Cover_Morde-der-Hebamme_web.jpg

Die Morde der Hebamme

 

 

Historischer Roman

von Tatjana Stöckler

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

ISBN 978-3-943531-28-2

ISBN 978-3-943531-27-5 (Kindle E-Book)

ISBN 978-3-943531-15-2 (Print Ausgabe)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung | Illustration: Diana Isabel Franze

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

Kapitel 1 - Diebsgesindel

 

Magdalene blieb verschwunden, obwohl Luzia sich auf die Zehenspitzen stellte und in alle Richtungen nach ihr spähte. Sofort machte sich in ihrem Magen ein dumpfes Gefühl breit, Sorge um die Schwägerin. Luzia schalt sich deshalb, denn Magdalene würde nicht auf dem Marktplatz verlorengehen, schon gar nicht in Marburg, ihrem Geburtsort. Kurz überlegte Luzia, ob sie sich nicht auf einen der aus den Fundamenten hervorkragenden Stützsteine stellte, um eine bessere Übersicht zu bekommen, aber dann rief sie sich in Erinnerung, dass sie kein Mädchen mehr war, dem man solchen Überschwang gestattete. Seltsam, seit Lukas fort war, fiel es ihr schwerer, in der Rolle der Dame zu bleiben. Karl war jetzt schon über ein Jahr alt und noch immer geschah ihr bisweilen ein Missgeschick, das zum Glück aber mehr ihr selbst als anderen auffiel.

Ein Lastenträger stieß gegen ihre Schulter und entschuldigte sich gleich darauf mit einer Verbeugung, mit der er einen schwarz gekleideten Gelehrten schubste. Muffiger Staub von dessen Perücke stieg Luzia in die Nase und reizte sie zum Niesen. Der Theologe merkte entrüstet auf, erkannte Luzia als Kollegengattin und tippte seinen federgeschmückten Hut an, bevor er wieder ins Gespräch mit seinem Begleiter versank, der gestikulierend auf ihn einredete. Schon berührte der Mantel einer Matrone Luzias Rock von der anderen Seite. Nein, hier sollte sie nicht stehenbleiben, um nach Magdalene zu suchen, dafür gab es zu viel Gedrängel.

Luzia trat drei Schritte zur Seite in eine Gasse hinein, in der sich die Menschen nicht gegenseitig schoben, um voranzukommen. Ein Schatten sauste dicht hinter ihr vorbei. Es klatschte dumpf. Schreie ertönten, eine Bäuerin stieß sie zur Seite. Erschreckt fuhr Luzia herum und hielt sich am Balken einer Hauswand fest, um nicht zu fallen. Direkt vor ihr liefen die Menschen zusammen, riefen und schrien. Aus dem Knäuel drangen Schmerzenslaute und Weinen.

»Allmächtiger, was ist denn geschehen?«, rief eine Weißwäscherin neben ihr, die ihren Korb fest umklammerte, damit er ihr im Gedränge nicht aus den Händen gerissen wurde.

Ein Mann in Loden, größer als die meisten, lugte über die Menge hinweg. »Da fiel etwas vom Dach«, erklärte er, war aber gleich darauf verschwunden.

In ihrer Gasse kam Luzia zwar nicht von der Stelle, weil sie schon nach wenigen Häusern endete, aber sie geriet auch nicht in Gefahr, überrannt zu werden, weshalb sie sich in Geduld übte. Es dauerte eine Weile, in der Luzia alle möglichen Vermutungen hörte, bis sich die Menge so weit lichtete, dass sie Klarheit bekam: Auf dem groben Pflaster des Rathausplatzes, nur wenige Schritte von ihr entfernt, lag ein Mann mit verkrümmten Gliedern, in die dunkle Kluft der Zimmererzunft gekleidet. Unter seinem grauhaarigen Kopf breitete sich eine dunkle Blutlache aus, folgte der Neigung des Weges in die Gosse, wo sich das Blut mit anderen Flüssigkeiten vermischte und den Berg hinunterfloss.

Neben dem Mann kniete ein Jüngerer, hielt dessen Hand und schluchzte immer wieder: »Vater, Vater!«

»Möge der Herr seiner armen Seele gnädig sein«, murmelte eine Ordensfrau und bekreuzigte sich.

Dicht neben dem Verunfallten saß ein anderer breitbeinig auf dem Boden und hielt sich eine blutende Wunde am Kopf. Im Gegensatz zu dem jungen Zimmerer schrie und zeterte er lautstark.

Ein weiterer Zimmermann drängte sich durch die Schaulustigen und hob den Knienden an den Schultern empor. »Komm, Junge, du kannst nichts mehr machen.«

Dicht an Luzia vorbei zwängte sich ein Mann der Stadtwache durch die Gasse, bevor er sich vor den Zimmerern aufbaute. »Was gibt es denn hier?«, fragte er polternd.

»Dieser Idiot ist mir auf den Kopf gesprungen!«, schrie der Verletzte ihn von hinten an, schnellte hoch und gestikulierte wild.

»Er ist tot!«, fuhr der andere Zimmermann auf. »Wie kannst du dich über eine Schramme beklagen?«

Beide steigerten sich so in den Streit hinein, dass die Stadtwache dazwischenfahren musste, damit sie sich nicht an die Kehlen gingen. Zu allem Überfluss kam auch noch der Hausherr in Pantoffeln aus dem Eingang heraus und bestand darauf, dass die Arbeiten weitergingen, weil sein Dach offen stünde und das Wetter so aussah, als ob es jeden Augenblick regnete.

Der Junge kümmerte sich um gar nichts um ihn herum, er hielt weiterhin die Hand seines Vaters. »Die paar Münzen«, schluchzte er, »du hättest zahlen sollen!«

Luzia musste immer wieder zu dem armen Mann sehen, der sich bei dem Sturz vom Dach den Schädel zerbrochen hatte. Besaß denn keiner der Menschen hier Mitgefühl und bedauerte ihn und seinen Sohn? War der Tod so allgegenwärtig? Und welche Münzen meinte der Sohn?

Ihr Blick lief über die verkrümmten Glieder des Toten. Ein Seil schlang sich um seine Brust, wie es bei Zimmerern üblich war, die ihrer gefährlichen Arbeit nachgingen. Dicht am Knoten faserte das Seil auf und immer länger werdende Fasern zeigten an, wie es gerissen war. Luzia beugte sich etwas vor, um es genauer zu sehen: Der Hanfstrick sah nicht so aus, als ob etwas ihn durchgescheuert hätte, die ersten Fasern waren mit einem scharfen Messer durchgeschnitten. Welcher sorgfältige Handwerker vertraute sein Leben einem defekten Seil an? Nein, für Luzia sah es auf einmal gar nicht mehr nach einem Unfall aus.

Der Landsitz auf dem Lahnberg schien Luzias Blick für das wahre Leben verdorben zu haben. Vielleicht hatte Lukas recht, sie für die Zeit seiner Abwesenheit in sein Elternhaus in der Stadt einzuquartieren, damit sie nicht in der Einsamkeit trübsinnig wurde. Machte sie das gute Leben so begierig auf Neuigkeiten, dass sie ihre Nase in Dinge stecken musste, die sie nichts angingen? Nicht schon wieder! Hatte ihr das Erlebnis mit der Hebamme nicht Angst genug gemacht? Das war zwar schon fast zwei Jahre her, doch eigentlich sollte diese Erfahrung für ein ganzes Leben reichen. Schuldbewusst richtete sie sich auf und suchte einen Weg fort vom Unfallort, die Schaulustigen keilten Luzia allerdings so fest ein, dass sie keinen Schritt zur Seite tun konnte. Endlich traf der Diakon der Pfarrkirche ein und fuhr den Hausherrn um Mäßigung an, danach empfahl er mit deutlichen Worten dem Verletzten, sich zu einem Arzt zu begeben. Erst dann löste sich die Menge allmählich auf und Luzia verließ aufatmend die Gasse. Einen Augenblick lehnte sie sich gegen eine Fassade, um wieder zur Ruhe zu kommen.

Wie musste es sein, bei der Arbeit jeden Tag sein Leben zu riskieren? Nicht selten fielen Zimmerleute vom Dach, wurden Steinmetze von ihrem Werkstück erschlagen oder Fischer wagten sich zu weit in den Fluss, wo sie davongeschwemmt wurden. Auch Luzia war vor ihrer Hochzeit mit Lukas einer gefährlichen Tätigkeit nachgegangen, bei der sie oft genug Kopf und Kragen riskiert hatte. Sie sollte dankbar sein, dass sie das jetzt nicht mehr nötig hatte und auch ihr Gemahl nicht solchen Gefahren ausgesetzt war. Obwohl – sie spürte ihr Herz furchtsam pochen – auch ihm gerade in diesem Augenblick etwas Schreckliches passieren könnte. Wenn ihm auf seiner Reise etwas zustieß? Wenn er nun vom Pferd fiel oder Räubern über den Weg lief? Womöglich musste er seinen Auftraggeber zu einem Gefecht begleiten und eine Musketenkugel verirrte sich und … Nein, Luzia wollte nicht weiter darüber nachdenken. Es ging ihm sicherlich gut. Vermutlich dachte er überhaupt nicht mehr an seine Luzia und amüsierte sich in einem Wirtshaus. Und überhaupt, wie kam sie dazu, sich solche Sorgen zu machen, wo die Gefahr doch die meiste Zeit ihres Lebens ein selbstverständlicher Teil von ihr gewesen war? Nun, jetzt hatte sie einen Sohn und wünschte nur das Beste für ihn. Dazu gehörte auch, dass ihm Mutter und Vater so lange wie möglich erhalten blieben.

Luzia reckte sich, um wieder ihre Schwägerin zu suchen. Magdalene wollte Knöpfe kaufen und hoffte auf einen Händler, der zum Jahrmarkt die Stadt besuchte, aber vielleicht war sie auch in den Laden eines der vielen Schneider getreten. Desweilen boten auch gewöhnliche Krämer Zierrat an, die einem eleganten Kleid den letzten Schliff gaben. Auf einen Blick erspähte Luzia mindestens fünf Läden, in denen Magdalene verschwunden sein könnte.

Aufseufzend wandte Luzia sich dem Brunnen zu, in der Hoffnung, dort einen Platz auf den Stufen zu finden, wo sie besser sehen konnte und wo auch Magdalene sie entdeckte, wenn sie bemerkte, dass sie Luzia verloren hatte. Ein Zeidler hielt ihr seinen duftenden Bauchladen vor die Nase. »Honiggutsle, feine Brustküchel mit Anis und Melisse, das Beste für Hals und Rachen! Fürchtet kein Halskratzen und keinen Husten mit meinen Leckerli!«

»Will glauben, dass sie gut sind«, wimmelte Luzia den Honighändler ab. Erst als er sich dem Nächsten zuwandte, überlegte sie, ob sie nicht einige dieser Leckereien tatsächlich für die nächste Erkältung brauchen könnte. Noch immer saß ihr der Honigduft in der Nase. Bevor aus einem Husten die Schwindsucht wurde, sollte man handeln. Und da der neue Apotheker genauso wenig Magdalenes Vertrauen besaß wie der alte, verließ sie sich lieber auf die Heilmittel eines Kräuterweibleins. Wenn sie allerdings so wohlschmeckend wie die des Zeidlers waren, würde auch die gestrenge Hausherrin gerne darauf zurückgreifen. Luzia drehte sich zu dem Honighändler herum, der schon etliche Bürger zwischen sich und Luzia gebracht hatte, als sie schon wieder jemand anrempelte. Sie erhaschte dicht zusammenstehende Augenbrauen unter einer tiefsitzenden Kappe. Instinktiv zog sie die Arme vor die Brust. Sie streifte etwas Hartes und packte zu. Direkt über der Faust ihres Gegenübers schlossen sich ihre Finger um einen Holzgriff. Schreckgeweitet trafen die Pupillen des Mannes auf ihren Blick. Ein verächtliches Lächeln stahl sich in Luzias Gesicht.

»Lass dir dein Lehrgeld zurückgeben!«, raunte sie ihm ins Ohr und stieß ihn von sich, ohne das Messer loszulassen. Die gebogene Klinge hatte sich in die Bänder ihrer Börse verhakt, jede winzige Bewegung würde sie zertrennen und die Börse zwischen die Füße des Mannes fallen lassen oder – wie es Luzia zu ihrer besten Zeit zu tun pflegte – genau in die zugriffsbereite Hand. Luzia hatte die letzten Jahre viel an Gewandtheit verloren, sie würde dem geübten Dieb die Börse nicht wieder abnehmen können, wenn er sie einmal in seinen Händen hielt.

»Hexe!«, zischte er und war im nächsten Augenblick in der Menge verschwunden. Das Wort fuhr eiskalt über Luzias Rücken. War ihm denn keine passendere Beleidigung eingefallen? Gerade jemand wie er müsste doch wissen, dass Aufmerksamkeit, Gewandtheit und Geschick nichts mit Hexerei zu tun hatten.

Noch immer umklammerte Luzia das Messer. Mit einem leisen Pfeifen stieß sie die Luft aus, die sie unbewusst während des Zwischenfalls angehalten hatte. Auf einmal zitterten ihre Knie, als ob jemand sie beim Stehlen erwischt hätte. Sie taumelte ein paar Schritte vorwärts und suchte Halt an einer Häuserecke. Direkt neben ihr führte eine Treppe steil nach oben, eine Abkürzung zum Schlosshof. Kinder sprangen darauf herum, laut juchzend und einander mit Namen neckend, daneben eine schimpfende Matrone, die ihren Korb mit Gemüse vor dem Überschwang zu retten suchte. Auf Luzias anderer Seite schoben sich Bürger der Stadt und die Besucher des Markttags von außerhalb, manche in absonderlichen Trachten, dicht an dicht vorüber. Niemand hatte bemerkt, was gerade vorgefallen war.

Luzia blickte auf das Messer in ihrer Hand. Mit dem langen Stiel erreichte ein Dieb auch verborgene Schnüre und Knöpfe. Die kleine, gebogene Klinge schnitt unbemerkt Bänder und Gürtel, jedoch in den richtigen Händen konnte sie tödliche Wunden am Hals hinterlassen. Genau solch ein Werkzeug hatte sie auch einmal besessen, aber während der Gefangenschaft beim Inquisitor in Amorbach verloren. Der Griff aus dunklem Holz, geglättet vom ständigen Gebrauch, schmiegte sich in ihre Hand wie für sie gefertigt. Sie musste zweimal hinschauen, um sich zu vergewissern, dass es sich tatsächlich nicht um das Heft handelte, das einer ihrer Onkel zu ihrem siebten Geburtstag für sie geschnitzt hatte. Nein, es fehlte die Verzierung am Knauf in Form eines Drachen, den ihre Finger früher unzählige Male liebkost hatten. Stattdessen ertastete sie die polierten Umrisse eines Widderkopfes. Auch die Klinge wies Unterschiede auf, war etwas kürzer, ein Weniges stärker gekrümmt, was aber wohl auf längeren Gebrauch und häufiges Schleifen hinwies.

Für zwei Atemzüge überlegte sie, ob sie dieses Messer gerade einem ihrer zahlreichen Vettern abgenommen hatte. Und wenn? Diese Vergangenheit lag hinter ihr. So gute Dienste ihr ihre Gaben auch geleistet hatten, wahrscheinlich würde sie ihrer nie wieder bedürfen.

»Da bist du ja endlich!« Magdalene tauchte direkt neben ihr aus der Menge auf und stellte sich auf die unterste Treppenstufe. »Wo hast du gesteckt? Hast du es schon gehört: Ein Zimmerer ist verunglückt, weil sein Sicherungsseil riss. Jetzt liegt er tot auf dem Pflaster.«

Irritiert richtete Luzia ihren Blick auf die Schwägerin, die ein großes Paket unter ihrem Arm balancierte. »Er fiel mir fast vor die Füße«, erwiderte sie. »Es treiben sich Taschendiebe auf dem Markt herum.«

Magdalene zuckte die Schultern. »War das jemals anders? Halte deine Sachen beisammen, dann passiert dir schon nichts.«

Das musste gerade Magdalene sagen, die nach beinahe jedem Marktbesuch über verlorene Silberknöpfe, Börsen oder Schmuckstücke klagte! Luzia verkniff sich ein Grinsen. »Was hast du gekauft?«

Stolz hob Magdalene das Paket an. »Nicht gekauft, eine Spende! Stoffreste vom Schneider. Damit können sich die Mädchen ihre Kleider ändern.«

Eine sinnvolle Gabe! Je länger Magdalene das Geburtshaus führte, desto leichter fiel es ihr, die Bedürfnisse ihrer Schützlinge zu erfüllen. Lukas hatte, nach Rücksprache mit Luzia, einen nicht unbeträchtlichen Teil des leichter zu mobilisierenden Vermögens für diesen guten Zweck zur Verfügung gestellt. Das war nur deswegen möglich, weil sie oben auf dem Lahnberg ein so bescheidenes Leben führten, das sie weitgehend von Repräsentationskosten befreite. Nach einer Anlaufzeit hatte Magdalene sogar begonnen, den Betrag in kleinen Raten zurückzuzahlen. Anlässlich der Brandkatastrophe flossen die Spenden der Einwohner Marburgs reichlich und der Fürstabt von Fulda hatte die Mechthild angebotenen Pfründe Magdalene zur Verfügung gestellt. Selbst nach Abzug der Kosten für den Umbau blieben ihr so genügend Mittel, ihre Schützlinge würdig unterzubringen und somit ein wirklich gottgefälliges Werk zu verrichten. Auch die Zusammenarbeit mit der Universität hatte sich so gut eingependelt, dass die Honoratioren mit dem Gedanken spielten, Magdalene diese Aufgabe aus der Hand zu nehmen und das Geburtshaus als Institution der Fakultät weiterlaufen zu lassen. Dagegen wiederum sträubte sich Magdalene, weil die Verantwortung sie einfach glücklich machte.

»Lass mich dir tragen helfen«, bot Luzia an, aber Magdalene entzog ihr das Paket. »Ich brauche noch Wurzelgemüse, dafür würde ich ein zusätzliches Paar Hände begrüßen. Und du? Weckt in dir die Auswahl nicht die Lust, etwas zu kaufen?«

Luzia schüttelte den Kopf. »Was soll ich mit noch einem hübschen Kleid? Ich habe schon eines für Lukas zur Überraschung, sowie er zurückkehrt.«

Genauso hätte sie erwähnen können, dass die Abwesenheit ihres Gatten sie faul und träge machte. Trine, die Kammerfrau, kaufte mithilfe dreier Mägde Vorräte an den Marktständen – viel besser, als Luzia es je vermocht hätte. Die Amme Elfriede nahm ihr jede Verrichtung für Karl aus den Händen und präsentierte nur gelegentlich die Fortschritte des kleinen Mannes, die Luzia regelmäßig zu Tränen rührten. »Vielleicht ein Spielzeug …«, murmelte sie vor sich hin.

Magdalene nahm ihren Gedanken wie einen Befehl und zog sie sogleich energisch in Richtung der Holzschnitzerbuden, wo Räderpferdchen und herzige Puppengesichter, umringt von Kindern mit leuchtenden Augen, auf Käufer warteten.

»Wie goldig!«, rief Magdalene aus und griff nach einem geschnitzten Säugling, dessen Arme und Beine mit dem Körper so sinnig durch Gelenke verbunden waren, dass man sie sogar bewegen konnte. »Ein hübsches Kleid und niemand ahnt, dass kein Leben in dem Winzling steckt!«

Auch Luzia musste die großartige Arbeit des Schnitzers bewundern. Selbst die Hautfarbe hatte er durch die Wahl des passenden Holzes nachgeahmt und die aufgemalten Wimpern der geschlossenen Lider machten den Eindruck, als ob sie sich jederzeit öffnen könnten. Als Luzia von den rosigen Wangen der Puppe hochsah, begegneten ihre Augen denen des Meisters, der jede Bewegung an seinem Stand argwöhnisch beobachtete, die Lippen hinter seinem dunklen Bart zusammengekniffen. Sein Misstrauen machte nicht einmal vor so hochgestellten Personen wie Magdalene und ihr Halt. Wohin war nur die Welt gekommen?

»Ach, Luzia«, seufzte Magdalene und nahm die Puppe in den Arm wie einen wirklichen Säugling. »Du hättest gerne auch ein Mädchen zur Welt bringen können. Meinst du … vielleicht …«

Luzia versteckte ein Grinsen. »Bestimmt. Allerdings bedarf es da noch ein wenig mehr Anstrengung deines Bruders.« Sie konnte ihre Sehnsucht nicht verbergen. »Hoffentlich kommt er bald wieder.«

»Nun übe dich in Geduld, Schwägerin! Er ist kaum eine Woche fort und hat noch nicht einmal erfahren, welchen Auftrag er ausführen soll! Aber solch ein Geschenk findet man nicht alle Tage. Wenn du ihm eine Tochter gebärst, müsste ich nicht lange suchen für etwas Passendes zur Taufe.«

Sie hatte augenscheinlich einen Narren an diesem Spielzeug gefressen. Da sie sich so selten etwas für sich selbst gönnte, wollte Luzia ihr die Ausrede nicht wegnehmen. »Da magst du recht haben, Schwägerin. Ergreife doch die Gelegenheit! Vielleicht findest du eine unter deinen Schützlingen, die eine hübsche Haube und ein Kleidchen näht – auch das braucht seine Zeit.«

Ein Strahlen trat in Magdalenes Augen und sie wandte sich dem Schnitzer zu. »Hast du noch andere von diesen Püppchen?«

Luzia schmunzelte darüber, dass sie nicht freiheraus fragte, was es denn kosten solle. Feilschen liebte Magdalene seit jeher. Das gesamte Verkaufsgespräch musste Luzia nicht belauschen, weshalb sie sich den anderen Auslagen zuwandte. Wenn der Meister so lebendige Gesichtlein schnitzte, dann vielleicht auch einem Jungen angemessene Spielsachen. Und tatsächlich fand sie in einer Kiste, halb verborgen hinter einem Tafelaufsatz mit röhrendem Hirsch, allerliebste Tiere in der Größe, dass sie in die Händchen eines Krabbelkindes passten, jedoch nicht so klein, sie versehentlich zu verschlucken. Sie suchte einen Bären, einen Hund und mehrere Schafe heraus und stellte sich schon vor, wie Karl seine Herde gegen das Raubtier verteidigte.

»Fünf Kupferstücke für jedes«, sagte die Stimme eines Mädchens von hinter den Auslagen. Es hob sich über den Klapptisch, stellte sich wohl auf die Zehenspitzen, trotzdem sah Luzia nicht viel mehr als die zerknitterte Haube und neugierige, dunkle Augen. Auch Luzia richtete sich auf, um das Mädchen zu betrachten.

»Ei, wer bist du denn?«, fragte Luzia.«

»Irmel, die Tochter des Holzschnitzermeisters Michel Steinbrück. Mein Papa hat schon die wunderbarsten Statuen von der Muttergottes und den Heiligen gemacht, so wie sein Vater und sein Vatersvater.«

»Das will ich wohl glauben.« Luzia schaute sich um. Dieser Mann war ihr Vater? Den Großvater hätte sie ihm eher zugetraut. Doch nicht selten suchten sich Handwerker erst eine Gattin, wenn sie den Gesellenbrief in der Tasche trugen – wer die Meisterschaft anstrebte, oft noch viel später. So kam es, dass Glatzköpfige blutjunge Frauen freiten. »Wo ist denn deine Mutter?«

»Beim lieben Gott«, antwortete das Mädchen ohne Zögern. Ihre Hand tastete zur Brust, als ob sie sich der Anwesenheit eines Gegenstands unter der Bluse versicherte. »Ich kann dir aber auch die Preise nennen.«

Einen Atemzug lang wusste Luzia nicht, wie sie auf diese Antwort reagieren sollte. Für eine Beileidsbekundung ging das Kind zu selbstverständlich mit dieser Tatsache um. Also lächelte Luzia sie an. »Das kannst du dir alles merken?«

»Sicher. So viele Zahlen sind es nicht. Mein Papa überlegt schon während des Schnitzens, was er dafür haben möchte und was wir alles dafür kaufen könnten.«

»Und was wolltet ihr für die Tierchen kaufen?«

»Brot. Und wenn wir viele auf einmal verkaufen, auch ein Stück Käse dazu.«

Das schmale Gesicht des Mädchens machte nicht den Eindruck, als ob es häufig Käse gäbe. Luzia richtete ihren Blick erneut auf die Kiste, suchte unter den anderen Schnitzereien herum, hob auch das eine oder andere Stück auf, fand aber nicht mehr von den Schafen. Sie zeigte eines derjenigen, die sie schon in Händen trug. »Gibt es noch mehr von denen?«

»Schafe?« Das Mädchen runzelte die Stirn. »Wir haben in Fulda drei verkauft und Papa kam nicht dazu, neue zu schnitzen. Zu dumm, wir müssen heute bei Sonnenuntergang die Stadt verlassen.«

Das bedeutete, dass die beiden der Stadtwache keinen Herbergsplatz nachweisen konnten und daher außerhalb übernachteten. »Dann seid ihr sicher in Eile unterwegs zum nächsten Markt.«

»Nicht so bald. In drei Tagen gibt es einen Markt in Amöneburg, aber nur einen kleinen, wo wir sicher kaum mehr als die Standgebühr verdienen.«

Erstaunlich, wie verständig die kleine Irmel solche Planungen nachvollziehen konnte. »Dann hätte dein Vater bestimmt nichts dagegen, noch … sagen wir … zwei Silberstücke für weitere Schafe zu verdienen, wenn er noch einen Tag dafür in der Stadt bleiben darf?«

Die Kleine hob ihren Blick zur Seite und der Schnitzer wandte sich sofort Luzia zu, die noch immer das Tier hochhielt. »Schafe, meine Dame? Sehr gerne. Fünf oder sechs schaffe ich in einer Nacht, und auch Kühe und Ziegen.«

Auch Magdalene hatte wohl mit einem Ohr dem Dialog gelauscht. Sie hielt die Puppe an sich gedrückt und zeigte einen sehr zufriedenen Gesichtsausdruck. »Eine gute Wahl, Schwägerin. Die Tiere sind entzückend, genau das Richtige für Karl.« Sie wandte sich an den Schnitzer. »Liefere deine Ware zu unserem Stadthaus in der Barfüßergasse. Du darfst ein, zwei Nächte deinen Karren im Hof aufstellen. Nach Amöneburg schaffst du es in einem Tag, da musst du dich nicht mit der Schnitzerei eilen.«

Das Gesicht des hageren Mannes hellte sich auf. »Zu freundlich, die Damen, ich bedanke mich aus ganzem Herzen! Dafür werde ich gerne ein Tierlein drauflegen.«

Luzia griff nach einem weiteren Stück aus der Kiste. »Ein Rudel Wölfe? Auch für fünf Kupferstücke jedes?«

Eifrig nickte der Mann und Magdalene beschrieb ihm den Weg. Luzia überflog noch einmal die Auslagen und sah diesmal auch hinter den Tisch. »Ist dies eine Madonna?«, fragte sie.

Das Mädchen antwortete. »Die dürfen wir aber nicht verkaufen.« Sicherlich, die Devotionalienhändler hatten etwas dagegen, dass jemand, der nicht ihrer Zunft angehörte, ihnen das Geschäft streitig machte. »Früher hat Papa immer so was geschnitzt: Heilige, Madonnen, Altäre. Wir waren überall, sogar in Polen! Aber heute findet er keine Aufträge mehr.«

Der Mann strich ihr über den Kopf und lächelte. »Die Reformation brachte einiges durcheinander. Wir wollen uns nicht beklagen. Mit meinem Handwerk ernähre ich meine Tochter und auch mich, und das ist mehr, als andere erwarten dürfen.«

»Gott segne dich und dein Kind«, sagte Magdalene und zog Luzia weiter zu den Gemüseständen, wo sie mehr einkaufte, als sie beide tragen konnten, und das Übrige durch einen Dienstmann zum Geburtshaus liefern ließ.

»Wunderschöne Schnitzereien hast du ausgesucht«, lobte Magdalene und sah immer wieder auf ihre Puppe herunter, die sie wie ein Kind im Arm trug.

»Hast du die Madonna gesehen? Vor wenigen Jahren noch hätten sich die Kirchenfürsten für solche Werke geprügelt.«

Magdalene nickte niedergeschlagen. »Die Kunst des Schnitzers wird für Kinderspielzeug verschwendet, während er zu Gottes höherem Lob arbeiten könnte. Manchmal denke ich, diese ganze Reformation hat der Teufel veranlasst. Warum können sich die Oberen nicht friedlich einigen? Wieso brandschatzt jemand Kirchen, um sie hinterher von den gleichen Männern wiederaufbauen zu lassen, die das Feuer gelegt haben? Kirchenschätze werden gestohlen oder sogar zerstört, und wenn die Pfarrer gewechselt haben, gibt es kein Geld mehr, solche Künstler wie den Schnitzer zu beschäftigen. Welcher Mensch hat seine Freude daran, in einer rußschwarzen Kirche zu beten?«

»Meinst du, dass Lukas in Gefahr gerät?«

Magdalene biss sich besorgt auf die Lippen. »Barmherziger Jesus, glaubst du etwa … Nein, Schwägerin, er versprach doch, nur über sichere Wege zu reiten!«

»Allerdings würde der Rechtsstreit wieder dazu führen, dass ein Landstrich die Konfession wechselt. Mit den bekannten Folgen.«

»Und am Schluss klagen die Reformierten die Katholiken der Hexerei an und umgekehrt, woraufhin wieder Frauen erbärmlich im Feuer zugrunde gehen müssen. Gebe Gott, dass er nicht mit solchen Vorfällen in Berührung kommt.«

***

 

Besorgt blickte Lukas empor zu den Wolken. Sie sanken immer tiefer, als ob der liebe Gott eine Decke über die Erde legen wollte. Im Osten färbte sich der Himmel bleischwarz, der Wind frischte auf, immer wieder zogen Böen durch die Bäume und überschütteten Lukas mit abgerissenem Laub. Jeden Augenblick konnte es anfangen zu regnen. Lukas sprang aus dem Sattel und kontrollierte, ob das gewachste Leinen die Pakete auf dem Lasttier auch genügend schützte, ob es gut genug festgezurrt war, nicht beim ersten Windstoß davongeblasen zu werden. Wenn er nass wurde, schadete das nicht viel, aber seine wertvollen Instrumente durften keinen Schaden leiden, indem gar die Schnitzereien aufquollen und den Sitz der Linsen veränderten. Zum Glück polsterte die dicke Lage aus Schafwolle die Stöße des Rittes so gut ab, dass die kostbaren Glasstücke nicht herausgerüttelt wurden, trotzdem würde er das Teleskop am Zielort neu justieren müssen.

Lukas sah sich um und fand keinen Hinweis darauf, dass ein Weg von der Straße abging, der vielleicht zu einem Gehöft oder auch nur zu einer Bauernkate führte, wenigstens zu irgendeinem Regenschutz. Sechs Stunden Weg hatte der Wirt ihm durch den Wald bis zur nächsten Gaststätte angekündigt, doch obwohl Lukas ein zügiges Tempo angeschlagen hatte, sah er weit und breit kein Zeichen davon. Ob er eine Abzweigung versäumt hatte?

Noch während Lukas die Gurte des Maultiers kontrollierte, schien das Licht wie Wasser aus dem Waldweg wegzufließen. Bis er wieder im Sattel saß, herrschte eine Dunkelheit um ihn, als ob die Sonne untergegangen wäre. Er stieß seinem Pferd die Hacken in die Seiten und zog an der Leine des Maultiers, um beide in Trab zu versetzen. Zuerst spürte er Widerstand hinter sich, aber als Donner über den Himmel rollte, machte das Lasttier Anstalten, Lukas‘ Braunen sogar zu überholen. Das wollte dieser sich natürlich nicht bieten lassen, sodass die beiden sich ein Wettrennen über den ausgefahrenen Weg boten, was Lukas ganz recht kam.

Erste Regentropfen peitschten ihm ins Gesicht und der Wind fegte ihm die Kapuze vom Kopf, woraufhin er beinahe das verwitterte Brett übersehen hätte, das auf einen kaum gebahnten Pfad zwischen zwei Bäumen wies. Welche Worte darauf standen, erkannte er nicht, denn gerade als er sich zu dem Schild beugte, blendete ihn ein Blitz. Von beiden Seiten schlugen Zweige nach ihm, aber schon nach einem kurzen Stück erweiterte sich der Weg und gab die Sicht frei auf ein großes, halb unter eine Eiche geducktes Gebäude. Kaum tat das Pferd den ersten Schritt unter den Bäumen hervor, zerriss ohrenbetäubender Donner den Himmel und eine Böe fegte Lukas fast aus dem Sattel. Sein Mantel wehte ihm in die Augen und nahm ihm die Sicht, sodass er blind seine Tiere zum Haus trieb. Vor der zweigeteilten Tür sprang er herunter, doch bevor er seine Hand nach dem Klopfer ausstrecken konnte, öffnete sich eine Hälfte. Eine wohlbeleibte weibliche Gestalt schlang sich im Dunkel dahinter ein Tuch um den Kopf und griff nach seinen Zügeln.

»Komm herein, Fremder, bevor dich der Sturm davonbläst!«, rief eine helle Stimme und Lukas vertraute ihr bereitwillig sein Pferd an. Das Maultier scheute vor dem dunklen Loch und ließ sich nur ungern voranschieben, bis sich auch der zweite Türflügel öffnete und der Raum ihm genügend erschien. Mit einem Rumsen schloss der Wind das Tor. Lukas brauchte etwas Zeit, bis seine Augen einen weiten Flur erkannten, der auf einer Seite an Ställen mit einer Kuh und zwei Ziegen vorbeiführte, neben denen sich eine kleine Herde Schafe drängte. Es erstaunte ihn, im Hintergrund Abteile mit vier Pferden zu sehen. Welch seltener Reichtum für ein einsames Gehöft! Auf der anderen Seite ging es in die Wohnräume, aus denen ein Mann sich unter der Tür hindurchbückte.

»Willkommen«, murmelte er und nahm der Frau die Zügel aus der Hand, um das Pferd zum übrigen Vieh zu führen. Als er fordernd die Hand nach der Leine des Packtiers ausstreckte, schüttelte Lukas den Kopf.

»Danke, aber die Last ist zerbrechlich, ich möchte mich lieber selbst darum kümmern.«

Mit einem Schulterzucken wandte der Mann sich dem Pferd zu.

»Vielen Dank, dass ich hier Schutz vor dem Unwetter finde«, sagte Lukas und entledigte sich seines Mantels.

»Komm ins Warme, Fremder«, forderte ihn die Frau auf. Sie nahm das Tuch ab und ein roter Schopf quoll darunter hervor. Zur Stimme passte das jugendliche Gesicht, also handelte es sich bei seiner Gastgeberin um ein großgewachsenes Mädchen, nicht um eine Frau.

Zusammen gingen sie durch die Tür in einen erstaunlich großzügigen Wohnraum, in dem ein Herdfeuer für heimelige Wärme sorgte. Ein eiserner Topf hing darüber, dem Düfte entströmten, bei denen Lukas das Wasser im Munde zusammenlief, dabei hatte er doch bei seinem Aufbruch ein gutes Frühstück erhalten. Das Mädchen sah seinen begehrlichen Blick und lachte.

»Du siehst hungrig aus, Reisender. Lass mich dir eine Schale Gesottenes reichen«, sagte sie und schritt schon zur Tat. Mit einer Kelle rührte sie um, was noch einen Schwall Essensduft durch den Raum ziehen ließ, und füllte einen irdenen Napf mit dicker brauner Soße, in der reichlich Stücke schwammen. Das Feuer rötete die Wangen, ließ die Augen blitzen und setzte Lichter in die roten Locken, die sich auf ihrer Stirn kräuselten.

Mit seiner Schüssel und einem Zinnlöffel zog Lukas sich auf einen Hocker zurück, den sie ihm wies, jedoch bevor er den ersten Bissen versuchte, stand er noch einmal auf und stellte sich vor. »Lukas Freiherr von Wegener.«

Das Mädchen knickste und auf einmal schob sich ein Schatten aus einer Ecke des Raumes hervor. Ein breitgebauter Mann richtete sich so hoch auf, dass Lukas fürchtete, er würde mit dem Kopf gegen die Decke stoßen.

»Meine Tochter Isolde habt Ihr kennengelernt, Baron. Mich nennt man Gerrit, den Roten. Was treibt Euch in diese Gefilde?«

Die Haare hatte die hübsche Isolde eindeutig von ihrem Vater, der Lukas bei der Begrüßung fast die Hand zerquetschte. Seine Tochter reichte auch ihm eine Schüssel und setzte sich dazu, als die beiden Männer zu essen begannen. Lukas erzählte frei heraus. »Ich bin Astrologe und wurde zur Beratung an den Hof von Brandenburg gerufen.«

Der Hüne verzog das Gesicht. Er brummte Unverständliches in seine stattliche Gesichtsbehaarung und vertiefte sich in seinen Eintopf. Auch Lukas konzentrierte sich darauf, denn das Essen verdiente die volle Aufmerksamkeit. Butterzart zergingen die großen Fleischbrocken auf der Zunge, eine Komposition aus Kräutern überdeckte den strengen Hammelgeschmack und betonte das Fleischaroma. Lukas erkannte mehrere Wurzelgemüse und Rüben, die den Zähnen noch angenehmen Widerstand boten.

Der lange Knecht, den sein Herr Klaas rief, kam hinzu, als Lukas sich gesättigt zurücklehnte, und bediente sich selbst am Topf.

Lukas beäugte einen letzten grünen Fitz auf seinem Brot, bevor er das Stück in den Mund schob. »Darf ich fragen, welche Kräuter den Hammel gewürzt haben?«, fragte er. »Meine Schwester legt gerade einen Kräutergarten an und sammelt Rezepte«, erklärte er auf den befremdeten Gesichtsausdruck Gerrits, denn auch er merkte, dass diese Frage sich nicht für einen Edelmann ziemte.

»Pfefferminze«, warf Isolde schnell ein. »Mein Vater brachte die Setzlinge aus Engelland mit.«

»Ah!« Lukas nickte wohlwollend. »Mich betitelte meine Schwester als eigennützig, dass ich nur unlesbare Bücher bei mir trug, als ich aus jenem Reich zurückkehrte. Obwohl sie meine Wahl eher verstand, nachdem ich einige der Werke übersetzte und in entsprechender Form vortrug. William Shakespeare, ein engelischer Dichter, vollendete köstliche Theaterstücke, mit denen ich sie und meine Gemahlin regelmäßig zu Tränen rühren kann.«

»Theater!«, brummte der rote Bär.

»Theater!«, schmachtete gleichzeitig Isolde. »Oh wie gerne ich eine dieser Tragödien miterleben würde!«

»Tragödien schreibt der Allmächtige besser als der talentierteste Schriftsteller«, fuhr ihr Vater ihr über den Mund, woraufhin sie sogleich eine betretene Miene aufsetzte.

Unbemerkt von Lukas war der Knecht aufgestanden und kehrte jetzt zurück mit zwei Humpen mit bräunlich schäumendem Inhalt, die er ihm und seinem Herrn reichte. Lukas entdeckte eine scharfrandige Narbe an seinem Unterarm, die nur von einem Schwerthieb herrühren konnte und die Hand ungelenk machte. Überrascht, so gut bewirtet zu werden, probierte Lukas und lobte dann das gute Schwarzbier.

»Wir leben hier vielleicht zurückgezogen und abgeschieden von aller Welt, aber verzichten müssen wir auf nichts«, entgegnete der Rothaarige mit unverhohlenem Stolz.

»Vater bekam diesen Besitz für seine heldenhaften Taten in Engelland«, erklärte Isolde. »Die Kühe sorgen für Milch und Käse, genau wie die Ziegen – mehr, als wir benötigen. Die Reste verkaufen wir auf dem Markt, und von dem Erlös bekommen wir unser Mehl. Gerste für das Bier bauen wir selbst an auf einem Stück hinter dem Garten. Sogar Hopfen gedeiht hier gut. Alles, was das Herz begehrt, schenkt uns der liebe Gott: Gemüse, Obst, Pilze und selbst Honig. Wir geben Arbeit für das halbe Dorf.«

»Beachtlich«, erwiderte Lukas mit rechtschaffenem Staunen. »Für meine Forschungen und die Himmelsbeobachtungen bin auch ich angewiesen darauf, abgeschieden von anderen Menschen zu leben, weshalb ich mit meiner Familie ein einsames Haus oberhalb der Stadt bezog, jedoch habe ich mich nicht darauf verlegt, mich von allem unabhängig zu machen. Im Gegenteil, die Damen des Hauses lassen sich regelmäßig in die Stadt kutschieren. Allerdings jetzt, in meiner Abwesenheit, wies ich meine Gemahlin an, ein Stadthaus zu beziehen, da ich ansonsten während meiner Reise vor Sorge umkommen müsste. Du hast keine Angst – so ganz allein?«

Der Rote stieß ein verächtliches Lachen aus und deutete auf die Wand, an der eine beachtliche Sammlung verschiedener Waffen aufgereiht hing, angefangen bei Lanzen und Hellebarden, Schwertern und sogar zwei Arkebusen, von denen jedes einzelne Stück nicht so aussah, als ob es nur zum Anschauen gefertigt sei. »Ein Räuber überlegt es sich zweimal, es mit uns beiden aufzunehmen.« Er deutete auf sich und seinen riesigen Knecht. »Außerdem – was sollte man hier suchen, was es nicht viel billiger woanders gäbe?«

Lukas warf einen bezeichnenden Blick auf die wohlbeleibte Isolde, die ihren Kopf senkte und ihre Hände im Schoß faltete. Gerrit schnaubte. »Wer mir mein einziges Kind wegnehmen will, muss vorher mich töten. Denn wenn er das nicht fertigbringt, werde ich ihn in die Hölle jagen und dem Teufel die Arbeit abnehmen, ihn für all seine Sünden büßen zu lassen. Der Allmächtige weiß, dass man bei einem Feldzug Handlungen lernt, bei denen der Feind seinen Tod erfleht. Das Kriegshandwerk ist schwer, Baron.«

Erschaudernd nickte Lukas. Die Augen des Roten erwiderten seinen Blick mit einer Energie, die ihn nicht an den Worten zweifeln ließen. Kurz überlegte er, welchem Untertan er ein solches Stück Land überlassen würde: so groß, mehr als eine Familie zu ernähren, aber weit genug von allem entfernt, dass dieser Mann nicht regelmäßig mit den anderen Untertanen in Kontakt kam. Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass der Herr nichts mehr mit seinem Vasallen zu tun haben, aber ihn auf keinen Fall fortjagen wollte. Gab es vielleicht sogar einen Grund, warum der Herr sich vor seinem Lehnsmann fürchtete?

Verlegen drehte Lukas seinen Humpen in der Hand und trank schließlich einen Schluck. »Nun, ich danke für Unterschlupf und Bewirtung …«, begann er.

»Isolde, richte unserem Gast ein Lager«, unterbrach Gerrit ihn.

Lukas wollte widersprechen, aber da ertönte ein Donner, der ihm das Wort vom Munde nahm. Der Trommelschlag des Regens auf dem Dach machte die Unterhaltung für einen Augenblick unmöglich. Als sich das Wetter nach einigen Minuten etwas beruhigt hatte, deutete er hilflos nach oben. »Der Heilige Petrus hat entschieden, dass ein Wanderer heute besser früh einkehrt. Vielleicht zeigt er ein Einsehen und gestattet mir bei Sonnenaufgang die Weiterreise. Bis dahin bedanke ich mich herzlich für das Obdach. Wie kann ich mich erkenntlich zeigen? Die paar Münzen, die ein Gastwirt von mir bekäme, würden dich beleidigen. Darf ich vielleicht als Zeichen meiner Dankbarkeit ein Horoskop erstellen – wenn ich allerdings auch bekennen muss, dass es unter diesen Verhältnissen nicht meine übliche Sorgfalt aufweisen wird.«

Isolde juchzte und schlug ihre Hände zusammen, aber Gerrit schüttelte den Kopf. »Kind, lass den Unsinn. Ich glaube nicht an Weissagungen.«

Empört hob Lukas den Kopf. »Ich spreche keine Weissagungen aus! Meine Horoskope sind säuberlich berechnet und bilden das Geschehen im Himmel deutlich für den irdischen Gebrauch ab. Jeder Mensch wurde unter einer einzigartigen Konstellation geboren, die fürderhin sein weiteres Leben bestimmt. Wenn man es nur vermag, diese Konstellation möglichst genau nachzuvollziehen, wird der Einfluss der Gestirne auf jede einzelne Handlung klar ersichtlich. Gerrit, stelle bitte nicht solche von Gott begnadeten Geistesgrößen wie Tycho Brahe und Johannes Kepler als Scharlatane dar!«

»Worin besteht denn ihre Genialität? Dass sie den Kirchenfürsten rieten, einen bestimmten Mönch aus Wittenberg zu ignorieren?«

»Der Mönch, von dem du sprichst, Gerrit, war immerhin Professor für Bibelauslegung und wurde niemals ignoriert. Nein, Brahe und Kepler mischten sich nicht in solche Kircheninterna. Sie befassten sich mit der mathematischen Erklärung des Himmelsgeschehens. Ihnen haben wir zu verdanken, dass die Gestirne nicht mehr, wie vorher vermutet, wirre Tänze am Himmelszelt abhalten. Die beiden erklärten uns, dass die Bahnen der Planeten eiförmig um die Sonne wandern – im Unterschied zu Kopernikus, in seiner Zeit wahrlich ein Genie, der sie als Kreise beschrieb. Ebenso läuft der Mond keinen Kreis um die Erde, auch er sucht sich einen anderen Mittelpunkt seiner Wanderschaft.«

»Akademisches Geplapper«, murmelte Gerrit in seinen Bart. »Das einfache Volk nimmt noch immer das geozentrische Weltbild des Aristoteles als Wahrheit.«

Isolde reckte sich eifrig vor. »Und die meisten glauben sogar noch, die Erde sei eine Scheibe!«

Selbst der Knecht lachte und es entspann sich eine kurzweilige Diskussion über Volksglaube und Wissenschaft, den Unterschied zwischen Weissagungen und Horoskopen und den Nutzen derselben. Lukas bewunderte das Verständnis seines Gastgebers, schlug sich jedoch wacker, bis am Schluss der Hausherr eine sehr zufriedene Miene machte und zum Schlafengehen aufforderte. »Baron, seit Langem führte ich keine so lohnende Unterhaltung mehr. Zunächst – ich muss es zugeben – verdross mich die Aussicht auf einen Übernachtungsgast, jedoch Eure Gesellschaft verschaffte mir angenehme Zerstreuung. Auch für die Bildung meiner Tochter gestaltete sich der Abend als durchaus gewinnbringend. Jetzt ist es zu spät, jedoch, wenn Euch der Aufenthalt nicht zu sehr behindert, würde ich Euch bitten, morgen meiner Isolde eines Eurer Horoskope zu berechnen.«

»Gerne.« Lukas erkundigte sich nach dem Geburtsdatum von Gerrits Tochter. Der Kriegsmann antwortete bereitwillig und Lukas notierte sich die Ziffern auf einem der Papierfetzen, die er zu diesem Zweck bei sich führte. »Und weißt du vielleicht auch noch etwas über die Uhrzeit?«