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Die Pest geht um

 

 

Historischer Roman

von Tatjana Stöckler

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

ISBN 978-3-943531-48-0

ISBN 978-3-943531-47-3 (Kindle E-Book)

ISBN 978-3-943531-33-6 (Print Ausgabe)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung | Illustration: Diana Isabel Franze

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

Prolog - Der Schwarze Tod

 

Schwarze Fingerkuppen mit bis auf das Fleisch abgesplitterten Nägeln krallten nach Jasemins Gesicht. Fäulnisgestank ging von den Klauen aus, der sie zum Würgen reizte. Panisch wich sie aus, stolperte über einen mit Gerinnseln und Eiter gefüllten Eimer und schlug der Länge nach auf die Holzdielen. Ihre Finger glitten über die schleimbedeckten Dielen, fanden keinen Halt. Dicht an dicht lagen um sie herum die blutigen Laken der Pestkranken, nur notdürftig über die Gesichter der frisch Verstorbenen geschlagen. Verkrümmte Gliedmaßen schauten daraus hervor, Erbrochenes, Urin und Kot bildeten Pfützen, die das Leinen färbten, dünsteten giftige Dämpfe aus, wabernd im Licht der Talgkerzen. Die Pranken schoben sich heran, packten Jasemins Knöchel.

»Ich verfluche dich!«, krächzte die Stimme, bevor sie in qualvolles Husten überging. Rote Tropfen sprenkelten das Tuch vor dem Totengesicht. »Ich verfluche euch alle, ihr Teufelsanbeter!«

Jasemin kroch voller Verzweiflung rückwärts, bis sie mit dem Kopf gegen ein Hindernis stieß. Sie konnte die verstümmelte Hand nicht von ihrem Fuß abschütteln. Ein markerschütternder Schrei löste sich aus ihrer Kehle.

»Ganz ruhig, Geliebte, du träumst!«

Nur langsam gab der Albdruck sie frei, wich die Erinnerung an den Gestank aus ihrer Nase. Sie hob abwehrend die Hände und traf auf etwas Weiches. Noch immer klopfte ihr Herz wild und Schweiß bedeckte ihre Stirn, als sie die Augen aufriss und in Jaspers besorgtes Gesicht blickte.

»Verzeih mir«, stieß sie hervor. Sie hatte ihren guten Mann geweckt, wo er doch am Morgen für die Anhörung all seine Sinne beisammen halten musste.

»Pscht, Geliebte, es ist alles gut.«

Nichts war gut, und er wusste das auch, wollte sie nur beruhigen. Ihm zuliebe ging sie darauf ein, zwang ein Lächeln in ihr Gesicht. »Es ist nur …«

»Ich weiß. Vier Jahre ist es nun her, und noch immer ängstigst du dich. Dein Vater musste nicht umsonst sterben. Seine Lehren haben viele Leben gerettet. Und noch einmal gelobe ich dir, dass sein Werk meine Inspiration ist. Ich werde in seinem Sinne weiterforschen, bis ich ein Heilmittel für die Pest gefunden habe.«

Jasemin löste sich von dem Kopfteil des Bettes, gegen das sie der Nachtmahr gepresst hatte, und legte ihr Gesicht auf Jaspers Schulter. »Gebe Gott, dass dir die Kommission Glauben schenkt!«

»Deiner und auch meiner«, flüsterte Jasper und strich über ihr schwarzes Haar.

***

 

Kapitel 1 - Alleingelassen

 

Sorgfältig rollte Luzia das Halstuch zusammen und verstaute es in der Satteltasche. Sie wandte sich zu der nach Lavendel duftenden Kleidertruhe und suchte ein Leibchen aus besonders dicker Wolle heraus, während Lukas das Tuch mit einem unwilligen Laut aus der Tasche herausnahm und auf die Kommode legte.

»Schatz, ich werde einen Schal um den Hals tragen, wenn ich losreite. Was soll ich mit noch einem?«

Einerseits sah sie seine Argumentation ein, andererseits fühlte sie sich hundsmiserabel bei dem Gedanken, dass Lukas mitten im Winter den Thüringischen Wald bereiste. »Du wirst erfrieren. Je höher die Berge, desto kälter die Nächte. Zusätzliche Kleidung kann nicht schaden.«

»Was glaubst du, wohin ich reise? Mühlhausen liegt nicht im Orcus. In den Nächten werde ich mir ein lauschiges Stübchen suchen und auf gar keinen Fall zwei Tücher um den Hals tragen. Bitte lass mich alleine mein Gepäck zusammenstellen!«

Diesen knurrigen Unterton kannte Luzia. Nicht mehr lange und Lukas würde sie anschreien. Das kam zwar nicht häufig vor, aber wenn, dann gewitterte es heftig. Wutschnaubend verzogen sie sich zu solchen Zeiten in entgegengesetzte Ecken des Hauses und wollten stundenlang nichts mehr voneinander wissen, bis sie sich besannen und um Verzeihung baten, wobei der eine die Beteuerungen des anderen nicht gelten ließ und die Schuld nur bei sich suchte. Es endete mit herzlichen Küssen, bis sie nicht mehr voneinander lassen konnten und auch schon mal am helllichten Tag im Schlafzimmer verschwanden. Oder Lukas legte den Riegel vor die Tür seines Laboratoriums und Luzia zeigte ihm, wozu sein bequemer Lesestuhl sonst noch zu gebrauchen war. Der Schwägerin erzählte Lukas hinterher, er brauche Luzia dringend für Experimente. In Erinnerung daran, was Magdalene sich wohl darunter ausmalte, verschluckte Luzia ein Kichern. Nein, sie durfte Lukas auf gar keinen Fall reizen. So erquickend jedes Mal die Versöhnung auch war, dieses Mal wollte sie in Hinblick auf den vorausgehenden Streit darauf verzichten. Sie seufzte.

»Wenn du mir versprichst, es immer warm zu haben …«

Lukas hob den Kopf aus der Tasche. Weil er sein Lachen unterdrücken wollte, wurde ein Schnauben daraus, was aber nicht verhinderte, dass sein Gesicht sich lustig verzog. »Was verlangst du von mir? Sicher werde ich frieren und fluchen, dass ich den Auftrag annahm! Jede einzelne Stunde muss ich mich nach dir sehnen und deine warme Umarmung vermissen.«

»Dann nimm mich mit!«

Erschrocken schlug Luzia die Hand vor den Mund, dem diese Äußerung entflohen war. Wie oft hatten sie diese Diskussion schon geführt? Er wollte sie nicht mitnehmen! Jedes Argument, das Luzia äußerte, focht er nieder: Es verlief meistens zum Schlechten, wenn er allein reiste; Luzia stellte irgendetwas an ohne ihn; sie blamierte ihn in der Gesellschaft; es kam unweigerlich zum Streit zwischen ihr und der Schwägerin … nichts konnte seine Meinung ändern. Er schmetterte jede ihrer Begründungen ab, bis sie aufgab.

»Herrgott im Himmel!« Jetzt wurde Lukas doch laut. Luzia senkte verschämt den Kopf. Er hatte vor der Abreise an genug zu denken, ohne sich auch noch über die verstockte Ehefrau zu ärgern. »Dann kommst du eben mit.«

Luzia hob zu einer Entschuldigung an, als ihr der Sinn seiner Worte aufging. »Mitkommen. Ich. Mit dir«, stotterte sie.

Er richtete sich auf und grinste sie an. »Ja, willst du nun oder nicht?«

Sie sperrte den Mund auf und fühlte, wie ein Schwindel durch ihren Kopf zog. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie ihrem Mann ohnmächtig vor die Füße fallen. Angestrengt schlug sie die Zähne zusammen, schüttelte den Kopf, dann nickte sie. »Mitkommen. Sicher. Mit dir.« Noch immer fielen ihr keine vernünftigen Worte ein. Sie räusperte sich. »Ich muss packen!«, rief sie, kreiselte herum und rannte aus dem Raum.

***

 

Mit gemischten Gefühlen blickte Jasemin dem Kutscher hinterher, der den Platz vor dem Wirtshaus in Richtung Osten verließ. Kieselsteine spritzten hinter den Hufen der vier Pferde auf und sie musste einen Schritt zur Seite springen, um nicht getroffen zu werden. Jasper dachte, dass sie mit diesem Wagen nach Prag fuhr, aber das tat sie nicht. Einerseits sehnte sie sich danach, all ihre Sorgen am warmen Herdfeuer von Jaspers Schwester zu vergessen, andererseits wusste sie genau, dass es sie nicht ruhig an ihrem Platz halten würde. Wie konnte sie sich in Sicherheit bringen, wenn Jasper vor Gericht stand? Was hatte er nur verbrochen, dass aus der Anhörung eine Anklage geworden war?

Nein, darüber durfte sie jetzt nicht grübeln. Energisch zog sie den Mantel um sich herum und wandte sich zurück nach Mühlhausen. Zwei Meilen weit nur hatte sie die Dienste des Fuhrmannes in Anspruch genommen. Das restliche, von Jasper für die Fahrt nach Prag bestimmte Geld klimperte in ihrem Beutel. Beruhigend tönte der satte Klang von Gold, nicht das Klingeln von Kupfermünzen, mit denen sie sonst hantierte. Es war das erste Mal, dass sie die Schwere des edlen Metalls zwischen ihren Fingern spürte. Der Umgang mit Münzen war ihr zeit ihres Lebens in ihrem gut behüteten Vaterhaus fremd gewesen, bis Jasper sie im Herbst aufgefordert hatte, Vorräte für sie beide zu kaufen. Sie hatten fest damit gerechnet, den Winter in Mühlhausen zu verbringen, und so lagerten jetzt im Keller des gemieteten Hauses Rüben und Kohl, dazu ein Fass mit Äpfeln. Auf dem Dachboden trockneten Kräuter, Obst und Pilze hingen aufgefädelt an Schnüren von den Balken. Tontöpfe mit Erbsen, Bohnen und Linsen standen in der Speisekammer, und im Boden des Sandkellers steckte allerlei Wurzelgemüse. Jasemin musste sich beeilen, damit sie der Vermieterin zuvorkam, die mit Sicherheit das Haus ausräumen würde, sowie sie merkte, dass niemand mehr darin wohnte. Wenn sie es nicht tat, beanspruchte das Gericht alle Besitztümer des Angeklagten, um die Gerichtsgebühr zu bezahlen. Doch wo nichts war, konnten die Büttel nichts einziehen. Jeder wusste, dass die Richter den Prozess in die Länge zogen, wenn sie jeden Tag vom Geld des Angeklagten mit Köstlichkeiten aus dem besten Wirtshaus der Stadt ausgehalten wurden.

Die Sonne stand tief und Jasemin beschleunigte ihren Schritt, denn sie fürchtete den Weg durch den Wald. Schon kamen die ersten Bäume in Sicht und ihr schlug der modrige Geruch nach feuchter Erde entgegen, den sie so aus ihrer Heimat nicht kannte. Als sie das erste Mal einen Wald gesehen hatte, war ihr unwillkürlich der Gedanke an das Paradies gekommen. So musste es dort aussehen. Doch bald brachte man ihr bei, dass im Wald alles Böse lauerte: wilde Tiere, Räuber, Gesetzlose, Aussätzige. Der Winterwald vor ihr ähnelte in nichts mehr dem Paradies, das sie ersehnte. Kahle Äste griffen wie Skelettfinger in den Himmel. Wie schwarze Klauen mit abgesplitterten Nägeln.

Ein Hauch Verwesung zog in ihre Nase und sie musste schlucken, um sich nicht zu erbrechen. Besser beeilte sie sich, damit sie sich nicht in der Dunkelheit verirrte und womöglich im Wald übernachten musste. Wer würde sie bei einem erneuten Albtraum trösten?

Ein Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle, sie lief schneller, bis sie nahezu rannte. Wer gab Jasper Trost? Was musste er in diesem Augenblick erdulden? Nur eine Anhörung, hatte er gesagt. Lediglich zur Vorsicht hatte er ihr Gold in die Hand gedrückt. Für alle Fälle. Aber nein, Geliebte, es wird nichts Schlimmes geschehen. So lauteten seine Worte. Jasemin keuchte und wusste nicht, ob sie wegen der Anstrengung keine Luft mehr bekam oder weil die Sorge ihr den Hals zudrückte. Es wird nichts Schlimmes geschehen. Immer wieder sagte sie sich seine Worte vor. Es wird nichts Schlimmes geschehen.

***

 

Unter ihrer Hand spürte Magdalene, wie Karl vor Aufregung zappelte. Zu gerne wäre auch er mitgegangen, doch so aufregende Reisen waren nichts für Kinder. Beruhigend drückte sie seine Schulter und winkte weiter den Pferden hinterher, obwohl Lukas und Luzia schon längst nicht mehr zu sehen waren. Elfriede hob den Arm der kleinen Anna und bewegte ihn so, als ob auch sie den Eltern einen Abschiedsgruß hinterhersandte. Anscheinend beschäftigte Anna jedoch etwas anderes, denn auf einmal zog ein durchdringender Geruch an Magdalene vorbei. Sofort rümpfte Elfriede die Nase, knickste vor ihrer Herrin und verschwand mit dem Säugling. Magdalene schmunzelte. Sie liebte Kinder – die Art, wie sie lächelten, wenn man ihnen etwas Gutes tat; die Offenheit, mit der sie ihre Liebe bekundeten, oder auch ihre Abneigung; die Spiele, die sie in aller Unschuld miteinander spielten – aber wenn sie kreischten oder Unangenehmes ausdünsteten, dankte sie dem Allmächtigen für Frauen wie Elfriede, die sich klaglos der Ärgernisse annahmen.

Da lobte sie ihre Puppen, die all die guten Eigenschaften der Kinder in sich vereinigten und dabei niemals laut wurden oder forderten. Ein wandernder Händler aus Nürnberg, wo die berühmten Dockemacher saßen, brachte regelmäßig wundervolle Püppchen zum Markt in Marburg mit, die Magdalene ihm fast alle abkaufte. Als sie gehört hatte, dass Lukas ins Thüringische reisen wollte, musste sie gleich auf seinen Landkarten nachsehen, ob er nicht vielleicht in die Nähe von Sonneberg kam, wo neuerdings Handwerker auch herzige Puppengesichtchen schnitzten. Leider nur erwies sich Thüringen als zu groß, um Lukas zu bitten, ihr ein hübsches Exemplar von einem der Künstler mitzubringen. Von seinem Auftragsort bis zu den Manufakturen war es so weit, dass er sich genauso gut direkt von Marburg aus auf den Weg machen könnte.

Wie auf das Stichwort lugte Irmel, die Tochter des Schnitzermeisters, um die Ecke des Hauses herum, und jetzt ließ Karl sich nicht mehr zurückhalten. Kein Gedanke an die zwischen den Gassen verschwundenen Eltern, er rannte der Spielgefährtin entgegen. Wehmütig fiel Magdalenes Blick auf die Puppe Käthchen, die Irmel seit dem Abenteuer mit dem schwarzen Mann in Ehren hielt. Auch diesmal trug sie das Holzkindlein im Arm und achtete darauf, dass ihm nichts geschah. Die Scharte im Holz hatte ihr Vater kunstvoll verschmiert und unter Bemalung verborgen, sodass nichts mehr an die rüde Behandlung durch den Verbrecher erinnerte. Bei der Kleinen war die Puppe besser aufgehoben als bei ihr.

»Zum Abendessen seid ihr wieder da!«, rief Trine den beiden Kindern hinterher, die sich schon auf den Weg zum Schlosspark gemacht hatten. Dort durften sie mit persönlicher Erlaubnis des Landgrafen spielen, weil ihre beiden Väter bei ihm in besonderer Gunst standen – Lukas als hochgelehrter Berater, Michel Steinbück als begnadeter Künstler.

Schweren Herzens wandte Magdalene sich um und stieg die Treppe zum Eingang hoch, wo Trine ihr die Tür aufhielt. »Mach dir keine Sorgen, Herrin«, sagte sie mit einem Lächeln. »Dein Bruder befindet sich in besten Händen.«

»Und wenn ihnen wieder etwas zustößt? Diesmal allen beiden?«

Fürsorglich schob die Kammerfrau sie in die Diele. »Das kann nur der Allerhöchste verhindern – oder auch zulassen, wie er will. Selbst dann wird es den Kindern gutgehen, wenn du sie unter deine Fittiche nimmst, Herrin. Es gibt keine gütigere Muhme als dich.«

Beschämt merkte Magdalene, dass sie gar nicht an die Kinder gedacht hatte, sondern nur daran, wie schlecht es ihr gehen würde, ganz allein auf sich gestellt, ohne einen Bruder, der sie vor der Welt beschützte. Mit ihm in Reichweite konnte sie stark sein, allen anderen Männern die Stirn bieten, ihre Interessen durchsetzen und sich um ihr Geburtshaus kümmern, eine Wohltäterin für alle Bedürftigen. Sie nickte Trine dankbar zu, die sie ohne Predigt Demut lehrte. In Lukas‘ Abwesenheit war Magdalene verantwortlich für den Bestand der Familie, für seinen Stammhalter und das entzückende Mädchen, dem eines Tages eine Heirat in die höchsten Kreise offenstand. Dafür würden Magdalenes Verbindungen zu den Kirchenoberen und dem Landgrafen sorgen. Neid regte sich in ihr, den sie sofort unterdrückte. Nein, für sie wäre die Rolle als treusorgendes Eheweib völlig verfehlt.

Sie straffte die Schultern. »Nun, Trine, dann wollen wir mal sehen, wie weit die Küche mit dem Anlegen der Wintervorräte gekommen ist.«

***

 

Durch einen kräftigen Ruck öffnete sich die Hintertür und etwas klatschte feucht dahinter auf den Boden. Jasemin atmete auf. Jemand, der zufällig vorbeigekommen wäre, hätte nach einem flüchtigen Rütteln an der Klinke die Tür für verschlossen gehalten. Die Vermieterin besaß einen Schlüssel für die Vordertür, aber wenn sie mittlerweile drinnen gewesen wäre, hätte sie mit Sicherheit den Apfel entdeckt, den Jasemin in den Riegel geklemmt hatte, und ihn entfernt, um die Hintertür von innen zu verschließen. Jasemin zwängte sich durch einen möglichst engen Spalt in die Küche und schloss den Riegel hinter sich. Ihre Finger glitten durch zermatschtes Fruchtfleisch, und köstlicher Duft nach Apfelmus drang in ihre Nase. Auf keinen Fall durfte sie vergessen, hier alles wegzuputzen, was an ihre List erinnerte. Die Hälfte des Apfels lag genau vor ihren Füßen, die Bruchkante sauber und hell, klebriger Saft trat aus. Heißhungrig biss Jasemin hinein und verschlang ihn mitsamt dem Gehäuse. Den ganzen Tag über hatte sie nichts gegessen und ihr leerer Magen verlangte knurrend nach mehr. Mit der Zunge schleckte sie süße Tropfen von den Fingern. Nein, sie durfte sich jetzt nicht länger aufhalten. Es grenzte an ein Wunder, dass die Wirtin bis jetzt noch nicht nach dem Rechten geschaut hatte, und sie sollte das Schicksal nicht unnötig herausfordern.

Etwas huschte über ihre Füße. Stocksteif blieb Jasemin stehen und hielt den Atem an, bis sie das Trippeln winziger Krallen sich entfernen hörte. Das musste eine von Jaspers Ratten sein. Bevor Jasemin das Haus verlassen hatte, war ihre letzte Pflicht, all den Tieren die Freiheit zu geben. Die Hunde und Katzen hatten allesamt schnell die Käfige verlassen und ihr Heil in der Flucht gesucht, doch die Ratten verschwanden sofort im nächstbesten Versteck, und so mochte die eine oder andere einen Weg zurück ins Haus gefunden haben. Jasemin schauderte bei dem Gedanken, so dicht bei einer von denen ausharren zu müssen, denn Jasper befürchtete, dass diese Tiere die Krankheit verursachten. Einige von ihnen waren tatsächlich krank gewesen, weshalb sie sich so leicht fangen ließen, dass Jasper nicht einmal die Hilfe eines Rattenfängers in Anspruch nehmen musste, als sie in der Stadt angekommen waren.

Was, wenn Jasemin sich ansteckte und Wochen siech in einer Ecke lag, wo niemand sie fand? Sah so Gottes Lohn aus, dass sie Hunderte von Kranken bis zum Tode gepflegt hatte, nur um selbst einsam in der Fremde zu verenden?

Ihre Finger zitterten und der Verwesungsgeruch aus dem Hospiz, in dem ihr Vater gestorben war, schien in ihre Nase zu dringen. Sie schüttelte den Kopf und atmete tief den Duft des zerquetschten Apfels ein, um die Erinnerung zu verscheuchen. Ein Lappen lag noch neben dem Ausguss, Wasser befand sich in einem Eimer daneben. Jasemin wischte die Reste des Fruchtbreis von Riegel und Boden, doch ständig horchte sie hinter sich, ob die Ratte nicht wieder auftauchte.

Sie sollte sich nicht aufhalten. Die Hausbesitzerin hatte sicher auch auf ihrem Gut vor der Stadt davon erfahren, dass ihr Mieter im Kerker saß. Sowie die Sonne aufging, würde sie aufbrechen, um in das Haus einzudringen. Jasper hatte es Jasemin als Daheim geschenkt – wenn auch nur auf Zeit. Ihr Herz begann wieder zu schmerzen beim Gedanken an Jasper, der vielleicht nie wieder …

Nein! Jasemin stampfte mit dem Fuß auf und zwang sich dazu, die Kellertür zu öffnen. Sie würde hier auf ihn warten. Komme, was wolle.

***

 

Etwas Federleichtes in Lukas wollte tanzen und davonfliegen, aber der flotte Trab auf dem Pferd reichte auch schon. Am liebsten wäre er galoppiert, aber davon brachte ihn seine Vernunft ab. Das hielten die Tiere nicht lange durch und Luzia war als Reiterin nicht so geübt, dass sie sich anschließen könnte. Ein breites Grinsen trat in sein Gesicht, sowie er an ihre verdatterte Miene dachte, als er ihr gesagt hatte, dass sie mitkommen solle. Das war nicht sein Plan gewesen, keinesfalls, aber im letzten Moment hatte sein Herz gesprochen. Wie sollte er wochenlang ohne sie auskommen? Wer würde jedem Störenfried erklären, dass er tagsüber schlief, wenn er nachts die Sterne beobachtete? Wer würde den Dränglern die Leviten lesen, dass es sich bei einem Horoskop um eine Kunst handelte, die nicht im Handumdrehen perfekte Ergebnisse zeigte? Und wer würde, wenn er spät nachts ins Bett kam, ihn mit Wärme und Umarmungen empfangen? Außerdem brauchte er sie an seiner Seite, damit diese Reise nicht so fürchterlich endete wie die letzte. Ohne ihre Hilfe würde er noch immer in einem Käfig sitzen – vielleicht sogar als von Ratten abgenagtes Gerippe.

Nein, Luzia mitzunehmen, war die beste Entscheidung. Magdalene würde gar nicht viel aufpassen müssen, der Haushalt lief fast allein. Elfriede kümmerte sich aufopfernd um die Kinder, Trine sorgte für den Haushalt und hatte das Personal fest im Griff.

Eigentlich hatte Lukas beschlossen, sich fortan weniger für die Astrologie aufzuopfern, da die Naturwissenschaften so viel zu bieten hatten und er endlich mehr Zeit in das Auftrennen und Zusammenfügen von alchimistischen Substanzen verwenden wollte, aber der Bitte des Landgrafen musste er nachgeben. Und die Reise versprach viel Kurzweil. Besonders mit Luzia als Begleitung erwartete ihn sicher viel Unerwartetes und – wie er seine Frau kannte – ein Abenteuer.

***

 

Missmutig sah Magdalene dabei zu, wie Elfriede mit Engelsgeduld Haferbrei in Annas Mäulchen löffelte, ihr die herausfließenden Tropfen abwischte und die Prozedur von vorn begann. Der ganze Raum roch süßlich nach dem Brei. Die Kleine plapperte mit vollem Mund unsinnige Silben und spuckte dabei die Hälfte ihrer Nahrung wieder aus. Noch besaß sie nicht Verstand genug zu erkennen, wie ungehörig sie sich benahm. Es wartete eine Menge Erziehungsarbeit auf Elfriede und später die Gesellschafterinnen, um die kleine Baroness zu dem Fräulein zu gestalten, das Magdalene einem Freund des Landgrafen oder einem Neffen des Bischofs vorstellen konnte. Sollte das gelingen, es käme einem Wunder gleich. Dass es ein solches gäbe, zog Magdalene auch nur in Betracht, weil Karl noch vor kurzer Zeit genauso die guten Gaben seiner Amme vergeudet hatte und nun schon lateinische Vokabeln von seinem Vater aufschnappte und fleißig ungelenke Buchstaben auf eine Schiefertafel malte. Es wurde Zeit, dass er einen Lehrer bekam, worauf sie Lukas schon mehrfach hingewiesen hatte. Hoffentlich kümmerte er sich bald nach seiner Heimkehr darum.

»Geh nur, Herrin«, flüsterte Trine Magdalene ins Ohr. »Alles läuft ausgezeichnet, auch ohne deine Aufsicht.«

»Aber ich habe Luzia versprochen …«

»… dass für ihre Kinder bestens gesorgt wird – nicht dass du dich im Haus festbindest.«

Ein letzter Blick auf Annas breiverschmierten Mund und die rosige Zunge, die Fäden von den Lippen zog, und Magdalene stand von ihrem Hocker auf.

»Du hast recht, Trine, ich werde unten im Geburtshaus nach dem Rechten sehen. Ihr wisst ja, wo ihr mich findet.«

Elfriedes Grinsen geriet ein wenig zu schelmisch, aber Magdalene mochte die Amme nicht deshalb rügen. Sie drehte sich herum und strebte zum Ausgang. Auf halbem Weg durch die Diele wandte sie sich zur Küche, ließ sich von der Köchin einen Korb mit roten Rüben und einer Tüte voll Brüsseler Kohl packen. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie sich die Augen der Mädchen im Heim vorstellte, die sicherlich solche Köstlichkeiten noch niemals gesehen hatten.

Trine bestand auf ein dicht gewebtes Brusttuch unter dem pelzbesetzten Mantel, und als Magdalene vor der Tür stand, dankte sie ihrer Kammerfrau im Stillen dafür. Sie sog tief die kalte Luft ein. Ihr Atem gefror in großen Wolken vor dem Gesicht und auf den Lahnbergen lag sicher schon Raureif auf den Wegen. Die Marburger hasteten durch die Gassen, als ob sie schnell noch eine letzte Krume Brot besorgen müssten, bevor sie morgen der Schnee in ihre Häuser einsperrte. Dabei prophezeiten die Kräuterweiber einen späten Wintereintritt, da es in den Auen vor Mücken wimmele und die Birken noch im Saft stünden. Doch ob dem zu trauen war? Der Oktober hatte noch sehr schöne Tage gebracht, und da hoffte man auf einen milden Winter.

Magdalene schob ihre Nase tief in den Pelzkragen und eilte sich, den Berg herunterzulaufen. Trotz der Kälte besserte sich ihre Laune, je näher sie dem Geburtshaus kam.

Auch hier bereiteten die Mädchen alles auf den Winter vor. Am Apfelbaum hingen nur noch die winzigen Elfenäpfel, an denen die Meisen picken sollten als Belohnung für ihre unermüdliche Arbeit, die Maden von den Früchten fernzuhalten. Duftendes Tannengrün bedeckte schon die Kräuterbeete und die Rosen an der Hauswand waren heruntergeschnitten. Alles sah ordentlich aus und eine der jungen Frauen fegte den Gehweg. Sie knickste, als sie Magdalene sah, schlug aber sofort den Blick nieder und widmete sich ihrer Arbeit.

»Guten Morgen, Mene, wie geht es dir?«, fragte Magdalene, wie sie jeden Tag jede ihrer Schützlinge begrüßte.

»Danke, Herrin, ich lobe den Herrn.«

So wortkarg kannte sie die Hausiererstochter gar nicht. Sonst plauderte sie über das Wetter, die Küchenarbeit oder die Medizinstudenten, die immer häufiger zu Besuch kamen und sich manchmal mehr herausnahmen, als Magdalene erlaubte. Mene fegte mit einem weiten Schwung einen trockenen Zweig in ein Beet, sprang hinterher und klaubte ihn auf, um ihn zu einem Haufen mit trockenen Ästen zu tragen. Davon nahm sie einen Arm voll Anmachholz auf, den sie ins Haus trug.

Hatte sie etwas angestellt? Die Mädchen wussten, dass sie bei ungebührendem Verhalten das Haus verlassen mussten. Da die Meisten nichts hatten, wohin sie sonst gehen konnten, hielten sie sich an die Regeln.

Magdalene folgte ihr nicht zur Hintertür, sondern stieg die drei Stufen zum Haupteingang empor. Sogleich öffnete eine der Frauen von innen und begrüßte sie, doch auch diese hielt sich äußerst wortkarg. Sie nahm ihrer Gönnerin Mantel und Brusttuch ab und verschwand damit. Sofort fiel Magdalene die Stille im Haus auf. Sonst sang oder summte es ständig von irgendwem, manchmal bildete sich sogar ein Chor aus Frauenstimmen, die auch einmal ein nicht so frommes Lied erschallen ließen. Doch heute klapperte es nicht einmal aus der Küche.

»Alheit!«, rief sie laut. Ihre Zofe hatte sich, je weniger Magdalene ihrer Dienste bedurfte, zu ihrer Vertrauten entwickelt, sogar zu ihrer rechten Hand, und leitete die Angelegenheiten des Geburtshauses strenger als die Stifterin.

Auf einmal vertiefte sich die Stille im Haus, als ob jede der Bewohnerinnen den Atem anhielt. Magdalenes Herz schlug schneller und sie wollte ein zweites Mal rufen, als eine Tür klappte. Alheit trat auf die Treppe.

»Herrin, wir rechneten heute nicht mit dir.«

Das Lächeln der Zofe war so falsch wie das einer Schlange. Was verbarg sie? »Trine führt den Haushalt hervorragend. Warum sollte ich da nicht hier nach dem Rechten sehen?«

Alheit knickste so tief, wie Magdalene es gar nicht mehr gewöhnt war. Da die Hagere einige Jahre bei einer Komtesse in Frankreich gedient hatte, bildete sie sich etwas darauf ein. Zuerst hatte Magdalene es schwer gehabt, ihr die Flausen auszutreiben, aber dann mochte sie nicht mehr auf die weltgewandte Zofe verzichten. Doch die mangelnde Unterwürfigkeit hatte sich Alheit nie abgewöhnen können. »Selbstverständlich, Herrin. Wir hatten hohen Besuch aus der Universität. Die Herren Doktoren aus der medizinischen Fakultät kamen gestern und vorgestern.«

Daher wehte der Wind! Niemand mochte die Schwarzjacken, und am wenigsten deren Studenten. Allzu oft machten sie den jungen Frauen schöne Augen oder, noch schlimmer, sahen verächtlich auf sie herab. So manche von Magdalenes Schützlingen versteckte sich, sowie ein Mitglied der medizinischen Fakultät auftauchte. Doch wenn die Wehen eintraten, durfte Magdalene den Herren nicht mehr den Zutritt zum Kreißsaal verwehren. Das Geburtshaus erhielt nicht unbedeutende Zuwendungen von der Universität, und dafür wurde erwartet, dass die Studenten mit dem Wunder der Geburt vertraut gemacht wurden. Leider nur sahen diese oft anstelle des Wunders nur eine nackte Frau und verbargen nicht einmal ihre Wollust.

»Benahmen sich die Herren schicklich?«

Alheit schlug den Blick nieder. Also hatte es einen Zwischenfall gegeben. Magdalene stieg die Stufen empor und öffnete die Tür zu der kleinen Dachkammer, in der sie ihre Schreibarbeiten zu tun pflegte. Oft saß sie hier mit Luzia oder lud potenzielle Spender zu sich. Alheit zierte sich, bis Magdalene sie energisch aufforderte, in einem Sessel Platz zu nehmen.

»Was also ist geschehen?«, fragte sie und schloss die Tür.

»Gerda ist niedergekommen«, sagte die Zofe und druckste herum. »Zwei Studenten waren dabei.«

»Und haben sie die Ärmste belästigt?«

»Nein, Herrin. Es ist … Sie riefen danach ihren Lehrer und der den Dekan, und am Abend standen elf gelehrte Herren um das arme Ding herum.«

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Magdalenes Leib aus. »Geht es Gerda gut?«

»Ihr schon.«

Musste sie Alheit denn die Würmer aus der Nase ziehen? »Aber?«

»Aber dem Kind … Es hat einen Wolfsrachen.«

Magdalene hielt die Luft an. Für einen Augenblick schien ihr der Kopf zu zerspringen und sie ließ sich schwer in ihren Sessel fallen. »Gerda machte mir vom ersten Moment an Sorgen. Sie kam an mit hohem Fieber, völlig abgezehrt, und berichtete, dass sie schon vor der Empfängnis siech gewesen sei. Darum freute ich mich so sehr, dass sie in meiner Obhut aufblühte, zunahm, rosige Wangen bekam. Und nun dies!«

Magdalene barg die Augen in der Hand und spürte Tränen an ihren Fingern. Genau davor hatte sie eine Hebamme aus Fulda gewarnt: Solange gewöhnliche Weiber ihre gewöhnlichen Bälger unter der feinen Dame Dach gebaren, war alles gut, aber sei nur mal etwas Besonderes dabei, dann gnade ihr Gott! Und genau das schien jetzt eingetreten zu sein. Warum musste Lukas ausgerechnet jetzt weg sein?

»Was gedenken sie zu tun?«

Sie hauchte die Frage mehr in den Raum, als dass sie sie Alheit stellte. Die Zofe brauchte eine geraume Weile, bis sie antwortete.

»Die Herren sind sich uneins. Die einen wollten sofort einen Priester rufen, die anderen fürchteten, sie dürften dann das Wechselbalg nicht sezieren. Zwei stritten gar, ob denn die Missgeburt nicht zusammen mit der Mutter sofort verbrannt werden müsse, weil es sonst die anderen Weiber anstecken könne. Sie kamen überein, den Tod des Monstrums abzuwarten, es zu zerlegen und dann über die Mutter zu entscheiden, ob es ein Wechselbalg war oder sie sich dem Teufel hingegeben habe.«

Jedes der Worte Alheits schnitt wie ein Messer in Magdalenes Herz. Gerda war so ein liebes Mädchen! Da gab es nichts Böses in ihr, das erfordert hätte, sie in irgendeiner Weise zu bestrafen! Wenn, dann lag das Ungeschick am Vater des Balges. Wer war er? Magdalene sprang auf. »Ich muss mit Gerda sprechen!«

»Herrin …« Alheit blieb sitzen und machte eine beschwichtigende Geste. »Bitte, überlege. Wenn die hochgelehrten Herren zu der Auffassung kommen, dass es sich um ein ansteckendes Geschehen handelt, werden sie das Haus schließen. Jede werdende Mutter wird darin eingesperrt, und auch jede andere Frau, die sich zu diesem Zeitpunkt darin aufhält. Nur der Allmächtige weiß, wann wir in diesem Fall alle wieder heraus dürfen.«

Kurz vor der Tür blieb Magdalene stehen und drehte sich um. »Aber Missbildungen geschehen nun einmal! Das hat mir einer der Doktoren genau erklärt. Einmal war die Nabelschnur um ein Ärmchen gewickelt, das darauf ganz verkümmert aus dem Mutterleib kam. Oder wenn sich die Mutter verguckt mit einem Bock oder einem Pferd, dann bekommt das Kind einen Klumpfuß. Das wird es sein! Gerda hat sich mit einem Wolf versehen. Wer weiß, auf dem Wege hierher stand sie im Wald einem solchen Ungetüm gegenüber und vergaß aus Scham, es uns zu sagen. Das muss ich von ihr erfahren!«

Alheit schoss hoch und hielt Magdalene fest, bevor sie die Klinke der Tür herunterdrücken konnte. »Herrin, bitte! Das haben die gelehrten Herren doch schon alles gefragt. Es gibt nichts mehr, was du tun könntest. Wir müssen abwarten, was beschlossen wird. Gerda liegt allein in der Siechenkammer, das Balg dabei, und außer den Studenten darf niemand zu ihr, um einer Ansteckung vorzubeugen. Das habe ich versprechen müssen. Solange ich das gewährleisten kann, wird uns anderen nichts geschehen. Gib Ruhe, Herrin.«

Die ganze Aufregung war zu viel für Magdalene. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Bevor sie das Gleichgewicht verlor, taumelte sie zurück zu ihrem Sessel und ließ sich hineinsinken. »Wir sollten wenigstens für das arme Mädchen beten.«

Alheit stimmte ihr zu und kniete sich zu ihren Füßen nieder.

Die Augen brannten vor Müdigkeit und das Kreuz tat ihr weh von der ungewohnten Plackerei, trotzdem fühlte Jasemin eine tiefe Zufriedenheit in sich. Hoch bis unter die Decke gestapelt standen die aus Zweigen gefügten Käfige, in denen Jasper die Tiere gehalten hatte, in dem hintersten Kellerraum. Das Fenster hatte sie mit Kistenbrettern verstellt, festgestopft mit Lumpen, bis kaum noch ein Lichtschein hereindrang. Wer auch immer herkam, würde keine Laterne im Haus finden, und im unsteten Flackern der bereitliegenden Kienspäne konnte niemand erkennen, dass die Käfige nicht an der Wand lehnten, sondern den Keller in einen großen und einen kleinen Raum teilten. Zur Vorsicht hatte Jasemin die Rückwand des Stapels noch mit Säcken verhängt, die genauso schmuddelig aussahen wie die Kellerwand. Nur wer so schmal war wie sie, würde überhaupt ahnen, dass ein Mensch durch die enge Ritze an der Seite hindurchpasste.

Ganz hinten in ihrer Nische standen die Kisten mit Jaspers Ausrüstung für das Laboratorium, die er selbst teilweise schon gepackt hatte. Darunter befanden sich auch ein Koffer mit den Habseligkeiten des jungen Paares und die wenigen Erinnerungsstücke, die Jasemin aus ihrer Heimat mitgebracht hatte: Besteck aus Olivenholz; ein feingewebtes Tuch, das ihre Mutter über den Haaren getragen hatte; ein Kästchen mit einem Fingerhut voll Wein und einem steinharten Brocken Brot, das der Erlöser einst mit seinen Jüngern geteilt haben sollte, bevor er den schweren Gang zu seinem Tode antrat.

Richtig stolz sein konnte sie auf das gemütliche Nest, das sie sich hinter dem Kistenstapel gebaut hatte. Mit dem wohlverpackten alten Sattel, Matratzen, Decken und den Federbetten aus dem Schlafzimmer war eine warme Höhle entstanden, in der sie es lange aushalten konnte, ohne ein verräterisches Feuer anzuzünden. All die Vorräte für den Winter lagen jetzt hinter der Trennwand und waren so gut wie möglich untergebracht. Für das Wurzelgemüse gab es sogar ein Sandbett, die Kräuter hingen von der Decke.

Schwierig würde es mit den Abfällen. Für alles Flüssige konnte sie in einem unbeobachteten Moment die Bretter vom Fenster lösen und es eimerweise in die Gosse vor dem Haus schütten. Wasser sollte kein Problem darstellen, da Jasper für die Tiere ein Rohr vom Dach hierher gelegt hatte. Dieses Regenwasser konnte Jasemin trinken und zum Waschen benutzen, mit den Resten auch den Eimer ausspülen.

Seufzend ließ Jasemin sich auf ihr Lager nieder und betrachtete den Apfel, den sie sich bereitgelegt hatte. Nein, jetzt mochte sie nichts essen, so appetitlich der Duft auch in ihre Nase zog. Nur noch schlafen und an nichts mehr denken. Sie schloss die Augen.

Es rappelte. Jasemin schreckte hoch. Das Geräusch kam von oben, es klang, als ob ein Schlüssel im Schloss der Haustür gedreht wurde. Wie ein Tier kauerte Jasemin sich zusammen und lauschte. Die Tür quietschte, Schritte von mehreren Personen trampelten über ihr. Stimmen ertönten, Männer und eine Frau. Die Treppe in das Obergeschoss knarrte, Türen schlugen. Schließlich scharrte die Kellertür. Licht drang herein. Jasemin kniff die Augen zusammen, bis rote Funken blitzten. Nein, das nützte niemandem. Sie musste wissen, was geschah. Also zwang sie sich, die Augen wieder zu öffnen und aufmerksam zu lauschen. Die Stimme der Hauswirtin drang zu ihr herunter. »… nichts von Wert dagelassen. Das Inventar gehört mir, und ich werde euch die Augen auskratzen, wenn ihr auch nur eine Tasse davon heraustragt!«

»Frau, keif nicht!«, antwortete ihr ein schleppender Bass.

»Der Ratsvorsitzende ist mir gut und daran solltest du immer denken, bei allem, was du hier berührst.«

»Du denkst doch nicht, dass die hohen Herren deine löchrigen Töpfe begehren?« Flackerndes Licht schimmerte durch die Sackleinenwand, ein brennender Kienspan wanderte herum. Die Stimmen kamen heran.

»Das Vögelchen ist ausgeflogen, wie ich gesagt habe. Dieser Ketzer hat noch keine Miete bezahlt, und glaubst du etwa, dass irgendjemand anders Quartier sucht? Weit gefehlt! Etliche Häuser stehen leer. Wer es sich leisten kann, flieht aus der Stadt, bevor die Pest ihn holt. Soll ich etwa hier wohnen und dafür meine gute Wohnung auf dem Gut aufgeben? Ich kenne das Haus nicht einmal! Der alte Knauser hat mir ein Gebäude vererbt, in dem ich ihn nie vorher besuchte. Verrammelt hat er seine Tür vor mir! Er gab es mir nur, weil er gar keine anderen Verwandten mehr hatte und sein Geiz ihm verbot, es der Wohlfahrt zu spenden. Und was soll ich jetzt mit zwei Häusern, wenn ich nur in einem wohnen kann und das andere niemand will? Wer zahlt mir den Dachdecker, wenn es leck wird, wer den Fenstermacher, wenn die Gassenbuben mir die Scheiben einschlagen?« Mit jedem Wort kamen die Sprecher näher, bis sie direkt vor Jasemins Versteck standen. Sie hielt die Luft an und rührte sich nicht, obwohl sie am liebsten schreiend davongerannt wäre.

»Kannst es ja mir schenken«, brummte der Mann. »Was ist das denn?« Er rüttelte an den Käfigen, bis sich Staub aus den Säcken löste und auf Jasemin herabrieselte. Sie hielt die Nase zu, um nicht zu niesen.

Die Vermieterin kreischte. »Hör auf damit! Willst du, dass alles zusammenfällt? Wer soll es dann wieder aufheben? Glaubst du, ich kann mir einen Träger leisten, der all das Gestänge wieder aufeinanderschichtet?«

»Ja, aber was ist das? Von deinem knickerigen Gevatter?«

»Nein, niemals«, klang die Stimme der Erbin dicht vor Jasemin. »Das muss der fremde Medicus mitgebracht haben. Hunde hielt er und Katzen, das haben mir die Nachbarn mitgeteilt. Und dass er alle fortgejagt hat, bevor er zum Gericht ging. Darinnen wird er sie eingesperrt haben.«

Der Mann brummelte vor sich hin. »Viel zu klein für die armen Viecher. Werd wohl später einen davon holen müssen, wenn das Gericht es verlangt.«

»Das lass dann mal meine Sorge sein. Ich werde dir einen herausreichen, damit mir nicht das ganze Gelumpe zusammenfällt. Hast du nun genug gesehen oder willst du noch die Latrinen ausschöpfen? Auch Ketzerscheiße duftet nicht nach Rosen.«

»Nicht so zickig, Alte! Du weißt wohl nicht, wenn man eine Hexe gefunden hat, dass gleich hinterher noch zehn ihrer Freundinnen brennen müssen?«

Die Wirtin schnappte nach Luft. »Aber da hört sich doch wohl alles auf! Was unterstellst du mir, Büttel? Ich bin eine ehrbare Frau, die sich ihren Lebensunterhalt mit der Vermietung einer Wohnung zusammenklaubt! Da darf ich nicht wählerisch sein, ob ein angeblicher Gelehrter sich als Ketzer herausstellt und sein Weib als Hexe. Wenn jemand etwas dafür kann, dann zu allerwenigst ich!«

Unter Gebrumme des Büttels und Gezeter der Wirtin bewegten die beiden sich aus dem Kellerraum heraus und die Treppe empor. Oben vereinigten sich ihre Stimmen mit denen anderer Männer, um schließlich mit dem Rappeln des Schlüssels im Schloss zu verschwinden.

Jasemin atmete auf und drückte ihren Nacken in die Kissen. Sie war davongekommen! Ihr Versteck hatte die Feuerprobe bestanden. Weder die Wirtin noch der Büttel ahnten auch nur, dass sie hinter der künstlichen Wand saß und sie belauschte. Und die beiden hatten ihr gleich Folgenschweres mitgeteilt, ohne es zu wissen. Man suchte Jasemin! Inniglich dankte sie Jasper für seine Vorkehr. Hätte er sie nicht fortgeschickt, würde sie jetzt in der Zelle neben ihm sitzen. Sie hoffte inständig, dass er als Medicus eine würdige Behandlung bekam. Doch für sich würde sie nicht darauf bauen können. Zu fremdländisch sah sie aus, zu ungewöhnlich war ihr Akzent, zu bizarr ihre Gepflogenheiten. Auf ihren Gängen zum Markt hatte sich jeder nach ihr umgedreht, obwohl sie immer das Tuch tief ins Gesicht gezogen hatte.

Allmählich wuchs aus der Erleichterung Empörung. Als Ketzer hatten sie Jasper bezeichnet! Dabei gab es niemanden, der so viel Ehrfurcht vor seinem Gott empfand wie er. Nicht einen Tag ließ er vergehen, ohne die Kirche zu besuchen, er betete vor jeder Mahlzeit, nach dem Aufstehen und vor dem Zubettgehen, sodass es, wie er scherzhaft meinte, bei ihnen fast wie im Kloster zuging. Jasemin folgte ihm darin, denn sie war es von daheim nicht anders gewöhnt, wenn Vater seinen Gott auch anders nannte.

Die Miete habe Jasper nicht gezahlt? Welch falsche Schlange! Sogar im Voraus hatte sie ihr Geld bekommen. Was bezweckte sie damit? Spekulierte sie, dass Jasper hingerichtet wurde und sie aus dem Nachlass doppelt bezahlt wurde? Wut staute sich in Jasmin auf.

Sie war dann wohl die Hexe, von der die Vermieterin gesprochen hatte. Dabei wusste Jasemin nicht einmal ganz genau, worum es sich bei einer Hexe handelte. Sie hatte noch nie jemandem geschadet und auch gar kein Verlangen danach – im Gegenteil, den größten Teil ihres Lebens hatte sie damit verbracht, anderen zu helfen. Jaspers lachendes Gesicht stand vor ihren Augen, wie er ihr erklärte, dass manche christliche Heilige für die Ehre, zur Rechten Gottes sitzen zu dürfen, ihren Mitmenschen weniger getan hätten als sie. Und ob sie sich seiner erbarmen würde, wenn sie dereinst diesen Platz innehätte.

Sie spürte Feuchtigkeit auf ihren Wangen. Danach hatte sie Jasper geneckt und geküsst, bis er sie in den Arm genommen hatte und Dinge mit ihr tat, die so von keinem Heiligen überliefert waren. Diese Sünde möge ihm der Herr vergeben, hatte er gesagt, denn er wünsche sich nichts sehnlicher als ein Kind von Jasemin. Sünde, darum drehte sich alles bei den Christen! Dabei konnte ihr niemand erklären, was genau sich hinter diesem Begriff verbarg. Wie konnte es Sünde sein, sich so sehr zu begehren, dass die Körper nach keiner Speise, keinem Trunk, nach nichts anderem mehr verlangten als dem Geliebten, bis man sich seinem Gemahl bedingungslos hingab und an nichts anderes in der Welt mehr denken mochte? Warum sollte Gott etwas dagegen einwenden, wenn seine Geschöpfe glücklich waren? Dadurch bekamen sie einen Vorgeschmack auf das Himmelreich, wo all dies täglich auf die Gläubigen wartete. Das bedeutete eine ständige Mahnung, sich gottgefällig zu verhalten, damit man es eines Tages sehen durfte.

Wohin führte es denn, wenn der Pastor seiner Gemeinde einbläute, dies alles sei nur ein Jammertal, aus dem uns ausschließlich der Tod erlöse? Dadurch wurde es weniger schlimm, was Menschen anderen Menschen antaten, denn sie hatten doch sowieso die Hölle auf Erden, und ein wenig mehr Elend änderte nichts. Für seine eigenen Sünden betete man auf dem Totenbett und sie wurden umgehend vergeben. Das Christentum hinderte also niemanden daran, mordend, schändend und brandschatzend durch die Lande zu ziehen. Darum war es völlig in Ordnung, einen so aufopferungsbereiten Mann wie Jasper der schlimmsten Verbrechen zu bezichtigen, ihn einzusperren und zu quälen.

Im Islam klang das einfacher. Es gab einen gestrengen Herrn, der alles merkte, was ein Mensch tat, ob er gegen die Gesetze verstieß oder barmherzig zu anderen handelte. Alle Menschen waren aufgefordert, die Verfehlungen der anderen aufzuzeigen, und bevor einem Menschen der Eintritt ins Himmelreich gewährt wurde, musste er seine Ehrhaftigkeit demonstrieren. Sie zog eine Grimasse. Wenn sie daran dachte, wie es im Reich des Propheten zuging, musste sie zugeben, dass es keinen großen Unterschied machte. Auch dort drangsalierten die Mächtigen diejenigen, deren Schutz Allah ihnen anbefohlen hatte. Auch dort wurden Menschen beschuldigt, Verbrechen begangen zu haben, und grausam dafür bestraft, obwohl niemand ihre Schuld beweisen konnte. Wenn ihnen Unrecht getan wurde, würde Allah sie schon im Paradies für ihre Qualen entschädigen. Also traf weder Richter noch Henker die Schuld, denn jeder legte die Entscheidung vertrauensvoll in Allahs Hände.

Was also machte sie sich Gedanken, ob Allah oder der Christengott der bessere Herr war, wenn die Menschen doch auf beiden Seiten sich nicht nach den Geboten richteten, sondern immer nur ihren eigenen Willen durchsetzten?

Christus war umsonst gestorben, und auch Mohammed, der nach ihm kam, hatte die Menschen nicht ändern können. Verzweiflung durchschüttelte Jasemin und sie krümmte sich zusammen wie ein Kind im Mutterleib. Bittere Tränen rannen ihre Wangen herunter. Sie lag hier, versteckte sich und musste hilflos abwarten, was ungerechte, von Vorurteilen erfüllte Richter ihrem Mann antaten. Es gab nichts, womit sie ihm helfen konnte. Leise weinte sie sich in den Schlaf.

***

 

Kapitel 2 - Auf Reisen

 

Luzia tätschelte die Nase des Apfelschimmels, den ihr der Knecht Sewolt zum Austausch für ihren Braunen vom Pferdehändler besorgt hatte, und sie staunte darüber, wie lebendig das Reittier erschien: glänzendes Fell, aufmerksame Augen, es tänzelte vor Ungeduld, endlich den Ritt zu beginnen. Auch Lukas saß auf einem Rappen, der wesentlich mehr wert war, als sie dafür bezahlt hatten. Gretel, ihre Wirtin für diese Nacht, hatte recht: Die Stadtoberen schämten sich dafür, was Lukas, dem Ratgeber des Landgrafen, das letzte Mal unter ihrer Aufsicht geschehen war, und da sie ihrem Herrn ein möglichst gutes Bild von sich vermitteln wollten, setzten sie sich dafür ein, ihr Versäumnis wiedergutzumachen. Daher standen jetzt die besten Pferde vor Gretels Haus und der Bürgermeister hatte ihnen zur Wegzehr einen Schlauch Wein vom Klosterberg geschickt.

Dabei überkam Luzia mittlerweile ein mulmiges Gefühl, wenn sie an ihr Reiseziel dachte. Die Pest grassierte dort, hatte Lukas gesagt. Mit dem zweiten Satz wollte er sie beruhigen, erwähnte, dass die Krankheit nirgendwo so recht ausgerottet war, dass es immer und überall mal den einen oder anderen Todesfall zu beklagen gab, dass jederzeit die Gefahr bestand, sich anzustecken, selbst wenn man daheim saß und nur die Dienstboten das Haus verließen – gerade sie brächten die Seuche mit sich. Doch Luzia konnte nicht vergessen, weshalb sie unterwegs waren: Ein Reisender hatte eine Epidemie vorhergesagt und Lukas sollte das mit einem Horoskop widerlegen. Und wenn er das nicht konnte? Wenn sie sich tatsächlich in die Höhle des Löwen vorwagten und darin umkamen?

Gretel erwartete sie mit einem in ein weißes Tuch gewickelten Paket vor dem Gartentor.

»Damit euch beide kein Hunger überkommt und ihr nicht am nächstbesten Wirtshaus Rast machen müsst«, sagte sie.

Gerne nahm Luzia das Vesperpaket an, denn auf ihrem nächsten Weg wurden die Rastmöglichkeiten rar und die wenigen Gaststätten besaßen nicht den besten Ruf. Zwar hatte der Wirt, den die Soldaten des Landgrafen damals befragt hatten, jegliche Schuld abgestritten, aber unzweifelhaft gerne das Geld der Räuber genommen, um ihre schändlichen Pläne zu verwirklichen. Luzia bezweifelte, dass die meisten seiner Zunft ehrlicher waren. Wenn Goldstücke klimperten, richtete man gerne die Augen darauf und nicht auf ein Unrecht, das direkt daneben geschah.

Sie verstaute das Paket hinter ihrem Sattel, während Lukas mit dem Hauptmann der Stadtwachen plauderte. Stolz überkam sie, weil ihr Gemahl trotz seiner nächtlichen Sitzungen über dem Teleskop und den Stunden im Laboratorium noch immer eine gute Figur machte, sogar im Vergleich mit dem wettergegerbten Soldaten. Gretel reichte Luzia augenzwinkernd ein Tiegelchen, das trotz seines Verschlusses mit gewachstem Leinen einen aromatischen Duft verströmte. Den erkannte Luzia gleich. »Deine berühmte Heilsalbe!«, rief sie aus. »Vielen Dank, liebe Gretel. Sie wird mir sicher wieder nützen.«