Cover

Über dieses Buch:

England zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ein scheuer Blick, ein herzliches Lachen – und schon ist es geschehen: Jessica verliebt sich Hals über Kopf in den geheimnisvollen Jake Cadorson. Natürlich kann es keine Zukunft geben für das Mädchen, das auf dem wunderschönen Landsitz Eversleigh aufgewachsen ist, und den Jungen, der mit Zigeunern durch das Land zieht. Und doch sind die Schicksale der beiden von diesem Moment an miteinander verbunden. Als Jakes Heldenmut ihn in tödliche Gefahr bringt, kann Jessica ihn vor dem Galgen retten – und muss dennoch hilflos mit ansehen, wie er zur Zwangsarbeit in Australien verurteilt wird. Es gibt keine Hoffnung, ihn wiederzusehen … aber wird ein anderer Mann jemals ihr Herz heilen können?

Von großen Gefühlen, den luxuriösen Bällen der feinen britischen Gesellschaft und der stets drohenden Gefahr der napoleonischen Kriege: ein Roman aus der international erfolgreichen Saga »Die Töchter Englands« von Bestsellerautorin Philippa Carr!

Über die Autorin:

Philippa Carr ist – wie auch Jean Plaidy und Victoria Holt – ein Pseudonym der britischen Autorin Eleanor Alice Burford (1906–1993). Schon in ihrer Jugend begann sie, sich für Geschichte zu begeistern: »Ich besuchte Hampton Court Palace mit seiner beeindruckenden Atmosphäre, ging durch dasselbe Tor wie Anne Boleyn und sah die Räume, durch die Katherine Howard gelaufen war. Das hat mich inspiriert, damit begann für mich alles.« 1941 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem in den nächsten 50 Jahren zahlreiche folgten, die sich schon zu ihren Lebzeiten über 90 Millionen Mal verkauften. 1989 wurde Eleanor Alice Burford mit dem »Golden Treasure Award« der Romance Writers of America ausgezeichnet.

Eine Übersicht über den Romanzyklus »Die Töchter Englands« finden Sie am Ende dieses eBooks.

***

eBook-Neuausgabe Mai 2017

Copyright © der Originalausgabe 1985 by Philippa Carr

Die Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel »The Return of the Gypsy«.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1988 Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/conrado und Lukasz Pajor

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-022-7

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Sie werden in diesem Roman möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen begegnen, die wir heute als unzeitgemäß und diskriminierend empfinden, unter anderem dem Begriff »Zigeuner«.
»Zigeuner« ist die direkte Übersetzung des im englischen Originaltext verwendeten Begriffs »Gypsy«, und es ist nicht möglich, dieses Wort in Titel und Text durch die heute gebräuchlichen Eigenbezeichnungen »Sinti und/oder Roma« zu ersetzen, weil sie inhaltlich nicht passen würden. Zur Handlungszeit im frühen 19. Jahrhundert war »Zigeuner« die gängige Fremdbezeichnung für die Sinti und Roma, wobei dieser Begriff seit dem 18. Jahrhundert vielerorts mit einem zunehmenden stigmatisierenden Rassismus verbunden war. Die Sinti und Roma lehnen die Bezeichnung »Zigeuner« daher heute zu Recht ab.
Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt und von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Philippa Carr hat keinen Roman im Sinne der völkisch rassifizierten Nazi-Nomenklatur geschrieben, sondern verwendet Begrifflichkeiten so, wie sie aus ihrer Sicht zu der Zeit, in der ihr Roman spielt, verwendet wurden; Klischees werden hier bewusst als Stilmittel verwendet. Keinesfalls geht es in diesem fiktionalen Text aber um rassistische Zuschreibungen oder die Verdichtung eines aggressiven Feindbildes.
Es ist dotbooks wichtig, zu betonen, dass wir uns gegen die Verwendung des Begriffes »Zigeuner« im aktuellen Sprachgebrauch und gegen Diskriminierung jedweder Art aussprechen.

***

Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Der Zigeuner und das Mädchen« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Philippa Carr

Der Zigeuner und das Mädchen

Roman

Aus dem Englischen von Hilde Linnert

dotbooks.

Kapitel 1
Romany Jake

Kaum ein Mensch, der den Sommer und Frühherbst des Jahres 1805 erlebt hat, wird ihn jemals vergessen. Im ganzen Land herrschte Angst vor dem Unheil, das im Schoß der Zukunft verborgen lag; doch stärker als alle Angst war die Entschlossenheit, dem Schrecklichen zu begegnen. Die ganze Nation rüstete sich gegen die Invasion durch den fürchterlichsten Feind, dem sich die Völker Europas seit den Tagen Attilas, des Hunnen, gegenübersahen. Der korsische Abenteurer Napoleon Bonaparte hatte der Welt gezeigt, daß seine Eroberungslust vor nichts haltmachte. Nachdem er den größten Teil Europas unterworfen hatte, wandte er sich jetzt unserer Insel zu.

Jedermann sprach von ihm; noch das kleinste Gerücht über ihn wurde weiterverbreitet und aufgebauscht; man nannte ihn allgemein nur ›Boney‹, denn es gibt kein besseres Mittel gegen die Angst als die Verachtung – selbst wenn sie nur gespielt ist. Man nannte ihn auch verächtlich ›den kleinen Korporal‹; und die ärgste Drohung einer Mutter einem ungehorsamen Kind gegenüber war: ›Wenn du nicht brav bist, wird Boney dich holen‹ – als wäre Boney der Teufel persönlich. Boney war der ›schwarze Mann‹, und es wird zu dieser Zeit wohl kaum jemanden in England gegeben haben, der nicht voll böser Ahnungen damit rechnete, daß Boney den Kanal überqueren würde.

Im gesamten Land formierten sich Bürgerwehren; Waffen wurden zusammengetragen und in geheimen Depots versteckt. Wir betrachteten das Meer, das unsere Küste umspülte, und segneten es, ganz gleich, ob es sich ruhig und blau vor uns erstreckte oder wütend tobte. Es war unser großer Verbündeter, denn es trennte uns von der Landmasse, über die Napoleons Bataillone marschierten und wo ihm offenbar jemand Einhalt gebieten konnte.

Angesichts dieser drohenden Gefahr wurden selbst Feinde zu Verbündeten. Wir bildeten eine einzige große Familie, die entschlossen war, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen. Wir waren kein kleiner europäischer Staat, den man ohne weiteres überrennen konnte. Bis jetzt hatten wir die Meere beherrscht, und wir hatten nicht vor, unsere Rolle als erste Seemacht aufzugeben. Wir hofften, daß wir auf unserer kleinen Insel unangreifbar waren und deshalb unsere Freiheit bewahren würden.

In unserer Familie gab es kaum ein anderes Gesprächsthema, und bei den Mahlzeiten hörten wir unserem Vater zu, der seine Ansichten zur allgemeinen Lage zum besten gab. Mein Vater war das unangefochtene Familienoberhaupt. Er war der Patriarch, der Herr im Haus. Es gab nur zwei Familienmitglieder, die ihn mild stimmen und beeinflussen konnten: meine Mutter und ich.

Er war zu dieser Zeit bereits alt – sechzig –, meine Mutter war seine zweite Frau. Obwohl sie einander in ihrer Jugendzeit geliebt hatten, war jeder von ihnen zuerst mit einem anderen Partner verheiratet gewesen. Meine Mutter hatte aus erster Ehe bereits einen erwachsenen Sohn und eine erwachsene Tochter; ich war die Frucht der solange verzögerten zweiten Verbindung.

Infolge dieser späten Heirat hatten sich in unserer Familie wirklich komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse ergeben. Zum Beispiel war meine Freundin und Spielgefährtin Amaryllis, die mit mir gemeinsam aufgewachsen und nur einen Monat jünger war als ich, eigentlich meine Nichte: ihre Mutter Claudine war nämlich die Tochter meiner Mutter aus ihrer ersten Ehe.

Ich leitete daraus eine gewisse Vorrangstellung Amaryllis gegenüber ab – ich war nicht nur um einen Monat älter als sie, sondern auch ihre Tante.

Manchmal sprach ich sie sogar mit ›Nichte‹ an, bis unsere Gouvernante, Miss Rennie, mir befahl, diesen Unsinn zu lassen.

»Es ist doch eine Tatsache«, widersprach ich.

»Das ist kein Grund, es so hervorzukehren«, erwiderte Miss Renne jedesmal. »Ihr seid beide kleine Mädchen, und ein Monat Altersunterschied ist vollkommen bedeutungslos.«

Ich war kein so liebes kleines Mädchen wie Amaryllis. Sie war blond und sah aus wie einer der kleinen Engel auf den bunten Bildern in unserer Familienbibel. Manchmal wunderte ich mich, daß sie keinen Heiligenschein hatte. Sie war hübsch und zart, hatte blaue Augen und lange blonde Wimpern, ihr Gesichtchen war herzförmig, und ihre Haare waren gelockt.

Sie war sehr freundlich und liebte Tiere; ihre Mutter Claudine, die meine Halbschwester war, betete sie an, ebenso David, ihr Vater, der der Sohn meines Vaters war. Ganz gleich, wie man es betrachtete – unsere Verwandtschaftsverhältnisse waren in der Tat überaus verworren. Doch wir waren eine Familie, die zusammenhielt, und am engsten hielten Amaryllis und ich zusammen.

Wir wurden gemeinsam unterrichtet; wir bekamen am gleichen Tag Portes; wir lernten gemeinsam beim gleichen Reitlehrer reiten; wir hatten die gleiche Gouvernante; wir waren wie Schwestern. Doch obwohl wir verwandt und beinahe ständig zusammen waren, unterschieden wir uns in Aussehen und Temperament grundlegend.

Ich war sehr dunkel, hatte beinahe schwarzes Haar, dunkelbraune Augen, dichte, dunkle Augenbrauen und Wimpern. In unserer Familie gab es sowohl Frauen mit sehr dunklen wie auch solche mit sehr hellen Haaren, wovon man sich in unserer Ahnengalerie überzeugen konnte. Einige der dunkelhaarigen Frauen hatten blaue Augen, was einen sehr reizvollen Gegensatz bildete. Zu ihnen gehörten meine Vorfahrin Carlotta und meine Mutter. Sie waren die außergewöhnlichen Frauen, die die Fesseln der Konvention sprengten, wenn sie Lust dazu hatten. Auch ich gehörte zu ihnen. Dann gab es die sanften Frauen mit den freundlichen, guten Gesichtern. Sie standen in deutlichem Gegensatz zu den dunklen Mitgliedern der Familie.

Amaryllis und ich paßten genau in dieses Schema. Wir wurden liebevoll umsorgt. Vermutlich hätten die meisten Eltern eine Tochter wie Amaryllis vorgezogen, doch meine Eltern liebten mich so, wie ich war. Sie wußten, daß ein kleiner Rebell in mir steckte und daß meine Reaktionen nicht immer vorhersehbar waren. Wahrscheinlich war auch meine Mutter in ihrer Jugend so gewesen, Mein Vater wiederum war ein kühner, rasch entschlossener Mann, deshalb war ihm eine Tochter lieber, die ihm nachgeriet.

Daß Amaryllis und ich gute Freundinnen waren, verdankten wir größtenteils ihrem selbstlosen, nachsichtigen Wesen. Wenn ich nach dem Lieblingsspielzeug griff oder das Schaukelpferd übermäßig lang für mich in Anspruch nahm, gab sie einfach nach. Das bedeutete nicht, daß sie keinen Kampfgeist besaß. Sie konnte sich für eine gute Sache vorbehaltlos einsetzen. Vielleicht war sie über ihr Alter hinaus klug und sah ein, daß es keinen Sinn hatte, um etwas zu kämpfen, das die Mühe nicht lohnte; vielleicht hatte sie auch erkannt, daß ein Gegenstand, den ich an mich riß, bereits seinen Wert verloren hatte, weil sie ihn nicht so verzweifelt besitzen wollte, wie ich.

Wie immer, Amaryllis war Amaryllis, und ich war Jessica, und es hat wohl nie zwischen zwei Kindern, die im selben Haus aufwuchsen, einen größeren Gegensatz gegeben.

Meine Eltern, besonders mein Vater Dickon, entsprachen ebenfalls nicht konventionellen Vorstellungen. In unserem Haushalt traf er die Entscheidungen, und sein Wort war Gesetz.

Als wir etwa acht Jahre alt waren, fand mein Vater, daß wir zu groß waren, um mit Miss Rennie im Kinderzimmer zu essen; von nun an nahmen wir die Mahlzeiten gemeinsam mit unseren Eltern ein.

»Ich liebe es, wenn die Familie beisammen ist«, erklärte mein Vater.

Beide Elternpaare waren sehr verständnisvoll. Sie ermutigten uns Kinder zum Reden und hörten uns immer aufmerksam zu. Ich sprach gern, und mein Vater ermunterte mich dazu. Dann lehnte er sich zurück, beobachtete mich, und um seinen Mund zuckte es manchmal verräterisch, als unterdrücke er ein Lachen. Er debattierte mit mir, stellte mir Fallen, und ich stürzte mich immer Hals über Kopf in die Diskussion. Ich äußerte meine Ansichten vollkommen unbefangen, denn je mehr ich meinem Vater widersprach, desto zufriedener war er.

Meine Mutter hörte hingerissen zu, ohne die Augen von uns zu lassen.

Das gleiche galt für Amaryllis; ihre Eltern waren genauso stolz auf sie wie die meinen auf mich. Ich stellte mir vor, wie die Ehepaare in ihren Schlafzimmern miteinander sprachen, und hörte förmlich meinen Vater: »Amaryllis hat nicht den Kampfgeist unserer Jessica. Ich bin froh, daß wir eine solche Tochter haben.«

Und im anderen Schlafzimmer: »Wie verschieden die beiden doch sind. Ich bin froh, daß Amaryllis nicht so vorlaut ist. Jessica ist manchmal richtig vorlaut.«

Wir waren beide der Liebe unserer Eltern sicher – und das ist das wichtigste für ein Kind.

Der Gedanke, daß eine fremde Macht unser Familienleben stören könnte, beunruhigte uns. Wie allen Engländern war auch meinen Eltern die Bedrohung deutlich bewußt. Überall erwachte der Patriotismus. Erst wenn die Menschen fürchten müssen, daß sie einen Besitz verlieren, wird ihnen klar, wie kostbar er ist.

So sah es in jenen denkwürdigen Tagen des Jahres 1805 bei uns aus.

Ein großes Herrenhaus, in dem eine weit verzweigte Familie lebt, hat etwas Beruhigendes an sich. Eversleigh befand sich seit Generationen im Besitz unserer Familie. Es beeindruckte mich tief, daß das Haus lange vor uns erbaut worden war und auch noch stehen würde, wenn wir alle schon zu Staub zerfallen wären.

Es war auch beruhigend, daß die gesamte Familie hier vereint war, also meine und Amaryllis' Eltern. Davids Zwillingsbruder Jonathan war schon vor langer Zeit gestorben, und seine Frau Millicent war mit ihrem Sohn Jonathan zu ihren Eltern zurückgekehrt, die in einigen Meilen Entfernung von uns lebten. Eigentlich hätten sie in Eversleigh bleiben sollen, denn Jonathan war der Erbe des Besitzes. Die nächste in der Erbfolge war ich, und nach mir kam Amaryllis. Es ärgerte mich ein wenig, daß Jonathan nur deshalb vor mir rangierte, weil er ein Junge war – ich war nämlich älter als er. Millicent hatte jedoch darauf bestanden, nach Pettigrew Hall zu ihren Eltern zurückzukehren; aber sie kam oft zu Besuch nach Eversleigh. Ich liebte das Haus, weil es so alt war, und ich dachte oft an die Familienmitglieder, die hier gelebt hatten. Ich hatte soviel über sie gelesen, daß ich das Gefühl hatte, sie zu kennen –alle Generationen seit der Zeit der großen Elizabeth, als Eversleigh erbaut worden war. Der E-förmige Grundriß ermöglichte die Datierung einwandfrei. Ich liebte die alte Halle, von der aus sich die beiden Flügel erstreckten. Geliebtes altes Eversleigh.

Die Umgebung war überaus reizvoll. Vor allem war das Meer nicht fern. Ich liebte es, am Rand des Wassers entlangzugaloppieren und den salzigen Wind im Gesicht zu spüren. »Reiten wir um die Wette!« rief ich dann Amaryllis zu. Ich wollte mich immer mit ihr messen und unbedingt gewinnen. Amaryllis blieb jedesmal ein Stück hinter mir zurück, denn es war ihr vollkommen gleichgültig, wer schneller war. Der Sieg war unwichtig, fand sie; wichtig war das Reiten. Wie verständig Amaryllis doch war!

In der Nähe von Eversleigh gab es zwei Häuser, die mich faszinierten. Natürlich nicht so sehr die Häuser selbst, sondern ihre Bewohner.

In Enderby lebte Tante Sophie – eine bedauernswerte, tragische Gestalt. Als Marie-Antoinette in Paris den Dauphin heiratete (der später als Ludwig XVI. den Thron bestieg), hatte während der Hochzeitsfeierlichkeiten ein Feuerwerk stattgefunden, und Sophie hatte dabei schwere Verletzungen erlitten.

Tante Sophie lebte seither zurückgezogen; nur ihre treue Freundin, Gefährtin und Zofe Jeanne Fougère war bei ihr. Sie legte keinen Wert darauf, daß ich sie häufig besuchte, obwohl sie Amaryllis recht gerne bei sich sah. Es war ein unheimliches Haus, in dem sich Schreckliches abgespielt hatte. Die Diener behaupteten, daß es dort spukte, was ich gern glaubte. Selbst meine Halbschwester Claudine benahm sich merkwürdig, wenn sie Enderby einen Besuch abstattete; sie blickte sich im Zimmer um, als sähe sie etwas, das wir nicht wahrnahmen.

Ich hätte das Haus gern allein durchstreift, denn ich mochte es, wenn es mich gruselte. Das Haus hatte etwas Böses an sich. Auf Amaryllis übte Enderby nicht die gleiche Wirkung aus; wahrscheinlich spüren wirklich gute Menschen den Hauch des Unheimlichen weniger stark als jemand, der eher der Sünde zuneigt.

Doch ich wußte, daß mein Gefühl mich nicht täuschte. Ich blickte mich oft unvermittelt um und hoffte, eine unheimliche Gestalt zu erspähen, die hastig verschwand. Am liebsten hielt ich mich in der Galerie auf, weil es dort angeblich am häufigsten spukte.

Ich unterhielt mich auch gern durch ein Sprechrohr, das von einem der Schlafzimmer in die Küche führte, mit Amaryllis – sie befand sich dann in der Küche, ich im Zimmer. Claudine kam einmal dazu und bat uns, das sein zu lassen. Amaryllis gehorchte sofort, doch ich wollte auf keinen Fall darauf verzichten. Es faszinierte mich, und als ich klein war, bat ich einen der Diener, durch das Rohr mit mir zu sprechen.

Tante Sophies Leben war sehr tragisch verlaufen, Sie hatte nicht nur entstellende Narben davongetragen, sondern auch ihren Verlobten verloren. Alle diese Unglücksfälle vergaß sie nie, sondern trauerte immerzu der Vergangenheit nach. Es war ihr im Grunde gar nicht recht, wenn alles glattging, lieber war es ihr, wenn etwas schieflief. Die Gerüchte über eine mögliche Invasion schienen sie zu verjüngen. Sie war aus Frankreich, wo die Revolution gewütet hatte, geflohen und hatte ihren Schmuck gerettet, indem sie ihn in ihre Kleider einnähte. Ich hätte gern Genaueres über diese Flucht erfahren, aber man durfte vor Tante Sophie nicht darüber sprechen, und Jonathan, der Sohn meines Vaters, der ihr bei der Flucht geholfen hatte, war tot und konnte nichts mehr erzählen.

Enderby war ein Haus der Schatten, das von hohen Bäumen und dichtem Buschwerk umgeben war und unheimlich und geheimnisumwittert wirkte; es hatte etwas Mystisches, Tragisches an sich und mußte so bleiben, weil Tante Sophie es wollte.

Das zweite Haus war Grasslands, das mich kaum weniger interessierte als Enderby – und wiederum faszinierte mich nicht so sehr das Gebäude als vielmehr die Menschen, die in ihm lebten. Grasslands war ein alltägliches, kleines Herrenhaus, das freundlich, aber eher unscheinbar wirkte. Auf dem kleinen Gut gab es nur einen Pachthof, man konnte es daher vergessen. Das galt jedoch keineswegs für die Bewohner des Hauses.

Nehmen wir zum Beispiel die alte Mrs. Trent. Ich war davon überzeugt, daß sie eine Hexe war. Sie verließ kaum jemals das Haus, und es hieß, daß sie seit dem Selbstmord ihrer älteren Enkelin wunderlich geworden war. Eine schreckliche Tragödie hatte sich in Grasslands abgespielt, über die sie nie hinweggekommen war. Sie lebte nun mit ihrer zweiten Enkelin Dorothy Mather, die alle nur Dolly nannten, in dem Haus.

Dolly war ein seltsames Geschöpf. Wir trafen sie gelegentlich, wenn wir ausritten; manchmal erwiderte sie unseren Gruß, dann wieder ritt sie an uns vorbei, als wären wir Luft für sie. Sie hätte eigentlich anziehend wirken müssen; sie hatte eine gute Figur und wunderschönes blondes Haar; aber ihre Züge waren leicht entstellt. Ein Augenlid hing herab, und ihr Gesicht sah aus, als wäre es gelähmt; dadurch machte sie einen leicht unheimlichen Eindruck.

Mich fröstelte bei ihrem Anblick, und selbst wenn sie lächelte – was selten genug der Fall war –, wirkte das Lächeln infolge dieser Entstellung irgendwie spöttisch.

Claudine war immer freundlich zu ihr und ermahnte uns, ebenfalls nett zu Dolly zu sein. »Die arme Dolly«, pflegte sie zu sagen, »das Leben hat ihr grausam mitgespielt.«

Amaryllis hielt jedesmal, wenn wir Dolly trafen, ihr Pferd an und wechselte ein paar Worte mit ihr; merkwürdigerweise ging Dolly immer darauf ein. Sie sah Amaryllis auf ihre seltsame Art an, als wolle sie andeuten, daß sie etwas über Amaryllis, wußte, das sie vorläufig für sich behielt, um es vielleicht bei passender Gelegenheit preiszugeben.

Als ich Amaryllis darauf aufmerksam machte, behauptete sie, ich sähe Gespenster. Dolly suche nur eine Freundin und wisse nicht, wie sie das anstellen sollte.

Das war also unsere kleine Gemeinschaft, die jetzt von einer Invasion bedroht war.

Es war ein schöner Septembertag. Die Luft war frisch und vom Geruch des Herbstes erfüllt. Amaryllis und ich waren in Gesellschaft von Miss Rennie ausgeritten und hatten gerade den Wald erreicht. Es war schön, unter den Bäumen auf einem Teppich aus goldenen und rostroten Blättern zu reiten. Ich liebte das raschelnde Geräusch, wenn die Hufe unserer Pferde im Laub versanken.

Miss Renne war ein bißchen außer Atem. Als wir uns dem Wald näherten, hatte ich mein Pferd in Galopp fallen lassen, was sie immer aus der Fassung brachte. Sie fühlte sich auf dem Pferderücken keineswegs so sicher wie im Schulzimmer und war sehr erleichtert, wenn einer der Stallknechte uns an ihrer Stelle begleitete.

Zu jener Zeit benahm ich mich ihr gegenüber nicht sehr rücksichtsvoll und neckte sie oft; ich rächte mich auf diese Weise für den verächtlichen Tonfall, in dem sie sich manchmal über meine Leistungen im Unterricht äußerte. Beim Reiten konnte ich den Spieß umdrehen, und ich trieb oft mein Pferd zum Galopp an, weil ich wußte, daß es ihr schwerfiel, mit mir Schritt zu halten.

»Reiten wir um die Wette!« hatte ich Amaryllis zugerufen, und wir hatten unseren Pferden die Sporen gegeben. Deshalb erreichten wir den Wald vor Miss Rennie, und so kam es, daß wir auf den Zigeuner stießen.

»Glaubst du nicht, daß wir auf Miss Rennie warten sollten?« rief Amaryllis.

»Sie wird uns schon einholen«, antwortete ich.

»Ich finde trotzdem, daß es sich gehören würde.«

»Du kannst ja warten.«

»Nein, wir sollten zusammenbleiben.«

Ich ritt lachend weiter, und dann erblickte ich ihn. Er saß unter einem Baum, und weil seine Kleidung bunt zusammengewürfelt war, verschmolz er fast mit der farbenfrohen Umgebung. Er trug ein offenes orangefarbenes Hemd, eine goldene Kette um den Hals, goldene Ohrringe und eine hellbraune Hose. Sein Haar war schwarz und gelockt, seine dunklen Augen funkelten, und die blendend weißen Zähne blitzten in seinem sonnengebräunten Gesicht. Als er uns erblickte, begann er, seine Gitarre zu zupfen.

Ich hielt mein Pferd an und starrte ihn an.

»Guten Tag, Mylady«, begrüßte er mich mit wohlklingender Stimme.

»Guten Tag«, antwortete ich.

Amaryllis hatte mich inzwischen eingeholt.

Er erhob sich und verbeugte sich. »Welche Freude, nicht nur mit einer, sondern gleich mit zwei schönen Damen zu sprechen.«

»Wer sind Sie?« fragte ich.

»Ein Zigeuner. Ein Wanderer auf dieser Erde.«

»Wo kommen Sie her?«

»Von überallher.«

»Lagern Sie hier?«

Er machte eine unbestimmte Handbewegung.

»Dieser Wald gehört meinem Vater«, stellte ich klar.

»Der Vater einer so entzückenden, jungen Dame wird armen Zigeunern bestimmt nicht verwehren, auf seinem Besitz eine kurze Rast einzulegen.«

»Miss Amaryllis! Miss Jessica!« schrillte Miss Rennies Stimme ganz in der Nähe.

»Wir sind hier, Miss Renne«, antwortete Amaryllis.

Der Zigeuner beobachtete belustigt, wie Miss Rennie auf die Lichtung geritten kam.

»Da seid ihr ja! Wie oft habe ich euch ermahnt, mir nicht davonzureiten? Das ist äußerst ungehörig.« Ihr Redeschwall stockte, denn sie hatte den Mann jetzt erst erblickt und war starr vor Entsetzen. Sie nahm ihre Pflichten sehr ernst, und die Vorstellung, daß ihre Schutzbefohlenen mit einem fremden Marin gesprochen hatten, verschlug ihr die Sprache.

»Was ... was tut ihr hier?« stammelte sie.

»Nichts«, antwortete ich. »Wir sind kurz vor Ihnen hier angelangt und haben diesen Mann angetroffen.«

Er verbeugte sich vor Miss Rennie. »Jake Cadorson, zu ihren Diensten, Madam.«

»Was?« rief sie schrill

»Ich stamme aus Cornwall, Madam.« Er lächelte, als fände er die Situation sehr amüsant. »Im Cornischen bedeutet Cador Krieger. Daher heißt Cadorson soviel wie Sohn eines Kriegers. Der Einfachheit halber nennen mich meine Freunde, die Zigeuner, Romany Jake.«

»Das ist natürlich sehr interessant.« Miss Rennie hatte sich wieder gefaßt. »Wir müssen jetzt zurückreiten, sonst kommen wir zu spät zum Tee.«

Er verbeugte sich noch einmal, ließ sich wieder unter dem Baum ins Laub fallen und zupfte an den Saiten seiner Gitarre. Als sich unsere Pferde in Bewegung setzten, begann er zu singen. Ich drehte mich unwillkürlich um; er bemerkte es und warf mir eine Kußhand zu. Ich war merkwürdig erregt und ritt wie im Traum weiter. Seine kräftige, angenehme Stimme klang mir noch lange in den Ohren.

»Ich muß darauf bestehen, daß ihr bei mir bleibt, wenn wir ausreiten«, schalt Miss Rennie. »Das war eine äußerst unschickliche Begegnung. Zigeuner im Wald! Ich weiß nicht, was Mr. Frenshaw dazu sagen wird.«

»Sie erhalten immer die Erlaubnis, hier zu lagern, vorausgesetzt, daß sie mit dem Feuer vorsichtig umgehen und nach den vielen Regenfällen in der letzten Zeit besteht kaum die Gefahr eines Waldbrandes«, beschwichtigte ich sie.

»Ich werde Mr. Frenshaw berichten, was wir gesehen haben«, fuhr Miss Rennie fort. »Und ich muß dich ersuchen, Jessica, meinen Anordnungen Folge zu leisten. Ich möchte mich nicht gezwungen sehen, deinen Eltern zu berichten, daß du ungehorsam bist. Das würde ihnen sicherlich Kummer bereiten.« Ich stellte mir den Gesichtsausdruck meines Vaters vor, wenn sie ihm von unserem Abenteuer erzählte, und wußte genau, daß er Mühe haben würde, ein Lächeln zu unterdrücken. Ich erinnerte ihn vermutlich daran, wie er selbst in meinem Alter gewesen war; und weil Eltern es gern sehen, wenn ihre Kinder ihnen nachgeraten, würde er sich bestimmt nicht über mein Verhalten ärgern.

Ich mußte noch immer an den Mann unter dem Baum denken. Romany Jake! Ein Zigeuner ... doch er sah ganz anders aus als die Zigeuner, die ich bis jetzt zu Gesicht bekommen hatte. Er sah eher wie einer der Gentlemen aus, mit denen meine Eltern verkehrten als hätte er sich nur als Zigeuner verkleidet. Er wirkte sehr kühn, und das hatte mir sehr gefallen. Was würde wohl Miss Rennie sagen, wenn sie wüßte, daß er mir eine Kußhand zugeworfen hatte? Ich spielte mit dem Gedanken, es ihr zugestehen, verzichtete aber dann darauf. Es war vielleicht doch nicht gut, wenn es meinen Eltern zu Ohren kam.

Sie hielt Wort, erzählte meinen Eltern von dem Fremden, und beim Abendessen unterhielt man sich darüber.

»In unserem Wald lagern also Zigeuner«, begann mein Vater.

»Im Winter ziehen sie immer nach Süden«, bemerkte David. Mein Vater wandte sich mir zu. »Du bist heute auf sie gestoßen.«

»Nur auf einen. Er hat gesagt, daß er Romany Jake heißt.«

»Du hast mit ihm gesprochen?«

»Nur ganz kurz. Er trug ein orangefarbenes Hemd, hatte Ringe in den Ohren und eine Kette um den Hals.«

»Der Beschreibung nach ein echter Zigeuner«, bemerkte David

»Du solltest lieber nicht in den Wald reiten, wenn sich dort Zigeuner herumtreiben«, ermahnte Claudine besorgt Amaryllis.

»Der Wald ist jetzt so schön«, widersprach ich. »Es ist so lustig, durch die raschelnden Blätter zu reiten.«

»Trotzdem ...«, meinte Claudine, und meine Mutter nickte zustimmend.

»Mir wäre es lieber, wenn sie nicht hierherkämen«, sagte sie,

»Sie sorgen manchmal für Unruhe«, gab mein Vater zu. »Aber wir haben ihnen immer erlaubt, auf den Lichtungen zu lagern. Solange sie nichts anstellen, können sie bleiben. Sie werden sicherlich zur Küchentür kommen, um Körbe und Küchengeräte zu verkaufen und um den Küchenmädchen die Zukunft vorherzusagen.«

»Mrs. Grant wird ein Auge auf sie haben«, versprach meine Mutter.

Mrs. Grant war unsere überaus tüchtige Haushälterin, die über die unteren Regionen unseres Hauses genauso despotisch herrschte wie Pluto über den Hades. Ich hatte noch nie soviel Würde in einem so kleinen Körper erlebt, denn sie war kaum einen Meter sechzig groß und noch dazu rundlich. Es genügte, daß sie in ihrem perlenbestickten schwarzen Kleid durch den Korridor rauschte, damit das Dienstpersonal vor Angst erschauderte und ein jeder rasch sein Gewissen erforschte. Wir konnten die Zigeuner also beruhigt Mrs. Grant überlassen.

In den darauffolgenden Tagen erfuhr ich etwas mehr über die Zigeuner. In solchen Fragen wandte man sich am besten an die Dienerschaft, und ich war immer bestrebt gewesen, mich mit ihnen gut zu stellen. Ich plauderte mit ihnen, war über ihre großen und kleinen Sorgen genau unterrichtet und stets bemüht, ihr Vertrauen zu gewinnen. Ich wußte über ihre Lebensumstände Bescheid; während Amaryllis die Eroberungszüge der römischen Generäle und den Rosenkrieg studierte, saß ich in der Küche und ließ mir erzählen, was geschehen war, als Maisie Deans Ehemann nach Hause kam und sie mit ihrem Liebhaber ertappte. Ich beteiligte mich an dem Rätselraten darüber, wer der Vater von Jane Abbeys Kind war. Ich wußte, daß Polly Crypton, die am Waldrand in einer Hütte inmitten ihres Kräutergartens lebte, nicht nur Ohren- und Zahnschmerzen sowie Verdauungsstörungen heilen konnte; sie besprach Warzen, verkaufte Liebestränke, und wenn sich ein Mädchen in ganz bestimmten Schwierigkeiten befand, wußte sie auch hierfür Abhilfe. Letzteres war ein beliebtes Gesprächsthema, doch meist zeigte dann jemand auf mich, und die Plaudertaschen schwiegen. Aber ich wußte, daß Polly Crypton über ganz besondere Fähigkeiten verfügte. Ich fand, daß dieses Wissen genauso wichtig war wie Kenntnisse über Schlachten, die vor langer Zeit irgendwo stattgefunden hatten. Außerdem konnte ich immer noch Amaryllis' Notizen abschreiben, da sie eine sehr pflichtbewußte Schülerin war.

Es war also nicht weiter schwierig, mehr über Romany Jake herauszubekommen.

Laut Mabel, dem Stubenmädchen, ›war er vielleicht einer‹ – das bedeutete, daß er auf Frauen besonders anziehend wirkte. »Er hat auf der Treppe zum Zigeunerwagen gesessen, Gitarre gespielt und dazu gesungen ... Seine Stimme ist traumhaft – und sein Gitarrenspiel– es ist himmlisch. Man nennt ihn nur Romany Jake. Er kommt von weither.«

»Aus Cornwall«, stellte ich richtig. »Das kann man eigentlich nicht als ›weither‹ bezeichnen.«

»Es ist viele Meilen von hier entfernt. Er war oben im Norden und ist durch das ganze Land hier herunter gezogen ... im Zigeunerwagen, mit den anderen.«

»Er muß das Land sehr gut kennen.«

»Er ist wahrscheinlich sein ganzes Leben gewandert. Eine Zigeunerin war heute früh hier und hat uns die Zukunft gedeutet.« Die übrigen Mädchen begannen zu kichern.

»Hat sie auch dir deine Zukunft geweissagt?« fragte ich.

»O ja ... sogar Mrs. Grant hat sich weissagen lassen und ihr dafür einen Krug Apfelwein und ein Stück Fleischpastete gegeben.«

»Hat sie etwas Interessantes erzählt?«

»Natürlich, Miss Jessica. Sie sollten sich auch von ihr wahrsagen lassen. Sie würden bestimmt viel erfahren.«

Die Mädchen wechselten Blicke. »Miss Jessica ist vielleicht eine«, meinte Mabel.

Mir wurde bei diesem uneingeschränkten Lob warm ums Herz. »Und Miss Amaryllis ist ein süßes kleines Ding, sie ist so hübsch und sanft.«

Ich war nicht im geringsten eifersüchtig. Ich war viel lieber ›vielleicht eine‹, als hübsch und sanft zu sein.

Das Gespräch mit den Dienstboten hatte mich in meiner Überzeugung bestärkt, daß Romany Jake etwas Besonderes an sich hatte. Das konnte man der Art und Weise entnehmen, wie sie über ihn sprachen und wie sie kicherten, wenn sein Name fiel. Obwohl sie mir gegenüber recht offen waren, erinnerten sie sich gelegentlich daran, wie jung ich war. Das hinderte sie zwar nicht daran weiterzureden, doch sie wurden vorsichtiger und machten nur noch Andeutungen, die ich nicht immer verstand.

Doch eines war klar: die Ankunft von Romany Jake war eines der aufregendsten Ereignisse seit langem, er hatte sogar die Angst vor der Invasion in den Hintergrund gedrängt, denn in den Kammern der Dienstmädchen wurde von nichts anderem mehr gesprochen als von ihm.

Er war kein gewöhnlicher Zigeuner, sondern stammte aus Cornwall, und unter seinen Vorfahren befand sich ein Spanier, behaupteten die Mädchen. Das konnte stimmen, denn nach der Niederlage der großen Armada hatten sich Matrosen der gescheiterten Schiffe an Land retten können. Daher floß in den Adern etlicher Männer und Frauen in Cornwall spanisches Blut. Es war für die dunklen Augen, die gelockten Haare und das leidenschaftliche Temperament verantwortlich – und Romany Jake verfügte über alle diese Eigenschaften.

»Romany Jake«, flüsterte Mabel sehnsüchtig. »Von diesem Namen werde ich heute nacht träumen.«

»Wenn ich an ihn denke, nenne ich ihn im Geist immer Jake«, seufzte die kleine Bessie. »Er ist gar kein richtiger Zigeuner, er hat sich ihnen nur angeschlossen, weil er es liebt, durch das Land zu ziehen.«

»Er sieht jedenfalls aus wie ein Zigeuner!« warf ich ein.

»Was wissen denn Sie schon von Zigeunern, Miss Jessica.«

»Genausoviel wie du«, fuhr ich sie an.

»Sie haben sich auf der Lichtung häuslich niedergelassen. Sie beschlagen die Pferde, flechten Körbe und flicken die Kessel, die man ihnen bringt. Sie sind keineswegs faul, und Romany Jake spielt Gitarre und singt dazu. Manchmal singen alle mit. Wenn man ihnen zusieht, ist es wie im Theater.«

»Wenigstens hat er dafür gesorgt, daß ihr nicht mehr von der Invasion redet«, sagte ich.

»Romany Jake würde wahrscheinlich sogar mit Boney fertig werden«, meinte Mabel.

Die anderen lachten über diese Bemerkung. Diese fröhliche Stimmung verdankten sie Romany Jake.

Ich traf ihn noch einmal, als ich allein war. Ich war zu den Gesindehäuschen gegangen, um Mrs. Green, der Frau eines Stallknechts, die an einer Erkältung litt, ein heißes, nahrhaftes Getränk zu bringen, und auf dem Rückweg stand ich ihm plötzlich gegenüber. Seine Jackentasche bauschte sich, und ich nahm an, daß er gewildert hatte.

Seine Augen funkelten, als er mich ansah, und ich freute mich darüber, denn ich bildete mir ein, daß er mich bewunderte. Je älter ich wurde, desto mehr genoß ich es, bewundert zu werden, und war zu jedem Mann freundlich, der mir zu verstehen gab, daß ich ihm gefiel. Bei ihm freute es mich jedoch ganz besonders.

Deshalb empfand ich durchaus kein Bedürfnis, vor ihm davonzulaufen oder ihm Vorwürfe zu machen, weil er auf unserem Besitz gewildert hatte.

»Guten Tag, kleine Lady«, begrüßte er mich.

»Guten Tag«, antwortete ich. »Ich kenne Sie, Sie sind Romany Jake. Ich habe Sie vor ein paar Tagen im Wald getroffen.«

»Das stimmt, denn nachdem ich Sie kennengelernt habe, werde ich Sie bestimmt nie mehr vergessen. Daß eine so große Dame sich jedoch an mich erinnert, ist nicht nur erfreulich sondern auch bemerkenswert.«

»Sie sprechen nicht wie ein Zigeuner.«

»Hoffentlich ist das nicht als Vorwurf gedacht.«

»Warum sollte es einer sein?«

»Weil Sie vielleicht der Meinung sind, daß jeder Mensch seinen Platz kennen sollte – ein Gentleman ist ein Gentleman, ein Zigeuner ein Zigeuner.«

Er lachte auf, und ich lächelte ihn an.

»Ich weiß, daß Sie mit Ihrem Wagen im Wald lagern«, fuhr ich fort. »Bleiben Sie lang hier?«

»Das Schöne am Wanderleben ist, daß man nach Lust und Laune weiterziehen kann, sobald man will. Es ist herrlich, unter Sonne, Mond und Sternen zu leben.«

Seine Stimme klang melodisch, keineswegs wie die Stimme eines Zigeuners. In ihr schwang Lachen mit, das ansteckend wirkte. »Sie sind ja ein Poet«, bemerkte ich.

»Wenn man ein Wanderleben führt, lernt man, die Natur zu lieben. Man genießt ihre Wohltaten und das freie Leben auf der Landstraße.«

»Und wie ist es im Winter?«

»Da haben Sie den Finger auf den wunden Punkt gelegt. Der Nordwind weht, es schneit, und was macht der arme Zigeuner dann? Ich werde es Ihnen verraten: Er findet ein warmes, angenehmes Haus und eine warme, angenehme Dame, die ihm ihre Türen öffnet und ihn bei sich aufnimmt, bis die Kälte vorbei ist und es Frühling wird.«

»Dann ist er aber kein wandernder Zigeuner mehr, nicht wahr?«

»Was spielt das schon für eine Rolle, solange er glücklich ist und die Menschen um ihn glücklich macht? Das Leben ist dazu da, daß man es genießt. Sind Sie etwa nicht meiner Meinung? O doch, ich weiß, daß Sie genauso denken. Sie werden das Leben genießen, das lese ich in Ihren Augen.«

»Sehen Sie die Zukunft voraus?«

»Es heißt, daß Zigeuner diese Fähigkeit besitzen.«

»Verraten Sie mir, was Sie für mich in der Zukunft sehen?«

»Alles, was Sie sich von ihr erwarten. Das ist Ihre Zukunft.«

»Das klingt sehr gut.«

»Sie werden Ihre Zukunft so gestalten, daß sie schön wird.«

»Haben Sie Ihr Leben so gestaltet?«

»Ganz bestimmt.«

»Sie sehen eher arm aus.«

»Kein Mensch ist arm, wenn er die gute Erde hat, auf der er lebt, wenn die Sonne seine Tage wärmt und der Mond seine Nächte erhellt.«

»Sie empfinden große Achtung vor dem Himmel.«

»Er ist der Quell des Lebens. Ich gestehe Ihnen etwas, wenn Sie mir schwören, es keiner Menschenseele zu verraten.«

»Ich verspreche es«, versicherte ich eifrig.

»Ich habe mich in dem Augenblick zu Ihnen hingezogen gefühlt, in dem ich Sie gesehen habe. Ich habe mir gesagt: ›Dieses Mädchen wird eine feurige Schönheit werden. Ich möchte es am liebsten entführen und mit mir nehmen.‹«

Ich lachte laut. Natürlich hätte ich böse sein und sofort nach Hause gehen müssen, aber ich tat es nicht. Ich wollte einfach bei ihm bleiben und dieses Gespräch genießen, das für mich etwas ganz Neues bedeutete.

»Glauben Sie wirklich, daß ich mein Elternhaus verlassen und eine Zigeunerin werden würde?«

»Ich habe diesen Schritt gewagt. Es ist ein gutes Leben ... jedenfalls eine Zeitlang.« Mich fröstelte.

»Und was ist mit dem Nordwind und dem Schnee?«

»Dann müßten Sie mich nachts warmhalten.«

»Dürfen Sie überhaupt so mit mir sprechen?«

»Eine Menge Leute, wäre bestimmt der Ansicht, daß es nicht richtig ist, aber wenn wir allein sind, hängt es nur davon ab, ob Sie es hören wollen.«

»Ich sollte nicht hierbleiben.«

»Ist es nicht so, daß genau das Verbotene auf uns den größten Reiz ausübt? Ich könnte schwören, daß Sie schon oft etwas getan haben, das Sie nicht tun sollten und daß es Ihnen Spaß gemacht hat.«

Ich hörte Schritte und blickte auf seine ausgebeulte Tasche. Er wollte gerade verschwinden, als Amaryllis in Sicht kam.

»Heute ist mein Glückstag«, stellte er fest. »Wieder zwei schöne Damen gleichzeitig.«

»Das ist ja Romany Jake«, rief Amaryllis.

»Sie sind die zweite Dame, die mir die Ehre erweist, sich an meinen Namen zu erinnern.«

Amaryllis sah mich an. »Wir sollten nach Hause gehen.«

»Ich war gerade dabei«, antwortete ich.

»Guten Tag, Mr.« begann Amaryllis.

»Cadorson«, ergänzte er. »Jake Cadorson.«

»Guten Tag, Mr. Cadorson«, sagte ich.

Amaryllis und ich drehten uns um und gingen zum Haus zurück. Ich spürte, daß er uns mit den Augen folgte.

»Was hat er denn hier getan?« fragte Amaryllis.

»Das weiß ich nicht.«

»Hast du gesehen, was er in seiner Tasche hatte?«

»Er hatte irgend etwas darin versteckt.«

»Wahrscheinlich einen Hasen oder einen Fasan«, meinte Amaryllis. »Er hat also gewildert. Sollten wir es deinem oder meinem Vater erzählen?«

»Auf keinen Fall«, widersprach ich entschieden. »Schließlich müssen sie ja essen. Willst du, daß sie verhungern?«

»Nein, aber sie sollten nicht wildern. Das ist eine Art von Diebstahl.«

»Erzähl es niemandem, Amaryllis. Mein Vater würde zornig werden und sie von seinem Grund und Boden verjagen. Sie sind sehr arm.«

Amaryllis nickte. Es war leicht, ihr Mitleid zu wecken.

Das nächste Mal traf ich ihn in der Küche von Grasslands.

Claudine schickte Mrs. Trent immer wieder etwas aus ihrer Vorratskammer und nahm großen Anteil an ihrem Schicksal. Sie erwähnte des öfteren, daß Mrs. Trent seit dem Tod ihrer Enkelin Evie nicht mehr sie selbst war. Das Leben war ihr gleichgültig geworden. Amaryllis ritt ungern nach Grasslands, was ich seltsam fand, denn sie war stets bereit, den Leuten auf unserem Besitz eine ›Erquickung‹ zu bringen, wie wir es nannten. Außerdem mochten die Leute sie. Sie sah aus wie ein Engel und hörte geduldig zu, wenn die Pächter über ihre. Krankheiten klagten. Für solche Besuche eignete sie sich weitaus besser als ich. »Du bist die geborene Barmherzige Schwester«, hatte ich ihr schon oft gesagt. Und das stimmte auch ... bis auf Grasslands. Ich hatte sie gefragt, warum sie so ungern dorthin ritt, und sie hatte behauptet, es sei, weil Dolly sie immer so merkwürdig ansähe.

»Mich schaudert in ihrer Gegenwart«, hatte sie gestanden. »Wenn ich aufblicke, sind ihre Augen auf mich gerichtet – zumindest das eine, das ganz geöffnet ist. Dann frage ich mich immer, was das andere Auge sieht manchmal glaube ich, daß es Dinge erblickt, die sonst niemand sehen kann.«

»Ich habe dich immer für vernünftig und logisch gehalten«, meinte ich. »Ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß du auch einmal deiner Fantasie freien Lauf läßt.«

»Ich fühle mich in ihrer Gegenwart jedenfalls unbehaglich. Könntest nicht du ihnen bringen, was meine Mutter für sie hergerichtet hat?«

Obwohl ich mich nicht sehr gut für Krankenbesuche eignete, ritt ich gern nach Grasslands – genau wie nach Enderby. Nicht weil ich mit Mrs. Trent, Dolly oder Tante Sophie zusammen sein wollte, sondern weil mich die unheimliche Atmosphäre in den beiden Häusern reizte.

»Es ist schon ein merkwürdiger Zufall, daß sich zwei solche Häuser in unserer unmittelbaren Nähe befinden«, bemerkte ich zu Amaryllis.

»Es sind nicht die Häuser«, antwortete sie, »sondern die Menschen, die in ihnen wohnen. Wenn Dolly nicht wäre, würde mir Grasslands bestimmt gefallen.«

Amaryllis' Bemerkungen gingen mir nicht aus dem Kopf, und ich hätte gern gewußt, warum sich Dolly so sehr für Amaryllis interessierte. Obwohl die meisten Menschen Amaryllis reizend und engelhaft fanden, schenkten sie mir mehr Aufmerksamkeit als ihr. Dolly bildete da eine Ausnahme, denn einmal hatte sie mir erklärt: »Sie waren ein so süßes Baby.«

»Erinnern Sie sich denn an mich?« fragte ich.

Sie nickte. »Sie waren so hübsch ... und Sie konnten vielleicht schreien! Wenn Sie nicht sofort bekamen, was Sie wollten – Sie hätten sich hören sollen.«

»Es ist anzunehmen, daß ich mich gehört habe.«

»Wenn Sie gelächelt haben, waren Sie allerdings einfach entzückend.«

Doch im Grunde genommen interessierte sie sich hauptsächlich für Amaryllis. Dennoch war ich diejenige, die Mrs. Trent den Schlehenlikör brachte.

Ich schaute zur Vordertür hinein, und weil ich niemanden erblickte, ging ich um das Haus herum zur Hintertür. Die Tür stand offen, ich vernahm Stimmen und trat ein.

Romany Jake saß am Küchentisch, hatte die Beine von sich gestreckt, die Gitarre auf den Tisch gelegt und einen Becher vor sich stehen.

Dolly saß, in einiger Entfernung, ebenfalls am Tisch.

Als er mich erblickte, stand er auf. »Da ist ja die Lady aus dem großen Haus.«

»Ach, Sie sind es, Jessica«, sagte Dolly.

Da diese Bemerkung überflüssig war, antwortete ich ihr nicht sondern stellte mein Körbchen auf den Tisch. »Die junge Mrs. Frenshaw schickt Ihrer Großmutter einen Schluck Schlehenlikör.«

»Sie wird sich bestimmt freuen«, antwortete Dolly. »Möchten Sie vielleicht ein Glas Wein?«

»Nein, danke. Ich muß gleich wieder gehen.«

Romany Jake musterte mich lächelnd. »Sie sind zu stolz, um mit einem Zigeuner am gleichen Tisch zu sitzen?«

»Ich habe nie ...«, begann ich, aber er hatte sich bereits Dolly zugewandt.

»Vielleicht sollten Sie Ihren Gast in den Salon führen, der ihrem Stand eher entspricht.«

»Ich werde ein Glas Wein trinken, Dolly«, erklärte ich entschieden, »und zwar hier in der Küche.«

»Ihre Liebenswürdigkeit ist genauso groß wie Ihre Schönheit«, stellte er fest. »Liebenswürdigkeit und Schönheit! Diese beiden Eigenschaften sind selten in einem Menschen vereint.« Dolly fühlte sich verpflichtet, Jakes Anwesenheit zu erklären. »Er hat ein Körbchen gebracht, das ich bestellt habe.«

»Und wie geht es Ihrer Großmutter heute?« erkundigte ich mich, während sie ein Glas Wein einschenkte und es mir reichte.

»Danke, sie hat heute einen guten Tag. Ich werde ihr erzählen, daß Sie hier waren, und sie wird sich bestimmt über den Schlehenlikör freuen.«

Romany Jake hatte mich nicht aus den Augen gelassen und hob jetzt sein Glas. »Ich wünsche Ihnen ein langes, glückliches Leben, Miss Jessica.«

»Ich wünsche Ihnen das gleiche.« Ich prostete ihm zu.

»Jake hat mir die Zukunft geweissagt«, gestand Dolly.

»Hoffentlich konnte er Ihnen etwas Gutes prophezeien.«

»Ich habe Miss Dolly das gleiche gesagt, was ich jedem sage, der zu mir kommt, und dazu braucht man keine besondere Gabe. Das Schicksal eines Menschen hängt größtenteils von ihm selbst ab. Das Glück liegt in jedermanns Reichweite, wenn er klug genug ist, um entschlossen zuzugreifen.«

»Das ist eine sehr angenehme Lebensauffassung, wenn man daran glaubt«, fand ich.

»Sind Sie denn nicht meiner Meinung, Lady Jessica?«

»In gewisser Hinsicht haben Sie bestimmt recht, aber es gibt so vieles, das wir nicht beeinflussen können. Wir bezeichnen es dann als höhere Gewalt.«

»Erdbeben, Überschwemmungen, unerwartete Todesfälle«, zählte Dolly auf.

»Ich habe nicht nur daran gedacht.«

»Unsere Lady Jessica ist sehr klug«, bemerkte Romany Jake.

»Jake hat mir prophezeit, daß ich ein gutes Leben vor mir habe, wenn ich den richtigen Weg einschlage«, bemerkte Dolly.

»Das gilt für uns alle«, erwiderte ich.

»Doch nicht jedem von uns bietet sich die Möglichkeit, die Straße zum Glück einzuschlagen«, schränkte Romany Jake ein.

»Warum sollten wir uns von ihr abwenden, wenn sie zum Glück führt?«

»Weil man an ihrem Beginn nicht erkennt, daß es der richtige Weg ist. Man muß über Klugheit und Mut verfügen, um sich für sie zu entscheiden.«

»Möchten Sie noch einen Schluck?« fragte ihn Dolly.

»Wie Sie meinen, Miss Dolly.«

Er hielt ihr seinen Becher hin, und sie füllte ihn.

Die Szene in der Küche kam mir irgendwie unwirklich vor. Was wohl meine Familie dazu sagen würde, daß ich mit Dolly und Romany Jake an einem Tisch saß und Wein trank? Er schien meine Gedanken zu erraten und sich darüber zu amüsieren.

»Ich bin ein gutes Beispiel dafür, daß man sein Schicksal selbst gestalten kann«, sagte er. »Wenn ich ein Mensch wäre, der nicht fähig ist, eine Gelegenheit beim Schopf zu packen, hätte ich mich bescheiden zurückgezogen und erklärt, daß ich nicht würdig bin, mit zwei vornehmen Damen an einem Tisch zu sitzen.«

»Ich habe eher den Eindruck, daß Sie sich ohne die geringsten Hemmungen selbst mit sehr hochgestellten Persönlichkeiten an einen Tisch setzen würden.« Ich lächelte.

»Woher will eine Lady wie Sie wissen, was im Herzen eines armen Zigeuners vor sich geht?«

»Ich glaube, daß ich Sie ein wenig durchschaut habe, Mr. Cadorson.«

»Das kommt daher, daß Sie klug sind, woran ich nie gezweifelt habe. Sie haben ein großartiges Leben vor sich, weil Sie kühn sind und die Gelegenheiten, die sich Ihnen bieten, mit beiden Händen ergreifen. Der Mann, der dieses Leben mit Ihnen teilen darf, wird ein glücklicher Mensch sein.«

Er blickte mich bei diesen Worten unverwandt an, und ich wurde rot.

»Und was wird aus mir?« fragte Dolly.

»Sie sind schüchterner als Lady Jessica. Sie hat eine hohe Meinung von sich. Sie ist ein wertvoller Mensch und weißes. Und sie wird dafür sorgen, daß auch andere es merken.«

»Sie sprechen immer nur von ihr«, unterbrach ihn Dolly etwas gereizt. »Warum interessieren Sie sich so für sie?«

»Ich interessiere mich für die ganze Welt; für Sie, meine sanfte Miss Dolly, und für die nicht ganz so sanfte Lady Jessica.«

Damit stellte er seinen Becher hin, griff nach der Gitarre, spielte ein paar Takte und sang dann ein Lied über schöne Damen. Wir hörten ihm schweigend zu.

Anschließend stimmte er ein Lied über eine hochwohlgeborene Dame an, die mit ihrem Leben unzufrieden war, bis sie im Wald einen Zigeuner traf. Da verließ sie ihr luxuriöses Haus, zog mit ihm in die weite Welt und führte zwischen den Bäumen des Waldes ein freies Leben unter dem Mond, den Sternen und der Sonne.