Melanie T. Shetty

Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Zeichnung wurde erstellt von Heike Deboben und sind urheberrechtlich geschützt. Sie dürfen ohne vorherige schriftliche Genehmigung weder ganz noch auszugsweise kopiert, verändert, vervielfältigt oder veröffentlicht werden.

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

1. KAPITEL

Oh Mann ey, immer das Gleiche!

»Schwarz oder doch lieber weiß?«, denke ich laut.

»Weiß!«

»Nein, Schwarz!«

»Oder doch Weiß?«

Wenn ich Weiß anziehe, denken alle, ich gehöre zum Personal … und wenn ich Schwarz trage, glauben alle, ich will auf eine Beerdigung!

»Vielleicht Rosa?«, schlage ich leise vor.

»Nein!« Darin sind sich Engelchen und Teufelchen auf meinen Schultern einig.

Natürlich sitzt niemand auf meinen Schultern, das weiß ich auch. Es ist nämlich viel schlimmer: Sie sitzen in meinem Kopf und klammern sich jeder an einem Innenohr fest, damit ich sie auch gut hören kann.

Aber wenn ich mich im großen Spiegel meines Kleiderschranks betrachte, sehe ich sie ganz genau, wie sie da so auf meinen Schultern rumzappeln und mir diesen Scheißmorgen noch mehr vermiesen. Zudem hat der eine Teufel die Glatze meines Vaters, der Engel irritierenderweise die dunklen, kurzen Locken meiner Mutter.

Seufz! Es ist drei Uhr fünfundvierzig. Am Sonntagmorgen. Nein, ich habe nicht die Nacht durchgefeiert. Auch nicht durchgetanzt. Nein, durchgeliebt gleich gar nicht. Ich muss mich fertig machen, um zur Arbeit zu gehen. An normalen Wochentagen zu normalen Uhrzeiten ist es schon Strafe genug, aber heute ist es echt Folter. Und dann ist es auch noch meine eigene Idee. Wie blöd kann man eigentlich sein?

In zwei Tagen ist mein halbjähriges Praktikum beendet. Auch wenn Susanne nicht nur meine Chefin, sondern auch meine beste Freundin ist, heißt das nicht automatisch, dass sie mich übernehmen wird. Ich muss mir den Arbeitsvertrag hart erkämpfen. Schwerer vermutlich als jemand, mit dem sie nicht befreundet ist. Etwas Spektakuläres ist nötig, um sie endgültig davon zu überzeugen, dass es total richtig ist, ja, geradezu unumgänglich, mich weiterzubeschäftigen. Auch wenn ich manchmal unpünktlich bin. Oder gelegentlich siebzehn Anläufe brauche, um mir eine treffende Überschrift auszudenken. Oder sich der Kantinenstau bis weit vor die Eingangstür zieht, weil ich mich nicht zwischen Pellkartoffeln und Kartoffelbrei entscheiden kann.

Glücklicherweise hatte ich eine geniale Idee, die mir meinen Arbeitsplatz bis zur Rente sichern wird. Bis zur Rente mit zweiundsiebzig. In exakt fünfzig Jahren. So lange habe ich also noch Zeit, mir einzureden, dass der Job der richtige für mich ist. Außer ich scheitere jetzt schon, weil ich mal wieder nicht weiß, was ich anziehen soll. Eigentlich wollte ich mir gestern Abend ja Klamotten rauslegen, aber dann habe ich länger als geplant mit Joevanniel gechattet. Und Danielle hat mir eine Dreiviertelstunde von ihrer neuesten Online-Eroberung erzählt: ein Anwalt! Aus New York! Mit Aussicht auf den Titel ›sexiest man alive‹! Und eigenem Jet!. Dann war mir klar geworden, dass ich die Interviewfragen noch nicht vorbereitet hatte. Und ich die Filmpreisverleihung im Fernsehen nicht versäumen durfte, deren Kenntnis wesentlicher Bestandteil meiner spektakulären Idee ist. Und mit Küche aufräumen war ich auch noch dran gewesen. Aus Panik zu verschlafen hatte ich mich nach zähem und zeitraubendem Ringen endlich entschieden, früh – sprich kurz vor Mitternacht – ins Bett zu gehen, und vergessen, die Klamotten rauszulegen. Was mir jetzt den Hals brechen wird.

Drei Uhr zweiundfünfzig. Spätestens um vier muss ich los. Sonst wird meine spektakuläre Idee spektakulär im Sande verlaufen. Meine Finger tanzen nervös von der Blumenprinthose über die metallisch glänzende Jeans bis zu dem langen, weiten Rock in Himmelblau, den ich mir letzte Woche nur gekauft habe, weil er so unwiderstehlich reduziert war, von 179,00 Euro auf 99,90 Euro, und der jetzt schon den Verwesungsgeruch einer typischen Schrankleiche verströmt. Denn ich habe nichts, was ich dazu kombinieren kann. Außerdem habe ich mir seit meiner Rückkehr aus Amerika geschworen, nie wieder etwas zu kaufen, was ich nicht wirklich brauche. Weil man ja eigentlich so wenig zum Leben braucht. Ein Jahr lang aus drei Koffern zu leben, das hat völlig gereicht. Gut, okay … am Ende waren es deutlich mehr als diese drei Koffer voll Klamotten. Hinzu kamen noch gute 60 Paar Schuhe und jede Menge super tolle Sommeroutfits.

Aber: dieses Blau – genau wie der Himmel über dem Pazifik. Herrje, ich bin nun mal weder Prinzipienreiterin noch Durchhaltekönigin. Ich bin nur ein einsames Mädchen mit einem Herzen voller Sehnsucht und Lust auf Shopping …

»Schluss jetzt«, unterbreche ich mich selbst. Ich atme tief durch und halte mir die rechte Hand vor die Augen. Muss halt die Entscheidungsstrategie ›Zufallsgott‹ herhalten. Ich strecke die linke Hand aus und packe den erstbesten Bügel, der mir in die Quere kommt. Der himmelblaue Rock. Mist. Drei Uhr siebenundfünfzig. Okay. Ich schnappe aus dem oberen Fach einen dunkelblauen Rolli, denn immerhin ist meinem noch schlafumspülten Hirn klar, dass es um die Uhrzeit draußen ganz schön frostig sein muss. Auch wenn wir Mitte April haben. Während ich mich abmühe, eine weiße Strumpfhose so weit hochzuziehen, dass der Zwickel nicht mehr auf Kniehöhe hängt, greife ich schon nach den Stiefeletten. Für Ballerinas zum Rock ist es definitiv zu kalt. Drei Uhr neunundfünfzig. Na bitte, wer sagt’s denn. Ich verbiete mir den letzten Blick in den Spiegel, greife nach meiner Lederjacke, der Tasche mit der Videokamera und sause los.

Erst als ich unten das Fahrrad sehe, wird mir klar, dass die Wahl des Rocks eine fundamentale Fehlentscheidung ist. So wie sein Kauf. Aber jetzt ist es zu spät. Bis zur U-Bahn wird es schon irgendwie gehen. Ich klemme die Stoffmassen zwischen meine Oberschenkel, versuche mit möglichst zusammengekniffenen Beinen aufs Fahrrad zu klettern und radle los.

Puhh … aber hab ich jetzt alles dabei? Handy? Ja. Interviewfragen? Yes. Portemonnaie? Bestimmt.

Im morgendlichen Nebel, den noch kein einziger Sonnenstrahl durchschneidet, erreiche ich den U-Bahnhof. Ich schließe das Rad ab, renne die Stufen hinunter und blicke auf einen menschenleeren Bahnsteig. Vier Uhr vier. Nächster Zug in neunzehn Minuten, offenbart die Anzeige. Mein Herz setzt aus. Der Todesstoß! Warum habe ich nicht daran gedacht, dass die U-Bahn um diese Zeit nur alle zwanzig Minuten fährt? Bis ich am Steigenberger ankomme, kann ich nur noch die Putzkolonne interviewen, die hinter den Promis ausfegt. Ich sehe schon meinen Titel für das Video: »Was bleibt von der Filmpreisverleihung? Ein Haufen Müll! – HitRadio klettert für Sie in die Abfalltonnen.«

»Oh, eine Haarspange, vielleicht von Saria Schatz«, hätte es dann geheißen. Oder: »Der Lippenstiftabdruck auf dem Champagnerglas da ist bestimmt von Dani Klaffenberger. Und was haben wir denn da? Ein angebissenes Brötchen – garantiert von Matthias Schöfer.«

Ich taumele aus der U-Bahn-Station heraus, raffe meinen Prinzessinnenrock und trete in die Pedale. Die Tasche mit der Videokameraausrüstung schneidet fies in die Halsbeuge, erste Schweißtropfen durchweichen meinen Rollkragenpullover.

Ich brettere über eine rote Ampel. Gut, dass noch nichts los ist. Durch die Fußgängerzone laufen grölend ein paar verloren gegangene Fußballfans, und an einer Straßenbahnhaltestelle schreit sich ein Pärchen lallend an. Ganz schön laut für so einen frühen Sonntagmorgen.

Endlich ist das Graf Zeppelin in Sicht! Davor stehen jede Menge Taxis. Ich bin also rechtzeitig dran.

Noch mal beschleunige ich, fahre rasant um die letzte Kurve und bremse abrupt, weil ein Lkw meine Spur versperrt. Den Lenker reiße ich erst nach rechts, dann nach links, entscheide mich für den Gehweg und spüre plötzlich mein Fahrrad weiterfahren, während ich selbst nach hinten gezogen werde. Etwas ratscht, der Hinterreifen legt sich quer, und der Lenker nähert sich in rasendem Tempo dem Asphalt, was ich verblüfft wie in Zeitlupe beobachte. Eingreifen? Unmöglich! Mein Ellenbogen nimmt bereits Erstkontakt mit einem geparkten Pkw auf, ich kippe, und das Fahrrad scheppert gegen das Auto, das meinen Sturz in letzter Sekunde gerade so abbremst. Langsam rutsche ich weiter hinunter, bewegungsunfähig, denn der im Hinterrad festgeklemmte Rock will mein Bein nicht freigeben, und mein Arm ist eine innige Symbiose mit dem Wagen eingegangen. Irgendwann komme ich unten an. Autsch! Ein heißer Schmerzstrahl durchfährt meinen Oberarm. Wie eine halb zertretene Kakerlake liege ich unter meinem Fahrrad und betrachte erstaunt den Unterboden des Autos neben mir. Wäre mal wieder eine Reinigung fällig. Scheiße, und eine neue Lackierung der Beifahrertür, wird mir klar. Schwarze Striemen auf Neongrün machen sich nicht sooo gut. Vor allem nicht bei einem Porsche! Ich strample das Fahrrad weg und schaffe es irgendwie, mich aufzusetzen. Keuchend. Zähneklappernd. Der Rock ist eingerissen und mit Kettenschmiere schwarz verfärbt. Ich blicke mich Hilfe suchend um. Keiner zu sehen. Obwohl ich das Anspringen einiger Motoren höre. Mist! Die Taxis fahren los! Ich rapple mich hoch, erdrossle mich beinah mit dem Gurt meiner Videokameratasche, die sich im Lenker verfangen hat, und sehe Menschen auf den Treppenstufen vor dem Steigenberger stehen. Ich lehne – na ja, werfe – mein Fahrrad an die erstbeste Laterne, ignoriere die Schmerzen, die meine ganze linke Seite durchstoßen, und renne humpelnd und fluchend über die Straße. Nachher schreibe ich dem Porschefahrer einen Zettel mit meiner Telefonnummer. Auf jeden Fall! Jetzt muss es schnell gehen! Ich zerre die Kamera heraus, schalte sie ein, stecke das Mikrofon auf und gehe in Position. Und dann kommen sie.

Vor Kälte und Schmerzen zittern mir die Hände, aber ich versuche ein freundliches Lächeln aufzusetzen und richte meine Kamera auf Heike Makaresch, die ziemlich derangiert aussieht.

»Hallo, Frau Makaresch, ich bin Nathalie Müller von HitRadio. Wie war die Preisverleihung?«

Heike Makaresch kichert. »Superschön!«, sagt sie und stolpert die letzte Treppenstufe hinunter.

Ich strecke gerade noch meinen Arm aus, um sie aufzufangen.

»Wie war es, den Preis in Händen zu halten?«, frage ich weiter, nachdem sie wieder gerade steht. »Ich habe mich aufrichtig gefreut, dass sie den Darstellerpreis für die beste Nebenrolle bekommen hat.«

»Superschön.« Heike küsst mich irgendwo zwischen Wange und Kameragehäuse und wankt auf ein Taxi zu.

Sehr … ähm, aussagekräftig. Aber da kommt schon, wow, tatsächlich: Matthias Schöfer.

»Herr Schöfer, Matthias!«, rufe ich aufgeregt. »Wie war’s?«

»Cool.« Er streckt der Kamera die Zunge raus. Und ab geht’s ins Taxi.

Mist. Vielleicht ist meine Idee doch nicht so toll gewesen, die Stars statt am Abend vor der Preisverleihung abzufangen, sie erst am Morgen danach zu interviewen. Da HitRadio Medienpartner der Filmpreisverleihung ist, haben unsere Starmoderatoren gestern Abend am roten Teppich natürlich schon das ein oder andere Exklusivinterview bekommen. Die waren allerdings erwartungsgemäß so ergiebig wie eine kleine Leberwurst. Ich dagegen habe gehofft, die Preisträger wären nach der Party so aufgekratzt und betrunken, dass sie mir ihre kleinen Geheimnisse über die große Nacht bereitwillig anvertrauen würden. Schließlich ist das Tratschen nach einer Party immer der schönste Teil. Wahrscheinlich habe ich die Rolle bester Freundinnen respektive Freunde unterbewertet. Mit mir will keiner reden. Dabei bin ich eine großartige beste Freundin. (Solange mich niemand um Entscheidungshilfe bittet.)

Für ein paar Minuten bleibt es ruhig. Ob schon alle fort sind? Endlich schwingt die Tür wieder auf. Elias Zeruk tritt nach draußen – mit einer dunkelhaarigen Schönheit im Arm, deren Dekolleté bis zum Bauchnabel reicht. Er hat den Preis als bester Newcomer bekommen. Susanne schwärmt total für ihn. Sie findet ihn cool, clever und clooneyhaft schön. Für mich heißt das nur: C-Promi.

»Herr Zeruk«, rufe ich. »Waren Sie überrascht, als …«

»Mach die Kamera aus, Mädel«, meckert er. »Sonst tut’s gleich klatschen, aber kein Beifall!« Erschrocken lasse ich die Kamera sinken. Was ist das denn für ein Proll? Kein Wunder, dass der immer nur asoziale Türken in den Filmen spielt. Mit erhobenem Stinkefinger geht er weiter und schiebt die Beauty auf ein parkendes Auto zu. Einen Porsche 911. Neongrün. Einen, mit einem Lackschaden an der Beifahrertür. Ups … Da wird das nichts mehr mit dem Zettelchen an der Windschutzscheibe.

»Nimm’s nich’ persönlich«, flüstert eine Frauenstimme neben mir. »Wenn du willst, erzähl ich dir alles! Auch vom Elias.«

»Okay«, stammle ich beinah so verschüchtert wie von der Zeruk-Attacke.

»Legen Sie los, Frau?«

»Frau Fischer. Veronica Fischer.«

Ich hab zwar keinen blassen Schimmer, wer sie ist, aber gut. Ich drücke auf ›record‹ und nicke hinter meinem Objektiv freundlich zu jedem ihrer ausschweifenden Sätze. Nur einmal werde ich abgelenkt. Heftig abgelenkt. Als nämlich ein türkischer Fluch über die Straße zu mir herüberweht. Aus den Augenwinkeln erkenne ich, wie Elias Zeruk gegen mein Fahrrad tritt.

An dessen Lenkstange er wohl eindeutig Farbpartikel seines Porsche erkannt hat. Es scheppert.

»Scheiß Radfahrer«, schreit er auf Deutsch.

Ich beschließe, mit der U-Bahn in die Redaktion zu fahren. In der Hoffnung auf eine Eingebung lasse ich mein Material zum gefühlt vierhundertsiebenundachtzigsten Mal ablaufen. Sicher liegt es nur an den Schmerzen in meinem Arm, dass mir nichts einfällt.

Mein Kopf sinkt auf die Schreibtischplatte, die von zwei Monitoren überragt wird.

»Ach je«, höre ich Susannes ebenso vertraute wie sarkastische Stimme hinter mir. »Einfach müde oder unter der Last der Entscheidungen zusammengebrochen?«

Ich grummle selbst mir Unverständliches und klicke auf das Gelaber von Veronica Fischer.

»Na, und ich sag es Ihnen, der Dings, äh, der Dings, wie der auf dem Parkett mit der, äh, Sie wissen schon, die bei Let’s Dance mitgemacht hat, also wie die zwei …! Das war fast scho’ unanständig.«

Susanne bricht in schallendes Gelächter aus. »Sensationell! Echt! Da werden ja Geheimnisse ans Licht der Welt gepresst … Gratulation, da hat sich das frühe Aufstehen ja voll gelohnt. Gut, dass ich extra deswegen reingekommen bin und mein Paris-Trip mit Andi abgesagt habe.«

Ich stütze meinen Kopf mit den Händen ab. »Danke, verarschen kann ich mich auch selbst.«

»Ach was. Zeig mal, was du noch so hast.«

Ich klicke die kurze Sequenz mit Elias Zeruk an. Susanne krallt sich an meiner Schreibtischplatte fest. Sie kriecht fast in den Bildschirm hinein. Nicht mal sein arrogantes Getue kann sie schocken. Höchstens »die-Schlampe-da«. (Zitat Susanne) neben ihm.

»Dieser Elias Zeruk ist einfach lecker«, sagt sie. »Ein echter deutscher George Clooney. Der hat doch total die gleichen Augen.«

»Ein türkischer George Clooney«, erwidere ich. »Und ein asozialer noch dazu. Nicht meine Kragenweite!«

»Gegen so einen kleinen, schnuckeligen Amerikaner mit kurzrasierten Haaren kommt er natürlich nicht an«, lästert Susanne.

Mein Puls beschleunigt sich. Obwohl ich mir seit siebeneinhalb Jahren – so lange kennen wir uns schon – vornehme, nicht auf ihre Sticheleien zu reagieren, rolle ich sofort die Anti-Susanne-Demoplakate aus.

»Der ist nicht klein. Und er hat schöne lockige Haare – sie sind nur abrasiert«, blaffe ich.

Sie grinst von einem Ohr zum andern. »Und egal ist er dir auch.«

»Ja!« Kann sie nicht endlich gehen und sich ihren doppelten Espresso mit einem Hauch Latte und widerlicher Steviasüße organisieren? Den wird’s hier doch auch sonntags irgendwo geben!

»Bestimmt habt ihr heute schon geskypt«, bohrt sie nach.

Siebeneinhalb Jahre sind definitiv zu lang. Vielleicht sollte man beste Freundinnen genau wie Liebhaber gelegentlich mal austauschen, damit sie einen nicht zu gut kennenlernen und wissen, welche Taste sie betätigen müssen, um einen auf hundertachtzig zu bringen. Ich hole tief Luft. Ganz ruhig!

»Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr mit ihm skypen will. Jedes Mal diese traurigen Hundeaugen aus tausenden von Kilometern Entfernung, das ist furchtbar. Das erträgt doch kein Mensch.«

»Armes Madi.« Susanne zupft an ihrer moosgrünen Strumpfhose, die am oberen Ende von einem schmalen Band in Krachgrün umflattert wird. Susanne nennt das allen Ernstes einen »Rock«. Bei ihren Beinen kann sie sich das leisten. Ich würde in so was aussehen wie eine dicke Kuh – obwohl ich sonst recht zufrieden sein kann mit meiner Figur. Ich pople nervös am schwarz geränderten Riss in meinem knöchellangen Rock.

»Na dann störe ich dich mal lieber nicht länger«, sagt Susanne nun betont einfühlsam. »Schließlich soll dein Preisverleihungs-Insider-Nachklapp bis zwölf Uhr fertig sein. Nur noch zweieinhalb Stunden Zeit für Entscheidungen …«

Sie verlässt den Raum, und ich bin endlich wach. Vielleicht ist es doch ganz gut, Freundinnen zu haben, die meine innere Tastatur beherrschen.

Ich wende mich wieder meinem Clip zu. Einsdreißig habe ich versprochen. Ich drehe entnervt das Handy zwischen den Fingern. Wenn alles gut geht, wird es gerade mal für einen Dreißigsekünder reichen. Dafür müsste jetzt allerdings ein Geistesblitz in mich fahren. Ich weiß nur: Die Szene mit Elias Zeruk werde ich auf keinen Fall verwenden, viel zu peinlich. Immerhin vibriert das Handy. Ein Omen? Schickt mir Gott persönlich eine Eingebung? Per SMS? Sicher nur eine gemeine Botschaft von Susanne, die weiter an meinen Entscheiderqualitäten zweifelt. Und wie immer zu Recht. Wenigstens habe ich im Gegensatz zu den meisten Menschen, na, sagen wir zu vielen Menschen … zu einigen …, nicht das Problem, dass ich bezüglich meiner Defizite einen blinden Fleck hätte. Ich weiß genau, dass mir Entscheidungen Probleme bereiteten. Schon immer bereitet haben.

Ich klicke die SMS an. Sie ist von Patrick. »Freitagabend: Kino oder Theater?« Die Message endet mit drei Herzchen. Schon wieder so eine blöde Entscheidung! Kino oder Theater? Woher soll ich das denn wissen? Kino ist meist spannender als Theater, aber im Theater ist alles viel unmittelbarer und dann doch wieder spannender. Und überhaupt – in welches Kino, in welches Theater? Und etwa mit ihm?

Bevor ich mich zwischen Kino und Theater entscheiden kann, muss ich mich doch erst mal zwischen Patrick und, äh … äh …, dem Nichts entscheiden. Es ist doch völlig gaga, mit dem Ex ins Kino oder Theater oder sonst wohin zu gehen, wenn ich eigentlich davon überzeugt bin, dass er mein Ex bleiben soll. Ich habe mich schließlich aus guten Gründen von ihm getrennt. Welche waren das noch mal? Ja, genau.

Egal, es waren garantiert die allerbesten Gründe. So was wie »Versteht mich nicht«. (aber welcher Mann tut das schon?) oder »Hat mich betrogen«. (oh, nee, ich habe ihn betrogen) oder »Seine Karriere ist ihm wichtiger als ich«. (na ja, okay, ich war es, die unbedingt nach Amerika gehen wollte. Weil ich damit der Entscheidung aus dem Weg gehen konnte, ob ich … Egal, das ist eine andere Geschichte).

Eine Entscheidung treffe ich immerhin ganz schnell: Ich werde ihm nicht sofort antworten. Das muss alles gut überlegt sein. Kino oder Theater – der Mann hat Nerven. Wahrscheinlich will er sich vom Prüfungsstress ablenken. So ein Streber lernt sicher am Sonntagmorgen auf seine zweite Staatsprüfung. Wieso liegt er nicht mit irgendeiner Tussi im Bett? Er hatte doch Zeit genug, sich was Neues zu suchen. Immerhin sind wir seit über zwei Jahren getrennt. Glaub ich. Sagen wir: offiziell. Inoffiziell kommen die ersten Monate in Amerika hinzu, in denen ich mir nicht sicher war, ob ich wirklich Schluss machen sollte. Da war noch gar nichts mit Joeva gelaufen, ich schwöre! Aber Patrick gehört einfach zu den Anhänglichen. Oder zu den Bequemen. Je nachdem.

Meine Aufmerksamkeit wird von dem kleinen Chatfenster abgelenkt, das sich auf meinem Monitor mit einem Plopp öffnet.

»Hi, Darling«, steht da. Warum haben es eigentlich alle heute Morgen auf mich abgesehen?

Ich bin nicht dein Darling, will ich zurückschreiben. Meine Finger tippen stattdessen: »Why aren’t you out for a drink?« Und reißt eine superschlanke Amerikanerin auf, damit du mich endlich in Ruhe lässt.

»Too tired. Went surving today«, schreibt er zurück. »How are you doin’?«

Sofort blitzt der Strand von St. Thomas vor mir auf, der tolle Sand, die Sonnenuntergänge, …

»Are you still there?«

»Sure. Sorry. Who went with you?«

»Nobody. Just me and the sea. How was your interview? Are you okay?«

Ich stecke mir einen Bleistift zwischen die Lippen und kaue darauf herum. Ich soll wissen, ob ich okay bin? »Argh … so so, and yes, doing okay, but tired.«

»So we have something in common …«

Ich spüre, wie gerne ich den Kopf auf die Tastatur sinken lassen würde. Nicht nur aus Müdigkeit. Ja, wir haben eine Sache gemeinsam. Und noch eine. Und noch eine. Wir haben dutzend Dinge gemeinsam. Erinnerungen zum Beispiel. Nicht nur ans Surven. Auch daran, wie er mir das Leben gerettet hat. Als ich im Beans & Bytes stehe und schockstarr auf die Kaffeekarte blicke. Cappuccino, Frappuccino, Mocchaccino, flat white, latte, long black, short black, one shot, two shot, three … Und er mich gerade noch auffängt, bevor ich angesichts dieses Entscheidungsmarathons bewusstlos zusammensacke. Wie er mir anschließend löffelchenweise Espresso einflößt. Four shot.

»Joeva, I’m sorry, I have to work now«, schreibe ich zurück.

»Oh, I don’t want to disturb you! But have you had a coffee already? A nice long black flat white?«

Ich lache. Und würde gern das Lächeln auf seinem Gesicht sehen.

»Have sweet dreams«, schreibe ich unvernünftigerweise.

»Oh yeah, I will. How you return to the Rock.«

Meine Finger wandern ziellos über die Tastatur. Was soll ich dazu sagen?

»Just kidding«, schreibt er – aus Höflichkeit, wie ich genau weiß. Er meint es ernst, verdammt ernst. Aber wie soll ich mich für ein Leben auf den Virgin Islands entscheiden, wenn ich nicht mal weiß, ob ich einen einfachen oder einen doppelten Espresso trinken soll?

Ich schicke ihm ein kleines Herz und schließe das Chatfenster. Ich muss meinen blöden Insider-Bericht über diese verdammte Preisverleihung fertig bekommen. Ganz dringend. Wieso habe ich die Hände zu Fäusten geballt? Wieso ist da so eine Unruhe, die meinen Körper von oben nach unten und von unten nach oben gleichzeitig durchflutet? Herrje, wie soll ich hier still sitzen?

Ich springe so heftig auf, dass mein Bürostuhl gegen das Sideboard hinter meinem Schreibtisch kracht.

Ich stürme in den Flur. Ich brauche Luft. Das einzige Fenster, das man hier öffnen kann, ist das Klofenster. Ich beuge mich weit hinaus und sauge die noch kühle Aprilluft kräftig ein.

Hinter mir rauscht die Spülung, und dann quietscht ein Schloss.

»Nicht rausstürzen, Schätzelein.« Susanne legt mir eine Hand auf den Rücken. Sie spürt immer intuitiv, wenn es mir nicht gut geht. Da genügt ihr sogar der Anblick meines Hinterkopfes. Langsam drehe ich mich zu ihr um.

»Ich versteh’s einfach nicht«, fange ich an.

Sie senkt das Kinn auf die Brust und sieht mich durchdringend an. »Was denn?«

»Da habe ich mich einmal in meinem Leben eindeutig entschieden, und dann werde ich ständig dafür bestraft.«

»Dass du mit Joeva Schluss gemacht hast, bevor du nach Deutschland zurückgekommen bist?«

Ich nicke. »Aber es war doch richtig, oder? Allein die Entfernung …«

»… die kulturellen Unterschiede!«, grinst Susanne.

»… und die andere Mentalität …«

»… die klimatischen Gegebenheiten!«

»… die Entfernung nicht zu vergessen.«

Sie nickt. »Hattest du schon. Denk an die anderen Gewohnheiten, die kulturellen …«

»Hatte ich die nicht auch schon?«

»Ja, ja, es wäre nicht gut gegangen. Ganz bestimmt nicht.« Ihr Grinsen ist garantiert nicht ironisch gemeint. Garantiert nicht!

»Siehst du, selbst du sagst das! Wieso kriege ich dann immer die Krise, wenn er sich bei mir meldet?«, ich schlage die Hände über meinem Kopf zusammen.

»Du liebst ihn immer noch.«

»Ja, genau! Was? Quatsch! Nein, das ist nicht wahr! Ich glaube ja, weißt du … Ja, das ist es. Wahrscheinlich liebe ich nur noch die Erinnerung an die tolle Zeit in den USA.«

»Das gute Essen, das schöne Wetter, die vielen Strände.«

»Genau!«, sage ich bestimmt.

»Mensch, Nathalie, mach mal halblang. Die schönen Erinnerungen lauten: Mit Joevanniel an der Hand am Meer. Mit Joevanniel unter den Sternen am Strand. Mit Joevanniel über dir im Bett.«

»Du bist geschmacklos!« Trotzdem muss ich grinsen. Langsam schließe ich das Fenster. »Aber kannst du dir ihn und mich als altes Ehepaar auf dem Sofa vorstellen? Ich nicht.«

Susanne grinst. »Nee, auf dem Sofa nicht. Beim Schwimmen schon eher.«

Ich boxe sie in die Seite. »Schau mal lieber, dass du dein eigenes Liebesleben in den Griff bekommst.«

Sie wäscht sich die Hände und schäumt sie ausgiebig ein. »Ich beschwer mich nicht über mein Singledasein. Du bist diejenige, die einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen kriegt. Und überhaupt: Lenk dich doch mit Patrick ab, der würde dich mit Kusshand zurücknehmen.«

Ich rolle mit den Augen, »Vielleicht mach ich das ja.«

»Ja, tu das. Lass dir von ihm drei süße Kinder andrehen, und dann ist alles gut. Kein Gejammer mehr. Aber ich sage dir gleich: Patentante werd ich nicht! Und Babysitterin erst recht nicht.«

Der Handtuchhalter saugt das benutzte Stück Stoff mit einem schlürfenden Geräusch ein. Klingt ganz so, als wolle er sagen: »Recht hat sie.«

»Was soll ich bitte mit drei Kindern?« Ich verschwinde hinter der Klotür.

Während ich abschließe, ruft mir Susanne noch zu: »Übrigens, nimm dir Freitagabend nichts vor. Da kommt Elias Zeruk in ›Meßmann’s Talkshow‹, und du musst ein Interview-Filmchen für unsere Seite mit ihm drehen. Sein Management weiß schon Bescheid.«

»Ach, immer ich!«, rufe ich entrüstet. Okay, zum Teil pseudo-entrüstet. Denn mir werden mit einem Mal die verschiedensten Dinge gleichzeitig klar, die meine Endorphine zum Tanzen bringen …

1. Ich habe eine Ausrede, weshalb ich am Freitag nicht mit Patrick ausgehen kann. Weder ins Kino noch ins Theater noch sonst wohin.

2. Wenn ich am Freitag ein Interview machen soll, heißt das, ich werde für den Sender noch arbeiten.

3. Ich muss dieses Arschloch interviewen und freundlich zu ihm sein.

4. Ich kann definitiv nicht mein Fahrrad benutzen, um zum Interview zu fahren. (Was auch deshalb nicht funktioniert, weil das Fahrrad noch immer vor dem Steigenberger verrottet und ich es erst abholen müsste.)

Um 3. zu vermeiden, wäre ich fast in der Lage, meinen Job hinzuschmeißen, mir ein neues Fahrrad zu kaufen und mir von Patrick drei Kinder machen zu lassen. Oder soll ich drei Fahrräder hinschmeißen, mir einen Job machen lassen und neue Kinder kaufen? Ich bin verwirrt!

Gut, mir bleibt noch ein kleines bisschen Zeit für Entscheidungen. Viel zu wenig natürlich. Denn wie Tatsache 1 mit Tatsache 2, 3 und 4 in Zusammenhang steht, und welche unabsehbaren Folgen sich aus einem Zusammenspiel aller vier Tatsachen in Hinsicht auf meinen Gesundheits-, Seelen- und Geisteszustand ergeben werden, darüber würde ich gerne die nächsten zwei Jahre nachdenken.

2. KAPITEL

Die Frau, nicht mehr ganz jung, nicht wirklich alt, Mitte dreißig vielleicht, zerzaustes Haar, sitzt schon seit zwei Stunden zusammengekauert an einem Ecktisch und starrt vor sich hin. Das einzige Lebenszeichen sind die gespitzten Lippen, wenn sie am Strohhalm zieht. Das tut sie geradezu beängstigend schnell.

»Noch einen ›Cuba Libre‹ für die Tante da drüben«, zischt mir Felix zu und beugt sich so weit wie möglich über die breite, dunkelbraune Theke. »Aber mach ein bisschen weniger Rum rein, sonst müssen wir die mit dem Krankenwagen abholen lassen.«

»Sieht nach Liebeskummer aus.« Ich greife nach einem frischen Glas. Ich kippe wenig Rum und dafür viel Cola zusammen, rühre um und freue mich, dass ich inzwischen die meisten Cocktailrezepte auswendig weiß.

Seit drei Monaten stehe ich zwei- oder dreimal die Woche abends hinter der Theke des Paddy’s und versuche echtes Irish-Pub-Feeling aufkommen zu lassen. Am Anfang war ich etwas schockiert von den vielen Dartscheiben, Tiffany-Lämpchen, Entfernungswegweisern, Bilderrahmen und Whiskeyflaschen, die ich nie würde unterscheiden können. Aber Patrick und Angela, das Wirtspaar, hängen eben an ihrer alten Heimat – wobei es nur Patricks Heimat ist, Angela ist ein waschechter Schwob. Für die Whiskeys ist Patrick zuständig, Angela steht in der Küche. Die Cocktailkarte ist glücklicherweise überschaubar und das Publikum so, dass es meine bescheiden-soliden Mixgetränke nicht unbedingt mit denen der Cocktailbar im Steigenberger oder dem ›Perkins Park‹ vergleichen wird.

Sonntagabendmäßig ist wenig los, nur ein paar Jungs, die wie angehende Basketballstars aussehen, machen sich ohne Hemmungen über das Allyou-can-eat-Toast-Buffet her, als gäbe es kein Morgen. Sie trinken zum Glück nur Bier.

Beinahe erschrecke ich, als sich die Tür mit dem typischen Quietschen öffnet. Eine schlanke Männersilhouette, dunkelblondes, ordentlich kurz geschnittenes Haar erkenne ich, und dann fällt der Blick aus azurblauen Augen direkt auf mich. Ich zucke kurz zusammen. Hoffentlich hat er es nicht gemerkt.

»Hey, Patrick«, begrüße ich ihn im besten Kumpelinnen-Ton. »Schaust du gar nicht ›CSI‹ heute Abend?«

Er lässt sich auf einen der leeren Barhocker fallen, beugt sich über die Theke, und ich kann meinen Kopf gerade noch so drehen, dass sein Begrüßungsküsschen auf meiner Wange landet. Fast schon am Haaransatz. Uff.

Felix holt den ›Cuba Libre‹ und begrüßt Patrick mit einem Highfive. »Was geht, Kumpel?«, fragt er rein rhetorisch und enteilt mit dem Glas.

»Schön, dich zu sehen«, lüge ich und grinse. »Ein Bier?«

»Mix mir lieber was Schönes, Nathi«, antwortet er, und sein Blick fällt in den Ausschnitt meines flachsblauen T-Shirts. Wieso verstehe ich ›mix‹ beinahe falsch?

»Einen Gin Tonic?«, schlage ich vor, aber er schüttelt den Kopf. Soll ich jetzt die ganze Getränkekarte durchraten, um zu erfahren, was er haben will?

»Entscheide du«, sagt er, und ich würde Felix am liebsten als Rausschmeißer engagieren.

»Nein.« Ich lächle steif. »Du weißt doch …«

Er versucht meine Hand zu schnappen und seufzt theatralisch. »Okay, ein … Was ist kompliziert zu mixen?«

Ich greife nach einem Glas, fülle es mit Mineralwasser und stelle es vor ihn hin. »Geht aufs Haus.« Ich bin froh, dass Felix noch eine Runde Bier für die Basketballer bestellt.

»Ich wollte nur mal hören wegen Freitag.« Patrick klingt gekünstelt unbeschwert.

Schon klar, er wohnt ja auch gleich um die Ecke – jedenfalls dann, wenn eine Ecke auch mal zwölf Kilometer lang sein kann.

»Freitag?«, echoe ich.

»Ja – magst du lieber mit in den neuen Matthias-Schöfer-Film oder sollen wir ›Endstation Sehnsucht‹ im Theater anschauen?«

Ich kratze mich an der Nase wie Wicki. Als müsste ich ganz scharf nachdenken und bräuchte eine prickelnde Idee, die mich aus Lebensgefahr rettet.

Patricks blaue Augen funkeln und strahlen. Er hat wirklich schöne Augen. Er klimpert mit den Wimpern wie eine Fünfzehnjährige. Nur der exakt gestutzte Vollbart irritiert.

»Ach«, ich schlage mir vor die Stirn. »Das ist jetzt blöd. Susanne hat mich dazu verdonnert, am Freitag bei ›Meßmann’s Talk‹ ein Videointerview mit Elias Zeruk für die Homepage zu machen. Ich kann das auf keinen Fall absagen. Denn du weißt natürlich, was das heißt?«

Er schüttelt den Kopf, während ihm die Enttäuschung aus seinen blauen Himmelsaugen tropft.

»Nicht? Na, das heißt …« Ich mache eine mehr oder minder effektvolle Pause. »Das heißt … Der Sender beschäftigt mich weiter. Susanne hat mir noch nichts Offizielles gesagt, aber da am Mittwoch mein Vertrag ausläuft, ist es ja ganz logisch.« Ich presse grinsend die Lippen zusammen und ziehe die Augenbrauen hoch. Bestimmt sehe ich aus wie Doof von ›Dick und Doof‹.

»Na dann hoffen wir mal, dass deine ach so tolle Susanne nicht vergessen hat, dass dein Vertrag am Mittwoch ausläuft«, macht mir Patrick Mut.

Okay, die Rache für meine Abfuhr. Aber muss er es so knallhart sagen? Ich drehe ihm den Rücken zu und angle nach einem Tablett für die Biere. Depp! Kann er sich nicht mal mit mir freuen?

»Na, es wird schon sein, wie du sagst«, versucht er einzulenken. »Tja, schade, dass das nichts wird mit Freitag.«

»Ein andermal gerne«, entschlüpft es meinen Lippen, ohne dass die Worte die Hirn-Kontroll-Schranke passiert haben. Warum mache ich ihm immer wieder Hoffnungen, wenn ich doch eigentlich gar nichts mehr von ihm will? Nur wegen dieser verdammt schönen blauen Augen? Mit denen er sonntagabends gerne ›CSI‹ schaut, in Zeitschriften wie dem ›GQ‹ und dem ›Developer‹ liest. Oder sich weibische Filme wie den mit Matthias Schöfer reinzieht. Ist es einfach aus alter Vertrautheit? Und weil ich niemanden enttäuschen mag … Ach, verdammt!

»Na ja«, plappere ich unaufgefordert. »Vielleicht können wir uns nach der Sendung noch treffen.«

Oje! Warum … warum hab ich das nur gesagt?!?!?!?

Seine Augen strahlen wie ein Sonnenaufgang in der Karibik. »Supi! Wann bist du fertig?«

Sag um eins. Nachts. Oder besser halb zwei. Zwei.

»Halb elf, würde ich mal schätzen. Kann auch etwas später werden. Ich weiß nicht, ist vielleicht nicht so eine gute Idee, wo du doch zurzeit so viel für die Prüfung lernen musst.«

Sein Lächeln verschwindet, und er kippt den letzten Schluck Mineralwasser runter. »Für mich ist am Mittwoch auch ein wichtiger Tag.«

Ich bin nicht seine verdammte Verlobte! Ich muss mir seine verdammten wichtigen Tage nicht merken. Herrje …

»Oh, ist da die Prüfung? Sorry, dass ich da nicht dran gedacht habe«, sülze ich.

»Schon okay.« Er wirft einen betont verstohlenen Blick auf seine i-Watch. »Ach, halb zehn schon. Ich pack’s jetzt mal. Wir können ja wegen Freitag noch telefonieren. Sonst vielleicht am Samstag?« Wieder versucht er’s mit einem Küsschen.

Ich zucke mit den Schultern. »Schaumermal«, sage ich. »Viel Glück am Mittwoch!«

Ich sehe ihm nach, wie er durch die Tür verschwindet. Die breiten Schultern leicht gebeugt, als trage er eine schwere Last. Als ich damals meine Ausbildung bestanden hatte, da waren wir ungefähr zwei Jahre zusammen. Er hatte mich nach der Zeugnisübergabe abgeholt, ins Auto verfrachtet und war losgefahren. Ohne mir zu sagen, wohin. Er gab mir eine Apfelschorle zu trinken, von der ich ziemlich schnell einschlief. Als ich nach etwa fünf Stunden wieder aufwachte, fuhren wir über eine endlos lange Brücke, rechts und links Wasser, kleine Boote und vor uns die Silhouette von Venedig. Wir übernachteten in einem winzigen, beinahe baufälligen Hotel voller abblätterndem Stuck und zerschlissenen Polstersesseln, aßen in versteckten Restaurants Spaghetti aglio olio und tranken den günstigsten Hauswein. Es reichte nicht für einen Cappuccino auf dem Markusplatz, geschweige denn für eine Gondelfahrt. Und dennoch waren es drei romantische Tage, an denen wir nichts planten, einfach nur dorthin liefen, wo es hübsch aussah oder verführerisch roch, wo Musik die Luft versüßte und wir die einzigen Touristen waren. Damals habe ich Patrick aufrichtig geliebt – nicht weil er mir diese kleine Reise geschenkt hatte, sondern weil er sich erlaubte, für wenige Tage der Mann zu sein, der er hätte sein können, wenn nicht all die Pflichterfüllung, der Fleiß, der Ehrgeiz und die Zielstrebigkeit ihren Tribut forderten. So spontan war er später leider nie mehr. Vielleicht war ich so lange mit ihm zusammen, weil ich gedacht hatte, ich könnte diesen wunderbaren Venedigbummler in ihm wieder zum Leben erwecken. Was mir jedoch nicht gelang.

Ich unterdrücke nur mit Mühe ein Gähnen. Nein, so langweilig sind diese Erinnerungen nicht. Wirklich nicht. Aber immerhin bin ich ja heute schon mitten in der Nacht aufgestanden.

Als ich dann endlich im Bett liege, ist an Schlaf nicht zu denken. Die Zimmerdecke rutscht mit jedem Atemzug ein bisschen näher, wie ein Sargdeckel, den ich davon abhalten muss, zuzuschlagen. Mein ganzer Körper kribbelt, ich bin so unruhig, als hätte ich vor dem Schlafengehen zwei Liter RedBull getrunken. Ich weiß nicht warum. Ich habe keine Ahnung. Ich sollte mein Leben doch genießen. Es ist Frühling. Ich habe einen Job. (Vermutlich. Hoffentlich.) Ein netter Mann hat Interesse an mir, dessen Macken ich schon alle kenne, wie praktisch. Und der meine kennt und mich offensichtlich trotzdem immer noch liebt. Ich müsste nur wieder endgültig Ja zu ihm sagen. Ist doch ganz einfach. J. A. Ja. Oui. Yes. Wie viel entschiedener klingt ›yes‹!

Als ich nach Amerika ging, war ich bereit, mein Dasein als Single zu fristen. Ich war überzeugt, dass mir das nichts anhaben würde, dass es eine Befreiung wäre. Doch ziemlich bald kam Joeva, und ich musste das Alleinleben nicht ausprobieren. Als ich aus Amerika zurückkehrte, war ich entschlossen, jetzt endlich ernst mit dem Singledasein zu machen. Und es dauerte keine vier Wochen, bis ich anfing, es zu hassen. Vielleicht bin ich einfach nicht konsequent genug. Statt den Kontakt zu Joeva ganz abzubrechen, trauere ich ihm hinterher und skype immer noch mit ihm.

Statt Patrick keine Hoffnungen zu machen, lasse ich mich – gelegentlich! Ich schwöre! – von ihm trösten. Und auch nur, damit dieses Zwei-Liter-RedBull-Gefühl nicht irgendwann die Oberhand gewinnt.

Am nächsten Morgen grübel ich … Ich sollte einfach hingehen und sie fragen. Ja. Doch. Das sollte ich. Aber nein … stattdessen verstecke ich mich hinter meinem Monitor.

»Hast du Susanne heute schon gesehen?«, frage ich meinen Kollegen Max am Schreibtisch gegenüber. Er kichert gerade, wie meistens, über irgendwelche Clips. Wenn man wissen will, warum, zischt er nur »Nix, nix!« und kichert weiter.

»Nö«, sagt er jetzt zur Abwechslung und stößt die nächsten Gluckslaute hervor. Wie üblich schiebt er noch ein ›geil‹ hinterher.

»Hat sie ’nen Termin außer Haus?«, bohre ich weiter.

»Nö. Geil.«

»Was denn?« Ich klinge meckriger, als ich es meine. Manchmal kommt es mir vor, als seien wir so ein altes Ehepaar, dass nach dreiundvierzig Jahren Stellungskrieg sämtliche Nervenstränge eingebüßt hat.

»Du musst dir hier mal dieses Video anschauen«, murmelt Max erstaunlich friedlich. »Das wäre echt was für das FMOTW.«

Ich verstehe nicht, wie irgendjemand auf die Idee kommen kann, »FMOTW« sei besser auszusprechen als »Funniest-movie-of-the-week«. Aber Max ist nun mal der große Rationalisierer in unserer Abteilung, und eingesparte Buchstaben entlasten unser kleines Budget sicher super.

»Ich mach schnell noch den BSOTW fertig«, sage ich immer noch leicht gereizt.

»Den was?«

»Den Best-Song-of-the-week.«

Das Video, das Max mir kurz darauf auf seinem Computer zeigt, ist echt krass. Zum Teil von oben aufgenommen, zum Teil mit einer GoPro an der Brust, sieht man einen Typ auf dem Motorrad. Er macht verschiedene Stunts und hat seine Clips so zusammengeschnitten, als würde es eine kleine Story erzählen, wie ein Kurzfilm.

»Wow!« Ich kämpfe meinen Lachanfall nieder. »Rattenscharf!« Außerdem hat mich der Clip drei Minuten von meiner Anspannung abgelenkt.

»Der Kerl kommt sogar aus Ludwigsburg, und wir lieben doch alles, was aus der Region kommt«, erklärt Max. »Hier … Ricardo … Äh, Ricardo di Dio heißt er. Schon mal gehört?«

»Nö. Hat’s Susanne schon gesehen?« Ich setze mich wieder an meinen Platz.

»Die findet das bestimmt geil …«

»Guten Morgen, was finde ich geil?«, schallt Susi’s liebliche Stimme durch den Raum. Mein Herz schlägt sofort drei Beats schneller. Gleich wird sie mich in ihr Büro bitten. Gleich wird sie mir sagen, wie es mit mir weitergeht …

»Na, sagt’s mir später. Ich bin nur ganz kurz da, ich hab gleich einen Termin in der Personalabteilung. Bei diesem Dr. Jost. Drückt mir die Daumen, dass er gut gelaunt ist.« Sie seufzt und zieht ihren – als ob Ostern sei – eidottergelben Minirock um kaum vier Millimeter nach unten. Der Zwickel der beerenfarbenen Strumpfhose ist nur mit viel gutem Willen nicht zu sehen.

»Wird schon«, macht ihr Max Mut, während ich eine Hand mit zwischen den Fingern brutal gequetschtem Daumen erhebe. Warum macht sie es so spannend? Ein kurzes »Du, im Laufe des Tages kommt dein neuer Vertrag, und wir zahlen dir das Fünffache wie bisher« würde mir doch vollkommen genügen.

Sie ist schon fast draußen, da dreht sie sich noch mal um. »Ach, Nathi, bist du nachher noch da? Dann müssen wir mal reden, ja?« Und ab.

›Bist du nachher noch da?‹– Was soll das denn heißen? Dass ich morgen nicht mehr da bin? Oder dass ich gleich heute Mittag gehen kann? Wegen Unfähigkeit Vertrag nicht verlängert. Ich gebe zu, mein After-Filmpreis-Clip hatte nicht gerade berauschende Klickzahlen, aber sie muss doch sehen, dass ich mir hier ein Bein ausreiße für die Homepage. Und wenn sie unbedingt will, reiße ich mir das zweite auch noch aus. Vielleicht sollte ich das tun, und dann muss sie mich weiterbeschäftigen, weil dadurch endlich die Behindertenquote des Senders erfüllt wird.

»Is’ was?«, fragt Max.

Allein an der Frage kann ich ablesen, dass ich einem megamiesen Gesichtsausdruck machen muss, wenn es sogar dem Herrn Kollegen auffällt.

»Mmmhhh.« Ich wende mich meinem Monitor zu, auf dem leider keine E-Mail mit dem Betreff „Vertragsverlängerung“ zu entdecken ist.

»Also, ich find das cool, das Video«, fängt Max wieder an.

»Ja, super«, antworte ich schlapp. »Aber sorry, ich muss mich jetzt auf die Songsuche zu diesem doofen Best-Song-of-the-Week konzentrieren.«

Natürlich kann sich keine Faser meines Körpers darauf konzentrieren. Ich werde überschwemmt von Gedanken, die ich überhaupt nicht haben will. Wenn ich keinen Vertrag kriege, was mache ich dann? Ende ich als Thekenschlampe im Paddy’s? Krieche ich zu meinem Ex zurück, lass mir Zwillinge machen und werde Hausfrau? Ziehe ich – o Gott! – wieder bei meiner Mutter ein? Ich könnte mich als Kindermädchen bei meiner Schwester anstellen lassen. Als Swimmingpoolpflegerin bei meinem Vater auf Mallorca. Da wäre wenigstens das Wetter schön. Langsam habe ich den Eindruck, dass ich statt Fremdsprachen das Hartz-IV-Regelwerk hätte studieren sollen.

Wenn hier doch nur jemand wäre, mit dem ich reden könnte. Max, der ›Alles-easy‹-Prototyp, kommt dafür nicht infrage. Joeva würde sowieso nur sagen, ich solle nach St. Thomas zurückkommen, was definitiv nicht geht, weil …

Patrick schwitzt in seiner Prüfung (ein kurzer Daumendruck muss angesichts meiner existenziell bedrohten Situation genügen). Danielle hängt zu Hause wie immer am Computer und chattet oder telefoniert sich das Ohr blutig, und Susanne … ja, Susi … Die ist der Kern des Problems und auch nicht greifbar. Mein Magen fühlt sich an, wie vom Müllschredder zusammengequetscht, und mir wird schon vom Anblick meines halbleeren Kaffeebechers schlecht. Warum habe ich Susanne nicht schon vor Tagen, Wochen gefragt, wie es weitergeht?

Mein Blick fällt auf die Uhr. Kurz vor elf schon. Kacke. Wenn ich diese beknackte Songauswahl nicht in einer Viertelstunde fertig habe, liefere ich Susi gleich noch einen Grund, meinen Vertrag nicht zu verlängern.

So tauche ich ein in die wunderbar heile Welt von Katy Perry und Rihanna, wo solche Problemchen überhaupt nicht existieren. Einmal, ein einziges Mal nur, möchte ich es auch so schön haben.

Um elf Uhr siebenundfünfzig höre ich im Flur das markante Klappern von Susi’s Peeptoes, und meine Finger werden augenblicklich schweißnass. In meinen Ohren ertönt eine akustische Halluzination mit der Wortfolge »Fräulein Müller, räumen Sie Ihren Schreibtisch«. Aber ich muss mich getäuscht haben. Im Türrahmen erscheint Susi’s sonnigstes Gesicht, und sie sagt … Sie sagt …: »Gehen wir gleich in die Kantine? Ich hab tierischen Hunger!«

»Bin dabei«, sagt Max und greift nach seiner Jacke. Dabei hat er vor einer halben Stunde erst eine Käsebrezel in sich reingestopft. Was man durchaus sieht.

»Nathalie, was ist mit dir?«

Ich nicke beiläufig. Versinke total. In meine Arbeit. Ohne die der Laden hier zusammenbrechen würde. Garantiert!

»Komm schon«, macht mir Susanne Beine.

Ein Kantinenbesuch ist für mich so aufregend wie für andere Leute ein Tauchgang mit Haien. Oder Bungee-Jumping vom Mount Everest. Oft versuche ich, so spät wie möglich essen zu gehen, damit manche Gerichte einfach schon ausverkauft sind und ich gar nicht wählen kann. Das Blöde ist nur, dass ich dann riesigen Hunger habe und es fast nichts mehr gibt, was ich mag. Bei meinen Geschmacksinteressen scheine ich mit dem allergrößten Teil meiner Kollegen konform zu gehen. Und ich bekenne: Ich esse gern. Auch Fleisch. Und es muss nicht mal bio sein. Mein Credo: Ich esse, worauf ich Appetit habe. Und mittags habe ich immer großen Appetit – auf alles. Das ist das Problem. Seelachsfilet mit Remouladensauce und Kartoffelgratin? Super! Hähnchengeschnetzeltes chinesische Art? Lecker! Provenzalisches Ratatouille und Rinderschmorbraten? Köstlich! Könnte ich nicht vielleicht alles durchprobieren, bevor ich entscheide? Wobei, das würde nichts bringen. Wenn alles schmeckt – was nehme ich dann?

Heute, ausnahmsweise, generiere ich keine Schlange hungriger Wartender hinter mir. Heute nehme ich mir eine belegtes Brötchen und ein Glas Wasser. Mehr bekomme ich auf keinen Fall runter. Viel zu nervös.

Als wir endlich an unserem Stammplatz sitzen