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Über dieses Buch:

Der König ist tot – es lebe die Königin! Brechen nun moderne Zeiten an? Ganz England schaut erwartungsvoll nach London, wo im Jahre 1837 die junge Viktoria den Thron besteigen wird. Annora Cadorson, Tochter einer hoch angesehen Familie aus Cornwall, ist derweil nicht nach feiern zumute: Sie ist Zeugin eines grausamen Mordes geworden, der ihre große Liebe zerstört hat. Hin- und hergerissen zwischen der Angst, nie wieder einem Mann vertrauen zu können, und der Hoffnung, eines Tages doch noch ihr Glück zu finden, beginnt für die junge Frau eine Reise, die sie vom Landsitz ihrer Ahnen hinaus in die Welt führen wird – bis nach die ferne Küste Australiens …

Aberglauben und Skandale, große Hoffnungen und wahre Gefühle: ein Roman aus der international erfolgreichen Saga »Die Töchter Englands« von Bestsellerautorin Philippa Carr!

Über die Autorin:

Philippa Carr ist – wie auch Jean Plaidy und Victoria Holt – ein Pseudonym der britischen Autorin Eleanor Alice Burford (1906–1993). Schon in ihrer Jugend begann sie, sich für Geschichte zu begeistern: »Ich besuchte Hampton Court Palace mit seiner beeindruckenden Atmosphäre, ging durch dasselbe Tor wie Anne Boleyn und sah die Räume, durch die Katherine Howard gelaufen war. Das hat mich inspiriert, damit begann für mich alles.« 1941 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem in den nächsten 50 Jahren zahlreiche folgten, die sich schon zu ihren Lebzeiten über 90 Millionen Mal verkauften. 1989 wurde Eleanor Alice Burford mit dem »Golden Treasure Award« der Romance Writers of America ausgezeichnet.

Eine Übersicht über den Romanzyklus »Die Töchter Englands« finden Sie am Ende dieses eBooks.

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eBook-Neuausgabe Mai 2017

Copyright © der Originalausgabe 1985 Philippa Carr

Die Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel »Midsummer’s Eve«.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1988 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Evgenii Litovchenko und Everett-Art

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-023-4

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Philippa Carr

Sommermond

Roman

Aus dem Englischen von Hilde Linnert

dotbooks.

Kapitel 1
Die Hexe im Wald

Ich war damals noch nicht ganz neun Jahre alt, aber ich werde diese denkwürdige Sonnwendnacht nie vergessen, denn nach diesen Ereignissen war ich nicht mehr das kleine unschuldige Mädchen, das ich bis zu diesem Tag gewesen war.

Mein behagliches Heim, mein sorgloses Leben und meine angebeteten Eltern hatten mich niemals ahnen lassen, daß es solche Dinge gab. Wir lebten friedlich in einem Haus, das beinahe einer Burg glich. Es befand sich seit Generationen im Besitz der Familie Cadorson. In der kornischen Sprache bedeutet das Wort Cador ›Krieger‹, also muß unser erster Vorfahre ein tapferer Kämpfer gewesen sein. Das konnte ich mir gut vorstellen. Das Haus stand auf einer Klippe, und wir blickten von den Fenstern aus auf das Meer hinab. Als Baumaterial hatte man graue Steine verwendet, die das Gebäude abweisend, fast wie eine Festung wirken ließen. Wahrscheinlich war es einst tatsächlich eine gewesen. Es besaß zwei Türmchen, und ein Rundgang führte an den Zinnen entlang von einem zum anderen. Das Haus wurde allgemein nur Cador genannt. Mein Vater war stolz darauf, und meine Mutter natürlich ebenfalls, obwohl ich manchmal den Eindruck hatte, daß sie sich ein wenig nach ihrem Zuhause auf der anderen Seite Englands, im südöstlichen Zipfel, sehnte. Wir befanden uns im Südwesten, und das hieß, daß jedesmal, wenn wir meine Großeltern besuchten, oder sie zu uns kamen, England in seiner ganzen Breite durchquert werden mußte.

Als ich jünger war, besuchten meine Großeltern uns recht häufig. Jetzt mußten wir zu ihnen reisen, weil sie allmählich alt wurden, vor allem mein Großvater Dickon.

Etwa eine Viertelmeile von Cador entfernt lag die kleine Stadt West Poldorey. Der Fluß, der aus den Hügeln kam und sich in das Meer ergoß, trennte sie von Ost Poldorey. Die beiden Städte waren durch eine Brücke verbunden, die seit fünfhundert Jahren dem Wetter trotzte und aussah, als würde sie noch viele Jahrhunderte überdauern. Die alten Männer kamen gern auf ihr zusammen, beugten sich über die Steinbrüstung und stellten Betrachtungen über das Leben und den Fluß an. Viele von ihnen waren Fischer, und in dem kleinen Hafen lagen immer Boote vor Anker. Ich hielt mich gerne im Hafen auf, wenn die Fischerboote hereinkamen, und beobachtete das Treiben auf dem Kai, das immer vom schrillen Gekreisch der Möwen begleitet war, die dicht über dem Fluß dahinschossen und darauf lauerten, daß Fische in das Wasser zurückgeworfen wurden.

Die Cadors waren seit Generationen Gutsherren, deren stillschweigende Pflicht es war, für das Wohlergehen der beiden Städte und ihrer Umgebung zu sorgen. Daher benahmen sich die Bewohner der Stadt meinem Bruder und mir gegenüber immer respektvoll. Es war ein sehr glückliches, behütetes Leben, bis ich in dieser Sonnwendnacht plötzlich mit einer anderen Seite des Daseins konfrontiert wurde.

Wir besaßen auch ein Familienhaus in London. Dort trafen wir häufig mit meinen Großeltern zusammen, denn für sie war es nicht weit – für uns bedeutete es allerdings eine lange Fahrt. Ich reiste gern. Während wir die engen, gewundenen Straßen entlangfuhren, erzählte uns mein Vater oft Geschichten von Wegelagerern, die die Kutschen anhielten und Geld forderten. Dann rief meine Mutter jedesmal: »Hör auf, Jake, du machst den Kindern Angst.« Das stimmte, aber wie die meisten Kinder mochten wir es, wenn man uns Angst einjagte, während wir uns durch die Anwesenheit unserer Eltern vollkommen sicher fühlen konnten.

Ich liebte beide innig und war davon überzeugt, daß sie die besten Eltern der Welt waren. Allerdings stand mir mein Vater besonders nahe, und das war vermutlich auch umgekehrt der Fall. Jacco war der Liebling meiner Mutter – nicht so sehr, weil er ein Junge war, sondern weil sie wußte, daß mein Vater mich bevorzugte, und einen Ausgleich schaffen wollte.

Mein Vater war einer der beiden aufregendsten Männer, die ich kannte. Der andere war Rolf Hanson. Mein Vater war sehr groß, ein dunkler Typ; er hatte leuchtende, funkelnde Augen, die den Eindruck erweckten, daß ihn das Leben amüsierte, obwohl er manchmal auch ernst sein konnte. Er hatte ein abenteuerliches Leben hinter sich und erzählte oft davon. Er hatte eine Zeitlang bei Zigeunern gelebt; er hatte einen Mann getötet, war zur Strafe nach Australien deportiert worden und sieben Jahre dort geblieben. Meine Mutter war schön; ihr Haar und ihre Augen waren dunkel. Es war kein Wunder, daß auch ich dunkelhaarig war; aber ich hatte von Großmutter Lottie blaue Augen geerbt, die, wie meine Mutter behauptete, von Zeit zu Zeit in der Familie auftraten. Ich vertrug mich gut mit meinem Bruder Jacco, obwohl es gelegentlich zu Meinungsverschiedenheiten kam. Jacco war nach unserem Vater genannt worden und hieß in Wirklichkeit Jake. Als er noch ein Säugling war, hatte man ihn Little Jake gerufen, aber es war unpraktisch, in einer Familie zwei Jakes zu haben, deshalb nannten ihn allmählich alle nur noch Jacco. Es war herrlich, so nahe am Meer zu leben. An heißen Tagen zogen Jacco und ich Schuhe und Strümpfe aus und planschten in der Grotte unterhalb von Cador herum. Manchmal überredeten wir einen Fischer dazu, uns mitzunehmen, und segelten aus dem Hafen hinaus, die Küste entlang zur Bucht von Plymouth. Manchmal fingen wir Shrimps und kleine Krabben und suchten am Strand nach Halbedelsteinen wie Amethysten und Topasen. Wir sahen oft arme Leute unten am Strand, die Schnecken sammelten, um sie zu kochen, und die manchmal die letzten Fische kauften, für die die Fischer auf den Markt keine zahlungskräftigeren Käufer gefunden hatten. Ich ging gern mit Isaacs, unserem Butler, auf den Markt und hörte zu, wie er um die Fische feilschte. Er war ein sehr stattlicher Herr, und selbst Jacco hatte Respekt vor ihm. Wenn Isaacs die Fische nach Hause brachte, untersuchte Mrs. Penlock, die Köchin, sie genau, und wenn sie ihr nicht gefielen, äußerte sie ihre Mißbilligung unumwunden. Sie war eine streitsüchtige Person. Ich hörte oft, wie sie sich beschwerte: »Haben Sie nichts Besseres gefunden, Mr. Isaacs? Du meine Güte, was soll ich damit nur anfangen? Konnten Sie denn nicht eine ordentliche Scholle oder Heringskönige auftreiben?« Mr. Isaacs besaß allerdings die Fähigkeit, seine Untergebenen jederzeit zum Schweigen zu bringen, indem er streng antwortete: »Gott allein entscheidet, was in das Meer kommt und was aus ihm herausgeholt wird, Mrs. Penlock.« Mrs. Penlock war nämlich sehr abergläubisch und hatte Angst, es sich mit dem lieben Gott zu verderben.

Auf dem Kai bemerkte ich Digory zum ersten Mal. Er war mager und lebhaft, seine Haut war von Wind und Sonne tief gebräunt, sein schwarzes Haar ringelte sich zu dichten Locken, und seine kleinen, dunklen Augen blickten wachsam und listig. Seine Hose war zerrissen, seine Füße nackt. Schlüpfrig wie ein Aal und geschickt wie ein Affe schoß er zwischen den Bottichen und Fischkörben herum.

Er hatte sich einem Bottich mit Sardinen genähert, während der Fischer Jack Gort um den Preis eines Seehechtes feilschte und uns den Rücken zukehrte. Ich schnappte nach Luft, denn Digory hatte die Hand in den Bottich gesteckt und mit einer Geschicklichkeit, die nur von jahrelanger Übung herrühren konnte, eine Handvoll Fische herausgeholt und in einen Sack gesteckt.

Ich öffnete den Mund, um Jack Gort auf den Diebstahl aufmerksam zu machen, aber Digory blickte mir geradewegs in die Augen. Er legte den Finger auf die Lippen, als befehle er mir zu schweigen, und seltsamerweise sagte ich tatsächlich kein Wort. Dann holte er beinahe spöttisch noch eine Handvoll Fische heraus und ließ sie im Sack verschwinden. Er grinste mich an, bevor er vom Kai verschwand.

Ich war zu verblüfft, um zu sprechen, und als Jack Gort mit Isaacs handelseins geworden war, sagte ich nichts. Ich beobachtete Jack ängstlich, als er den Bottich musterte, aber er bemerkte offenbar nicht, daß ein Teil seines Vorrats verschwunden war.

Digory war bestimmt der Meinung, daß ich seinem Diebstahl mehr oder weniger Vorschub geleistet hatte, indem ich dazu schwieg, und dadurch bestand von nun an eine besondere Beziehung zwischen uns.

Als ich einige Zeit später im Wald spazierenging, traf ich ihn wieder. Er lag am Ufer und warf Steine in den Fluß.

»Hallo«, grüßte er, als ich mich auf gleicher Höhe mit ihm befand.

Ich wollte hochmütig an ihm vorbeigehen. Arme Menschen sprachen für gewöhnlich nicht so zu einem Angehörigen unserer Familie; aber vielleicht wußte er nicht, wer ich war.

Anscheinend konnte er meine Gedanken lesen, denn er wiederholte: »Hallo, Cadorson-Mädchen.«

»Du kennst mich also?«

»Natürlich kenne ich dich Alle kennen die Cadorsons. Habe ich dich nicht unten am Fischmarkt gesehen?«

»Ich habe beobachtet, wie du Fische gestohlen hast«, stellte ich fest.

»Klar hast du das gesehen.«

»Stehlen ist Unrecht. Man wird dich dafür bestrafen.«

»Mich nicht. Ich bin schlau.«

»Dann warte, bis du in den Himmel kommst. Dort ist alles aufgezeichnet.«

»Ich bin zu schlau für sie«, wiederholte er.

»Nicht für die Engel.«

Er sah mich überrascht an, griff nach einem Stein und warf ihn in den Fluß. »Ich wette, daß du nicht so weit werfen kannst.«

Ich bewies ihm, daß ich es konnte, worauf er wieder nach einem Stein griff; einige Sekunden später standen wir nebeneinander und warfen Steine ins Wasser.

Plötzlich wandte er sich zu mir. »Ich habe nicht gestohlen. Die Fische im Meer gehören allen. Sie gehören dem, der sie sich nimmt.«

»Warum fischst du sie dir dann nicht selbst, so wie Jake Gort?«

»Warum sollte ich es tun, wenn er mir die Arbeit abnimmt?«

»Du bist ein sehr böser Junge.«

Er grinste. »Warum?«

»Weil du Jake Gorts Fische gestohlen hast«

»Wirst du mich verpetzen?«

Ich zögerte, und er trat näher. »Wage es nur ja nicht.«

»Und wenn ich es doch tue?«

»Kennst du meine Großmutter?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Sie würde dich verhexen. Dann würdest du krank werden und sterben.«

»Wer sagt das?«

Er trat noch näher an mich heran, kniff die Augen zusammen und flüsterte: »Weil sie eine ...

»Eine was?«

Er schüttelte den Kopf. »Das sage ich nicht. Sei vorsichtig, sonst geht es dir schlecht, Cadorson-Mädchen.«

Damit sprang er in die Höhe, packte einen Ast und schaukelte einige Sekunden an ihm, so daß er mehr denn je wie ein geschicktes, schlaues Äffchen aussah. Dann ließ er sich auf den Boden fallen und rannte davon.

Ich empfand den unwiderstehlichen Drang, ihm nachzulaufen, und tat es auch. Wir gelangten zu einer Hütte, die von dichten Büschen umgeben beinahe vollkommen versteckt dalag. Ich war nicht weit hinter ihm. Er lief durch das Gestrüpp zu dem kleinen Haus mit Wänden aus Lehm und einem Strohdach. Die Tür stand offen, und auf der Schwelle saß eine schwarze Katze.

Der Junge drehte sich um und blickte zurück. Er blieb in der Tür stehen und wartete sichtlich darauf, daß ich ihm folgte. Ich zögerte. Er schnitt eine Grimasse und verschwand in der Hütte.

Die Katze blieb auf der Schwelle sitzen, ihre grünen Augen schienen mich bösartig zu mustern.

Ich drehte mich um und lief so schnell ich konnte nach Hause.

Mrs. Penlock bezeichnete Digory immer als ›Mutter Ginnys Hexenbrut‹. Aus Angst und Verblüffung darüber, daß ich an der Schwelle von Mutter Ginnys verrufenem Haus gestanden und es beinahe betreten hatte, begann ich zu zittern.

Ich dachte viel an den Jungen und erfuhr allmählich mehr über ihn, obwohl es sich bei Mutter Ginny und ihrer Hexenbrut offensichtlich um ein Thema handelte, das nicht für die Ohren junger Mädchen bestimmt war. Wenn ich in die Küche kam, verstummte das Geplauder meist. Für gewöhnlich ging es um junge Mädchen, die ein Kind bekamen, oder um ein kleines Vergehen, das sich jemand hatte zuschulden kommen lassen, oder um Mutter Ginny. Sie hatte ganz allein mit ihrer Katze in dem einsamen Häuschen im Wald gewohnt, bis die Hexenbrut vor einigen Monaten aufgetaucht war. Mrs. Penlock erklärte gerade dem am Küchentisch versammelten Hauspersonal, das die Vormittagserfrischung – heißen Tee und Haferkuchen zu sich nahm: »Damit hat man den Bock zum Gärtner gemacht. Wer hätte je geglaubt, daß Mutter Ginny eine Familie hat. Ich hätte angenommen, daß sie vom Teufel gezeugt wurde. Diese Hexenbrut ist angeblich ihr Enkel, also muß sie irgendwann einen Ehemann oder zumindest einen Sohn oder eine Tochter gehabt haben. Und jetzt hat sie diesen Digory.«

Er war offenbar heimlich von heut auf morgen zu ihr gekommen. Angeblich war er zu seiner Großmutter gebracht worden, weil seine Eltern gestorben waren.

Seine Anwesenheit war nicht lange unbemerkt geblieben. Noch bevor ich ihn auf dem Fischmarkt entdeckte, hatten die Leute ihn bemerkt und ihm mißtraut. »Er ist genauso wie seine Großmutter«, meinten sie.

Daraufhin konnte ich nicht genug über Mutter Ginny und ihr Haus herausbekommen.

Ich erfuhr diese Dinge nur allmählich. Leider wußte die Dienerschaft, daß meine Eltern bestimmt nicht damit einverstanden waren, daß sie vor mir über Mutter Ginny sprachen. Deshalb waren sie vorsichtig; aber Mutter Ginny und ihr Enkel lieferten unerschöpflichen Gesprächsstoff, und ich verstand es, nicht aufzufallen. Ich hockte in einer Ecke der Küche, tat manchmal sogar, als schliefe ich, und lauschte den Gesprächen. Wenn ich mich wirklich still verhielt und zu einem Teil der Küche wurde, konnte ich sehr viel aufschnappen.

Mrs. Penlock redete gern. Sie regierte in der Küche mit strenger Ordnung; sie wußte bei jeder Gelegenheit, was sich schickte; sie kannte ihre Rechte und die der anderen; für sie waren die Rechte das Wichtigste; sie wollte auf keinen Fall, daß sie beschnitten oder überschritten wurden; und wehe dem, der verhindern wollte, daß sie bekam, was ihr zustand.

Sie kannte die Gewohnheiten jedes einzelnen Dienstmädchens, und es wäre ihnen schwergefallen, eine Verfehlung vor ihr geheimzuhalten. Sie wußte, wo ihr Platz war, und erwartete das gleiche von allen anderen.

»Mit Mutter Ginny würde ich mich bestimmt nicht anlegen«, verkündete sie. »Dazu ist mir mein Leben zu lieb – und ich meine es genauso, wie ich es sage. Ihr jungen Dinger lacht vielleicht darüber, aber eine Hexe bleibt eine Hexe. Auch wenn sie euch etwas gibt, um euch aus euren kleinen Schwierigkeiten zu helfen, ist es dumm von euch, euch mit ihr einzulassen. Ich weiß, daß es Menschen gibt, die vollkommen durcheinandergerieten, als sie in der Dunkelheit im Wald unterwegs waren und in die Nähe von Mutter Ginnys Hütte kamen. Sie gingen immerzu im Kreis, wußten nicht, wo sie sich befanden, und ringsum lauerten Kobolde. Natürlich konnte man sie nicht sehen, aber sie lachten die armen Teufel aus. Und die Leute kamen erst dann zu sich, wenn Mutter Ginny den Zauber wieder von ihnen nahm. Da gibt es nichts zu lachen, Hilda. Geh nur mit dem Stallknecht John in den Wald, dann wirst du schon sehen, was dir zustößt. Dann wirst du zu Mutter Ginny laufen, damit sie dir hilft. Ich würde mich um keinen Preis mit jemandem wie Mutter Ginny einlassen, ganz gleich, worum es geht.«

Mutter Ginny war also eine Hexe. Allmählich erfuhr ich mehr über sie. Ihre Kunden suchten sie für gewöhnlich erst nach Einbruch der Dunkelheit auf und niemand erfuhr, was sich dann hinter der Hüttentür abspielte. Wenn die Dienstmädchen an ihrer Hütte vorbeigingen, schlugen sie ein Kreuz, und einige von ihnen nahmen sogar Knoblauch mit, weil er angeblich das Böse abwehren kann. Sobald es dunkelte, wagte sich kaum noch eine von ihnen in die Nähe der Hütte. Und dieser kleine Digory lebte tat sächlich hier! Er und Mutter Ginny interessierten mich immer mehr.

Wenn ich etwas wissen wollte, fragte ich meinen Vater. Wir ritten oft gemeinsam aus. Er war stolz darauf, wie gut ich im Sattel saß, und ich versuchte immer, ihn durch meine Reitkünste zu beeindrucken. Er behandelte mich wie eine Erwachsene, und ich liebte ihn deshalb um so mehr, denn er hörte mir stets geduldig zu und gab mir einleuchtende Antworten.

Es war Herbst, und die Blätter begannen, sich zu verfärben. Viele waren bereits abgefallen und bildeten einen dichten Teppich auf dem Boden. Die Luft war feucht, und obwohl es schon spät am Vormittag war, hing leichter Nebel in der Luft und hüllte die Bäume in ein geheimnisvolles Graublau.

Wir gelangten zu dem ausgetretenen Pfad, der zu Mutter Ginnys Hütte führte, und ich fragte: »Warum haben die Menschen eigentlich Angst vor Mutter Ginny, Papa?«

»Weil sie anders ist als die anderen. Vielen Menschen wäre es am liebsten, wenn wir alle aus dem gleichen Holz geschnitzt wären. Was sie nicht verstehen, macht ihnen Angst.«

»Warum verstehen sie Mutter Ginny nicht?«

»Weil sie sich mit Geheimnissen umgibt.«

»Weißt du, was für Geheimnisse das sind?«

Er schüttelte den Kopf.

»Hast du Angst vor ihr?«

Er lachte laut. »Ich gehöre nicht zu den Menschen, die möchten, daß alle gleich sind. Ich finde, daß die Vielfalt das Leben interessanter macht. Außerdem bin ich selbst etwas ungewöhnlich. Oder kennst du jemanden, der so ist wie ich?«

»Nein, ganz bestimmt nicht. Du bist einmalig. Aber bei dir ist es etwas anderes als bei Mutter Ginny.«

»Warum?«

»Weil du reich und angesehen bist.«

»Damit hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich kann es mir leisten, ein Exzentriker zu sein. Ich kann die ausgefallensten Dinge tun, und die Leute werden nicht wagen, mich zur Rede zu stellen.«

»Sie hätten Angst, so etwas zu tun.«

»Weil ihr Wohlergehen bis zu einem gewissen Grad von mir abhängt. Deshalb respektieren sie mich. Von Mutter Ginny sind sie zwar nicht auf die gleiche Weise abhängig, aber sie glauben, daß sie über unbekannte Kräfte verfügt, und fürchten sie.«

»Es ist gut, wenn die Menschen vor einem Angst haben.«

»Vielleicht, wenn man stark ist. Die Armen und die einfachen Menschen müssen sich allerdings davor hüten, gefürchtet zu werden.«

Meine Gedanken kehrten immer wieder zu Mutter Ginny zurück. Alles, was mit ihr in Verbindung stand, faszinierte mich, und dazu gehörte auch Digory. Ich gewöhnte mir an, ihm aufzulauern und mich mit ihm zu unterhalten. Wir saßen am Flußufer, warfen Steine in das Wasser – eine seiner Lieblingsbeschäftigungen – hörten zu, wie sie aufklatschten, und wetteiferten, wer weiter werfen konnte.

Er stellte mir Fragen über das Herrenhaus, ›dieses Cador‹, wie er es nannte. Ich beschrieb es ihm genau: Die Halle mit dem Refektoriumstisch, auf dem Zinnbecher und -teller standen; das Wappenschild an der Wand zwischen den Waffen; Helme und Hellebarden; das elisabethanische Wappen, die Schwerter und Schilde; das Eßzimmer mit den Gobelins, auf denen der Krieg der Rosen dargestellt war; die schöne Täfelung; der Punschraum, in dem die Männer nach den Mahlzeiten Punsch und Portwein tranken; die Stühle, deren Rücklehnen mit erlesener Queen Anne-Stickerei geschmückt waren; der Raum, in dem König Karl geschlafen hatte, als er vor den Puritanern geflohen war – dieser Raum war etwas ganz Besonderes und durfte nie verändert werden. Ich erzählte Digory, daß ich oft auf das Bett geklettert war, in dem der König gelegen und gelauscht hatte, ob seine Feinde näherkamen; er hatte sich bestimmt gefragt, wie lange es noch dauern würde, bis sie ihn aufstöberten.

Digory hörte mir jedesmal aufmerksam zu. Manchmal rief er: »Sprich weiter, sprich weiter. Erzähl mir noch mehr.«

Damit beflügelte er meine Fantasie, und ich erfand Geschichten, wie der große Cador – der Krieger – den König vor der Gefangennahme gerettet hatte. Doch die Ehrfurcht vor den geschichtlichen Ereignissen, von denen mir meine Gouvernante Miss Caster berichtet hatte, veranlaßte mich bald, hastig hinzuzufügen: »Aber schließlich haben sie ihn doch noch erwischt.«

Ich erzählte ihm von der Sonnenterrasse, der alten Küche, der Kapelle mit dem Steinboden und dem Sehspalt, durch den die Aussätzigen blicken mußten, weil sie sich wegen ihrer Krankheit nicht in einem Raum mit den Gesunden aufhalten durften.

Der Sehspalt faszinierte ihn. Ich erzählte ihm, daß es noch zwei Gucklöcher im Haus gab. Durch eines konnte man in die Halle schauen und die Besucher in Augenschein nehmen, ohne von ihnen gesehen zu werden. Dieses Guckloch befand sich auf der Sonnenterrasse. Das zweite gab es in einem Raum, der sich oberhalb der Kapelle befand, Die Damen konnten in dem Alkoven sitzen und von dort aus am Gottesdienst teilnehmen, wenn es sich für sie nicht schickte, mit bestimmten Gästen des Hauses zusammenzukommen.

Als Gegenleistung erzählte er mir von seinem Zuhause und bemühte sich dabei vergeblich, mir einzureden, daß es beeindruckender war als das meine. In gewisser Hinsicht hatte er allerdings recht, weil es so seltsam geheimnisumwittert war. Cador war ein prächtiges Haus, doch es gab viele solcher Häuser in England; Digory zufolge gab es auf der ganzen Welt keine zweite solche Hütte wie die von Mutter Ginny.

Digory verfügte über eine angeborene Redegewandtheit, die nicht einmal durch das Fehlen jeglicher Schulbildung beeinträchtigt wurde, Als er das Innere der Hütte schilderte, mußte ich an eine Höhle aus einer anderen Welt denken. Auf den Regalen standen Tiegel und Flaschen mit geheimnisvollen Mixturen, an den Dachsparren hingen getrocknete Kräuter und im Kamin brannte immer ein Feuer, das ganz anders war als alle anderen Feuer: Seine Flammen waren blau und rot, und in ihnen entstanden Bilder; Schlachten wurden ausgetragen; einmal war sogar der Teufel erschienen - er hatte rote Augen, einen roten Umhang und schwarze Hörner. Am Feuer saß die Katze, die auch keine gewöhnliche Katze war; sie hatte grün-rote Augen, und wenn der Schein des Feuers auf sie fiel, sahen sie aus wie die Augen des Teufels, was bewies, daß sie eines seiner Geschöpfe war. Über dem Feuer hing ein rußgeschwärzter Kessel, in dem es immer brodelte; in dem aufsteigenden Dampf tanzten Geister. Manchmal erkannte Digory das Gesicht eines Menschen, der in der Umgebung wohnte, und das hatte dann eine besondere Bewandtnis. Er entdeckte ständig etwas Neues. Die Hütte hatte zwei Räume, die miteinander in Verbindung standen. In dem hinteren Raum schliefen er und seine Großmutter – sie auf einem niedrigen Bett mit einer roten Decke; die schwarze Katze rollte sich zu ihren Füßen zusammen. Digory lag auf einem Brett, das unterhalb der Decke angebracht war, und das es auch in den Häuschen unserer Arbeiter gab. Hinter der Hütte befand sich ein mit Steinen gepflasterter Hof, und in ihm stand ein Nebengebäude, in dem Mutter Ginny ihre Absude aufbewahrte. Sie waren ihre Haupteinnahmequelle, denn mit ihnen konnte sie vom Schnupfen bis zu Nierensteinen alle Krankheiten heilen. Sie war sehr klug; sie konnte Leuten, die es sich wünschten, zu Kindern verhelfen, und half Leuten, die keine wollten, sie loszuwerden. Sie war genauso klug wie Gott.

»Sie kann kein Gott sein«, erklärte ich Digory. »Sie kann nur eine Göttin sein. Sie ist zwar ziemlich häßlich, aber wahrscheinlich hat es auch häßliche Göttinnen gegeben, wie die Gorgonen, wie Medusa. Stell dir nur vor, daß jemand statt der Haare Schlangen hat. Kann deine Großmutter ihr Haar auch in Schlangen verwandeln?«

»Natürlich.«

Ich war tief beeindruckt und sehnte mich danach, einen Blick in Mutter Ginnys Häuschen zu werfen, obwohl ich mich gleichzeitig davor fürchtete.

In diesem Jahr war die Ernte sehr schlecht ausgefallen. Mein Vater sprach mit meiner Mutter ernst darüber und bemerkte, daß die Pächter den Gürtel enger schnallen müßten. Im vorigen Jahr war die Ernte nicht allzu schlecht gewesen, aber heuer war es wirklich beunruhigend.

Jacco und ich ritten häufig mit Vater über die Ländereien, denn er wollte, daß wir Interesse dafür zeigten.

»Das Wichtigste für einen Grundbesitzer ist, daß er auf seinen Besitz stolz ist«, erklärte er uns. »Man muß dafür sorgen wie für einen Menschen.«

Er hörte seinen Pächtern immer aufmerksam zu. Er hatte selbst ein hartes Leben hinter sich und hatte daher im Gegensatz zu anderen Landedelleuten, die immer im Wohlstand gelebt hatten, Verständnis für die Kümmernisse seiner Schutzbefohlenen.

Auf den schlechten Sommer folgte ein strenger Winter. Am Morgen blühten fast immer Eisblumen auf meinem Fenster. Wir rodelten den Hügel hinunter und liefen auf dem zugefrorenen Fluß Schlittschuh. Die Stürme waren so heftig, daß die Fischer nicht hinausfahren konnten. Beinahe jeden Morgen gingen die Menschen an den Strand hinunter und sammelten Treibholz. Wir mußten Tag und Nacht die Feuer unterhalten, damit das Haus halbwegs warm blieb.

Alle sehnten sich nach dem Frühling.

Und wie froh waren die Menschen, als er endlich ins Land zog, als die Knospen aufbrachen und wir den ersten Kuckuck hörten. An einem Frühlingsmorgen ritt ich mit meinem Vater aus. Ich hatte an diesem Tag keinen Unterricht, und er hatte mir vorgeschlagen, ihn auf seiner Runde zu begleiten.

Wir suchten die Tregorrans auf, wurden in die Küche gebeten und unterhielten uns mit ihnen. Mrs. Tregorran brachte frische Rosinenbrötchen; Vater und ich aßen je eins und tranken selbstgemachten Apfelwein dazu.

Mr. Tregorran war ein mürrischer Mann, und seine Frau wirkte melancholisch, deshalb war die Stimmung in ihrem Haus immer gedrückt. Mr. Tregorran sprach mit seinem üblichen Pessimismus über die Auswirkungen des Wetters auf die Ernte und das Vieh. Seine Stute Jemima war trächtig, und er hoffte, daß sie ein gesundes Fohlen zur Welt bringen würde, obwohl er es angesichts des strengen Winters bezweifelte.

»Der arme Tregorran«, bemerkte Vater, als wir fortritten. »Aber er genießt sein Unglück so sehr, daß wir ihn vielleicht gar nicht bedauern sollten. Denke nie an die Schattenseiten des Lebens, Annora, sonst läßt das Schicksal sie dich spüren. Jetzt wollen wir als Ausgleich die Cherrys aufsuchen. Ich erledige diese beiden Besuche immer gern hintereinander.«

Mrs. Cherry, die bereits sechs Kinder hatte, .war schon wieder in anderen Umständen. Ich kannte sie nicht anders. Sobald sie ein Kind zur Welt gebracht hatte, war das nächste unterwegs. Dennoch war Mrs. Cherry immer guter Dinge. Ihr lautes, dröhnendes Lachen begleitete alle ihre Bemerkungen, ob sie nun komisch waren oder nicht. Ihr kräftiger Körper schüttelte sich vor Lachen, denn sie freute sich über ihre eigenen Witze am meisten. George Cherry, ihr Mann, war klein, reichte seiner Frau gerade über die Schulter, und je dicker sie wurde, desto dünner wurde er. Er stand im Schatten seiner Frau, und auf ihr herzhaftes Gelächter folgte unweigerlich sein unterwürfiges Gekicher.

Kurz nach diesem Besuch traten zwei Katastrophen ein.

Mrs. Cherry hatte die Kühe gemolken. »Ich arbeite gern, bis meine Zeit kommt«, pflegte sie zu sagen. »Ich halte nichts davon, mich zu früh ins Bett zu legen, wie es viele tun.« Deshalb verrichtete sie ihre Arbeit weiter, und als sie vom Kuhstall über den Hof zurückging, erblickte sie ein reiterloses Pferd, das am Haus vorübergaloppierte.

Sie verließ den Hof und trat auf den Weg hinaus. Inzwischen hatte das Pferd kehrtgemacht und kam auf sie zu. Es war die trächtige Stute der Tregorrans, und Mrs. Cherry konnte ihr nicht mehr ausweichen. Das Tier stieß Mrs. Cherry um, und sie fiel in die Hecke.

Auf ihr Geschrei hin kamen die Arbeiter herbeigestürzt. In dieser Nacht brachte sie ein totes Kind zur Welt.

Inzwischen hatte die Stute der Tregorrans versucht, über einen Zaun zu springen, sich dabei ein Bein gebrochen und mußte getötet werden.

Tagelang waren diese Ereignisse das Gesprächsthema der Gegend.

Mutter und ich besuchten Mrs. Cherry, sobald sie sich ein wenig erholt hatte. Seit dem Unglück war etwa eine Woche vergangen. Mrs. Cherrys rundes Gesicht hatte seine blühende Farbe verloren und war von einem Netz feiner Äderchen überzogen. Sie zitterte am ganzen Körper, wenn sie sprach, und fand das Leben offenbar nicht mehr so lustig.

Mutter setzte sich an ihr Bett und versuchte, sie zu trösten. »Sie werden bald wieder gesund werden, Mrs. Cherry, und dann wird das nächste Kind unterwegs sein.«

Mrs. Cherry schüttelte den Kopf. »Davor hätte ich Angst. Es leben Menschen in der Gegend, von denen man nie wissen kann, was sie als nächstes im Schilde führen.«

Mutter blickte sie verständnislos an.

»Sehen Sie, Mylady«, flüsterte Mrs. Cherry verschwörerisch, »ich weiß genau, wie es geschehen ist.«

»Das wissen wir alle«, antwortete Mutter. »Tregorrans Stute ist durchgegangen. Das kommt manchmal vor. Unglücklicherweise war sie trächtig. Der arme Tregorran.«

»Es hat nichts mit dem Pferd zu tun, Mylady. Sie ist schuld daran. Sie wissen schon, wen ich meine.«

»Nein«, antwortete Mutter, »ich weiß es nicht.«

»Ich habe am Tor gestanden, als sie vorbeikam. Sie sagte zu mir: ›Bei Ihnen ist es bald soweit.‹ Ich hatte nie mit ihr sprechen wollen, aber ich wollte nicht unhöflich sein und antwortete, daß sie recht habe. Dann sagte sie zu mir; ›Ich werde Ihnen einen Trank geben, den ich aus Kräutern und allem Guten aus der Erde zubereitet habe. Er wird Ihnen die Geburt erleichtern und kostet so wenig, daß Sie es gar nicht spüren werden.‹ Ich wandte mich ab, denn ich wollte nichts von ihr nehmen. Und da geschah es. Sie murmelte vor sich hin und ging weiter, aber sie hatte mir vorher noch einen Blick zugeworfen. Es war ein ganz sonderbarer Blick gewesen. Damals wußte ich nicht, daß er meinem Kind galt.«

»Sie glauben wirklich, daß Mutter Ginny Sie verwünscht hat?«

»Und ob ich das glaube, Mylady. Und nicht nur ich. Ich habe gehört, daß sie eine kleine Auseinandersetzung mit Jim Tregorran gehabt hat.«

»Oh nein«, widersprach Mutter.

»So ist es aber, Mylady. Ich weiß, daß sie Warzen und solche Dinge heilt, aber wenn es Schwierigkeiten gibt, muß man nicht weit suchen, um zu sehen, von wo sie tatsächlich kommen.«

Mutter war sehr beunruhigt.

Während wir nach Hause gingen, meinte sie: »Hoffentlich kommen die Leute nicht auf die Idee, daß Mutter Ginny daran schuld ist, daß Tregorrans Stute Amok gelaufen und Mrs. Cherry in den Weg geraten ist.«

Vater trat gerade aus dem Haus und mit ihm unser Anwalt Mr. Hanson und dessen Sohn Rolf. Ich freute mich jedesmal sehr, wenn Rolf zu Besuch kam. Ich liebte ihn. Er war so klug und mir gegenüber so aufmerksam. Er mochte mich offensichtlich genauso sehr wie ich ihn und ließ mich nie spüren, wie jung ich noch war. Er war acht Jahre älter als ich, benahm sich aber nie von oben herab, wie es Jacco oft tat, und Jacco war nur zwei Jahre älter als ich.

Rolf war sehr groß und überragte seinen Vater, der etwas stämmig war. Rolf kam nicht oft nach Poldorey, weil er seine Ausbildung beenden mußte. Ich fand, daß er gut aussah, doch Mutter meinte, daß er zwar nicht hübsch war, aber etwas Vornehmes an sich hatte. Für mich war Rolf jedenfalls in jeder Beziehung vollkommen. Sein Vater erzählte uns immer, wie klug Rolf war, und deshalb sprachen wir auch oft über ihn, wenn er nicht anwesend war. Rolf war weitgereist. Er hatte die sogenannte Grand Tour absolviert und konnte faszinierend von Rom, Paris, Venedig und Florenz erzählen. Er liebte Kunstschätze und Kleidung aus vergangenen Jahrhunderten. Stets sammelte er etwas; außerdem interessierte er sich leidenschaftlich für die Vergangenheit.

Ich hörte ihm immer hingerissen zu, war aber nicht sicher, ob mich seine Erzählungen so sehr interessierten, oder ob ich einfach gern mit ihm zusammen war. Vor Jahren hatte ich Mutter einmal erklärt, daß ich später entweder Rolf oder Vater heiraten würde.

Sie hatte sehr ernsthaft geantwortet: »Ich würde mich an deiner Stelle für Rolf entscheiden. Das Gesetz verbietet nämlich, daß man seinen eigenen Vater heiratet; außerdem hat er schon eine Frau. Er wird sich aber bestimmt durch deinen Vorschlag sehr geschmeichelt fühlen, wenn ich ihm davon erzähle.«

Von da an war ich davon überzeugt, daß ich Rolf heiraten würde.

Sobald er mich erblickte, kam er auf mich zu und ergriff meine Hände. Das tat er immer. Dann lehnte er sich zurück und musterte mich, um festzustellen, ob ich seit unserem letzten Zusammensein gewachsen war. Sein Lächeln war warm und liebevoll.

»Es ist so schön, dich wiederzusehen, Rolf«, rief ich. Dann fügte ich schnell hinzu: »Und auch Sie, Mr. Hanson.«

Mr. Hanson lächelte wohlwollend. Er war jedesmal entzückt, wenn man seinen Sohn lobte.

»Wie lange bleibst du?« fragte ich Rolf.

»Nur eine Woche.«

Ich schmollte. »Du solltest öfter kommen.«

»Das würde ich sehr gern tun. Aber du weißt ja, daß ich meine Ausbildung beenden muß. Doch im Juni, um den Mitsommer herum, komme ich auf ein paar Wochen nach Hause.«

»Ob Sie es glauben oder nicht«, meinte Mr. Hanson bewundernd, »er interessiert sich jetzt für die Landwirtschaft. Er wird Sie über alles Mögliche ausfragen, Sir Jake.«

»Das kann er gern tun. Wie geht es im Dorey Manor?«

»Recht gut, recht gut«

»Wollen wir nicht hineingehen?« fragte meine Mutter. »Sie bleiben doch zum Essen? Ich lasse keine Entschuldigung gelten.. Du bist doch auch meiner Meinung, Annora?«

Sie neckte mich immer, weil ich so sehr an Rolf hing. »Du mußt bleiben«, sagte ich zu Rolf.

»Das ist ein königlicher Befehl«, erwiderte er, »dem ich nur zu gern gehorche.«

Mutter war immer noch über Mrs. Cherrys Bemerkungen empört und berichtete von dem Gespräch.

»Ich habe gehört, daß Tregorran in aller Öffentlichkeit behauptet, daß Mutter Ginny seine Stute verhext hat«, bestätigte Mr. Hanson.

»Abergläubischer Unsinn«, brummte Vater. »Es wird vorübergehen.«

»Hoffentlich«, meinte Rolf. »Es kommt vor, daß sich die Menschen in fieberhafte abergläubische Erregung hineinsteigern. Dann vergessen sie, daß sie zivilisierte Wesen sind und machen die Mächte des Bösen für ihr Unglück verantwortlich.«

»Wenn Tregorran seine Stute ordentlich angebunden hätte, wäre sie nicht davongelaufen«, meinte Vater. »Und Mrs. Cherry könnte auch wissen, daß es unvernünftig ist, sich einem scheuenden Pferd in den Weg zu stellen.«

»Genau«, stimmte Rolf zu. »Die Menschen wissen, daß sie im Unrecht sind, und deshalb sind sie um so mehr bestrebt, jemand anderem die Schuld zuzuschieben. In diesem Fall ist es das Übernatürliche in Gestalt von Mutter Ginny.«

»Ich weiß«, stimmte Mutter zu, »aber es beunruhigt mich trotzdem.«

»Es wird vorübergehen«, tröstete Vater sie. »Hexenjagden sind schon seit Jahren unmodern. Wie steht es mit dem Mittagessen?«

Während der Mahlzeit sprachen wir wieder über Mutter Ginny. Rolf wüßte sehr viel zu diesem Thema.

»Im 17. Jahrhundert gab es eine Zeit, in der das ganze Land von Hexenfurcht besessen war. Überall tauchten teuflische Hexenjäger auf - Männer, deren einzige Aufgabe darin bestand, Hexen ausfindig zu machen.«

»Wie entsetzlich!« rief Mutter. »Zum Glück ist das vorbei.«

»Die Menschen haben sich seither nicht allzu sehr verändert«, widersprach Rolf. »Leider neigen viele von uns dazu, die anderen zu verfolgen. Die Kultur und das zivilisierte Benehmen sind nur eine dünne Tünche, die leicht abbröckelt.«

»Ich bin froh, daß die Menschen jetzt etwas aufgeklärter sind«, meinte Mutter.

»Der Hexenglauben ist schwer auszutreiben«, wiederholte Rolf. »Wenn ein altes Weib wie Mutter Ginny allein in einer Hütte im Wald lebt, erwacht er sofort wieder zum Leben. Vor einigen Jahren sind die Leute in der Sonnwendnacht über das Feuer gesprungen, weil sie glaubten, daß es sie vor Hexen schützt.«

»Das stimmt«, bestätigte Vater. »Ich verbot es ihnen, nachdem beinahe jemand verbrannt war.«

»Die Berichte aus dem 17. Jahrhundert sind grausig«, fügte Rolf hinzu.

»Er interessiert sich seit langem für die alten Bräuche«, mischte sich sein Vater ein, »besonders aber seit vergangenem Jahr. Erzähl ihnen davon, Rolf.«

»Es war in Stonehenge«, begann Rolf. »Ein Student aus meinem College lebt in der Nähe, und ich habe ihn besucht. Dort wurde eine eindrucksvolle, gespenstische Zeremonie begangen. Ich habe sehr viel über das angebliche Geheimnis der Steine erfahren. Natürlich weiß niemand etwas Genaues, und dadurch wird des Ganze noch aufregender.«

»Er mußte sogar ein besonderes Gewand tragen«, fügte sein Vater hinzu.

»Ja«, bestätigte Rolf. »Eine lange, graue Kutte, in der ich beinahe ausgesehen habe wie ein Inquisitor. Sie ähnelt einer Mönchskutte, doch die Kapuze verdeckt das Gesicht beinahe vollständig.«

»Ich möchte es sehr gern sehen«, sagte ich.

»Komm doch morgen zu uns herüber.«

»Und was ist mit dir, Jacco?« fragte Mutter. »Du wirst das Gewand doch bestimmt auch sehen wollen?«

Jacco wollte die Kutte zwar auch sehen, doch er fuhr am nächsten Tag mit John Gort hinaus. Sie wollten Sardinen fischen. John Gort behauptete, daß große Schwärme draußen waren und daß sie ihre Netze innerhalb weniger Stunden füllen konnten.

»Dann kommst du eben ein anderes Mal, Jacco«, meinte Rolf.

»Aber ich komme morgen«, wiederholte ich. »Ich kann es kaum noch erwarten.«

»Ich freue mich schon auf den Nachmittag«, sagte Rolf.

»Sie sollten auch mitkommen, Sir Jake«, schlug Mr. Hanson vor. »Ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit das neue Wäldchen zeigen, das wir anlegen.«

»Sie haben also schon wieder Land gekauft«, stellte Vater fest. »Sie werden Cador bald Konkurrenz machen.«

»Soweit sind wir noch lange nicht«, widersprach Rolf. »Außerdem können wir es keinesfalls mit Cador aufnehmen. Cador ist einmalig. Wir besitzen nur ein elisabethanisches Herrenhaus.«

»Das ganz entzückend ist«, warf Mutter ein. »Es ist heimeliger als Cador.«

»Man kann sie nicht miteinander vergleichen«, lächelte Rolf. »Wir sind trotzdem mit unserem Häuschen sehr zufrieden.«

»So klein ist es nun auch nicht«, wandte sein Vater ein.

»Wie steht es mit Ihren Fasanen?« erkundigte sich mein Vater.

»Sehr gut. Luke Tregern erweist sich als ausgezeichneter Mann.«

»Es war ein Glück für Sie, daß sie ihn gefunden haben.«

»Das stimmt, es war ein glücklicher Zufall. Er war auf Arbeitssuche, und Rolf, der ein gutes Auge für Menschen hat, wußte sofort, daß Tregern der richtige ist. Er sieht gut aus, ist höflich und vor allem bemüht, gute Arbeit zu leisten. Ständig kommt er mit neuen Ideen daher. Sie dürfen nicht vergessen, daß wir in bezug auf die Jagd Anfänger sind.«

»Sie kommen trotzdem sehr gut voran«, behauptete Vater. Rolf lächelte mich an.

»Wir sehen uns also morgen.«

Das Haus der Hansons lag am Rand des Waldes, der den Fluß säumte. Sie hatten es vor etwa zehn Jahren in einem völlig verfallenen Zustand gekauft. Der Anwalt und seine Frau – Mrs. Hanson war damals noch am Leben gewesen – hatten begonnen, es nach und nach instandzusetzen; erst als Rolf sich dafür interessierte, ging die Arbeit rascher voran. Jetzt kauften sie immer wieder neue Grundstücke hinzu. Vater hatte einmal scherzhaft bemerkt: »Rolf Hanson möchte Cador übertreffen. Er ist ein ehrgeiziger junger Mann und er versucht das Unmögliche.«

»Er baut das Haus und das Gut zu einem ansehnlichen Besitz aus«, meinte Mutter.

Rolf war zweifellos stolz auf Dorey Manor. Er interessierte sich für alles Mögliche und weckte dadurch auch mein Interesse. Wenn ich mit ihm beisammen war, hatte ich das Gefühl, lebendiger zu sein als sonst.

Er erwartete mich beim Stall. Als er mich vom Pferd hob, hielt er mich einige Augenblicke fest und blickte mich lächelnd an.

»Du wächst«, stellte er fest. »Jedesmal, wenn ich dich sehe, bist du wieder ein Stückchen größer.«

»Willst du damit sagen, daß ich eine Riesin werde?«

»Nein, nur ein schönes, hochgewachsenes Mädchen. Komm jetzt. Ich werde dir zuerst den Wald zeigen.«

»Ich möchte die Kutte sehen.«

»Ich weiß, aber die Vorfreude ist das Schönste. Also zuerst das Wäldchen.«

Dort war Luke Tregern am Werk.

Rolf stellte uns einander vor.

Tregern verbeugte sich vor mir. Er war groß, seine Haut schimmerte olivbraun, seine Haare waren dunkel, und er sah gut aus.

»Guten Tag, Miss Cadorson.«

»Guten Tag«, erwiderte ich.

Seine dunklen Augen betrachteten mich unverwandt.

»Die Bäume sehen gut aus, Sir«, wandte er sich an Rolf. »Sie gedeihen.«

»Das habe ich erwartet«, erwiderte Rolf. »Wir werden uns umsehen.«

Rolf kannte sich mit Bäumen offenbar auch gut aus, denn er hielt mir einen langen Vortrag über den Wald. Doch schließlich meinte er: »Mit diesem Gerede über die Bäume quäle ich dich ja nur; du kannst es nicht erwarten, das Gewand zu sehen. Du bist sehr geduldig.«

»Das bin ich gar nicht. Ich bin sehr gern mit dir zusammen, und der Wald gefällt mir wirklich.«

Er ergriff meinen Arm und führte mich zum Haus. »Du bist das reizendste Mädchen, das ich kenne«, stellte er fest.

Ich war wie berauscht vor Glück.

Dorey Manor war im Vergleich zu Cador klein. Es war im Tudorstil erbaut – schwarze Balken mit weißen Gipsfeldern dazwischen, und jedes Stockwerk sprang über das darunterliegende vor. Es sah malerisch und bezaubernd aus und besaß einen altmodischen Garten mit von Geißblatt überwucherten Lauben und prächtigen Tudorrosen, die bis in den Dezember hinein blühten.

»Komm herein«, forderte mich Rolf auf.

Wir gingen in die Bibliothek – ein langer, getäfelter Raum mit einer Decke mit Hohlkelle. Alle Wände waren mit Büchern zugestellt. Ich warf einen Blick auf die Titel: Recht, Archäologie, alte Religionen, Sitten und Bräuche, Hexerei.

»Wie klug du bist, Rolf!« rief ich.

»Er lachte und plötzlich faßte er mich am Kinn und blickte mir in die Augen.

»Habe keine zu gute Meinung von mir, Annora«, sagte er. »Das konnte sehr unklug sein.«

»Warum denn?«

»Weil ich deine Erwartungen vielleicht nicht erfüllen kann.«

»Das ist doch Unsinn«, widersprach ich heftig. »Erzähle mir von der seltsamen Zeremonie.«

»Ich habe mich mit diesen Mysterien nur oberflächlich befaßt. Auf diesem Gebiet bin ich ein Amateur.«

Ich war dennoch davon überzeugt, daß er sehr viel darüber wußte. »Zeig mir die Kutte«, verlangte ich.

»Da ist sie.« Er öffnete eine Lade und nahm sie heraus. »Zieh sie an«, befahl ich.

Er gehorchte, und mich fröstelte, denn er sah unheimlich aus. Das Gewand war weiß-grau und sah wie eine Mönchskutte aus. Die Kapuze war groß, bedeckte den ganzen Kopf, und er blickte durch die kleine Öffnung an ihrer Vorderseite heraus. Man konnte das Gesicht des Trägers nur sehen, wenn er die Kapuze abstreifte.

»Es macht mir Angst«, gestand ich.

Er schob die Kapuze nach hinten, und ich lachte erleichtert auf. »So ist es besser, jetzt siehst du wieder aus wie du selbst. Vorher hatte ich den Eindruck, daß ein Fremder vor mir steht.«

»Stell dir die Wirkung vor, wenn mehrere Leute so gekleidet sind und um Mitternacht zwischen den historischen Steinen stehen. Dann bekommst du erst den richtigen Eindruck.«

»Die Kutte erinnert mich an die Inquisitoren, die die sogenannten Ketzer folterten. Miss Caster hat mit mir die spanische Inquisition durchgenommen. Da kann man wirklich Angst bekommen.«

»Genau das will man vermutlich erreichen. Dabei sind diese Kutten nicht so schlimm wie die anderen mit den spitzen Kapuzen und den Augenschlitzen. Bei denen schaudert es selbst mich. Ich werde dir Bilder von ihnen zeigen.«

»Darf ich das Gewand anprobieren?«

»Es ist viel zu groß für dich. Es ist für einen hochgewachsenen Mann gedacht.«

»Ich möchte es trotzdem versuchen.«

Ich zog es an, und es hing bis auf den Fußboden hinunter. Rolf lachte.

»Weißt du, was du fertiggebracht hast? Es sieht nicht mehr furchterregend aus. Du mußt endlich erwachsen werden, Annora.« Er blickte mich zärtlich und zugleich verzweifelt an. »Du brauchst so lange dazu.«

»Ich brauche genauso lange wie jedes andere Mädchen.«

Er legte mir die Hände auf die Schultern. »Es kommt mir so lange vor.«

Ich gab ihm das Gewand zurück, und er legte es wieder in die Schublade.

»Erzähl mir mehr von Stonehenge«, bat ich.

Er ließ mich am Tisch Platz nehmen, holte Bücher von den Regalen und zeigte mir die Bilder. Dazu berichtete er voll Begeisterung über die gigantischen Steine inmitten der Grabhügel aus der Bronzezeit. Ich fand es faszinierend, außerdem war es wunderbar, mit Rolf an einem Tisch zu sitzen und ihm zuzuhören.

Es war ein sehr glücklicher Nachmittag.

Über die beiden Tragödien wurde viel geredet; die Dienerschaft kannte kein anderes Gesprächsthema. Als ich Digory im Wald traf, sah er mich sehr stolz an.

»Hat deine Großmutter die Stute und Mrs. Cherrys Kind getötet?« fragte ich ihn.

Er schob die Lippen vor und bemühte sich, geheimnisvoll auszusehen. »Sie kann alles, was sie will«, prahlte er.

»Mein Vater findet, daß man nicht so reden darf.«

Als Antwort schwang er sich auf einen Baum hinauf und lachte mich aus. Dann hielt er sich die Zeigefinger an die Stirn, als hatte er Hörner.

Ich mußte immerzu an Mrs. Cherry und an die arme Stute denken und lief so schnell ich konnte nach Hause.

Die Leute sprachen noch eine gute Weile über Mutter Ginny, dann hörte das Gerede auf, und ich dachte auch nicht mehr daran. Als ich eines Morgens zum Frühstück herunterkam, erkannte ich sofort, daß etwas geschehen war. Meine Eltern waren in ein ernstes Gespräch vertieft.

»Ich muß sofort fahren«, sagte Mutter gerade. »Das siehst du doch ein.«

»Ja, natürlich«, antwortete Vater.

»Ich komme vielleicht schon zu spät. Ich weiß, daß es für dich sehr schwierig ist, gerade jetzt mitzukommen.«

»Du hast doch nicht angenommen, daß ich dich allein fahren lasse?«

»Eigentlich nicht. Aber ich müßte heute abreisen.«

»Warum nicht?«

»Ich bin dir so dankbar, Jake.«

»Was ist geschehen?« fragte ich. »Wovon sprecht ihr?«

»Es geht um deinen Großvater Dickon«, erklärte Mutter.

»Er ist sehr krank, und man befürchtet ...«

»Willst du damit sagen, daß er im Sterben liegt?«

Mutter wandte sich ab. Sie hing genauso an ihrem Vater wie ich an meinem.

Vater ergriff mich am Arm. »Er ist sehr alt. Es mußte einmal so kommen. Es ist ein Wunder, daß er so lange am Leben geblieben ist. Mutter und ich reisen noch heute ab.«

»Ich begleite euch.«