertig stellen musste. Innerhalb von zwei Monaten hatte er einen Gewichtverlust von über zehn Kilogramm zu verkraften. Frank-Peter Sommer zog die Notbremse und kündigte nach genau sechs Monaten. Lange versuchte er, die ausstehenden Bezüge einzufordern, wurde anfänglich hingehalten, später wurde ihm mitgeteilt, dass er keine Forderungen mehr hätte. Seine geleisteten Überstunden waren plötzlich weg, sie wären angeblich niemals angewiesen worden. Die Urlaubstage des alten Jahres waren von Gesetzes wegen und seiner Unkenntnis über die besondere Gesetzeslage ohnehin futsch und Frank-Peter Sommer zog vor Gericht. In weiten Teilen seiner Forderungen bekam er Recht, aber lange nicht die ausstehenden Bezüge. Seinem ehemaligen Chef wurden dagegen einmal die Grenzen der Willkür aufgezeigt, ohne fraglich die Konsequenzen dazu voll auszuschöpfen. Rechtsstaat Deutschland! Warum zum Teufel gibt es eine besondere Rechtssprechung für die Mitnahme des Urlaubsanspruchs ins nächste Jahr während der Probezeit? Beschäftigten in der Probezeit steht während der Probezeit kein Urlaub zu, wohl aber Urlaubsanspruch. Das heißt übersetzt, die Tage gehen nicht verloren. Im Unterschied zu „normalen“ Beschäftigten muss der Beschäftigte während der Probezeit aber im alten Jahr seinen Urlaubsanspruch geltend machen. Nur dann, und das steht im Gesetzbuch, hat er ein Anrecht, seine Ansprüche ins neue Jahr zu retten. Wer also am 01. Juli einen neuen Job beginnt und ein halbes Jahr, wie fast überall üblich, Probezeit hat, die dann am 31. Dezember des Jahres enden würde, kann in seinem Arbeitsvertrag bereits lesen, dass es in dieser Zeit keinen Urlaub gibt. Es steht aber nicht drin, dass er diesen trotzdem beantragen muss! Schon hier beginnt mit juristischem Rückenwind eine schreiende Ungerechtigkeit. Auf diese Art und Weise hatte Frank-Peter Sommer weit über eintausend Euro als Verluste zu verbuchen. Normale Praxis in den Betrieben ist, dass der Urlaubsanspruch bis 31. März erhalten bleibt.

5. Der neue Start

Der neue Start ins Berufsleben war fast überstürzt. Am 31. 05. 2010 bekam Frank-Peter einen Anruf. Ein privater Arbeitsvermittler versprach Arbeit schon am nächsten Tag. Auch ein vorwiegend regionaler Einsatz stelle kein Problem dar. Bereits für den Nachmittag wurde „vor den Räumlichkeiten“ des künftigen Arbeitgebers ein Termin vereinbart, man wolle anschließend gemeinsam zu dem Arbeitgeber gehen. In der Praxis gestaltete sich das so, dass direkt in den Räumlichkeiten einer Zeitarbeitsfirma der erste Kontakt stattfand. Nach der Erteilung der Genehmigung zur Vermittlung an die Zeitarbeitsfirma und Einbehalt des Vermittlungsgutscheines wechselte lediglich der Gegenüber. Später konnte Frank-Peter aus einer unbedachten Äußerung der Chefin der Zeitarbeitsfirma die Erkenntnis gewinnen, dass der private Arbeitsvermittler quasi ein Angestellter der Zeitarbeitsfirma war oder zumindest mit dieser kungelt, und nur für die Abfassung des Vermittlungsgutscheines ein Gewerbe eingetragen hatte.

Diese Zeitarbeitsfirma in Teuma ist im Tarifverbund der christlichen Gewerkschaft organisiert. Während der Einarbeitungszeit gibt es, wie schon berichtet, regulär keinen Urlaub, jedoch Urlaubsanspruch auf der Basis von zwanzig Tagen im Jahr. Eventuell benötigter Urlaub ist separat zu vereinbaren. Aus einer früheren Pleite mit Totalverlust des Urlaubs während der Einarbeitungszeit wusste Frank-Peter, dass die Juristen eine böse Stolperfalle eingebaut hatten. In der Probezeit wird der Urlaub nicht, wie allgemein üblich, automatisch bis Ende März ins nächste Jahr übernommen, er muss definitiv beantragt werden, obwohl Urlaub während der Einarbeitungszeit ausgeschlossen ist3. Fatal für eine halbjährliche Probezeit, die am ersten Juli eines Jahres beginnt. Die Urlaubstage werden indes angesammelt. Nur dann, wenn der Antrag abgelehnt wird, weil er ohnehin nicht angetreten werden kann gilt, dass der Urlaubsanspruch die übliche Frist bis Ende März erhalten bleibt. Wer macht solche Gesetze, die einmal unverständlich sind, nicht allgemein bekannt gemacht werden und zum anderen die bereits Benachteiligten noch einmal bestraft? Der bekannte deutscher Philosoph Friedrich Nietzsche (1844  1900) schrieb: Gesetze verraten nicht das, was ein Volk ist, sondern das, was ihm fremd erscheint“

Der Tarif der christlichen Gewerkschaft wurde im Nachhinein im Internet gefunden, ausgedruckt und studiert. Er erwies sich rückständiger als der allgemeine gewerkschaftliche Zeitarbeitstarif. Auch der Arbeitsvertrag enthielt nach genauem Studium einige „Eier“ und zeigte sich in einigen Passagen unverständlich. So sollte bei einer vorzeitigen Kündigung eine Vertragsstrafe gezahlt werden!

Was ist eine vertragswidrige Kündigung und was versteht man unter ‚Arbeitstage bis zum Ablauf der einzuhaltenden Kündigungsfrist’?

Die Probezeit wird grundsätzlich in der niedrigsten finanziellen Eingruppierung begonnen. Wenn Arbeitnehmer generell nach der Probezeit, so sie sich nicht als Eier legende Wollmilchsauen entpuppen, entlassen werden (genügend arme Schweine stehen bereits in den Startlöchern), braucht die Staffelung des Tarifs niemals ausgeschöpft zu werden. Interessant ist das dann auf dieser Lohnbasis erzielbare Arbeitslosengeld! Organisierte und verordnete Spirale der Armut! Unbekannt ist, wie ausgewiesene Spezialisten den Leihfirmen gegenüber dargestellt und abgerechnet werden.

Mit einem glaubhaft vorgebrachten Arztbesuch am 03. 06. 2010 konnte Frank-Peter die Arbeitsaufnahme am kommenden Tag abwenden. Der organisatorische Aufwand für bereits geplante und gebuchte Termine in dieser Woche brauchten also nicht neu aufgerollt werden, obwohl seitens der Chefin der Arbeitszeitfirma eine Variante mit sofortigem Start und Freistellung für den 03. 06. 2010 ins Spiel gebracht worden war. Nach erneuter Rücksprache mit der Elektrikerfirma reicht der Start am 07. 06. 2010, weil wegen Bauverzugs ein früherer Einsatz eh nicht möglich war. Frank-Peter schaute im Internet nach der Adresse der Elektrikerfirma und fuhr auch schon mal hin, damit nicht unvorhergesehene Dinge, wie Umleitungen oder ähnliches die geplante Fahrzeit außer Kontrolle bringen würden.

Am Donnerstag konnte somit die lange geplante Fahrt zu den Verwandten erfolgen. Dort bekam Frank-Peter einen Anruf, ob er nicht doch am Wochenende in die Geschäftsstelle kommen könne. Mann bat ihn inständig, im Rahmen der abgesprochenen Ausnahme, eine Woche als Urlaubsvertretung Montage in den alten Bundesländern zu übernehmen. Nun bekannte Frank-Peter, dass er nach Wahrnehmung seiner medizinischen Termine das Wochenende anders genutzt habe und nicht in der Region sei. Die Urlaubsvertretung würde er übernehmen, alle Daten dazu sollten per E-Mail zugesandt werden. Daraus entnahm Frank-Peter, dass er am Montag den 07. 06. 2010 früh 05 : 00 Uhr im über 300 km entfernten Buscheck hinter Kassel bei Ullrich Geibel, Inhaber einer Elektrikerfirma, erwartet wurde. Das Navi in Frank-Peters Auto war bestimmt mit einer rund zehn Jahre alten Software ausgerüstet und kannte die neue Autobahn A 38 nicht, die eine direkte Verbindung von Leipzig nach Göttingen bot. Von dort ist es nicht weit bis Kassel. Unterwegs kam die Meldung: „kann Route nicht berechnen“, die mit OK bestätigt wurde. In Kenntnis dessen, dass nach Göttingen Kassel anvisiert werden sollte, war eine Fahrt nach Ausschilderung möglich. Bei einem Stau wurde das Navi überprüft: es hatte sich abgeschaltet. Die erneute Eingabe der gespeicherten Zieladresse führte glücklicherweise zum pünktlichen Erscheinen.

Buscheck war eine einzige Baustelle, alle Straßen waren gesperrt. Große Radlader versperrten die Zufahrten in den Ort und riesige Rohre lagen neben den Erdwällen der aufgebrochenen Straße, um irgendwann darin verbaut zu werden. Das hatte schon der Firmenchef in einem Telefonat am Tag vorher bemerkt und ein Abholen angeboten. Frank-Peter nutzte dieses. Als Ullrich Geibel mit seinem 5er BMW Touring erschien, vernahm Frank-Peter eine deutliche „Fahne“. Ullrich Geibel muss am Tag zuvor ordentlich gefeiert haben. Von Buscheck ging es mit einem Firmenfahrzeug weiter Richtung Bonn, nachdem der Angestellte des Firmeninhabers, Freddy geweckt worden war. Freddy erklärte später, dass er sich grundsätzlich wecken lässt, weil die Absprachen zum Arbeitsbeginn durch den Chef in der Regel nicht eingehalten werden. Die Baustellen waren allesamt Finger-Häuser, eine Holzständer-Fertighauskonstruktion. Bereits am zweiten Tag der Errichtung, das Erdgeschoss ist in der Regel bereits auf der Bodenplatte oder dem Kellergeschoss erstellt und das Obergeschoss wird gerade errichtet, müssen die Elektriker auf die Baustelle, um bei gegenseitiger Behinderung mit den Rüstern mit der Installation zu beginnen und der Hausbaufirma den Vorteil einer Zeiteinsparung von 1 … 2 Tagen zu ermöglichen. Innerhalb von etwa zwei Tagen ist die gesamte Elektrik verlegt und bereits die meisten Installationsgeräte, wie Schalter und Steckdosen verdrahtet. Alle elektrischen Arbeiten sind soweit beendet, dass der Estrichbeton im Inneren auf die Bodenplatten gegossen werden kann und der Trockenbau von Decke und Wänden von den Rüstern beendet werden kann. Der Zeitdruck forderte auch Opfer. Einer der Rüster hatte sich versehentlich mit dem Luftdrucknagler an einer Dachlatte festgeschossen. Da die Nägel einen eingewalzten Drall gegen unbeabsichtigtes Lockern haben, konnte man ihn auch nicht so einfach herausziehen. Deshalb wurde die Dachlatte rund um den festgenagelten Finger heraus gesägt und mit zum Arzt genommen. „Der Knochen ist angeschrammt“, lautete kurz die Information zur Diagnose. Was der gebeutelte Monteur beim Arzt alles gesagt hat, entzieht sich Frank-Peters Kenntnis. Er muss aber so gekonnt geschwindelt haben, dass sich die Balken gebogen haben, denn normalerweise kommt nach jedem Unfall die Berufsgenossenschaft. Das blieb dieser Baustelle aber erspart, nur der arme Schlucker musste nach Hause.

Am ersten Tag waren Restarbeiten an zwei nebeneinander errichteten Häusern in der Nähe von Bonn erforderlich. Abgeschlossen werden konnten diese nicht, weil eine Schalterabdeckung fehlte. Mit einer entsprechenden Mängelliste bekam Freddy die Unterschrift eines der Bauherren. Der Zweite verweigerte sie mit dem Hinweis, dass er sich erst einmal in Ruhe alles durchlesen und auch im Haus kontrollieren müsse. Von diesem Bauherren berichteten die Rüster folgende Geschichte, die schnell unter allen Beschäftigten, nicht nur dieser Baustelle die Runde machte: Die Ehefrau des Bauherren kam eines tags auf die Baustelle. Die Putzer, die gerade Restarbeiten an der Fassade ihres Hauses erledigt hatten und nun am direkt daneben liegenden Haus arbeiteten, hatten ein Radio am Baustellenstrom der Bauherrin angeschlossen. Lauthals und mit unangemessenen Worten beschwerte diese sich darüber, wieso von ihr Strom genommen würde, obwohl am Nachbarhaus gearbeitet wird! Später wurde auch bekannt, dass dieser Bauherr, ein Lehrer, genau berechnet hatte, dass ihm durch die vom örtlichen Stromanbieter verschuldete verspätete Abschaltung des Baustroms über vierzehn Euro Verlust entstanden seien, die dieser nun durch die Installationsfirma ersetzt haben wollte. Kopfschütteln unter den Bauleuten war die geringste der daraufhin einsetzenden Reaktionen. Auf der nächsten Baustelle bekam Frank-Peter mit, wie Freddy die Bauherrin großmäulig überzeugte, auf die im Projekt ausgewiesenen Niederspannungslampen, im Volksmund „Spots“ genannt, im Bad zu verzichten. Absolut bestimmend, ja fast schon überheblich sprach er mit der Bauherrin. „Haben sie sich das gut überlegt mit den Niederspannungslampen im Bad? Sie wissen schon, dass damit nur eine punktuelle Beleuchtung stattfindet? Die Lampen haben eine relativ geringe Lebensdauer und die Verhältnisse im Bad reduzieren diese noch weiter. Vor allem eins, ihr Haus besteht aus Holz und die Wärmeentwicklung der Lampen könne vor allem bei einer Störung eine Gefahr für das Haus bedeuten!“ Die Bauherrin lenkte ein. Frank-Peter sprach anschließend mit Freddy, dass er bei bisherigen Baustellen in solchen Fällen in die Gipskartondecke Zusatzgehäuse aus Glasfaser-Gips einbauen musste. „Halt´ die Klappe“, meinte Freddy. „Ich weiß, was es alles gibt, habe aber keine Lust, so etwas einzubauen. Das ist alles Mehraufwand!“ „Ist schon OK, im Beisein der Bauherrin würde ich so etwas auch nicht erzählen“, antwortete Frank-Peter. Freddy, ein sportlicher junger Typ von 26 80 km