Cover

Über dieses Buch:

Grüne Wälder, blauer Himmel – ein Sommer auf der Schäreninsel Saltön soll das Leben von drei Freundinnen wieder ins Lot bringen und alle Enttäuschungen vergessen machen: Sara ist mit nicht einmal 30 Jahren Witwe und sucht einen Neuanfang, Emily will aus ihrer unglücklichen Ehe ausbrechen und für Johanna wird es Zeit, sich endlich mal um sich zu kümmern, nicht immer nur um andere. Doch von Inselidylle keine Spur! Denn Hals über Kopf werden die drei Frauen in die Vorbereitungen für das große Mittsommerfest involviert – und haben bald gar keine Zeit mehr für ihre eigenen Probleme …

Skandinavienfeeling pur, romantische Turbulenzen und jede Menge zwischenmenschliches Chaos: „Ein vergnüglicher Roman über die Liebe.“ Gong

Über die Autorin:

Viveca Lärn wurde 1945 in Göteborg geboren. 1975 erschien ihr erstes Kinderbuch. Neben Romanen, Gedichten und Theaterstücken schrieb sie auch für Film und Fernsehen. Viveca Lärn ist heute eine der erfolgreichsten zeitgenössischen Autorinnen Schwedens. Sie wurde mit dem Astrid-Lindgren-Preis und der Nils-Holgersson-Plakette ausgezeichnet.

Viveca Lärns vierbändige Saltön-Reihe wurde äußerst erfolgreich als Fernsehserie verfilmt. Sie umfasst die folgenden Bände, die auch bei dotbooks erscheinen:

Sommer auf Saltön: Die Mittsommernacht

Sommer auf Saltön: Das Hummerfest

Weihnachten auf Saltön

Frühling auf Saltön

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eBook-Neuausgabe Juli 2017

Dieses Buch erschien bereits 2003 unter dem Titel Sommer auf Saltön in der Rowohlt Verlag GmbH.

Copyright © der schwedischen Originalausgabe »Midsommarvals« 1999 by Viveca Lärn

Copyright © der schwedischen Originalausgabe »Hummerfesten« 2000 by Viveca Lärn

Die schwedischen Originalausgaben erschienen 1999 und 2000 unter den Titeln »Midsommarvals« und »Hummerfesten« bei Wahlström & Widstrand, Stockholm.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2003 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Maria Savenko (Blumen), Julia Mithalova (Tartelet)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96148-090-6

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Viveca Lärn

Länger als ein Sommer

Roman

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann

dotbooks.

Teil I
Mittsommernacht

Kapitel 1

Zehn Möwen hockten am Kai und sahen auf das Meer hinaus.

Zuerst konnte Sara sie nicht unterscheiden, aber nach einer Weile entdeckte sie, dass einer ein Auge fehlte.

Wie in einem dieser pädagogischen Spiele. Wer gehört hier nicht dazu?

Sie lächelte zum ersten Mal seit langer Zeit. Sie würde nicht in die Schule zurückkehren. Schluss mit Wer gehört hier nicht dazu, F wie Frosch und die Schmetterlingsgruppe hat um zwanzig vor zwölf aus.

Was für ein Gefühl das gewesen war, zum letzten Mal das Lehrerzimmer zu betreten, um den Kollegen mit Hilfe eines gewöhnlichen Rührkuchens auf Wiedersehen zu sagen. Sie hatte den allzu bunten Frühlingsstrauß entgegengenommen und auch die Tüte mit dem Pulver, die ihn lange leben lassen sollte (warum hatte es für Axel nicht so ein Pulver gegeben?), und das hässliche Steinzeitschmuckstück von den Kollegen. Nachdem der Rektor seine Rede gehalten hatte, ging Sara in die Teeküche und riss von der braunen Kaffeetasse ihren Namen. Vier weiße Buchstaben auf einem grellgrünen Plastikband.

Die Hand des Rektors lag bleischwer auf ihren Schultern, und er lächelte unnatürlich.

»Ich verstehe, dass Sie nach allem, was geschehen ist, neu anfangen wollen. Aber Sie sollen doch wissen, dass Sie uns hier immer willkommen sind; auch wenn ich nicht selbst die Stellen vergeben kann. Wie auch immer. Es wird Ihnen doch gut gehen, nicht wahr, Sara?«

»Ja, verdammt, das wird es.«

Die Handarbeitslehrerin, die auf ihrem gewohnten Platz saß, ließ eine Masche fallen.

Vor der Würstchenbude lief ein Moped im Leerlauf. Der Besitzer, ein Mann mit krummem Rücken und verkehrt herum aufgesetzter Baseballkappe, war dabei, Zeitschriftenbündel auf den dazugehörigen Anhänger zu laden. Er sah nicht ein Mal in Saras Richtung. Vielleicht gab es sie nicht.

Sie war mit dem Zug gekommen. Von Göteborg nach Saltön. Eine dreistündige Reise.

Zwei Koffer und eine Tasche. Wahrscheinlich stand es in dicken Lettern auf ihrer Stirn: »Frisch verwitwet, keine dreißig«.

Sie betrachtete drei Fischerboote, die mit geschrubbten Decks und blitzenden Messinghandgriffen am Steuermannshäuschen ordentlich am Anleger vertäut lagen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als wäre dieser Ort, den sie wegen seiner einladenden Schönheit und der Lage am Meer ausgewählt hatte, doch nicht der richtige.

Der salzige Wind fuhr über den Kai und ließ die Möwen zittern. Die Einäugige erhob sich und segelte mit überlegener Miene davon, als ein kräftiger Windstoß die Alarmanlage eines rostbraunen Volvo, der vor dem Supermarkt stand, auslöste.

Im ersten Stock eines gelben Wohnhauses wurde ein Fenster geöffnet, und eine dunkelhaarige, magere Frau starrte wütend auf das Auto hinunter. Dann kam sie mit einer roten Daunenjacke über dem Nachthemd aus der Tür und stellte die Alarmanlage ab. Auf ihren schwarzen Lackpantoffeln hüpften rosa Pompoms.

Es wurde wieder so still, wie es nur ein kleiner Ort an der Nordsee an einem sonnigen Sonntagmorgen fünf Tage vor Mittsommer sein kann. Ein Ort mit nur einem Schlachter (der noch den Unterschied zwischen Beinscheibe und hoher Rippe kannte) oder mit vier florierenden Annahmestellen für Toto, Lotto und Trab- und Galopprennen. Arbeitslosigkeit, vor allem im Winter. Touristen…

Saras Gepäck stand noch am Bahnhof. Sie hatte sich mit dem Vermieter um elf Uhr am Kiosk verabredet. Über den Zeitpunkt war sie ein wenig erstaunt gewesen, denn sie hätte gedacht, dass alle Provinzler um diese Uhrzeit mit gefalteten Händen in der Kirche saßen.

Gegenüber vom Kiosk lag das Restaurant Kleiner Hund, wo Sara sich um eine Stelle beworben und diese sofort bekommen hatte. Eine Kleinanzeige in der Göteborgs Posten. Ein spontaner Impuls. Ein Telefongespräch. Angestellt. Unfassbar. Auf ihren Wunsch hin hatte sie eine schriftliche Bestätigung erhalten; zehn mit blauem Kugelschreiber dahingeschmierte Worte auf einer ausgerissenen Schulheftseite: »Hallo. Sie werden am letzten Montag im Juni im Kleinen Hund anfangen. Seien Sie pünktlich.« Keine Unterschrift.

Sara wandte dem Hafen den Rücken, und zwischen zwei riesigen Rosenbüschen, voller dicker Knospen, entdeckte sie eine schmale Eisentreppe, die mit hohen, unbequemen Stufen steil den Berg hinaufführte.

War es richtig oder falsch gewesen, hierher zu kommen? »Richtig!«, rief sie bei jeder geraden Stufe. »Falsch«, murmelte sie bei jeder ungeraden.

Nach Axels Beerdigung hatte sie beschlossen, neu anzufangen.

Sie hatte sich bei niemandem Rat geholt, sondern ihre innere Stimme befragt und hatte tatsächlich eine eindeutige Antwort erhalten. Wie immer, wenn sie es wagte, die ungebetenen und unablässigen Ratschläge ihrer Umgebung zu ignorieren. Der Entschluss war sonnenklar. Sie wollte weder in der Wohnung bleiben noch im Haus noch in der Straße noch im Viertel noch in der Stadt – und auf keinen Fall in der Schule. In Schweden wollte sie bleiben, zumindest bis auf weiteres.

»Ans Meer!«, hatte sie mit ihrer klaren Lehrerinnenstimme gerufen. Am Meer waren sie nie gewesen. Nicht in Schweden. Zu teuer, hatte Axel gesagt. Kapitalistenferien.

Die Trauernden waren an einem schwarzen Tag im Mai vor der Kirche auseinander gegangen, und Sara war sehr langsam und mit dem Kopf voller Gedanken durch das Hagaviertel nach Hause gewandert. Alles fühlte sich so schwer an. Wie sollte sie es bloß schaffen, in die leere Wohnung hinaufzugehen, die immer noch nach Gauloises und Axel roch? Ihre Beine fühlten sich an wie nach dem Göteborgmarathon im vorigen Jahr, und das, obwohl sie sich in den vergangenen Tagen keinen Schritt mehr als unbedingt nötig bewegt hatte.

Sie hatte die Tür zur Wohnung in der schrecklichen Gewissheit aufgeschlossen, dass sein Islandpullover immer noch auf dem Bett lag. In diesen Pullover hatte sie genug hineingeweint, und deshalb machte sie an der Tür kehrt und ging wieder in das Getümmel von Studenten, Künstlern und Touristen auf der Nygata von Haga zurück.

Sara starrte auf ein billiges Brautkleid aus dem Jahr 1902, das in einem der vielen Antiquitäten- und Trödelläden im Schaufenster hing. Sie ging weiter zum Spielplatz der Schule, wo die Schaukeln immer noch nach Kindern hin- und herschwangen, die nach der Frühstückspause wieder nach drinnen gelaufen waren. Sie spürte den dumpfen ekelhaften Schmerz direkt in der Magengrube, an den Schläfen und im Nacken, ging in sich und beschloss, dass sie etwas anderes machen musste, etwas völlig Entgegengesetztes, um das auszuhalten. Axel hatte große Hände gehabt, also würde sie sich jetzt nur noch mit Menschen mit kleinen Händen abgeben. Sie hatten auf der Linnégatan gewohnt, zwischen Straßenbahnschienen und Bussen, direkt über einem Möbelgeschäft, das ständig vor blumigen Bettsofas zu bersten schien. Sie würde in ein kleines Kaff ziehen.

Ihre Hände waren trotz der Frühjahrssonne kalt und rotfleckig.

Erst hatte er gelebt, und dann war er tot gewesen. So völlig übergangslos. Sie hatten sich darüber gestritten, wohin sie in den Ferien fahren sollten, zuerst ernsthaft, dann aus Spaß, und dann wieder ernsthaft.

Sie wollte, dass sie nach Norrland fuhren und eine Bergtour machten. Das hatten sie noch nie gemacht, und es wäre so gesund und frisch und völlig pur.

Er wollte, dass sie in das kleine Fischerdorf südlich von Rimini fuhren, denn das hatten sie immer gemacht, und dort kannte er mindestens vier andere Künstler, die auch Wein, Käse, Kunst und Fußball liebten. Und sie liebte doch den Strand und die Sonne, oder etwa nicht?

Da der ungewöhnlich zähe Streit ihr langweilig wurde, war sie losgegangen, um vier grüne Äpfel und eine Göteborgs Posten zu kaufen. Und als sie zurückgekommen war, hatte Axel auf dem Rücken auf dem Küchenfußboden gelegen, den Kopf zum Gasherd gewandt. Typisch Axel mit seinem Hang zum Drama.

Sie hatte ihm etwas Spöttisches zugerufen, denn sie wollte sich gern weiterstreiten, wenn auch lieber nur aus Spaß, weil sie einander so liebten. Das mit der Bergtour war nicht rein egoistisch gedacht, denn sie glaubte in der Tat, dass es für Axel und sein Herz gut wäre, eben nicht in Italien zu sitzen und zu viel Wurst, Käse und Sardinen zu essen und jeden Abend literweise Wein zu konsumieren. Er war achtundvierzig.

Aber Axel hatte die spöttische Bemerkung nicht gehört, denn er war tot gewesen, und zwar wegen seines Herzens. Es war zu spät, um noch nach Norrland zu fahren und keinen Wein zu trinken. Sein dunkelbrauner wehmütiger Schnurrbart hing endgültig herunter, und seine haselnussbraunen Augen starrten leer. Seine großen Hände lagen schlaff da, etwas, was sie nie zuvor getan hatten. Am rechten Daumen etwas Zinkweiß.

»Wie lange waren Sie verheiratet?«, fragte die Polizistin, nachdem sie beim Schließen der Augen geholfen hatte. Sie hielt den Kopf ein klein wenig schief, wie sie da auf Axels selbst gebautem Bettsofa saß.

»Fünf Jahre vielleicht. Oder vier. Drei, glaube ich.«

Die Polizistin lächelte vor sich hin.

»Haben Sie Kinder?«

»Nein, wir nicht, er hatte welche. Vielleicht sollte ich Axels Tochter anrufen. Sie wohnt in Amerika. Ist Aupair in Los Angeles.«

Die Polizistin sah aus dem Fenster.

Die Treppe endete ganz oben in der Erde, sodass man sich nicht entscheiden konnte, ob die letzte Stufe wirklich noch eine Stufe war.

Ein Stück weiter in einem kleinen Gehölz stand eine Bank in eine Steinbucht eingefügt, und Sara setzte sich darauf, nur an die Kante, für den Fall, dass die Bank jemandem gehörte. Sie musste aufpassen, dass sie es sich nicht aus Unkenntnis mit jemandem verdarb. Als sie auf die Anzeige geantwortet hatte, hatte der Besitzer des Restaurants gefragt, was für eine Verbindung sie zu Saltön hätte, und sie hatte geantwortet: »Keine, überhaupt keine.« Das war die Wahrheit.

Aber sie hatte ziemlich viel serviert, und zwar in der Zeit, als sie Austauschstudentin gewesen war und bei einer großbürgerlichen Familie außerhalb von Boston gewohnt hatte.

Die Aussicht über den Ort war grandios. Man sah über den ganzen Hafen, niedrige weiß gestrichene Häuser aus dem achtzehnten Jahrhundert, viele davon mit aufwändigen Schnitzereien am Giebel. Als hätten die Holzschnitzer der Idylle unbedingt noch ein wenig nachhelfen wollen. Um die meisten Häuser herum gab es nur winzige Grundstücke mit der Sorte Gärten, die ein Makler als »äußerst gepflegt« anpreisen würde. Um diese Gärten nette Holzzäune, schnörkelige Törchen und Briefkästen mit Sonne, Herzen, Bootshütten, Möwen und blau-gelben Flaggen.

Sie sah über das dunkelblaue Wasser im Hafen und war plötzlich stolz auf sich selbst, weil sie es wirklich geschafft hatte, das große Göteborg und die kleine Schule noch vor dem Ende des Schuljahres zu verlassen.

Alle hatten Verständnis gehabt. Mit der Trauer, sagten die Kollegen, ist das wie mit einem Job. Ein Jahr, dann ist das Schlimmste vorüber. Einmal Mittsommer ohne ihn. Einmal Ferien ohne ihn. Einmal Weihnachten, einmal Ostern. Im Jahr danach wird es besser. Wechsel der Umgebung. Wie mutig. Obwohl man nicht vor sich selbst fliehen kann, das kann man nicht. Aber egal. Du bist noch jung. Fang neu an. Natürlich nicht gleich. Klar. Tut mir Leid. Aber später. Vielleicht Familie. Vielleicht ein Jüngerer… Entschuldige, das war dumm von mir. Irgendwann scheint die Sonne wieder. Man lebt nur einmal.

Jetzt war sie erstaunt darüber, dass sie es geschafft hatte, so rasch alle Formalitäten zu erledigen und diesen unbekannten Ort so weit draußen im westlichsten Schärengürtel der Nordsee zu finden. Vierzehn Bewerber hatte es laut dem Besitzer des Restaurants gegeben, aber sie war offenbar die Einzige, die behauptet hatte, Erfahrung als Kellnerin zu haben.

Eine rote Backsteinkirche thronte hoch und streng über der Stadt, sowohl Seezeichen als auch Gotteshaus, während das hellgrüne Gebäude der freikirchlichen Gemeinde volksnah einschmeichelnd zu ebener Erde direkt hinter dem Bahnhof lag.

Unterhalb der Kirche lag die Sporthalle mit braun getönten Fensterscheiben. Sie war wie ein riesiger Iglu gebaut, mit einer überdimensionierten Feder auf dem Dach, die auf die erfolgreiche Badmintonmannschaft der Stadt hinweisen sollte.

Sara konnte auch das grüne Schild des Alkoholgeschäftes am viereckigen funktionalen Platz erkennen, die Anonymen Alkoholiker in einer gelben Patriziervilla neben dem Friedhof und ein großes, etwas heruntergekommenes Gemeindehaus. Etwas weiter am Hafen lagen das Dreisternehotel Saltjöbaden, die Jugendherberge, der Kiosk, eine Pension und die Minigolfbahn. Dann waren da die Fischhalle und das Kaltbadehaus, eine Eisbude, die Galerie und der Taucherclub Neptun. Zwischen der Fischhalle und dem Wasser ein hoher Obelisk aus Granit zum Gedenken an die Seeleute, die in Ausübung ihres Berufs gestorben waren.

Eine steile Straße führte zur Bibliothek hinauf, ein schönes, aber verfallenes weißes Holzhaus, an das zu unterschiedlichen Zeiten in den ungewöhnlichsten Winkeln angebaut worden war.

Das Altersheim war mit den üblichen gelblichen Ziegelsteinen und brav rechtwinklig errichtet worden. In jedem Fenster konnte man eine Tischleuchte und eine grüne Zimmerpflanze sehen, und manchmal auch ein sonnengebräuntes verwelktes Gesicht unter spärlichem grauen oder weißen Haar. Meistens Frauengesichter. Vor der Tür waren sechs Gehhilfen an eine Holzskulptur angekettet, die wohl einen alten Fischer darstellen sollte.

Um die Ecke, Richtung Marktplatz, dann nebeneinander die Bank, die Post, der Immobilienmakler und alle Geschäfte.

Hinten, vom höchsten Berg her, konnte man dünnen anthrazitfarbenen Rauch ausmachen, der von dem kleinen Industriegebiet aufstieg, in dessen Mitte die Konservenfabrik Månssons Delikatessen lag.

»Was meinst du, Axel?«, fragte Sara. Axel wollte wissen, wo die Kneipen und die Maler waren.

Oben auf dem Berg schlug eine Tür zu. Das war Karl-Erik Månsson, der rausging, und wenn er die Haustür hinter sich zuknallte, redete seine Ehefrau Kristina immer noch, ohne so recht zu wissen, was. Eine ermüdende Angewohnheit, fand Karl-Erik, aber man musste das Schlechte mit dem Guten nehmen. Über die Jahre würde er das schon ändern. Er hatte Zeit.

Jetzt atmete er den salzigen Frühjahrswind ein und ließ sich auf der schnörkeligen weißen Eisenbank vor der Küchentür nieder. Er nahm den Feldstecher aus dem Futteral und stellte ihn auf seine neue Sehschärfe ein. Die Alterssichtigkeit war bei ihm ungewöhnlich spät aufgetreten, sozusagen zwischen Flieder und Johannisbeeren, in dem Frühsommer, als Karl-Erik sechsundfünfzig geworden war. Jetzt war er neunundfünfzig und hatte tiefe Krähenfüße um Augen, Mundwinkel und vor allem um die Ohrläppchen. Er hatte immer noch kastanienbraune Haare, denn die färbte er jede fünfte Woche in der Sauna selbst nach.

Kristina war ungefähr so perfekt, blond, jung und süß wie die Mädchen in einer Fernsehreklame für Bier, Intimhygiene oder zuckerfreies Kaugummi.

»Weißt du, Kristina, du bist süßer als die Models da, aber du hast etwas, das sie nicht haben. Du hast Karl-Erik Månsson.«

Sein Alter zeigte sich lediglich in einem etwas eingeschränkten Gehör – ein Knallschaden aus dem Militärdienst, pflegte er mit männlicher Miene zu behaupten.

»Das ist doch wirklich praktisch, dass es gerade das Gehör ist, das nachlässt«, verkündete Karl-Eriks etwas bissiger jüngerer Bruder, als er die Rede auf das Hochzeitspaar hielt, und fuhr dann nach einer kleinen Pause fort: »… alldieweil die Braut einiges auf dem Herzen zu haben scheint.«

Die Gäste an den hinteren Tischen lachten so herzlich, dass die Wände vom Partyzelt bebten, aber Karl-Eriks engste Mitarbeiter in der Delikatessenfabrik lächelten eher zurückhaltend, nachdem sie zu ihrem Chef herübergeschielt hatten.

Die Mutter des Bräutigams, Magdalena, die in einem lila Kleid mit erschreckend tiefem Ausschnitt dünn und kerzengerade auf dem weißen Plastikstuhl saß, lachte anerkennend und leerte ihr Weinglas auf einen Zug.

»Evert hat eine scharfe Zunge«, sagte sie zum Pfarrer. »Die hat er von mir geerbt. Karl-Erik kommt eher nach seinem Vater, will sagen, er ist eher…«

»Vorsichtig?«, schlug der Pfarrer vor.

»Farblos«, sagte Magdalena. »Wenn Sie so nett wären, mir noch etwas Wein einzugießen. Ja, Albin war niemand, der einem auffiel. Und doch liebte er es, Aufmerksamkeit zu erregen. Es war wirklich geschmacklos von ihm, ausgerechnet an seinem fünfundsechzigsten Geburtstag zu sterben, und dann auch noch ehe die Delegation vom Vorstand und von der Gemeinde da gewesen waren. Typisch Månsson.«

»Ich hatte nie das Vergnügen, Albin kennen zu lernen«, antwortete der Pfarrer milde und schnäuzte sich diskret in die Serviette, »aber es ist doch schön, wenn man in einer Ehe etwas unterschiedlich ist. Wenn man sich sozusagen ergänzt.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht!«, sagte Magdalena. »Sie und Ihre Frau sehen doch aus wie Geschwister.«

Der Pfarrer lächelte ein wenig und sah auf die Uhr. »Jetzt wird es Zeit für mich, dieses Fest und diese Feierlichkeit zu verlassen«, sagte er mit wohl modulierter Artikulation. »Ich habe meiner Frau Carola versprochen, dass wir um sieben Uhr mit den Kindern Flöte spielen werden.«

»Wie schade«, sagte Magdalena und lächelte mit blendend weißen Zähnen.

Am Kai spazierten die Möwen herum. Sie hatten ein paar Papier- und Krabbensalatreste von der Imbissbude zerhackt und schauten sich jetzt mit kleinen gierigen Augen um.

Karl-Erik Månsson rüttelte am Türgriff zum Hafenmeisterbüro, aber die Tür war verschlossen. Kein Mensch war im Hafen zu sehen. Von Kabbes Segelboot her, das das ganze Jahr über im Wasser lag, hörte man das Klappern der Wanten, die gegen den Mast schlugen. Kabbe war der Wirt vom Kleinen Hund und segelte ungefähr so gut wie ein Mehlsack.

Månsson ging auf den Steg des Segelvereins hinaus, um sich seinen Liegeplatz anzusehen. Als er die schmalere Verlängerung des Hauptsteges hinunterlief, knackte und knirschte es. Wenn er doch nur sein kleines praktisches elektronisches Notebook in der Tasche gehabt hätte.

Er sah zum Himmel hinauf und sagte mit klarer Stimme: »Brief an die Gemeinde. Bootssteg in katastrophalem Zustand, sollte so bald wie möglich gewartet werden, damit während der Hochsaison nichts passiert. Höchste Zeit. Nur noch fünf Tage, bis es richtig losgeht.«

Er fühlte sich beobachtet und sah sich eilig um. An einen Pfeiler gelehnt stand eine schlaksige schwarz gekleidete Frau und lächelte ihn spöttisch an, sagte aber nichts. Der intensive Blick aus ihren braunen Augen brannte förmlich.

Er nickte kurz. Sie hatte ihn doch wohl nicht angesprochen? Sie sah ein wenig fragend aus. Er schaute entschlossen auf die Uhr und ging mit kraftvollen Direktorenschritten weiter. Ein Hörgerät kam nicht infrage.

Und wenn sie etwas gefragt hätte, dann wäre das bestimmt so eine typische Frauenfrage gewesen. Wie viel Grad hat das Wasser?

Wie schön, dass er sich nicht mehr mit Frauenzimmern befassen musste. Kristina war so jung, dass er sie sich fast selbst erschaffen konnte. Er war dabei, ihr beizubringen, welches Essen das richtige war, und der nächste Schritt würde die Wahl ihrer Kleidung und des Umgangs sein. Er war stolz auf seine Geduld, denn die brachte ihn fast unmerklich an sein Zieh die perfekte Mädchenehefrau.

Kristina hatte ihre knackigen engen Hosen an – wie schön, dass ihr Mann sich wenigstens nicht in Kleidungsfragen einmischte. Es gab schon so ein endloses Gemecker über das richtige Essen. Kristina durfte weder Kebab noch Piroggen essen, was sie so gern mochte, kaum mal eine Pizza.

»Pizza«, sagte Kristina, »es gibt doch nichts Besseres. Vesuvio. Marinara. Frutti di Mare. Pizza Amore.«

»Hier im Haus essen wir wie die Fürsten, wenn wir ein Fest haben«, sagte Karl-Erik, »und wenn wir allein sind, essen wir schwedische Hausmannskost.«

Zu den Hosen trug Kristina das neongelbe enge Lieblingstop. Darüber hätte sie gern ihren kurzen lustigen Nerzschal getragen, aber es war inzwischen so schrecklich warm geworden, dass man sie ausgelacht hätte.

Sie fuhr das Auto den Hügel herunter, stellte sich auf den Behindertenparkplatz auf dem Markt und lief in die Videothek. Sie brachte drei amerikanische Gruselfilme zurück und suchte sich schnell drei neue aus.

»Drei Filme, drei Tage«, sagte der junge blasse Mann im schwarzen T-Shirt und zupfte an seinem Nasenring. »Werden Sie Mitglied, dann bekommen Sie Rabatt.«

»Nein, danke«, erwiderte Kristina. »Ich kann es mir leisten.«

Als sie wieder auf die Straße hinauskam, sah sie sich um, holte eine neutrale Plastiktüte aus der Tasche und tat die Videofilme dort hinein.

Die grelle Plastiktüte der Videothek stopfte sie in einen Papierkorb. Eine der Möwen unternahm sogleich einen Inspektionsflug, um den Neuzugang in Augenschein zu nehmen.

In dem Moment kam Kristinas Schwiegermutter aus dem Zigarrenladen.

»Ach je, ist er also so langweilig, dass du jeden Tag in die Videothek fahren und dir Filme ausleihen musst? Ja, Karl-Erik hatte schon immer einen gesunden Schlaf.«

»Die sind für eine Freundin«, antwortete Kristina und starrte wie versteinert auf die magere alte Dame, die ihr so selbstsicher gegenüberstand. »Sollen wir in den Kleinen Hund gehen und einen Kaffee zusammen trinken, Schwiegermama?«

»Kaffee hat noch keinen Menschen glücklich gemacht«, sagte Magdalena, kletterte in ihr riesiges blitzendes Auto und ließ den Motor an, ohne auf Wiedersehen zu sagen. Doch plötzlich bremste sie ab, legte den Rückwärtsgang ein und kam gefährlich nahe vor Kristinas Füßen zum Stehen. Die Fensterscheibe glitt lautlos herunter, und sie sah Kristina an. »Und das mit dem ›Schwiegermama‹ bringt sowieso nichts. Ich rate dir, gewöhn es dir gar nicht erst an. Karl-Erik hat sich schon einmal scheiden lassen.«

Magdalena war so klein, dass sie auf einem Kissen mit aufgestickten Verkehrszeichen sitzen musste, um über das Lenkrad sehen zu können.

Als Kristina später aus dem Fitnesscenter nach Hause kam, stand Månsson da und sah mit dem Feldstecher aus dem Panoramafenster.

»Aha, du hast also wieder trainiert«, sagte er. »Gestern warst du auch da.«

»Aber du hast es doch gern, wenn ich einen geschmeidigen Körper habe. Die Bauchmuskeln haben wirklich nochmal ein paar Runden gebraucht.«

Kristina kuschelte sich an ihn, und er lächelte widerwillig.

»Laufen da viele junge Männer herum?«

»Ja klar. Heute habe ich Brad Pitt gesehen.«

»Wie hieß der?«

Kristina warf die Haare zurück. »Warum bist du eigentlich nicht bei der Arbeit? Nur weil Sonntag ist? Kommt die Fabrik denn überhaupt einen ganzen Tag ohne dich klar? Es könnte doch eine Betriebsstörung gegeben haben.«

»Ich wollte dich nur noch sprechen, ehe ich gehe. Ich habe für heute Abend meinen Bruder und seine Frau eingeladen. Etwas Einfaches. Du kannst Krabben mit viel Butter gratinieren. Und Knoblauch. Dazu kaufst du zwölf Brötchen bei Märta, die echten französischen mit Sesam drauf. Vergiss nicht, dass du zehn Prozent Rabatt bekommst. Ach was, sag ihr, sie soll die Rechnung an die Firma schicken.«

Kristina betrachtete ihn und fragte sich, wie er wohl ausgesehen hatte, als er in ihrem Alter gewesen war. Sie hatte Bilder in einem Fotoalbum gesehen, und da war er John Wayne ziemlich ähnlich gewesen. Männlich wirkte er immer noch.

»Vor unserer Hochzeit hast du so viel erzählt«, sagte Månsson. »Jetzt redest du fast gar nicht mehr mit mir, nur noch mit anderen. Woran denkst du eigentlich?«

Sie verabschiedete sich in der Tür von ihm, kontrollierte durch das Fenster, dass das Auto den Carport verlassen hatte, ging ins Badezimmer und nahm vorsichtig den kleinen Badezimmerschrank aus Messing von der Wand. Sie machte das Klebeband von dem Millimeterpapier los, das am Rücken des Schranks festgeklebt war, und mit einem Stift, der auf dem Fensterbrett lag, machte sie ein entschlossenes Kreuz in das dreihundertste Kästchen.

Johanna öffnete die Tür zu Magnus’ Zimmer und hielt sich die Nase zu.

»Wo hast du dich denn heute Nacht rumgetrieben? Du riechst nach Schnaps.«

Magnus lag auf dem Rücken und schlief lautlos. Die Haut sah unter dem schwarzen Haar blass aus, und der jungenhafte Ziegenbart wirkte fast blau. In den Koteletten war immer mehr Grau zu sehen.

Seine Nase war beinahe aristokratisch. Im Profil sah er aus wie ein römischer Gott, ein zu kurz geratener Gott allerdings.

»Was glaubst du, wer schon wieder rausgehen musste und die Alarmanlage vom Auto ausschalten?«, fuhr die Mutter fort und sammelte ein paar leere Kautabakdosen und eine Zigarettenschachtel vom Fußboden auf. »Wirst du dich heute endlich um einen Job kümmern? Sonst ab mit dir in den Arbeitslosenverein, geh Schach spielen. Hier kannst du jedenfalls nicht herumlungern.«

Magnus öffnete ein Auge und starrte seine Mutter an. »Sonntag.«

»Aha, dann passiert heute also wieder nichts. Dann bring dich mal auf Trab und sei um elf Uhr am Kiosk, um unsere neue Mieterin zu treffen. Sie wird oben unter dem Dach wohnen.«

Magnus setzte sich blitzschnell auf und sah sie missgelaunt an. »Hast du vermietet, ohne mich vorher zu fragen?«

»Ja, wer bezahlt denn die Miete und kauft das Essen?«

»Und was ist mit meiner Modelleisenbahn?«

»Die ist in vier Bananenkisten verpackt und steht im Keller.«

Magnus ließ sich stöhnend wieder aufs Bett fallen.

»Und du musst die Alarmanlage am Auto reparieren. Die Leute wundern sich schon.«

Sie zog die Tür hinter sich zu und wartete einen Augenblick draußen. Kein Laut war zu hören.

Sie schleuderte die schwarzen Pantoffeln mit den Pompons von sich, zog sich hellblaue Plastiksandalen an und nahm eine farbenfrohe Frauenzeitschrift mit auf den Balkon. Das Kaffeetablett hatte sie schon vorher dorthin gebracht, und unter der Milchtüte lag der Lottoschein mit den angekreuzten Kästchen.

»Ich müsste eigentlich viel Glück in der Liebe haben.«

Sollte sie gewinnen, würde sie sich ein schnurloses Telefon anschaffen, damit sie, wenn sie auf dem Balkon saß, nicht mehr mit sich selbst reden musste. Oder vielleicht sogar ein Handy. Magnus hatte ein gelbes Handy, weiß der Himmel, woher er das hatte. Aber wen hätte sie denn schon anrufen sollen?

Ihre Zeitschrift wollte Frauen mittleren Alters, die unter der ständigen Doppelbelastung von Haushalt und Beruf standen, ein paar wichtige Dinge beibringen. Diese Ausgabe wurde von der Beinschule beherrscht. Man gab grundlegende Ratschläge, welche konzentrierten Salben ganz sicher und auf lange Sicht Cellulitis bekämpften.

»Lange Sicht«, sagte Johanna zu sich selbst. »Ja, nach dem Tod gibt es keine Cellulitis mehr.«

Sie blätterte weiter und fand das aktuelle Horoskop. Es gab einen grünen Balken für Arbeit, einen roten für Liebe und einen blauen für Sex. Sie konnte nicht begreifen, wie Sex blau sein könnte, aber es war ja auch lange her, dass sie sich mit diesem Thema beschäftigt hatte, und seit ihrer Jugend war ja alles so klinisch geworden.

Der rote und der blaue Balken waren für alle Stiere in der nächsten Zeit minimal, während der Arbeitsbalken hoch in den Himmel ragte. Außerdem stand da, dass nach einem herrlichen Fest am Freitag eine unglückliche Zeit folgen würde.

»Erzähl mir was Neues«, sagte Johanna und zündete sich eine Zigarette an. Unglück hatte sie weiß Gott genug. Aber auf der Habenseite seit dreißig Jahren eine feste Anstellung, eine robuste Gesundheit, Untergewicht und niedrigen Blutdruck, vier jüngere Geschwister, die einigermaßen nett waren, weil sie es geschafft hatten, von Saltön wegzugehen, ehe es zu spät war, und vor allem einen erwachsenen kindischen, faulen und charmanten Tunichtgut von einem Sohn. Seit Jahren wartete sie darauf, dass er sich freimachen würde, eine kleine Revolte, eine ernsthafte Romanze, eine Hochzeit, eine Auslandsreise, aber er schien es überhaupt nicht eilig zu haben.

Johanna war schon bis Göteborg gekommen, aber noch nie bis Stockholm. Ihr größter Traum war es, einmal mit dem Zug nach Italien zu fahren, doch nicht, um Magnus’ Vater Claudio zu treffen. Der war sicher schon Vater und Großvater und dick wie ein kleines Schwein und glatzköpfig wie eine Ratte mit einem widerlichen fetten Schnurrbart.

Sie besaß eine Schwarz-weiß-Fotografie von Claudio, als er noch jung war. Sie hatte an dem Morgen, nachdem sie sich kennen gelernt und verliebt hatten, auf seinem Schoß auf dem runden schwarzen Hocker im Fotoautomaten auf Saltöns Bahnhof gesessen, und er hatte sie Bella genannt. Da hatte sie gekichert und gefunden, dass das wie der Name einer Kuh klang.

Weil Claudio das Foto bezahlt hatte, hatte er drei Stück behalten, aber Johanna bekam das hübscheste, auf dem Claudio lächelte und sie selbst aussah wie Gina Lollobrigida.

Bella. Johanna hatte darüber nachgedacht, dass es wirklich klang wie eine Schwarzbunte, doch dann war sie bei Hans-Jörgen in der Bibliothek gewesen und hatte das Wort in einem italienischen Lexikon gefunden. Hans-Jörgen mit seinem gewöhnlichen nordischen Aussehen hatte sie wie immer sehnsüchtig angeschmachtet.

Sie hatte ihm gnädig zugelächelt, denn sie war im dritten Monat gewesen und hatte sich wichtig und erwartungsfroh gefühlt, und außerdem wusste sie nun ja, dass Bella »Schöne« hieß.

Wenn sie eine Tochter bekommen hätte, dann hätte die Bella geheißen, aber nun war es ein Sohn geworden, der Magnus getauft wurde, weil er so groß war (wieder in die Bibliothek!). Er wog über vier Kilo und hatte schwarzes lockiges Haar, als er im Sahlgrenska-Krankenhaus in Göteborg geboren wurde.

Es wäre ein Leichtes gewesen, Hilfe mit dem Kind zu bekommen, denn Magnus war so süß und nett mit seinen großen braunen fragenden Augen. Alle, die ihn sahen, verliebten sich sofort in ihn. Aber nachdem Johannas Mutter, die Einzige, der sie das Kind anvertraut hatte, gestorben war, hatte sie selbst wie eine Vogelmutter über ihren Sohn gewacht. Sie war so eigensinnig gewesen, dass sie es sogar geschafft hatte, Månsson zu überreden, ihren Sohn zur Arbeit in die Konservenfabrik mitnehmen zu können.

Magnus hatte nicht rausgehen und wie die anderen auf dem gefährlichen Marktplatz spielen dürfen. Das erlaubte seine Vogelmutter nicht. Doch im Gegensatz zu echten Vogelmüttern mit Schnäbeln und Krallen hatte sie ihn nicht rausgeworfen, als er flügge geworden war, und jetzt war es zu spät.

Johanna band ihr dunkles Haar zu einem lockeren Knoten auf dem Kopf zusammen, damit die Sonne an die Haut im Nacken und auf den Schultern kommen konnte. Sie wurde schnell braun, eigentlich war sie nie ganz weiß. Der Großvater ihres Vaters war ein an Land gespülter Seemann von einem spanischen Schiff gewesen, das vor Saltön Schiffbruch erlitten hatte.

Sie spiegelte sich in der Thermoskanne. Hässlich war sie wirklich nicht, das konnte nicht der Grund dafür sein, dass sie allein war. Sie war ganz einfach wählerisch. Nach Claudio hatte sie niemanden an sich rankommen lassen, obwohl es einige versucht hatten, zumindest in den ersten zwanzig Jahren. Nüchterne und Betrunkene, Verheiratete und Ledige. Alle hatte sie abgewiesen. Sie hatte beschlossen zu warten, bis Magnus auf eigenen Füßen stünde und vielleicht eine Frau hätte, eine Wohnung, einen Job, ein eigenes Leben.

So wartete sie immer noch darauf, dass er auszog, damit ihr Leben eine andere Richtung nehmen könnte. Einen neuen Job, einen kräftigen, wohlerzogenen und nicht allzu aufdringlichen Mann als Freund, genug Geld, dass es für ein Ticket nach Neapel und zurück reichen würde …

Aber was passierte in Wirklichkeit? Immer mehr Dinge, die ihr Sorgen machten!

Vielleicht sollte sie wieder anfangen zu lesen. Es fiel ihr leicht, zu lernen. Außerdem arbeitete Hans-Jörgen immer noch in der Bibliothek und war auch noch immer Junggeselle. Er sah zwar etwas vernachlässigt aus, aber er hatte ein Herz aus Gold.

Sie schaute über den Marktplatz. Hinten von der Pension her sah sie die fette Emily auf ihrem roten Fahrrad angetrampelt kommen, mit einem übervollen Korb am Lenkrad. Plötzlich blieb Emily stehen, stellte das Fahrrad ab und wackelte auf den Steg hinaus. Sie trug die Nase immer noch so hoch wie schon als Kind. Dass man sich als etwas Besseres Vorkommen konnte, nur weil man die Tochter des Provinzarztes war, ging über Johannas Verstand.

Die Arztvilla lag hoch oben auf dem Berg, aber das Sprechzimmer war im Souterrain untergebracht, das auf eine enge Gasse wies. Die halbe Bevölkerung von Saltön hatte dort schon im Wartezimmer gehockt und wie hypnotisiert durch das kleine Fenster auf drei Mülltonnen gestarrt und darauf gewartet, dass der Doktor sie über den Brillenrand hinweg fragen würde, was ihnen fehlte.

Jetzt war er alt, aber er behandelte immer noch. Wahrscheinlich war es so eine Art Hobby, jetzt, da er Witwer war. Denn Geld hatte er genug.

Johanna konnte sich nicht erklären, wie die fette Emily irgendetwas geschafft bekam. Alles, was sie tat, geschah in Zeitlupe. Aber wahrscheinlich war es der arme nette Thomas Blomgren, der das meiste zu Hause erledigen musste. So ein Rührstück von einem Ehemann.

Die Arbeit im Zigarrenladen war wohl das reinste Himmelreich für ihn, denn da musste er sich nicht den ganzen Tag lang das Geplapper seiner Frau anhören. Johanna und Blomgren waren Klassenkameraden gewesen, und sie pflegten ein paar Worte zu wechseln, wenn sie ihren Lottoschein ausfüllte. Er hatte eine wunderbare sanfte Stimme.

Johanna war im Arbeiterviertel der Stadt aufgewachsen, wo die uralten, kleinen schiefen Häuser standen.

Wenn man von der Tür zu Johannas Elternhaus direkt geradeaus schaute, dann sah man die pompöse Arztvilla unter der Kirche liegen. Emily war vier Jahre jünger als Johanna, und normalerweise hätte diese niemals ein Kind beachtet, das jünger war als sie, aber an die kleine, dicke, verwöhnte Emily erinnerte sie sich nur zu gut. Die runde Nase, die gen Himmel wies, wenn sie sich ins Jugendheim aufmachte. Da kam Johanna dann schon von der Arbeit in der Fabrik nach Hause. Fünfhundert in der Woche an die Mutter und den Rest zum Verlustieren. Dreizehn Kronen.

Ihr Herz hatte geklopft an jenem Samstagmorgen, als das Kriegsschiff aus Neapel auf Reede hundert Meter vom Kai angelegt hatte. Sie hatte es vom Küchenfenster aus gesehen und sich innerhalb von fünf Minuten heraus geputzt. Dann war sie aus dem Haus gelaufen, ohne auch nur die Tür hinter sich zu schließen.

Als das erste Beiboot mit zwölf Seeleuten gegen Mittag an Land gefahren wurde, spazierte Johanna mit einem klein karierten Baumwollkleid auf dem Kai auf und ab. Von dem Augenblick an, als Claudio mit seinem blitzenden Lachen an Land gesprungen war, hatten sie nur noch füreinander Augen gehabt.

Claudio nahm Johanna in seine Arme und küsste sie, und das fühlte sich wie die natürlichste Sache der Welt an. So, als würde man nach einer langen Reise heimkehren.

Sie hakte sich bei ihm unter, und dann gingen sie zum Kleinen Hund hinauf, und Johanna wurde zu einem Glas Dessertwein eingeladen, während Claudio Aquavit trank, ihr weiterhin tief in die Augen schaute und ihr den Nacken und die Unterarme streichelte.

Claudio war untersetzt, sehnig und märchenhaft hübsch, ein wenig wie Frank Sinatra, allerdings mit braunen Augen. Er hatte einen dunklen und männlichen Bartwuchs.

Johanna trank ihren süßen Wein in einem Zug aus, und Claudio lachte über sie, als sie zum Park spazierten. Sie zogen sich nicht einmal aus. Sie hätte ihre Unschuld an keinen netteren oder romantischeren jungen Mann verlieren können.

Sie spazierten die ganze Nacht herum und lachten und küssten sich, und manchmal mussten sie sich ein wenig ausruhen, und dann geschah, was ebenso geschieht, im Bootsschuppen und im Sonnenaufgang auf einer Klippe.

Aber Claudio war ebenso gedankenverloren wie Johanna, denn als das Schiff am nächsten Tag wieder ablegte, nachdem sie neunzehn Stunden lang miteinander verbracht und sich geküsst hatten, passierte es ihm doch, dass er eine falsche Adresse auf die Rückseite ihrer Schminktasche schrieb, und so kamen beide Briefe wieder zurück. Sie hatten vereinbart, einander auf Englisch zu schreiben.

Als der zweite Brief zurückkam, hörte sie auf, an Claudio zu denken, was ganz einfach war, da ihr Leben eine andere Wendung genommen hatte.

Die unsentimentale Seele hatte sie von ihrer Mutter, und so wurde sie zu Hause auch nicht rausgeworfen, weil sie schwanger war.

»Eigentlich müsste sich Magnus nur mal am Riemen reißen«, sagte sie zu sich selbst und starrte auf die Balkontür. »Alles andere würde sich von selbst ergeben. An Freiern würde es mir nicht mangeln.« Sie warf die Zeitschrift auf den Fußboden des Balkons und streckte die Beine in die Sonne. Keine Cellulite. Es gab doch tatsächlich größere Reichtümer als Geld.

Schade nur, dass alles so auf der Stelle stand. Noch weitere zehn Jahre bei Månssons Delikatessen, kein kraftvoller, gut erzogener Mann in den besten Jahren, keine Reise nach Neapel.

Wenn nur Magnus endlich erwachsen würde.

Blomgren wischte sich den Schweiß von der Stirn und kletterte vier Stufen auf der Leiter nach unten. Er drehte sich herum und rief durch die Lüftungsklappe: »Ein Kaffee wäre jetzt gut, Emily.«

Dann stieg er wieder hinauf und machte mit dem Schlafzimmerfenster des Wohnhauses weiter. Nach zehn Minuten seufzte er, kletterte die Stufen hinunter und ging zur Garage. Emilys Fahrrad war weg. Dass er sich einfach nicht merken konnte, wann sie arbeitete und wann nicht.

Am Sonntagmorgen wegzugehen, um für andere Leute Kaffee zu kochen, wenn man doch jahrzehntelang Hausfrau gewesen war! Was für eine Idee.

In der Pension Saltlyckan saßen die Gäste an sechs langen Tischen aus Birkenholz, während Emily noch etwas Schinken aufschnitt. Sie stand in der Küche und summte eine nette kleine Melodie. Sie liebte diese Stunden.

Jetzt hatte sie die Lage im Griff. Der hektische Anfang war geschafft. Manchmal gab es Taucher oder Bergwanderer aus Stockholm, die so erpicht darauf waren, loszukommen, dass es ihnen ganz egal war, dass es erst ab sieben Uhr dreißig Frühstück gab. Die traten schon um halb sieben oder Viertel vor sieben, die Arme ungeduldig verschränkt, von einem Fuß auf den anderen und schauten auffordernd zur geschlossenen Küchentür hinüber.

Emily konnte mit ihren Vorbereitungen nicht vor halb sieben anfangen. Aber wenn Blomgren nicht so einen leichten Schlaf hätte, wäre sie gern schon früher zur Arbeit gekommen. Ab fünf Uhr pflegte sie in ihrem Bett wach zu liegen und zu hoffen, dass die Uhr etwas schneller vorangehen würde, damit sie aufstehen und duschen, sich die Wimpern tuschen und die saubere blau-weiß gestreifte Schürze, die sie am Abend zuvor gestärkt und gebügelt hatte, nehmen und sich summend aufs Fahrrad schwingen konnte.

Sie frühstückte, ehe sie zur Arbeit ging, nie, denn dann würde Blomgren aufwachen und rauskommen und sagen: »Ach, du kochst schon Kaffee, Emily. Mach mir auch eine große Tasse. Aber nicht zu stark. Muss an den Magen denken. Sollen wir uns etwas Nettes ausdenken, was wir heute Vormittag unternehmen können? Wir sind ja jetzt richtige freie Menschen am Sonntag, wo Paula ihr eigenes Leben da unten in Afrika hat.«

Obwohl er es ganz genau wusste. Und dann kam Emily erst in der letzten Minute auf den Weg. Das war doch verrückt: sich zu seinem eigenen Job schleichen zu müssen!

Die erste Viertelstunde war sie knallrot und gestresst, während sie sich selbst die Routine-Handgriffe immer wieder vorsagte: »Die Eier und die Eieruhr anmachen, die harten links, die weichen in den rechten Topf. Brotkorb, eingelegter Hering, Leberpastete, Servietten…«

Jeden Sonntag deckte sie das Frühstücksbüfett genau gleich.

Einfache, aber frisch zubereitete Frühstücksgerichte standen nett aufgereiht da, wenn der Gong für die Hochzeitsreisenden, die Sommergäste, die Konferenzteilnehmer und die Freizeitsportler ertönte – für alle, denen es gefiel, in der einfachen Pension Saltlyckan mit ihrem freundlichen persönlichen Service zu wohnen. Drei von fünf Sternen im letzten Touristenführer.

Fast alle Gäste grüßten Emily freundlich, aber uninteressiert, wenn sie in den Frühstücksraum kamen.

Sie sahen eine große, dicke Frau mit grauem Haar mit hellen Strähnchen, das von einer Schildpattspange zurückgehalten wurde. Eine Frau, die sie in der Stadt nie wiedererkennen würden.

Sobald die Gäste sich geholt hatten, was sie brauchten, gingen sie dazu über, miteinander zu plaudern, in der Morgenzeitung zu blättern oder ihre Kinder zurechtzuweisen, wenn sie Marmelade aufs Tischtuch kleckerten.

In dem Moment spürte Emily, dass sie alles im Griff hatte. Und dann konnte sie die Gedanken schweifen lassen.

Sie sah sich die Menschen an, hörte heimlich zu, und dann dachte sie sich die unterschiedlichsten Dinge aus über deren Leben, von denen sie nichts wusste.

»Sieh mal, Svante, was für ein süßer Vogel da in dem Baum sitzt, der sieht doch aus wie der, den wir in China gesehen haben.« China! Diese jungen Leute, dass die sich das leisten konnten. Oder hatte er vielleicht Kinna gesagt? Sie sahen glücklich aus und sprachen Stockholmer Dialekt. Wahrscheinlich wohnten sie in einer Dachwohnung auf Söder mit gurrenden Tauben auf dem Fensterbrett, in einer Künstlerwohnung ohne Gardinen und mit schönen Holzbänken anstelle von Sofas. Ein Betthimmel aus lichtem Nessel. So was gefiel Blomgren nicht. Das fand er unpassend.

Manchmal hatte sie das Gefühl, in ihrer Beurteilung des Ehemannes ungerecht zu sein, denn schließlich fanden alle Kunden aus Blomgrens Zigarrenladen Blomgren so nett und gutherzig. Niemals wurde er laut. Das wurde er zu Hause auch nicht, aber er konnte manchmal ganz plötzlich mit seiner Sirupstimme höchst unerfreuliche Dinge sagen.

»Das Einzige, was ich brauche, ist Bindfaden, Emily. Was ist denn das für ein Haushalt, in dem es nicht einmal Bindfaden gibt? Kannst du mir das sagen?« Dass es nie ein Ende hatte. Den einen Tag war er sauer, weil keine Rohrzange im Haus war, und wenn Emily dann von ihren geheimen Ersparnissen etwas nahm und eine kaufte, dann suchte er das nächste Mal Bindfaden.

An diesem Sonntag war es ungewöhnlich ruhig in der Küche und im Frühstücksraum von Saltlyckan. Ein älterer, vielleicht etwas trockener, aber in Emilys Augen außergewöhnlich eleganter Oberstudienrat aus Kalmar (sie hatte heimlich im Computer nachgeschaut) aß mit sichtlichem Vergnügen Haferbrei mit Preiselbeermarmelade. Emily lächelte in sich hinein, denn die Marmelade hatte sie selbst gemacht. Sie konnte es nicht über sich bringen, hier gekaufte Marmeladen auf den Tisch zu stellen. Sie war gerührt, als sie sah, dass dieser gebildete Mann beim Frühstück Fahrradklammern trug. Er musste Witwer sein, weil er die Fahrradklammern über Nacht an den Hosen behielt. Oder vielleicht geschieden, aber irgendwie sah er nicht geschieden aus. Unzerstört, fast unschuldig.

»Entschuldigen Sie, habe ich vielleicht einen Eifleck im Gesicht?«

Emily wurde rot. Sie hatte wieder gestarrt. »Entschuldigung, ich war ganz in Gedanken versunken.«

»Na, wenn es das ist. Es ist ja so schön, wenn die Menschen denken. Eine Beschäftigung, die meistens in Vergessenheit geraten zu sein scheint.«

Bestimmt wohnte er ganz oben in einem Vierparteienhaus aus den vierziger Jahren, direkt in der Nähe des Theaters von Kalmar. Vieheicht auch noch mit Blick über das Schloss. Und nicht zu nah an der Schule. Das ist nie gut, wenn man Lehrer ist.

An langen dunklen Winterabenden in Kalmar nahm er, wenn er die Klassenarbeiten korrigiert hatte, die Schwedenkarte hervor und plante Fahrradtouren, die er im Sommer unternehmen könnte.

Wahrscheinlich hatte er sich vorgenommen, ganz Schweden mit dem Rad zu erkunden, ehe er zu alt dafür wurde. Bestimmt konnte er von seinem Wohnzimmerfenster die Ölandbrücke sehen. Emily war mit ihrem Vater in einem wunderbaren Sommer auf Öland gewesen, als die Brücke gerade fertig gesteht worden war.

Irgendwie erinnerte der frühstückende Lehrer Emily an ihren Vater, obwohl er größer, dünner und eleganter war. Emilys Papa selbst sah nur im Arztkittel richtig gut aus. Ansonsten sah er aus wie jeder andere dicke Siebzigjährige.

»Noch etwas Kaffee?«, fragte Emily und ging mit der blank polierten Kanne in der Hand auf den Lehrer zu. Er sah sie über den Rand seiner Lesebrille an. Er hatte schmale, schöne Augen.

»Sehr freundlich«, erwiderte er. »Gern, vielen Dank. Aber ich hätte ihn mir auch selbst holen können.« Er trug keinen Ring und auch keinen weißen Rand am Finger, wie ihn untreue Männer am linken Ringfinger manchmal hatten.

Hätte ihn mir auch selbst holen können! Das wäre ein Ehemann!

»Heute ist angenehmes Wetter zum Radfahren, nicht wahr?«, sagte Emily.

Er ließ erstaunt den Löffel sinken. »Woher wissen Sie, dass ich mit dem Rad unterwegs bin? Sieht man das so deutlich?«

»Ich habe nur geraten«, antwortete Emily und ging zum Büfett und fing an die Schüsseln wieder zurechtzurücken. »Meine Phantasie benutzt.«

Er folgte ihr mit dem Blick. »Das ist schön, wenn Menschen ihre Phantasie pflegen«, sagte er. »Haben Sie vielleicht gestern diese Sendung gesehen, wo vier Schriftsteller ihre persönlichen Überlegungen zu dem Gemälde ›Raub der Töchter des Leukippo‹ von Rubens ausbreiteten?«

»Leider nur den Anfang.«

Sie hatte tatsächlich angefangen, die Sendung zu sehen, und für sich selbst so getan, als sei sie eine der beteiligten Schriftstellerinnen. Sie waren alle schmal und flott. Aber dann war Blomgren reingekommen und hatte auf irgendein Volksmusikprogramm umgeschaltet, ohne sie auch nur zu fragen.

Emily hatte schon oft vorgeschlagen, einen kleinen Fernseher für die Küche zu kaufen, den sie benutzen könnte, wenn sie ihre in seinen Augen komischen Sendungen sehen wollte.

»Wozu soll das gut sein?«, antwortete Blomgren dann, »wir sehen doch sowieso immer dasselbe.«

»Jaja«, sagte der Lehrer gedehnt. »Das könnte ich nicht, eine Sendung nicht bis zum Schluss sehen. Ich pflege immer in der Morgenzeitung anzukreuzen, welche Sendung ich am Abend zu sehen gedenke – ich bin sehr wählerisch, weshalb es nie viele werden. Aber die Sendungen, die ich ausgewählt habe, sehe ich dann ausnahmslos von Anfang bis Ende, und dieses Kulturprogramm war, obwohl natürlich etwas schlicht, doch recht interessant.«

»Ja, ich hätte es auch gern gesehen«, sagte Emily, »aber der Strom war plötzlich weg.«

»Ach, wirklich?«, seine schmalen Augen bekamen ein wachsames Glitzern. »Ich bin nach der Sendung noch ein wenig spazieren gegangen, habe aber keine dunklen Häuser gesehen. Vielleicht dauerte es nur ein Weilchen. Oder vielleicht wohnen Sie nicht direkt in der Nähe?«

»So ist es«, flüsterte Emily. »Und die Stromunterbrechung dauerte insgesamt nicht lange. So ist es manchmal hier an der Küste. Es bläst in den Leitungen.«

Ist das in Kalmar auch so?, unterließ sie klugerweise zu fragen.