Jutta Profijt

Unter Fremden

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Jutta Profijt

Jutta Profijt wurde 1967 in Ratingen geboren. Sie arbeitete als Übersetzerin und Projektmanagerin, bevor sie sich sehr erfolgreich dem Bücherschreiben widmete. Zuletzt erschien bei dtv ihr Roman über eine turbulente Mehrgenerationen-WG: ›Alle für einen‹.

 

Mehr über die Autorin unter www.juttaprofijt.de

Über das Buch

Madiha überlebt die strapaziöse Flucht aus ihrem syrischen Heimatdorf nur mithilfe eines fremden Mannes, Harun. Doch kaum landen die beiden in einem deutschen Flüchtlingsheim, verschwindet Harun über Nacht. Seine dunkle Vergangenheit wird nun auch für Madiha zur tödlichen Bedrohung.

Fesselnd, hochaktuell und aus einer ungewöhnlichen Perspektive erzählt.

Impressum

Ungekürzte Ausgabe 2019

© 2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Wildes Blut, Atelier für Gestaltung, Stephanie Weischer unter Verwendung eines Fotos von Arcangel

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43227-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21774-3

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423432276

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Dank

1

Noch immer kein Zeichen von Harun, keine Nachricht. Sein Spind sei abgeschlossen, erklärt Rafiq mir unwirsch. Auf dem Bett liege das T-Shirt, in dem Harun geschlafen hat, aber das Bett sei unbenutzt, die zweite Nacht schon.

Ich habe ein schlechtes Gefühl. Obwohl Harun mir nicht verpflichtet ist, wäre er nicht ohne ein Wort gegangen. Wohin auch? Im Gegensatz zu vielen, die mit uns unterwegs waren, kennen wir niemanden in diesem Land, viertausend Kilometer von zu Hause entfernt. Einen großen Teil des Wegs haben wir zu Fuß zurückgelegt, obwohl mir mein verkrüppeltes Bein mehr als einmal den Dienst versagte. Dann half mir Harun. Reichte mir die Hand, weil keine Frau da war, die mich hätte stützen können. Im Gegenzug tröstete ich ihn nachts, wenn er Albträume hatte. Ich bin ihm zu Dank verpflichtet und fühle mich verantwortlich für den jungen Mann, der mein Leben rettete, als ich selbst am wenigsten daran hing.

Nun stehe ich hier und beginne zu begreifen, dass ich wieder einmal alles verloren habe. Ich habe niemanden auf der Welt, niemanden in dieser sauberen Stadt, deren Namen ich nicht aussprechen kann. Ich fühle mich niemandem verbunden, keinem einzigen der vierhundertsiebenunddreißig Menschen, die in bedrückender Enge in den Containern wohnen, jeweils acht in einem Zimmer, das für vier gedacht war. Wir seien so viele, heißt es, aber dieses ›wir‹ existiert nicht. Wir sind keine Gemeinschaft. Ich jedenfalls bin allein.

Rafiq steht immer noch vor mir, aber als meine Hand zitternd nach einem Halt sucht, tritt er einen Schritt zurück. Er berührt keine Frau, ein Wunder, dass er überhaupt mit mir spricht. Das tut er vermutlich nur, weil er mich braucht, wie alle hier. Ich bin die Einzige, die Deutsch spricht. Das irritiert meine Landsleute ebenso wie mich selbst, und ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass jeder meinen Namen kennt und ständig jemand nach mir ruft.

Gebraucht zu werden ist nicht dasselbe wie geschätzt zu werden. Besonders die Männer sind häufig unwirsch, wenn sie auf mich warten müssen oder wenn ihnen die Antworten, die ich für sie übersetze, nicht gefallen. Dann schenken sie meinen Worten keinen Glauben. In ihren Augen spricht immerhin für mich, dass ich meinen Platz in der Gesellschaft kenne und mich nicht anmaßend benehme, wie die gebildeten Städterinnen es tun. Natürlich halte ich den Blick gesenkt, wenn ich mit einem Mann spreche. Da können die modernen Frauen noch so abfällig den Kopf schütteln, können mich noch so oft ›Bauerntrampel‹ nennen. Und trotzdem bin ich diejenige, die der Sprache dieses Landes mächtig ist. Nicht, weil ich sie studiert hätte, sondern weil ich die ersten Jahre meines Lebens im Haushalt einer deutschen Frau verbracht, ihr beim Reden zugehört und hinter Wänden oder Vorhängen versteckt gelauscht habe, wenn sie ihren Kindern deutsche Märchen vorlas.

Endlich finde ich den Handlauf der Treppe, die ich mühsam erklommen habe, und klammere mich daran fest, bevor ich langsam und entmutigt wieder hinabsteige. Hier unten, wo die Frauen und Familien wohnen, hören wir die Schritte der Bewohner über uns, wenn auch sie nicht schlafen, weil sie vor lauter Nichtstun einfach nicht müde werden, weil einige schnarchen und andere schreckliche Bilder sehen, sobald sie die Augen schließen. Bei uns ist es ähnlich, nur dass noch das Weinen der Kinder hinzukommt oder ein leise gesungenes Schlaflied. Wir alle haben dunkle Ringe unter den Augen, sind von den Strapazen der Flucht ausgezehrt und gehen uns gegenseitig auf die Nerven. Etwas besser dran sind nur die, die jemanden haben, der ihnen Halt gibt. In meinem Fall war das Harun.

 

Die Lautstärke um mich herum dringt mir unter die Haut, wo sie sich ausbreitet und ein halb stechendes, halb juckendes Gefühl verursacht wie die haarfeinen Dornen der Disteln, die man auch mit einer Pinzette nicht entfernen kann. Trotz des Regens, der seit Tagen ohne Unterlass vom grauen Himmel fällt, verlasse ich deshalb die Unterkunft. Gleich hinter den Containern beginnen die Felder, die meisten braun, andere mit dem zarten Grün des Wintergetreides überhaucht. Einige Feldwege sind asphaltiert und in besserem Zustand als jede Straße des Dorfes, in dem ich die letzten zwanzig Jahre verbracht habe, andere ausgewaschen und schlammig, was mich vor große Probleme stellt. Wenigstens habe ich hier einen richtigen Gehstock bekommen, mit einem sanft geschwungenen, polierten Griff, den meine linke Hand fest umklammert. Ich nehme die Mühsal und die Schmerzen des Gehens in Kauf, denn dies ist die einzige Möglichkeit, der stickigen Luft, den kreischenden Kinderstimmen, der unablässig dudelnden Musik, dem Gebimmel der hundert verschiedenen Handys und den Forderungen meiner Mitbewohner zu entgehen.

Langsam umrunde ich den Ortsteil, an dessen äußerstem Rand man uns untergebracht hat. Es sieht aus wie das Ende der bewohnten Welt, denn hinter den letzten Häusern kommen nur noch Felder und einzelne Baumreihen, die schnurgerade einen Weg oder einen Bachlauf säumen. Ich komme vom entgegengesetzten Ende der Welt, wo alles Grün in Sand und Steine übergeht, daher ist mir die Einsamkeit vertraut. Die meisten anderen Bewohner der Unterkunft aber werden in der Ruhe der Natur nervös.

Die Häuser und Straßen der kleinen Siedlung sind so sauber, dass ich anfangs glaubte, ein Staatsbesuch stehe unmittelbar bevor. Ich gehe aber nicht durch die Straßen, sondern an einem Bach entlang, eher ist es wohl ein Kanal, denn das Wasser strömt in einem schnurgeraden Bett eilig vorbei. Menschen, die Hunde an der Leine führen, kommen mir entgegen. In den zwölf Tagen, die ich nun hier bin, habe ich mich an diesen seltsamen Anblick immer noch nicht gewöhnt.

Nachdem meine Hoffnung auf Haruns Rückkehr erneut enttäuscht wurde, fühle ich mich seltsam entrückt. Ich nehme meine Umwelt und die Unterkunft, in die ich viel zu schnell zurückkehre, nur verschwommen wahr, wie durch den Nebel, der manchmal nach einem nächtlichen Regenschauer frühmorgens auf meinen Feldern lag. Dieser Nebel ebenso wie die Empfindung, als wäre der Kopf voller Wolle, entstehen, wenn mein Verstand sich weigert, eine Tatsache zu akzeptieren. So fühlte ich mich, als man mich mit zwölf aus dem Haus jagte. Dann, als ich vor dem fremden Mann stand, der mein Vater war. Auch als ich in sein Haus zog und die Verachtung meiner Stiefmutter und ihrer Kinder zu spüren bekam, sah ich die Welt wochenlang nur schemenhaft, farblos und ohne feste Konturen. Und zuletzt …

Auch zuletzt hielt die Wolle im Kopf die Gedanken und Bilder fern, der Nebel den Schmerz. Ich war wie abgeschnitten von der Welt, gelähmt, willenlos. Ich wäre gestorben, von den Vorbeiziehenden unbeachtet, hätte nicht ein mir vollkommen unbekannter Mensch die Hand nach mir ausgestreckt, mich auf die Füße gezogen und mich einfach mitgenommen. Harun. Ein fremder Mann, der mich niemals hätte berühren dürfen. Hätte ich liegen bleiben sollen, weil meine Religion mir verbot, die einzige Hand zu ergreifen, die mir zu helfen bereit war? Hätte ich erfrieren, verhungern oder verdursten sollen, weil gerade keine Frau zur Stelle war, die mich hätte stützen können?

Ich weiß, dass meine Stiefmutter beide Fragen mit Ja beantwortet hätte. Auch meine Halbschwestern, ja, die ganze Familie, die Nachbarn, sie alle wären sich einig gewesen. Aber nicht mein Vater. Mein Vater hätte mir zugenickt, hätte er mich auf dem Boden liegen und auf die Hand starren sehen, die Harun mir reichte. Mein Vater selbst hätte einer fremden Frau in einer solchen Lage die Hand gereicht. Mein Vater … Der Nebel um mich herum wird wieder dichter.

In diesem Gefühl verbringe ich die nächsten zwei Tage, in deren Verlauf ich hundertmal den Weg entlangschaue, auf dem immer wieder Menschen zur Unterkunft kommen. Neuankömmlinge, Helfer, Handwerker. Harun ist nicht da-runter.

Auch am fünften Morgen nach seinem Verschwinden ist Harun nicht zurück, wie ich Rafiqs Kopfschütteln entnehme. Aufmerksam, aber ohne Interesse dolmetsche ich einige Gespräche, bevor Rafiq mich durch einen kleinen Jungen zu sich rufen lässt. Auf Arabisch redet er auf den Hausmeister ein, aber der Mann, der vor fünfundzwanzig Jahren selbst als Flüchtling vom Balkan hier ankam, versteht ihn nicht. Ich trete näher und höre, dass Haruns Bett für einen Neuankömmling gebraucht wird. In meinen Ohren beginnt es zu rauschen, Rafiqs Stimme geht in dem zunehmenden Brausen unter. Mein Blick verengt sich, als würde ich durch eine Röhre schauen, die sich wie von selbst auf die Hände des Hausmeisters richtet, in denen er einen großen Schlüsselbund hält. Seine Finger spielen mit den einzelnen Schlüsseln, ob nervös oder ungeduldig, kann ich nicht erkennen. An seiner linken Hand fehlen zwei Finger. Die Haut ist rau, die Fingernägel sind schmutzig, eine Schramme zieht sich über den rechten Daumen. Dann löst sich die Röhre auf, das Brausen flaut ab, ich höre und sehe wieder ganz normal.

»Was wird aus Haruns Sachen?«, frage ich Rafiq leise auf Arabisch.

Er bricht mitten in einem Satz ab, den der Hausmeister sowieso nicht versteht, und schweigt, eher verärgert als irritiert.

»Übersetzen sollst du, also tu, was man dir sagt, und misch dich nicht ein«, knurrt er mich dann an.

Der Hausmeister schaut verständnislos zwischen uns hin und her.

Die Situation trifft mich völlig unvorbereitet. Tatsächlich war ich bisher nicht auf die Idee gekommen, dass Haruns Verschwinden auch für andere Menschen von Belang ist. Niemand hat nach ihm gefragt, niemand ihn vermisst. Doch plötzlich muss ich feststellen, dass sein Weggang eine Bedeutung hat, wenn auch eine rein praktische: Sein Bett ist leer, und Rafiq erwartet einen Verwandten, den er gern dort unterbringen möchte. Hätte ich dieses Gespräch nicht dolmetschen müssen, hätte ich nicht erfahren, dass Haruns Platz in diesem Land bereits neu vergeben ist.

Die Männer starren mich immer noch an. Ich spüre meinen Herzschlag in der Kehle und muss trocken schlucken. Was soll ich jetzt tun? Wenn ich den Dingen ihren Lauf lasse und Harun zurückkehrt, hat er kein Bett mehr. Wer weiß, was mit seinem Besitz geschieht. Wenn ich mich jedoch einmische, übernehme ich die Verantwortung für sein Eigentum und damit auch für ihn. Andererseits habe ich diese Verantwortung bereits, denn Harun gab mir den Zweitschlüssel zu seinem Spind. Will ich diese Bürde tragen? Habe ich eine Wahl? Könnte ich Harun überhaupt noch unter die Augen treten, wenn er zurückkommt und ich ihm erklären muss, dass ich nichts unternommen habe, um seine Rechte zu verteidigen? Alle diese Überlegungen kosten Zeit, die Rafiq und dem Hausmeister offensichtlich zu lang wird.

»Übersetz endlich!«, sagt Rafiq laut.

Ich wende mich an den Hausmeister. »Ich habe einen Schlüssel zu Haruns Spind.«

Der Hausmeister schaut mich an, als sähe er mich zum ersten Mal. Vermutlich trifft das sogar zu. Bisher war ich nur ein Lautsprecher in Abaya und Hidjab, aus dem die Worte anderer Menschen tröpfeln. Plötzlich bin ich eine Person.

»Dann räum seinen Spind aus und nimm die Sachen in Verwahrung.«

Dem Mann ist es anscheinend egal, was mit den Habseligkeiten des Verschwundenen passiert. Ich nicke und übersetze die Entscheidung des Hausmeisters.

»Ich werde dabei sein, wenn du den Schrank öffnest«, erklärt Rafiq.

Ich neige den Kopf und konzentriere mich darauf, den Rest des Gesprächs zu übersetzen, das sich um die üblichen Themen dreht: den Wunsch nach abschließbaren Zimmertüren, die Überbelegung der Unterkunft oder das immer nur lauwarme Wasser in der Dusche.

Als ich endlich entlassen bin, gehe ich in mein Zimmer und sinke zitternd auf mein Bett. Ich kenne mich selbst nicht wieder, bin sowohl stolz auf meine spontane Einmischung als auch erschrocken über diese Anmaßung. Woher nahm ich den Mut, statt zu übersetzen für mich selbst zu sprechen? Genau genommen sprach ich für Harun, korrigiere ich mich, vermutlich war das auch der Grund für meine Kühnheit. Ich fühle mich ihm verpflichtet, wäre ohne ihn nicht hier. Er war, neben meinem Vater, der erste Mann, der mir Respekt entgegenbrachte, der mich wie einen Menschen behandelte, mir half.

Der Gedanke an meinen Vater schmerzt so stark, dass ich die Arme auf den Bauch presse und mich zusammenkrümme. Mit aller Macht schiebe ich sein Gesicht beiseite, starre mit weit aufgerissenen Augen auf das gegenüberliegende Bett, um mich an diesem Blick zurück in die Wirklichkeit zu ziehen, in das Hier und Jetzt, in dieses kleine, muffige Zimmer, in dem ich nun mit vielen anderen lebe.

Ich hätte meine Heimat nicht freiwillig verlassen, hätte mich niemals allein auf den Weg gemacht. Immer haben andere für mich entschieden. Dass ich hier bin, verdanke ich Harun ebenso sehr wie meinem Vater. Harun nahm mich dort, wo die Anweisungen und Vorkehrungen meines Vaters endeten, unter seine Fittiche. Er verhandelte mit den Schleppern, sah zu, dass ich nicht zurückblieb. Mein Vater schickte mich fort, Harun sorgte dafür, dass ich ankam. Auch hier bestimmen andere über mich und meine Zeit, und ich folge dem Ruf, sobald jemand nach der Dolmetscherin verlangt.

Neben dem Schrecken über meine unerwartete Courage durchströmt mich die plötzliche Gewissheit, dass ich richtig gehandelt habe. Immerhin bin ich nach Haruns Verschwinden allein und auf mich gestellt und werde es bleiben, bis er wieder auftaucht.

Falls er wieder auftaucht.

Die Möglichkeit, dass Harun vielleicht für immer verschwunden bleibt, nimmt mir den Atem und löst ein Zittern aus, das vom Kopf zu den Zehen reicht und die Zähne laut aufeinanderschlagen lässt.

2

Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich so weit beruhige, dass ich mir Gedanken über mein weiteres Vorgehen machen kann. Rafiq will dabei sein, wenn ich Haruns Spind öffne, aber das muss ich unbedingt verhindern. Er wird mich zur Seite drängen und sich von Haruns Sachen nehmen, was ihm gefällt oder nützlich erscheint. Ich muss also einen Zeitpunkt finden, zu dem Rafiq anderweitig beschäftigt ist und sich auch sonst niemand in dem Zimmer aufhält, denn es ist undenkbar, dass ich mit einem fremden Mann allein in einem Zimmer bin. Mein Herz beginnt schon zu stolpern, wenn ich mir nur vorstelle, dass ich ein Zimmer, in dem sieben fremde Männer leben, allein betrete.

Die Zeit bis zum Mittagessen verbringe ich in nervöser Unruhe, aber zum Glück dauert es nicht allzu lang, bis die Glocke geläutet wird. Wer noch nicht unterwegs ist, macht sich nun auf. Obwohl niemand das Essen hier mag, sind die Mahlzeiten die Höhepunkte der mit dröhnender Leere angefüllten Tage. Als ich zu Rafiqs Zimmer hinaufsteige, laufen nur noch ein paar Kinder herum, weil sie vom Klang der Glocke draußen beim Spielen überrascht wurden und erst die Hände waschen müssen. Einen der Jungen halte ich an seiner Jacke fest und verspreche ihm ein Bonbon, wenn er schaut, ob Rafiqs Zimmer leer ist. Der Kleine flitzt los, bestätigt mir, dass niemand da ist, und schnappt sich das Bonbon ohne ein Dankeschön. Dann nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und betrete das Zimmer.

Die Betten sind ungemacht und zerwühlt, auf einigen liegen persönliche Dinge oder Kleidungsstücke. Unschlüssig stehe ich mitten im Zimmer und schaue mich um. Ich weiß nicht, welches Bett Haruns ist. Enttäuscht, dass ich seine Besitztümer womöglich doch den gierigen Mitbewohnern überlassen muss, wende ich mich den vier Spinden zu. Nur an einem hängt ein Schloss, schon ziemlich zerkratzt, auch die Tür weist zwei Dellen auf, offenbar hat jemand versucht, sie aufzuhebeln. Ich verdächtige Rafiq, aber natürlich könnte es jeder gewesen sein.

Nur mit Mühe gelingt es mir, den Schlüssel in das winzige Schlüsselloch zu schieben. Der Bügel löst sich, ich stecke das Schloss in meine Manteltasche und öffne die Tür. Bis auf eine Jeanshose, ein paar rot-weiße Turnschuhe, Unterwäsche und eine blaue Plastiktüte auf dem Boden ist der Spind leer. Ich stecke alles in den Baumwollbeutel, den ich mitgebracht habe, und will mich schon abwenden, als ich noch einmal innehalte. Über der Kleiderstange befindet sich eine Ablage. Ob dort oben etwas liegt, kann ich nicht sehen, dafür bin ich zu klein. Also strecke ich mich, so gut es geht, erhebe mich auf die Zehenspitzen und taste vorsichtig mit der rechten Hand über das Bord. Meine Fingerspitzen berühren etwas, bekommen es aber nicht zu fassen. Schon leicht außer Atem von der Anstrengung lasse ich mich zurückfallen und schaue mich im Zimmer um.

Ein Hocker steht zwischen den Stockbetten. Er dient als Ablage für einige Medizinfläschchen, ein Nasenspray, eine Packung Taschentücher. Ich räume die Sachen auf das linke Bett, trage den Hocker zum Spind und steige hinauf. Jetzt kann ich sehen, was ich zuvor nur gefühlt habe: ein Päckchen aus stabilem schwarzem Plastik, das an einer der vier Seiten aufgerollt und mit einem Klettverschluss gesichert ist. Noch nie habe ich ein solches Päckchen gesehen, begreife aber sofort, dass es strapazierfähig genug ist, um den Inhalt während einer langen Flucht zu schützen. Ich stecke auch dieses Päckchen in meinen Beutel und steige gerade vom Hocker, als Rafiq in der Tür erscheint.

»Du hintertriebenes Weib, was bildest du dir ein?«, brüllt er, betritt den Raum aber nicht.

Ich verliere das Gleichgewicht, muss mich kurz am Bett abstützen und greife nach meinem Stock. Als ich den Raum verlassen will, versperrt Rafiq mir den Weg und streckt mir fordernd die Hand entgegen. Hereinkommen darf er nicht. Die strikten Verhaltensregeln, an die Männer wie Rafiq, der auf dem Land und traditionell aufgewachsen ist, gebunden sind, verschaffen mir plötzlich einen Vorteil. Während die Zeit um uns herum stillzustehen scheint, wird mir klar, dass Rafiq genauso unentschlossen ist wie ich. Er wäre durchaus berechtigt, ein widerspenstiges Weib zu schlagen, aber ich bin nicht irgendwer. Ich bin die Dolmetscherin. Es ist mir ein Leichtes, mich bei den freiwilligen Helfern zu beschweren, die ich alle persönlich kenne. Ich kann die Behörden einschalten und Rafiq anzeigen, denn ich bin der Sprache dieses Landes mächtig. Rafiq ist das nicht. Er ist auf Hilfe angewiesen. Im Zweifelsfall auf meine.

»Lass mich durch«, erklingt plötzlich eine andere, jüngere, mir unbekannte Stimme hinter Rafiq. Ein Mann, den ich vom Sehen kenne, will zu seinem Bett. Auch er bleibt wie angewurzelt stehen, als er mich sieht. »Was tust du hier?«, fragt er.

Er trägt moderne Kleidung, was allerdings nicht viel bedeuten muss, da wir alle nur die Kleidung tragen können, die wir in der Kleiderkammer finden. Trotzdem erkennt man Männer wie Rafiq daran, dass sie dunkle Farben wählen, während Städter blaue Jeanshosen und bunte Pullover bevorzugen. Demnach gehört der Mann an der Tür zu den modernen Männern. Trotzdem wird auch er den Raum nicht betreten. Aber vielleicht hilft er mir, ohne Schläge hier herauszukommen – und zwar mit Haruns Eigentum.

»Harun bat mich, sein Eigentum zu verwahren«, sage ich daher und zeige ihm das Schloss, das er am Spind gesehen haben muss und in dem noch der Schlüssel steckt. »Also lass mich bitte durch.«

»Klar«, sagt er und tritt zur Seite.

Rafiq bleibt, wo er ist.

»Gibt es ein Problem?«, fragt der junge Mann, während er zwischen Rafiq und mir hin- und herschaut.

Ich halte die Augen gesenkt, aber so, dass ich die beiden Männer im Blick habe. Der jüngere fasst Rafiq am Arm und zieht ihn ein wenig zur Seite. Rafiq wehrt sich nicht, rührt sich aber auch nicht vom Fleck. Ich fasse mir ein Herz und gehe langsam auf die beiden Männer zu, wende den gesenkten Kopf ab, schaue auf den Fußboden knapp außerhalb des Zimmers und konzentriere mich darauf, dorthin zu gelangen.

Wie von feinsten Spinnenfäden gezogen, weichen die Männer gerade so weit zur Seite, dass ich die Tür passieren kann. Ich beeile mich, die Treppe hinunterzusteigen, bevor Rafiq es sich doch noch anders überlegt. Als ich unten ankomme, bin ich nass geschwitzt.

In meinem eigenen Zimmer sind zu viele Menschen, daher ziehe ich mich auf die Toilette zurück, in die einzige Kabine, in der sich noch ein Klodeckel befindet. Ich klappe ihn herunter, setze mich darauf und sortiere Haruns Besitztümer: Die blaue Plastiktüte und das schwarze Päckchen stecke ich in die Gürteltasche aus Leder, in der sich meine eigenen Wertsachen wie Pass und Bargeld befinden. Kleidung und Schuhe lasse ich im Baumwollbeutel. Dann gehe ich in mein Zimmer, quetsche mich an den schwarzafrikanischen Frauen vorbei, die sich gegenseitig die Haare flechten, lege den Beutel in einen leeren Spind und lasse Haruns Bügelschloss einschnappen. Den Schlüssel verstaue ich in meiner Gürteltasche. Vielleicht ist Rafiq nur habgierig, aber vielleicht hat er einen ganz speziellen Grund, sich für den Inhalt von Haruns Spind zu interessieren. Solange ich keine Antwort auf diese Frage habe, werde ich mich noch mehr als bisher vor ihm in Acht nehmen müssen.

 

»Hallo, Madiha. Wir müssen noch ein paar Formulare ausfüllen«, ruft Amelie, eine der vielen freiwilligen Helferinnen, mir zu, als ich den türlosen Raum betrete, in dem zwei Waschmaschinen und drei winzige Tische mit klapprigen Hockern stehen. Wegen der fast ununterbrochen laufenden Waschmaschinen herrscht noch mehr Lärm als in den anderen Räumen, und die Luft ist stickig, aber wenigstens ist es hier immer warm.

Amelie ist Mitte fünfzig, eine immer lächelnde, freundliche Frau mit einem riesigen Busen und einer knallroten Brille. Sie war ehrlich entsetzt, als sie erfuhr, dass ich zwar Deutsch spreche, aber weder lesen noch schreiben kann. Seitdem zeigt sie mir immer wieder Wörter, die sie für wichtig hält, in der Hoffnung, dass ich sie eines Tages plötzlich lesen oder gar schreiben kann. Ich nicke höflich, auch wenn ich ihre Zuversicht nicht teile.

Ich nehme auf einem der Hocker Platz und gebe mir Mühe, Amelies Lächeln zu erwidern. Offenbar nicht sehr erfolgreich, denn sie fragt, was mich bedrückt.

»Harun ist verschwunden.«

Ich muss ihr erklären, wer Harun ist und was er während unserer Flucht für mich getan hat. Seit wir hier sind, haben Harun und ich kaum mehr Zeit miteinander verbracht. Hier bleiben die Männer und die Frauen unter sich, und hier gibt es genügend Frauen, die mir helfen, wenn ich wegen meines verkrüppelten Beins Schwierigkeiten habe. Ob allerdings die Männer, mit denen Harun das Zimmer teilte, ihm Mut zusprachen, wenn er nachts schreiend erwachte, wage ich zu bezweifeln. Eher warfen sie etwas nach ihm, damit er still war und sie nicht weiter störte.

»Er hat seine Sachen nicht mitgenommen. Er würde nie gehen, ohne sich von mir zu verabschieden. Und er hat mir den Schlüssel zu seinem Spind anvertraut für den Fall, dass ihm etwas zustoßen sollte.«

Ich erinnere mich gut an diese Situation, es war das letzte Mal, dass wir miteinander sprachen. Ich hatte bei einem Termin mit seiner Helferin gedolmetscht. Als die Frau kurz fortgerufen wurde, sagte Harun leise: »Madiha, ich möchte dir etwas zur Aufbewahrung geben.« In seiner Hand hielt er einen kleinen Schlüssel.

Ich war so überrascht, dass ich kein Wort herausbrachte. Schlüssel sind etwas aus dem vorigen Leben, als wir in Wohnungen oder Häusern lebten, als Eigentum nicht nur das war, was man am Leib trägt. Hier besitzt praktisch niemand etwas. Die Dokumente und Handys trägt man am Körper, Kleidung zum Wechseln liegt auf dem Bett oder in einem der wenigen Spinde oder hängt an einem Haken. Die Zimmertüren sind immer offen, die einzigen abschließbaren Türen in der Unterkunft sind die der Toiletten und Duschen. Sie haben allerdings keine Schlüssel, sondern Drehriegel. Daher war der kleine silberne Gegenstand, den Harun mir reichte, wie eine Erinnerung an eine vergangene Zeit.

»Falls ich meinen verliere. Oder mir etwas zustößt.«

Den zweiten Teil sagte er so leise, dass ich nicht sicher war, ihn richtig verstanden zu haben. Bevor ich nachfragen konnte, kam Haruns Betreuerin zurück und füllte den Rest der Formulare aus. Als ich später endlich die Gelegenheit hatte, den Schlüssel in meine Gürteltasche zu stecken, fiel mir ein, dass ich Harun nicht danach gefragt hatte, was ihm denn zustoßen sollte. Was auch immer er damit meinte – ich hoffe, dass es nicht eingetreten ist.

Amelies resoluter Tonfall holt mich in die Gegenwart zurück. »Dann melden wir ihn bei der Polizei als vermisst.«

Das Wort ›Polizei‹ verursacht mir Unwohlsein, aber es hat hier in Deutschland eine ganz andere Bedeutung als in meiner Heimat. Hier nennt man Polizisten ›Freunde und Helfer‹. Eine Bezeichnung, von der ich nicht glaube, dass sie der Wahrheit entspricht. Allerdings hat bisher kein Polizist die Hand gegen einen von uns erhoben, und es war auch keiner hier, um Schutzgeld zu kassieren.

»Lass uns den Papierkram erledigen und dann die Vermisstenmeldung machen. Ich wüsste nicht, was wir sonst tun können.«

 

Während wir über gepflasterte Bürgersteige, auf denen auch ich mit meinem Stock problemlos vorwärtskomme, zur Bushaltestelle gehen, stelle ich fest, wie gesund und flink Amelie ist. Dabei ist sie über fünfzig! In meiner Heimat ist die Schwiegermutter froh, wenn die Frau des Sohnes ihr die schwere Hausarbeit abnimmt. Auch diese Frauen sind erst fünfzig, manche sechzig, aber sie gehen gebückt, haben kaum noch Zähne und verlassen das Haus nicht mehr. Männer in dem Alter sitzen vor der Tür oder gehen ins Café. Auch sie sind verbraucht und nur noch Schatten ihrer selbst. Solche gebrechlichen Menschen habe ich in Deutschland noch nicht gesehen, aber das mag am Wetter liegen. Es ist so kalt, dass die Holzbänke, die vor vielen Häusern stehen, ungenutzt bleiben. Vielleicht kommen die Alten im Frühjahr heraus und verbringen dann den ganzen Tag vor der Tür, sprechen die heimkommenden Nachbarn an, schimpfen mit den Kindern und regen sich über die Jugend auf. Der Gedanke bringt mich fast zum Lächeln, aber dann streift mein Blick eine Häuserzeile, und ich kann es mir doch nicht vorstellen. Zu viele Zäune ziehen Grenzen zwischen benachbarten Grundstücken, zu eilig hasten die Leute aneinander vorbei.

Trotz ihrer Leibesfülle schreitet Amelie flott aus. Ich muss mir Mühe geben, mitzuhalten, denn nicht nur meine Behinderung erschwert mir das Gehen, auch die Füße sind noch nicht von den Strapazen der langen Märsche genesen. Die leichten Schuhe, die ich trage, habe ich extra eine Nummer größer ausgesucht, damit sie nicht scheuern, aber sie bremsen meine Schritte. Trotzdem genieße ich die Bewegung und die frische Luft, selbst wenn diese eiskalt ist. Ich bin Feldarbeit gewohnt und fühle mich in der drangvollen Enge der Unterkunft meistens eingesperrt.

Amelie blickt sich immer wieder mit vorwurfsvollem Blick zu mir um. Sie möchte, dass ich wegen meines Beins einen Arzt aufsuche. Als ich sechs Jahre alt war, keilte ein Esel aus, weil eine Schlange ihn erschreckt hatte. Der Huf zerschmetterte mein Schambein, beschädigte das Hüftgelenk und zerstörte den Geburtskanal. Ich kann keine Kinder bekommen, habe daher nie geheiratet, aber ich kann mit den Schmerzen und der Behinderung leben und weiß, dass Bewegung mir guttut und zu viel sitzen schadet. Ich sehe keinen Sinn darin, mich von einem Arzt untersuchen zu lassen. Was könnte er jetzt, achtundzwanzig Jahre nach dem Unfall, noch tun?

Ich solle den Busfahrschein beim Fahrer lösen, trägt Amelie mir auf. Starr vor Schreck bleibe ich in der Tür stehen, der Busfahrer schaut mich erwartungsvoll an, dann ungeduldig. Von einem Moment zum anderen ist mein Kopf vollständig leer. Amelie flüstert mir von hinten den Namen der Haltestelle zu, aber ich kann ihn nicht nachsprechen. Zum Schluss schiebt sie mich zur Seite, kauft die Fahrscheine und sagt laut: »Du lernst es schon noch.«

Damit es mit dem Lernen schneller geht, lässt sie mich während der gesamten Fahrt Ausspracheübungen machen. ›Stadtzentrum‹ kommt mir nach einiger Übung über die Lippen, ›Bahnhof‹ wäre einfach gewesen, aber der Name der Straße, in der das Polizeipräsidium liegt, stellt ein unüberwindbares Hindernis für mich dar. Ich weiß, dass ich diese Wörter irgendwann lernen muss, aber im Moment hätte ich mir lieber in Ruhe überlegt, was ich der Polizei sagen soll. Die Jugendlichen vor uns machen sich über mich lustig und äffen mich nach. Ich schäme mich.

 

Auch wo wir aus dem Bus steigen sind die Straßen sauber und die Bürgersteige ohne Stolperfallen. Die Menschen warten an roten Ampeln, und die Autos fahren zwar schnell und manchmal rücksichtslos, hupen aber kaum. Immer noch irritierend sind die vielen Hunde. Dauernd muss man aufpassen, dass man nicht gegen eine quer über den Gehweg gespannte Leine läuft. In meiner Heimat vermeiden wir den Kontakt mit Hunden und Katzen, weil sie unrein sind. Niemals würde man einen Hund anfassen, bevor man das Gebet beginnt. Kein Mensch in meiner Heimat, nicht einmal die Kinder wären auf die Idee gekommen, das Tier zu streicheln oder gar auf den Arm zu nehmen. Natürlich hatten wir einen Wachhund auf dem Hof, aber er war angekettet und schlief draußen. Hier jedoch gibt es sogar Menschen, die besonders kleine Hunde auf dem Arm halten wie Babys.

Wer keinen Hund ausführt, trägt einen Pappbecher mit Kaffee herum oder schaut auf sein Handy. Es ist schwierig, all diesen Menschen auszuweichen, die so schnell gehen, als müssten sie an ein Sterbebett eilen, bevor der Tod sie überholt. Zweimal werde ich angerempelt. Eine Frau entschuldigt sich, die andere murmelt etwas, das wie ›Schleiereule‹ klingt.

Amelie stößt die Tür zur Polizeiwache auf und tritt an einen Tresen.

»Wir möchten einen jungen Mann als vermisst melden. Sein Name ist Harun …« Sie schaut mich fragend an.

»Dardari«, ergänze ich und schüttele den Kopf, als ich den Namen buchstabieren soll.

»Wie man es spricht«, sagt Amelie. Sie hat inzwischen Erfahrung mit arabischen Namen.

Wieder muss ich erzählen, warum ich mir Sorgen um ihn mache.

»Der ist bestimmt ab in die Großstadt«, sagt ein Polizist, der im Hintergrund mit einer Kaffeetasse in der Hand an einem Regal lehnt, gerade so laut, dass wir ihn hören können.

»Oder hat eine besonders eifrige Betreuerin gefunden«, fügt ein anderer mit einem anzüglichen Grinsen hinzu.

»Nein«, widerspricht Amelie bestimmt. »Er ist nicht aus freien Stücken verschwunden.« Sie gibt das wieder, was ich ihr erzählt habe, berichtet von den Sachen im Spind, von Haruns Vorkehrungen für den Fall, dass ihm etwas zustößt.

Ich bewundere ihr Selbstbewusstsein und den Mumm, mit dem sie den Männern in Uniform widerspricht, und staune über die Männer, die sich diesen Widerspruch gefallen lassen. Von einer Frau!

Der Polizist am Tresen nickt und telefoniert kurz.

Wenig später folgen wir einem Mann, der uns in ein Büro führt und auf zwei Stühle vor seinem Schreibtisch deutet. Wir setzen uns.

»Also, wen wollen Sie als vermisst melden?«

Amelie gibt Haruns Namen an und wiederholt alle Informationen, die sie bereits dem Mann am Empfang gegeben hat.

»Seit wann verschwunden?«

»Vor sechs Tagen war er noch beim Frühstück. Danach hat er die Unterkunft verlassen. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen«, sage ich.

»Wo wollte er hin?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hat er die Unterkunft regelmäßig verlassen? Hatte er Bekannte, die er besuchte? Oder ging er in einen Sprachkurs? War er krank? Musste er zum Arzt?«

Alle diese Fragen beantworte ich mit Kopfschütteln.

»Sie wissen schon, dass er wahrscheinlich untergetaucht ist?«, murmelt der Polizist.

»Er kann nicht schwimmen«, sage ich entsetzt, weil die Vorstellung, dass Harun freiwillig taucht, mir einen Kälteschauer über den Rücken jagt.

»Dummerchen«, sagt Amelie lachend. »Untertauchen bedeutet, dass er sich vor den Behörden versteckt.«

»Oh.«

Sie wendet sich an den Polizisten. »Er ist Syrer, hundert Prozent Aussicht auf Anerkennung. Keinerlei Grund, unterzutauchen.«

»Haben Sie seine Handynummer?«, fragt der Polizist.

Amelie und ich schütteln die Köpfe.

»Ein Foto von ihm?«

»Nein«, sage ich.

»Aber bei seinem Asylantrag muss doch eins sein«, sagt Amelie.

Gelangweilt tippt der Polizist die Angaben in seinen Computer, dann druckt er ein Formular aus, das er vor Amelie auf den Tisch legt. Sie liest alles durch und unterschreibt.

»Sie auch«, sagt der Polizist, während er das Papier zu mir herüberschiebt.

Ich nehme den Kugelschreiber und male mit größter Konzentration meinen Namen.

»Schreiben ist wohl nicht Ihre Stärke«, murmelt der Polizist, als er das Blatt zu sich herumdreht. »Na ja, hätte mich auch gewundert.«

Die Herablassung hat er mit seinen syrischen Kollegen gemein.

3

Als ich in die Unterkunft zurückkomme, sitzen sechs Frauen in meinem Zimmer, auf den Betten und dem Boden. Eine wohnt hier, ihr Bett ist das an der Tür unten links. Sie reden über das Leben, das sie aufgegeben haben. Studium, Arbeitsstellen, eine von ihnen hat ein wichtiges Museum in Aleppo geleitet, wie ich ihren Worten entnehme. Sie unterbrechen ihr Gespräch nicht, grüßen mich aber, als ich die Tür öffne, und machen in dem beengten Raum gerade so viel Platz, dass ich mit Mühe zu meinem Spind gelange.

Die Art, wie all die Menschen, die in diesen Containern hausen, miteinander umgehen, verwirrt mich. Zunächst gibt es verschiedene Nationalitäten, die sich praktisch nicht mischen, obwohl die Bettenzuweisung nach dem Zufallsprinzip erfolgt. Auch in meinem Zimmer schlafen Frauen aus dem tiefsten Afrika, mit denen ich kein Wort wechseln kann. Aber die Mehrheit sind Syrer, allerdings aus allen Ecken des Landes. Alle Schichten, Weltanschauungen, Sitten und Gebräuche treffen hier aufeinander. Es gibt die modern eingestellten Städter, die die westliche Kleidung tragen, als wären sie daran gewöhnt. Wahrscheinlich sind sie das sogar. In dieser Gruppe bleiben zwar die Männer und die Frauen auch meist unter sich, aber bei den Mahlzeiten reden diese Frauen eher mit den Männern am Nebentisch als mit den Schwestern am eigenen, wenn diese Schwestern traditionell gekleidet oder ungebildet sind. So wie ich. Und es gibt Männer aus dem tiefen Osten des Landes, wo die Frauen nie das Haus verlassen und die Familie zwei- oder dreitausend Mitglieder umfasst, die alle denselben Namen tragen, nach dem auch ihr Land benannt ist. Ein Mann aus dieser Region würde eher sterben, als eine fremde Frau berühren. Hätte die Gruppe von Flüchtlingen, mit der ich viele Kilometer zu Fuß zurückgelegt habe, nur aus diesen Leuten bestanden, wäre ich unterwegs krepiert.

Ich gehöre wie immer zu keiner Gruppe. Das war schon in meiner Heimat so, ich bin daran gewöhnt. Daheim allerdings gab es einen Menschen, den ich, nachdem ich ihn im Alter von zwölf Jahren endlich kennengelernt hatte, von ganzem Herzen liebte: meinen Vater. Alle anderen Haushaltsmitglieder hasste ich, so wie sie mich hassten. Hier hingegen begegnet man mir meist mit Gleichgültigkeit, manchmal mit Verachtung. Seit ich hier bin, kommt es vor, dass ich mich nach dem Hass meiner Stiefmutter sehne.

All das geht mir durch den Kopf, während ich überlege, wo ich einen Tisch und etwas Ruhe finde, um ein Bild von Harun zu zeichnen.

»Setz dich doch zu uns.«

Es dauert ein paar Sekunden, bis ich begreife, dass der Satz mir gilt. Diejenige, die ihn ausgesprochen hat, heißt Jasmin. Sie schläft zwei Zimmer weiter, ich habe bereits für sie gedolmetscht. Sie ist vierundzwanzig, studierte an der Universität in Damaskus und hat sich nach dem Gespräch für meine Hilfe bedankt.

»Du bist immer allein.«

›Madiha ist anders.‹ Das habe ich mein ganzes Leben lang gehört. Immer schweigsam, während die Münder aller anderen Frauen nie stillzustehen schienen. Allein die Geschwindigkeit, mit der sich meine Halbschwestern oder die Frauen meiner Halbbrüder Bemerkungen zuwarfen, Kommentare abgaben oder das Thema wechselten, vereitelte meine Beteiligung. Ich fühle mich wohler, wenn ich zuhören kann: dem Klang der Worte lauschen, ihren Bedeutungen nachspüren, den ausgesprochenen und den unausgesprochenen. So ist es auch hier. Das Dolmetschen verlangt mir alles ab, doch meist geht es den Leuten nicht schnell genug. Dann zweifeln sie an meiner Übersetzung, obgleich ein wohl überlegtes Wort glaubwürdiger sein sollte als eins, das hastig gesprochen wird. Aber auch wenn niemand etwas zu tun hat, sind alle in Eile.

Mein erster Impuls ist, dankend abzulehnen, aber das wäre extrem unhöflich. Auch bringe ich nicht die Kraft auf, das Zimmer wieder zu verlassen und in den Regen hinauszugehen, unter den Himmel, der jeden Tag tiefer sinkt, auf unsere Köpfe herab, so dass wir gebückt gehen müssen, tiefer und tiefer, bis wir uns unter der bleischweren Decke eines Tages gar nicht mehr bewegen können. Wie lang habe ich die Sonne nicht gesehen? Ich lasse mich auf die Bettkante sinken, die Jasmin freimacht, indem sie ein bisschen beiseiterückt, und murmele ein Dankeschön.

»Woher kommst du?«, fragt Jasmin mich. Sie trägt eine hellgraue Wollhose, einen signalroten, flauschigen Pullover, knöchelhohe Lederstiefel mit einem hohen Absatz und keinen Hidjab, nicht einmal einen Schal um den Kopf, auch nicht bei den Mahlzeiten. Das schulterlange, seitlich gescheitelte Haar streicht sie immer wieder hinter die Ohren.

Mir sind die plötzliche Stille und die Aufmerksamkeit, die sich auf mich konzentriert, unangenehm.

»Aus einem Dorf am Euphrat, nahe al-Rakka.«

Die Frauen machen schnalzende Laute, vielleicht aus Mitleid, weil die Region als rückständig gilt. Nicht ganz so schlimm wie die Provinz Deir-al-Zur, aber doch viel traditioneller als der Westen mit seinen großen Städten wie Damaskus, Homs oder Aleppo. Die modernen Syrerinnen, die stark geschminkt sind und von denen nur wenige den Hidjab tragen, sind für mich nicht zu durchschauen. Ihre vorlaute Art stößt mich ab, während ich ihr Selbstbewusstsein bewundere – und sie darum beneide.

»Und du bist ganz allein unterwegs?«, fragt Jasmin.

Das sind diese Frauen auch, aber offensichtlich betrachten sie es nur in meinem Fall als unpassend oder zumindest verwunderlich. Und das ist es ja auch. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, diesen Weg auf mich zu nehmen. Und sicherlich hätte außer meinem Vater kein Mann im ganzen Dorf jemals sein Geld aufgewendet, um eine Frau in Sicherheit zu bringen. Ich habe ihn nicht darum gebeten, er hat mich nicht um meine Einwilligung gefragt. Er hat mich auf die Reise geschickt und dann …

Ich bringe kein Wort heraus, nicke nur stumm. Ja, ich bin allein unterwegs.

Meine Mutter starb bei meiner Geburt, und nur der Barmherzigkeit ihrer deutschen Schwägerin ist es zu verdanken, dass die Familie meiner Mutter mich aufnahm, bis ich mit zwölf endlich erwachsen war. Die Familie, die mein Vater mit seiner zweiten Frau gegründet hat, hat mich nie willkommen geheißen. Und er selbst wurde bereits vor meiner Geburt von seinen Eltern verbannt. Ich bin nicht nur allein unterwegs. Ich bin allein auf der Welt.

»Du hast wunderschöne Augen«, sagt Jasmin.

Damit überrascht sie mich. Meine Stiefmutter und die Halbgeschwister nannten mich ›Katzenauge‹. Es war eine Beleidigung. Sie wussten, dass sie mich damit bis ins Mark trafen, denn ich habe die grünen Augen meiner Mutter Mariam geerbt.

Die stolze Mariam war dem älteren Bruder meines Vaters zur Frau versprochen, verliebte sich aber in den jüngeren Sohn. Obwohl auch er ihr vom ersten Moment an mit Haut und Haaren verfallen war, wussten beide nichts von den Gefühlen des jeweils anderen, bis sie, eine Woche vor der geplanten Hochzeit, einander ihre Liebe gestanden. Wenige Tage darauf flohen sie gemeinsam aus Damaskus, wo die Familie meines Vaters auf eine lange Tradition als Händler zurückblickt. Die Liebenden gaben sich als Ehepaar aus und nahmen einen falschen Namen an. Sie mieden die Städte und lebten in kleinen Orten, manchmal Wochen, mitunter nur einige Tage lang. Mariam wurde schwanger, und so wandten sich meine Eltern nach Norden, damit ihr Kind in einem Krankenhaus in Aleppo zur Welt käme. Aber daraus wurde nichts. Drei Wochen vor der Zeit – sie fuhren gerade auf einer Landstraße – schrie meine Mutter auf dem Beifahrersitz des Autos plötzlich auf. Sie waren kurz vor einem Dorf, kein Mensch weit und breit. Mein Vater bettete seine geliebte Frau in einen kleinen Schafunterstand und raste los, um Hilfe zu holen. Als er mit der Hebamme aus dem Dorf zurückkam, war meine Mutter tot.

Eine aufdringliche Melodie unterbricht meine Gedanken: ein Handy. Fast alle haben ständig eins dieser Geräte in der Hand. Sie halten Kontakt in die Heimat oder zu Familienangehörigen, die an anderen Orten gestrandet sind, im Libanon, im Jemen oder in Schweden oder Italien. Nach einem kurzen Augenblick, in dem mehrere Augenpaare das eigene Gerät streifen, setzt das Geschnatter wieder ein: Die eine hat Verwandtschaft in Dänemark, eine andere will nach Berlin, wo ihre Brüder sind. Jasmin möchte hier auf ihren Verlobten warten. Ich erhebe mich leise, gehe an meinen Spind und nehme Papier und Stift heraus. Auf dem Weg zur Tür ziehen sich Beine in schwarzen oder blauen Hosen zurück, um meinen Füßen Platz zu machen, aber das geschieht, ohne dass die Worte stocken oder Blicke mich wahrnehmen. Es ist wie daheim, ich bin wieder unsichtbar.

In der Heimat war ich oft allein, aber, solange ich bei meinem Vater war, nicht einsam. Nun bin ich einsam, aber praktisch nie allein. Wo soll ich also hin, um Haruns Bild zu zeichnen und sein Eigentum zu betrachten, das ich am Körper trage? In der Unterkunft ist außer in den Toiletten kein Ort, an dem ich ungestört wäre, und dort ist es nicht sehr angenehm. Ich verlasse also den Container und lenke meine Schritte in Richtung der Häuser. Nur ungern gehe ich durch die Straßen, denn ich weiß, dass die Leute mich beobachten. Gardinen bewegen sich, Schatten huschen hinter Fensterscheiben umher. Ich suche einen trockenen, ruhigen Platz und finde ihn am unwahrscheinlichsten Ort für einen muslimischen Flüchtling: in der Kirche.

Vor drei Tagen hat Amelie mich bereits einmal mit hineingenommen, nachdem wir in der Kleiderkammer waren, die gleich nebenan liegt. Amelie liebt diesen hohen Raum mit seinen Säulen, das war deutlich zu spüren, und sie freute sich über mein Staunen, das sie offenbar für Bewunderung hielt. Dabei war es eine Mischung aus Verblüffung und Schreck: Verblüffung, weil die Kirche mit Bänken vollgestellt ist. Wo sollen die Leute beten? Und Schreck, weil die Wände und Decken über und über mit Bildern bemalt sind. Bilder, die Heilige darstellen und – ich musste einen Ausruf des Entsetzens unterdrücken – Gott selbst, seinen Sohn und dessen Mutter! Natürlich ist das undenkbar, Gott hat keinen Sohn. Aber Amelie beharrte darauf und wurde ärgerlich, weil ich an ihren Worten zweifelte und fragte, ob sie Jesus, den Propheten, meine, den, der in der Reihe zwischen Moses, Johannes dem Täufer und Mohammad steht. Vor Entrüstung brachte Amelie keinen Ton mehr heraus, also schluckte ich alle weiteren Bemerkungen hinunter und nickte nur noch. Auch ich war erregt, aber als sich mein Puls wieder beruhigt hatte, fiel mir vor allem die Stille in der Kirche auf, die es in einer Moschee niemals gibt. Auch der Geruch nach Luban gefiel mir, obgleich es mich wunderte, das aromatische Harz, das ich als Kind bei Halsentzündungen kauen musste, so fern meiner Heimat in einer Kirche zu riechen. Amelie erklärte mir, dass der Weihrauch, wie sie das Harz nennen, bei feierlichen Anlässen zum Einsatz kommt. Der Luban-Geruch löste ein solch starkes Heimweh aus, dass ich schlucken musste, bevor ich Amelie mit meiner Bemerkung, dass dies ein wunderbarer Raum sei, versöhnte. Sie lud mich ein, jederzeit hierherzukommen. Davon mache ich nun Gebrauch, denn bei dem, was ich vorhabe, möchte ich allein sein.

In der Kirche setze ich mich in die hinterste Bank des Seitenschiffs und warte einige Minuten in gespannter Stille. Nichts rührt sich. Langsam knöpfe ich den Mantel auf, öffne den Lederbeutel an meinem Gürtel und breite seinen Inhalt auf der Bank neben mir aus.

In den vielen gefalteten Papieren, die ich der blauen Plastiktüte entnehme, erkenne ich die Formulare, die Amelie auch für mich ausgefüllt hat. Haruns Antrag auf Asyl. Spätestens jetzt bin ich mir absolut sicher, dass er nicht freiwillig fortgegangen ist, denn diese Dokumente haben eine enorme Bedeutung für jeden von uns. Ich schaue mir die Papiere sorgfältig an, um vielleicht eine Telefonnummer darauf zu finden. Es gibt mehrere Ziffernfolgen, eine ist vermutlich ein Geburtsdatum, eine andere, längere wahrscheinlich die Telefonnummer. Ich stecke die Papiere zurück in meine Gürteltasche und nehme mir das kleine, schwarze Päckchen vor, das Harun vor neugierigen Blicken auf dem obersten Brett seines Spinds verborgen hat.

Es ist etwas größer als eine Hand. Das Plastik ist sehr dick und rauer als eine normale Plastiktüte. Meine Finger haben Mühe, eine Ecke des Materials zu fassen. Der erste Versuch, das Päckchen zu öffnen, misslingt, denn der Klettverschluss, der das aufgerollte Ende fixiert, sitzt sehr stramm. Dann finde ich einen Zipfel, an dem ich ziehen kann, und mit einem Geräusch, das die sanfte Stille der Kirche zerreißt, lösen sich die Widerhaken voneinander. Weitere Verschlüsse versperren meinen Händen den Zugang zu dem gut verborgenen Inhalt, aber nachdem ich verstanden habe, dass hier schlichte Gewalt nötig ist, um sie zu lösen, komme ich meinem Ziel näher.

Das Erste, was meine bebenden Finger zu fassen bekommen, ist ein syrischer Pass. Harun hat mir mehrfach erklärt, dass er alle Ausweispapiere und Dokumente verloren habe. Bei den Kontrollen an den Grenzen, als unser Gepäck schnell und oberflächlich durchwühlt wurde, hat er nie einen Ausweis vorgezeigt. Auch dort sagte er, er habe keinen. Wessen Pass ist also dieser hier? Das Foto ist scharf, aber ist der füllige junge Mann mit den Pausbacken wirklich Harun? Der Harun, den ich kannte, war ausgezehrt, mit tief liegenden Augen, einer Narbe am rechten Mundwinkel, einem spitzen Kinn und schwarzen Bartstoppeln, weil er sich wegen eines Hautausschlags nur schlecht rasieren konnte, aber auch keinen Bart tragen wollte.

Eine ganze Weile starre ich auf das Foto, ohne zu einem abschließenden Urteil zu kommen. Dann lege ich den Pass auf die Bank und widme mich erneut dem Päckchen. Ein gefaltetes Papier, mit einem roten Faden zusammengebunden, kommt zum Vorschein. Beim Lösen des Fadens bemerke ich einen silbernen Ring, der daran geknotet ist. Er ist nicht wertvoll, aber hübsch, mit fein ziselierten Blütenranken, die um den ganzen Reif laufen. Einen Moment schießen mir Tränen in die Augen, als ich an das Schmuckstück denke, das mein Vater für mich angefertigt hatte. Ich musste den Ring heimlich tragen, weil meine Halbschwestern ihn mir sonst abgenommen hätten. Als er zu klein wurde, machte mein Vater daraus einen Verschluss für das Kästchen, in dem ich meine persönlichen Schätze sammelte: einige besonders gelungene Zeichnungen, getrocknete Blüten, eine Haarlocke von meinem Lieblingsesel, den schillernden Panzer eines Käfers. Das Kästchen ging wie alles andere in Flammen auf.