Erasmus Emmerich und die Maskerade der Madame Mallarmé

Erasmus Emmerich und die Maskerade der Madame Mallarmé

Katharina Fiona Bode

 

Information zur Erasmus Emmerich Reihe

 

Teil 1

Erasmus Emmerich und die Maskerade der Madame Mallarmé

 

Teil 2

Erscheint bald im Art Skript Phantastik Verlag

 

Impressum

 

Copyright © 2016 Art Skript Phantastik Verlag

Copyright © 2016 Katharina Fiona Bode

 

Lektorat/Korrektorat » Marion Lembke

www.mysteryofbooks.de

 

Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

Cover-Illustration » Martin Knipp

www.weltenreisen.de

Autoren-Foto & Innenseiten-Illustrationen » Daniel Huster

 

Der Verlag im Internet

www.artskriptphantastik.de

art-skript-phantastik.blogspot.com

 

 

Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

Für die irre Schwester der Vernunft und ihre Tochter, Freiheit-zu-schreiben-was-man-möchte.

Außerdem und vor allem für Mama, Papa & das D. in meiner Suppe … schreibt sich: Supde.

 

 

Über die Autorin

 

Katharina F. Bode wurde 1990 in einem Sauerländer Kreißsaal geboren. Gegenwärtig teilt sie sich eine Wohnbibliothek mit ihrem Freund, dem Bilingu-Aal Wordsworth Weirdworld und der flauschigen Teddyhamsterkugel Mo. Nach ihrem BA-Abschluss in Kunstgeschichte und Komparatistik (falls es nicht doch in Hyperspaceroutenplanung war) absolvierte sie kürzlich den Master in Teddybärologie (oder Literaturwissenschaft?). Sie kann sich noch ziemlich genau daran erinnern, bereits vor ihrer Geburt Geschichten geschrieben zu haben ... naja, fast. Nach ihren Erasmus Emmerich Steampunk- (und weiteren Fantasy-) Kurzgeschichten erscheint 2016 ihr Debütroman Erasmus Emmerich und die Maskerade der Madame Mallarmé im Art Skript Phantastik Verlag.

 

Besuchen Sie Katharina auf

Ihrem Blog - katharinabode.blogspot.de

Auf Facebook - www.facebook.com/KatharinaFionaBode

 

 

Anmerkung des Lesebegleiters

Geneigter Leser, werte Leserin,

 

das Buch in Ihren Händen beinhaltet sämtliche bislang bekann-ten Abenteuer um den ehrenwerten Ermittler Erasmus Emmerich und die Qualmfee Marie. Es eignet sich übrigens dazu, die vorangestellten Kurzgeschichten oder etwaige bereits bekannte Passagen einfach zu überblättern und direkt in den Roman einzusteigen, sofern Ihnen die vorhergehenden Ereignisse noch detailgenau vor Augen stehen. Trauen Sie sich das zu? Glauben Sie, nichts zu verpassen? Dann beginnen Sie mutig auf S. 55.
Falls Sie die Kurzgeschichten jedoch noch nicht kennen sollten, führt Sie nun Archibald Leach durch das Vorprogramm. Bringen Sie sich einfach in eine bequeme Position und lassen Sie das Lesen beginnen!

 

Ihr Wegweiser Wordsworth Weirdworld

 

P.S.: Der Notausstieg befindet sich am Ende des Buches.

P.P.S.: Warnung für Allergiker: das vorliegende Werk beinhaltet das Wort Apfel-kuchen und kann Spuren sämtlicher alphabetischer Buchstaben aufweisen.

P.P.P.S.: Vorkommende Durchstreichungen sind vom Herausgeber Wordsworth Weirdworld beabsichtigt, um seine Dispute mit den Figuren, gegen die er sich nicht immer gänzlich durchsetzen konnte,1 für die Nachwelt zu dokumentieren. Stellen wie diese bezeugen den konfliktreichen Arbeitsprozess die historisch verbürgten Abenteuer des Erasmus Emmerich für eine gegenwärtige Leserschaft zugänglich zu machen.
Ein Beispiel: »Hau die Spinne aus dem Netz« – vorgeschlagen von Zinoberius dem III. Wordsworth schlug das weniger drastische »Lock […]« vor. Es folgten Seitenweise hin und her geschickter Streitkommentare, die wir hier aus Jugendschutzgründen2 nicht wiedergeben wollen. Die zwei einigten sich schließlich auf: »Hau Lock die Spinne aus dem Netz«, um beiderseitigem Anspruch Genüge zu tun.3

 

Vorwort

von Markus Cremer und Archibald Leach

 

»Und dann schreibst du das Vorwort«, sagte sie und ich nickte. Natürlich. Warum auch nicht? Kann ja nicht so schwer sein. Dachte ich ... am Anfang. Und da wären wir jetzt.

Die wunderbar exzentrische Katharina Fiona Bode lernte ich bei einer Lesung in einem Friseursalon kennen. Klingt komisch und ist noch verwunderlicher, wenn man bedenkt, dass ich zum letzten Mal in den 90ern zum Barbier musste. Die Genetik ist halt eine mächtige Waffe. Aber dies nur am Rande.

Ich hörte mir also ihren Text über den Ermittler Erasmus Emmerich und seine sonderbare Marie an. Zumindest versuchte ich es, denn zwischenzeitlich hätte es mich bei der Schilderung über den bekloppten Messingknauf-Fall beinahe zerrissen. Man sollte bei ihren Texten kein Knabberzeug einwerfen. Wirklich. Ich meine es nur gut mit Ihnen.

Es gibt Menschen mit einer abgedrehten Phantasie ... und dann gibt es Katharina Fiona Bode, die - so meine Vermutung - bereits morgens mit einer Packung Wortspielen gurgelt. Anders ist ihr übersprühendes Formuliertalent nicht zu erklären. Zumindest für mich nicht.

Bevor ich mich hier noch um den Verstand fasele, überlasse ich die weitere Vorstellung dem nicht weniger exzentrischen Archibald Leach und seiner Assistentin Sarah Goldberg, die mir bei dieser Bemerkung sicher einen Schwinger mit ihrer kraftverstärkenden Prothesenhand versetzen würde.

 

Markus Cremer

 

 

»Das sind weit über hundert Sikhs«, sagte Sarah Goldberg fassungslos.

»Ihre Bewaffnung ist erstaunlich modern«, meinte Archibald Leach und schob den Zylinderhut in den Nacken. »Unsere kleine Ablenkung hat damit wohl ein Ende gefunden.«

Welche Überraschung, dachte sie. Das wird mir eine Lehre sein. Ich hätte auf mein Gefühl hören sollen.

»Dort steht unsere Fahrkarte«, schlug Archibald vor und deutete auf den klobigen Stahlelefanten des Maharadschas von Rajasthan. Die mit bunten Teppichen geschmückte Rampe war weniger als zwanzig Schritte entfernt. »Los!«

»Jetzt starten Sie dieses stählerne Ungetüm und bringen uns hier raus«, meinte Archibald Leach und ließ sich auf den gepolsterten Sessel des Beifahrers nieder. Abgefeuerte Projektile erzeugten ein Stakkato aus dumpfen Einschlägen auf der Außenhülle. »Offenbar kugelfest. Beeindruckend.«

»Ich könnte Hilfe gebrauchen«, sagte Sarah und schob mit der Kraft ihrer Handprothese den Riegel vor die Absperrung der Einstiegsluke.

Kaum saß sie im Fahrersitz, huschte ihr Blick über die unübersichtlichen Druckanzeigen und Hebel.

Gekoppelte Kompulsionsenergie und übersetzt auf eine dreiachsige Spektralweiche, kombinierte sie. Wie aktiviere ich die Anbarkristalle?

»Sollte ich mich in den Fähigkeiten der werten Sarah Goldberg getäuscht haben«, meinte er spöttisch und drückte einen Knopf. Ruckartig hob der stählerne Dickhäuter den Hintern in die Höhe.

»Ich brauche Zeit und es wäre hilfreich, wenn Sie nichts anfassen würden«, zischte sie. »Haben Sie keine sinnvollen Ideen?«

»Jetzt könnten wir die Fähigkeiten dieses Tüftlers aus Berlin gebrauchen, nicht wahr?«

»Sie meinen Erasmus Emmerich?«, fragte sie überrascht. »Wie kommen Sie ausgerechnet auf den?«

»Ich musste daran denken, wie er die Sache mit dem Türknauf gelöst hat.«

»Davon haben Sie mir nie erzählt«, antwortete sie geistesabwesend und bewegte hektisch eine Kurbel. »Wenn Sie glauben, dass es helfen könnte, erzählen Sie ruhig.«

»Wirklich? Merkwürdig. Wie war das noch ...«

Erasmus Emmerich und der Messing-Türknauf

 

Erstmals erschienen 2014 in der Anthologie »Steampunk Akte Deutschland«

 

Erasmus Emmerich, Privatier und Ehrenmann, geschworener Detektiv – beim Seelenheil seiner werten Frau Mutter – im Dienste des Fürsten von Bismarck, hatte doch tatsächlich einen neuen Fall. Bei Preußens Pickelhaube, und was für einen!

Zugegeben, eigentlich stand er gar nicht im Dienste Otto von Bismarcks. Zumindest nicht offiziell. Aber sei‘s drum, immerhin war er ein Vetter fünften Grades der Mutter seines Schwagers, und sah er den Reichskanzler einmal von Weitem, winkte er ihm pflichtbewusst mit seinem Spazierstock zu. Außerdem hatte er dem Deutschen Reich im Geheimen schon große Dienste erwiesen. Wahrscheinlich war er sogar der Kitt, der es zusammenhielt.

Da war zum Beispiel vor nicht allzu langer Zeit der Fall des verlorenen Kupferdrahts gewesen, den er bravourös innerhalb kürzester drei Wochen gelöst hatte, um nur einen von vielen zu nennen. Denn Emmerich hatte gerade Wichtigeres zu tun, als in Erinnerungen vergangener Fälle zu schwelgen.

Vor seinem inneren Auge schwebte das neueste Problem: ein Türknauf aus Messing. Dieses Mal jedoch war der Knauf eben nicht abhandengekommen, nein, nein; der Fall war viel schwieriger gelagert. Die Problematik bestand ja gerade darin, dass er da war. Dieser Messing-Knauf hatte ihn schon mehrere Nächte den Schlaf gekostet.

Wie zum Teufel war ein Messing-Knauf an die eiserne Tür dieses Ladens gekommen? Wer hatte ihn dort angebracht und vor allem, warum? Er wusste genau, dass noch vor zwei Wochen ein hübsch glänzender, glatter Eisenknauf die Tür geziert hatte, und nun das. Diese Schnörkel, dieses angelaufene Messing. An einer EISENtür, Himmel nochmal! Eine Farce war das und es roch nach dem fauligen Abgrund eines vermaledeiten Verbrechens, jawohl das tat es.

 

Zur Ablenkung hatte Emmerich daheim damit begonnen, an einer selbstentwickelten Apparatur herumzutüfteln. Gerade polierte er einen Kolben und warf das Tuch zurück auf den schmiedeeisernen Rost zu seinen Füßen, da zog ein Dampfschwaden zum Türschlitz herein und nahm hinter seinem Rücken die Gestalt einer grauschwarzen Frau an. Sowohl sie als auch ihre Kleidung erweckten den Anschein, als hätte man sie quer durch ein Dutzend verrußter Kamine gezogen. Ihre strubbeligen Haare qualmten förmlich. Lautlos streckte sie eine Hand nach Emmerichs Schulter aus.

Er zuckte zusammen. »Marie! Müssen Sie das immer tun?!«

Die Qualmfee funkelte ihn finster an.

Seit ihrem zweiten Tod war sie etwas mürrisch geworden. Zu seiner Verteidigung: Als er sie kennengelernt hatte, war sie bereits tot gewesen und eine ganz normale Fee, doch dann hatte er – oder vielmehr eines seiner Experimente – es geschafft, sie noch einmal umzubringen. Und weil ihr Haar seitdem stets dampfte, war eben eine Überarbeitung ihrer Wesensbezeichnung durch eine kleine Ergänzung notwendig geworden. Immerhin konnte sie sich seitdem in Rauch auflösen. Sehr zu Emmerichs Leidwesen allerdings.

»Irgendwann lasse ich Ihretwegen noch mal etwas Wichtiges fallen«, beklagte er sich.

»Und dann? Bringen Sie mich noch ein drittes Mal um?«

»Ein zweites, meine Teure, höchstens ein zweites Mal. An Ihrem ersten Tod war ich völlig unbeteiligt.«

Sie schnaubte, dematerialisierte sich und tauchte dann zu Emmerichs rechter Seite wieder auf. »Was treiben Sie da eigentlich schon wieder?«

»Ich baue. Wo Sie schon da stehen, Qualmfee, geben Sie mir doch bitte mal das Zahnrad da drüben.«
Sie wies auf ein golden schimmerndes, und er nickte. »Genau das. Danke.«

»Ich würde dennoch die Bezeichnung Schattenfee vorziehen, Mensch.«

»Das mag ja sein, aber Sie werfen nun einmal keinen Schatten, sondern qualmen.«

»Ihretwegen.«

»Spielt das eine Rolle?«

»Ich finde schon.«

Emmerich kratzte sich an der Stirn, nahm das Zahnrad, und seine Hand verschwand damit in den Tiefen der Apparatur. Als er die Hand wieder herauszog, tat sich etwas im Inneren des Apparates, denn dieser begann zu rappeln und drei hut-, ja geradezu zylinderförmige Knöpfe an langen Hebeln setzten sich in Bewegung. Sie pumpten auf diese Weise eine grünliche, zähflüssige Masse durch die angeschlossenen Glasröhren und man hörte Zahnräder rattern, die knirschend ineinandergriffen. Marie schwebte vorsichtshalber einen halben Meter zurück. Dann zischte es und ein violett gefärbtes Gas trat aus, das den Duft von gegorenem Pflaumenmus verströmte. Die Apparatur begann zu wackeln und die Hebel wurden langsamer.

»Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut«, murmelte Emmerich. Er versuchte an den Hebeln zu rütteln, mit dem Erfolg, dass sich das Knirschen der Zahnräder daraufhin zu einem Kreischen steigerte. Marie presste sich die Hände an die Ohren. Mittlerweile hatte sich das austretende Gas zu brombeerfarbenen Rauchwölkchen gewandelt. Ein Surren trat ein und … PUFF! Die Maschine kam zu einem abrupten Stillstand, bevor sie teilweise explodierte. Die Wände ringsum erzitterten und die übrigen, nicht explodierten Teile fielen scheppernd auseinander. Damit war ein weiterer seiner Versuche schiefgegangen.

Emmerich wandte sich zu Marie um, das Gesicht rußverschmiert, und versuchte ihren Blick zu interpretieren. Er entschied sich für vorwurfsvoll. Ja, in ihren Augen stand definitiv ein Vorwurf zu lesen und vermutlich ein Hauch von Ich-hab-es-ja-gewusst, gewürzt mit einer Prise Belustigung. Letztere allerdings gut verborgen hinter düsterem Starren.

Er wischte sich die Stirn mit einem rußigen Tuch ab, was die Sache nur verschlimmerte, ihn aber gänzlich unbeeindruckt ließ. Das Tuch wanderte in die Brusttasche seiner Weste zurück, und er zog an der Kette, die aus der Tasche darunter hing, um einen Blick auf seine Uhr zu werfen. Er klappte den Deckel auf und ihr Ticken erfüllte den Raum. »Haa? Was? Wo ist denn nur die Zeit geblieben?«

»Vermutlich gemeinsam mit Ihrer Erfindung verpufft. Wenn sie nur schlau ist«, schlug Marie vor.

Ihr Einwand blieb von Emmerich jedoch unbemerkt, der unterdessen über die sich knarrend beschwerenden Dielenbretter zur Haustür stolzierte. »Ob sich Frau Oppenheimer zu dieser späten Stunde wohl belästigt fühlen würde?«

»Frau Oppenheimer fühlt sich immer belästigt«, gab Marie zur Antwort und lächelte schief.

»Auch wieder wahr. Also dann wollen wir mal.« Er zog seinen Gehrock über, nahm Spazierstock und Hut vom Haken an der Wand und bot Marie den Arm.

Sie nahm ihn. »Nicht dass es von Bedeutung wäre, Erasmus, aber WARUM gehen wir noch gleich zu der alten Dame?«

»Wir haben einen neuen Fall und eine Idee, ist doch klar.«

»Ach ja sicher, wenn das so ist.« Marie schüttelte den Kopf und verbarg ihr Lächeln.

 

An der Haustür von Frau Oppenheimer sammelten sich um diese abendliche Stunde allerhand streunende Katzen und hinterließen, der schieren Menge nach zu urteilen, ein katzenfreies Rest-Berlin. Eine Gaslaterne in der Nähe des Hauses tauchte das Spektakel in orangenes Licht. Die Katzen balgten sich und miauten, einige kratzten mit den Krallen an der Haustür. Bis diese schließlich langsam geöffnet wurde. Kaum war ein Spalt entstanden, schossen schon die ersten Katzen hindurch, und als sie zur Hälfte offen stand, quetschte sich noch der letzte Verbliebene, ein fetter Kater, an den Beinen der dicklichen Öffnerin vorbei in den Hausflur, dicht gefolgt von Erasmus Emmerich und Marie, die soeben die Stufen hochgestolpert kamen.

»Geschätzte Frau Oppenheimer«, begrüßte sie Emmerich breit grinsend und lüpfte den Zylinder, als er schon halb im Haus stand.

Frau Oppenheimer verengte ihre Augen zu Schlitzen, was kaum einen Unterschied zu sonst machte, aber ausreichte, damit ihre Gäste die Geste verstanden. »Lassen wir doch die Höflichkeiten«, schnarrte sie mit ihrer rauchigen Stimme, »und kommen wir gleich zum Wesentlichen. Was wollen Sie und Ihre Dampfnudel von Assistentin hier?«

Emmerich musste Marie am Arm zurückhalten, um einen unschönen Zwischenfall mit Nägeln und Schreien zu verhindern. Eine Rauchfahne stieg von ihren Haaren auf, doch er drängte Marie beiseite.

»Wir möchten uns in aller Form für unser spätes Eindringen ent-«

»Ich sagte doch, wir können das lassen«, unterbrach ihn Frau Oppenheimer.

»Nun denn, nun gut«, lenkte er ein. »Dann will ich mal. Wir sehen uns gezwungen, die Dienste Ihres kleinen Geschäfts in Anspruch zu nehmen.«

»Und wir haben geschlossen.«

»Aber ich bitte Sie, werte Frau, Ihr Werbespruch lautet doch Klatsch-und-Tratsch-für-jedermann-der-es-sich-nur-leisten-kann.« Er klimperte mit seiner Geldbörse. »Wir hätten gerne etwas über eine Eisentür in der Friedemanngasse gewusst, näher gesagt über ihren neuen Messing-Knauf.«
Sie hielt ihm die offene Hand entgegen, und er legte ein paar goldgedeckte Mark hinein. Stumm blickte sie ihn an. Er wiederholte die Prozedur zwei weitere Male, ehe sie die Hand schloss und die Bezahlung in ihren Morgenmantel wandern ließ. Dann wandte sie sich von ihren Besuchern ab und schlurfte den Flur entlang. »Sie steht jede Nacht um 23 Uhr offen und es müffelt nach Troll. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, ich habe Katzen zu füttern«, äffte sie Emmerich nach, gackerte und es klang, als würden Eisenspäne geraspelt. So verschwand sie in einem miauenden Raum.

Marie starrte ihr nach, doch Emmerich war bereits zur Haustür spaziert. »Kommen Sie?« Er hielt ihr die Tür auf. »Bitte nach Ihnen.«

 

Wie ihnen Emmerichs tickende Taschenuhr versicherte, war es bereits kurz vor elf, als sie die menschenleere Friedemanngasse erreichten.

»Sagt zwar nichts zum Knauf, aber wenigstens mit einem hat diese Oppenheimer Recht«, gestand Marie und zog die Nase kraus. »Es riecht tatsächlich nach Troll.« Emmerich bot ihr sein Taschentuch, das Marie nach einem Blick darauf dankend ablehnte und ihre Nase stattdessen im hochgeklappten Mantelkragen verbarg.

»Mit dem anderen auch«, stellte Emmerich fest und steckte das Taschentuch wieder ein. Die Eisentür stand tatsächlich offen.

Die beiden entschieden sich jedoch dafür, sich vorerst in das Dunkel einer von Beleuchtung besonders vernachlässigten Gasse zurückzuziehen, die schräg gegenüber des Ladens mit der Eisentür abzweigte. Gerade hatten sie ihre Position bezogen, da hörten sie auch schon ein fernes Grollen und Scheppern, das sich zügig näherte. Marie sah Emmerich an, doch der zuckte nur die Schultern. Nach kurzer Zeit verstärkte sich der Trollgeruch und das Scheppern hallte von den Wänden der schiefen Häuser entlang der Friedemanngasse wider. Ein großer, schnaufender Schatten kam in Sicht.

»Ein Nachttroll!«, stieß Marie flüsternd hervor.

»Psst«, ermahnte Emmerich sie.

Der Nachttroll zog einen riesigen, hölzernen Wagen hinter sich her, der über das Kopfsteinpflaster rumpelte. Das erklärte das Grollen.

»Psst«, machte Emmerich nochmals.

»Ich hab doch gar nichts gesagt.«

»Mit diesem Psst wollte ich lediglich Ihre Aufmerksamkeit einfordern. Also pssst, kein Wunder, dass wir ein Scheppern gehört haben. Sehen Sie das? Der Wagen ist voll beladen mit Eisenteilen.«

»Ramsch?«

»Nicht nur, aber ich denke, darauf kommt es nicht an. Ich verstehe nur nicht, warum der Besitzer bei dem ganzen Eisen nicht den neuen Türknauf daraus gefertigt hat.«

»Ja, vor allem, wenn der Nachttroll ihm jede Nacht so eine Fuhre bringt.«

Inzwischen beobachteten sie, wie der Nachttroll eine Luke an der Seite des Ladens öffnete, den Wagen kippte und die Ladung durch die Luke hinunterrasseln ließ.

»Und warum hört das keiner?«, fragte Marie.

»Diese Gegend ist seit Jahren unbewohnt. Angeblich, weil es hier spukt.«

»Moment, heißt das, Sie glauben nicht daran?«

»Woran?«

»Na, an Spuk, Geister, wie auch immer.«

»Ach so, das. Nein.«

»Sie wollen mir sagen, dass Sie neben einer Schattenfee …«

»Qualmfee«, verbesserte Emmerich.

»Meinetwegen. Dass Sie also neben einer Qualmfee stehen, direkt vor Ihnen einen Berg von Nachttroll haben, aber die Möglichkeit der Existenz von Gespenstern ausschließen.«

»So ist es.«

»Aber …«

»Marie, wollen wir das wirklich in diesem Moment ausdiskutieren? Wenn ich Sie erinnern darf, wir haben einen Fall.«

Sie nickte, folgte ihm und schwieg, als er voran auf die Eisentür zuhuschte, die soeben im Begriff war, hinter dem Nachttroll zuzufallen. Gerade als sie sie erreichten, rastete die schwere Tür mit einem Klacken ein.

»So ein Mist, verdammter. Mist! Mist! Verkac-«

»Erasmus.«

»Was?«, herrschte er sie an. »Verzeihung, es ist nur … die Tür ist zu.«

»Ja, na und? Wenn ich nun Sie einmal erinnern darf: Qualmfee.« Sie wedelte mit den Händen vor seinem Gesicht herum und begann sich aufzulösen. Als Rauchschwaden zog sie unter der Tür hindurch. Wenige Sekunden später kam sie zurück. »Sie ist verschlossen.«
»Dann öffnen Sie sie. Dafür waren Sie doch drin. Gleich noch mal!«
»So. Haben Sie denn den passenden Schlüssel?«

»Natürlich nicht. Oh. Na dann müssen Sie ihm eben allein hinterher. Los doch, beeilen Sie sich, ich warte hier.«

Gesagt, getan; Marie löste sich erneut in Rauch auf und waberte dem Nachttroll nach. Zwar hatte sie ihn am Anfang aus den Augen verloren, doch seinem Gestank sei Dank, kam sie ihm flugs wieder auf die Spur.

Er schlurfte im hinteren Teil des Ladens auf eine von einer einzigen Petroleumlampe erhellte Wand zu und bückte sich. Die Rauchwolke wirbelte näher heran und konnte nun in dem kleinen Lichtkegel erkennen, in welcher Reihenfolge er die dort befestigten Metallräder betätigte. Zum Schluss schob der Troll einen langen Messinghebel nach oben und aktivierte somit den Mechanismus. Kleine metallene Streben und Rädchen setzten sich summend und ratternd in Bewegung. Sie begannen sich zu drehen und schoben sich ineinander, bis sie die Form eines Schmetterlings bildeten. Als der Nachttroll den Schmetterling drückte, schwang die Wand nach innen und gab den Geruch von Schmieröl und befeuerten gusseisernen Öfen frei.

Der Troll schlurfte durch die Öffnung und der Rauch folgte ihm ein paar Stufen hinunter in ein Kellergewölbe, das sich nach einigen Metern in einen breiten Tunnel öffnete. Hinter ihnen schwang die Wand wieder zu. Der Tunnel war feucht und wurde von vereinzelten Gaslampen erhellt. Nach einer Weile waren Geräusche wie von Dampfmaschinen und dem Hämmern auf Metall zu hören. Klong klong klong – zisch – klong klong klong – zisch.

Auch die Intensität des Geruchs nahm zu, wurde beinahe beißend. Aber eine Qualmwolke durfte sich darüber wohl nicht beschweren. Doch auch der Trollgeruch steigerte sich. Als der Geräuschpegel seinen Höhepunkt fand, passierten Nachttroll und Rauchschwade einen steinernen Torbogen und fanden sich inmitten einer riesigen Halle wieder.

Rauchwolkenmarie löste sich von den Fersen des Nachttrolls und schwang sich in die vernebelten Lüfte. Sie wurde eins mit den Rauchschwaden der Öfen und durchflog auf diese Weise unbemerkt die Halle. Es ging über versetzte Regale voller Werkzeug und Eisenteile hinweg, vorbei an von Ruß verschmierten Backsteinwänden, unter jeder Menge von Röhren und Streben hindurch und entlang dutzender Trolle. Bei ihnen handelte es sich im Vergleich zu dem Nachttroll allerdings um weitaus kleinere Exemplare, die im Grunde als besonders hässliche Menschen mit länglichen, muskelbepackten Armen und haarigen Rücken durchgehen konnten. Sie schlugen auf Eisen ein, schmolzen Metall, karrten die neu eingetroffene Fuhre weg, schraubten und schwitzten als gäbe es kein Morgen mehr. Doch eines stellte das alles in den Schatten. Eine gigantische Chimäre aus Luftschiff, Oktopus und Wehranlage, die sich inmitten der Halle mehrere Meter in die Höhe und Breite erstreckte.

»Bei Bismarcks Barte!«

Ein Stampfen erhob sich aus dem Inneren des Ungetüms und der Oktopusteil von ihm schien zu pulsieren. Elektrische Impulse jagten über die Oberfläche und Funken stoben. Mehrere Läufe von Kanonen zielten in ihre Richtung. Allerdings schien es noch unvollständig zu sein. Teile der Außenverkleidung und mindestens ein mechanischer Tentakel fehlten offenkundig.

Ihnen blieb also noch Zeit zu handeln. Marie musste dringend zurück. Sie kämpfte sich durch die vor Hitze schwelende Luft wie durch eine brennende Wand aus Gummi, und als sie schließlich wieder ihre Feengestalt annahm, klebten ihr die Haare in Stirn und Nacken.

 

»Was?«, staunte Emmerich, als sie ihm alles auf dem Weg nach Hause berichtet hatte. »Die verwenden das ganze Eisen für so ein Kriegsdingsda und können keine Klinke ersetzen?«

Ungläubig starrte die Qualmfee Emmerich an. »Das ist es, was Sie beschäftigt? Im Ernst? Dieses Teil, was immer dieser Albtraum von einem Schrecken auch sein mag, könnte uns alle vernichten.«
»Möglich. Aber vielleicht handelt es sich auch um ein Geheimprojekt Bismarcks.«

»Trolle im Dienste des Reichskanzlers?«

»Zugegeben, eher unwahrscheinlich, aber immerhin möglich… Ich muss mir selbst ein Bild davon machen. Sehen, wer dahintersteckt.«

Marie nickte.

»Morgen gehen wir wieder hin, und dieses Mal werden wir vorbereitet sein.«

»Mit Verstärkung?«, fragte sie.

»Natürlich.«

Sie atmete auf. Dann hielt sie inne: »Wir sprechen hier doch von Soldaten, nicht wahr?«

»Soldaten? Wofür denn die? Ich dachte da mehr an ein Metallplättchen. Meinen Sie nicht, es würde selbst einem Nachttroll auffallen, wenn wir Soldaten in den Türrahmen klemmten?«

Marie seufzte. Sie würde wohl selbst ein paar Vorkehrungen treffen müssen.

 

Pünktlich um 22 Uhr des folgenden Abends fröstelten Qualmfee und Detektiv in der Friedemanngasse unweit der Eisentür mit dem Messing-Knauf.

Fast eine Stunde lang standen sie sich in der Kälte die Beine in den Bauch, bis sie hörten, wie ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde und die Tür sich öffnete. Ein Troll lugte heraus, grunzte und machte kehrt. Als sich seine Schritte entfernt hatten, hielt Emmerich auf die Tür zu. Das Poltern und Scheppern näherte sich bereits. Er beeilte sich, etwas im Türrahmen zu befestigen, und spurtete in Deckung. Da rumpelte auch schon der Nachttroll in Sicht.

»Hat es geklappt?«, fragte Marie leise.

»Es hält.«

Sie wurden Zeugen der gleichen Prozedur wie am Vorabend. »Sie sind also noch immer nicht fertig«, murmelte die Qualmfee.

Als der Nachttroll im Laden verschwand und die Tür hinter ihm ohne Klicken zufiel, wollte Marie sogleich hinterher.

»Noch nicht«, hielt Emmerich sie zurück, »Sie mögen sich in Luft auflösen können, meine Liebe, für mich gilt das allerdings nicht. Und wir wollen doch nicht entdeckt werden.«

»Richtig.« Marie blieb, wo sie war, begann jedoch, mit dem Fuß zu wippen. »Jetzt müsste er doch aber durch sein.«

»Wir warten.«

»Wie lange denn?«

»Sie haben doch gestern selbst gesehen, dass dieser Troll nicht der schnellste ist. Wir warten, bis er mit großer Wahrscheinlichkeit den Tunnel erreicht hat.«

»In Ordnung.« Sie warf der Tür einen finsteren Blick zu, sog die Unterlippe ein und wiegte ihren Körper vor und zurück.

Nach ein paar Minuten des Schweigens, die Marie wie eine halbe Ewigkeit vorkamen, gab Emmerich ihr ein Zeichen und sie näherten sich der Tür. Emmerich konnte sie am Messing-Knauf packen und einfach aufziehen. Das Plättchen hatte, wie erhofft, das Einrasten verhindert. Er ließ Marie den Vortritt, entfernte das Plättchen und verstaute es in einer Tasche seines Gehrocks.

Marie war bereits vorausgeeilt. Als er wieder zu ihr stieß, betätigte sie soeben die Rädchen, gefolgt von dem Hebel. Die Teile fügten sich zum Schmetterling zusammen und sie drückte ihn.

Die Qualmfee war schon die Stufen hinabgeeilt, als sie merkte, dass Emmerich nicht da war. Als sie zurückblickte, betasteten seine Hände ausgiebig den Mechanismus. Der Spazierstock lehnte neben ihm an der Wand. »Einzigartig. Außergewöhnlich… genial«, murmelte er.

»Das darf doch nicht wahr sein.« Marie ballte die Hände zu Fäusten. »Nur die Ruhe.« Sie atmete tief durch, stieg die Stufen wieder hoch und zupfte Emmerich am Ärmel. »Kommen Sie endlich, uns läuft die Zeit davon. Das sind sonst Ihre Worte.«

»Aber diese Technik …«

»Dann warten Sie erst mal, bis Sie die Maschine da unten sehen.«

»Sie haben Recht.« Er griff nach seinem Stock und folgte ihr den Weg entlang bis zur großen Halle. Wieder wurde es laut und die Luft stickig.

»Warten Sie kurz.« Marie verwandelte sich in Rauch und schwebte um die Ecke. In Feengestalt kehrte sie zurück und winkte ihn herbei. »Schnell, hier entlang.«

Er rannte in die Halle und folgte ihr hinter ein überfülltes Regal. Sie duckten sich dahinter und sahen durch die Schlitze.

»Sie haben nicht übertrieben.«

»Ich weiß. Was machen wir jetzt?«

»Wir hocken hinter einem Regal und gucken.«

»Das weiß ich.«

»Gut. Es hätte mir auch zu denken gegeben, wenn nicht.«

»Ich meine, was sollen wir jetzt machen?«

»Da, sehen Sie nur! Wir müssen näher da ran.« Er zeigte auf den Nachttroll, der soeben an die Seite eines hochgeschossenen, hageren Mannes mit Spitzbart trat.

Marie nickte. »Folgen Sie mir.«

So huschten sie von Regal zu Regal, immer auf der Hut, den Trollen nicht in die Arme zu laufen. Kurz vor dem letzten Regal, das in Hörweite des Nachttrolles und des mutmaßlichen Chefs stand, hörte Marie hinter sich etwas laut scheppernd zu Boden fallen. Blitzschnell wurde sie zu Rauch.

»He da! Was ist das? Ist da jemand?«, rief der Mann mit französischem Akzent. »Seht nach!«

Aus der Luft musste Marie mit ansehen, wie haarige Trollhände Emmerich ergriffen und dem Mann mit dem Akzent vorführten. Es war Zeit, auf ihre Vorkehrungen zurückzugreifen. »Er ist tollpatschig, aber nicht dumm. Erasmus wird das schon schaffen. Er ist der intelligenteste Mann, den ich kenne«, versuchte sie sich zu beruhigen, als sie Emmerich seinem Schicksal überließ und aus der Halle floh.

 

Fast hatten sie das Regal erreicht, von dem aus sie dem Gespräch des hageren Mannes mit dem Nachttroll mühelos lauschen konnten, da verfing sich Emmerich mit dem Stock an einer überstehenden Zange und geriet ins Stolpern. Automatisch griff er auf der Suche nach Halt ins Regal und sämtliche Teile, die sich darin befanden, fielen scheppernd zu Boden.

»Beim Barte Bismarcks«, fluchte Emmerich, als ihn schon starke, schwielige Hände an den Schultern ergriffen und auf den Spitzbart zustießen. »Ich möchte doch bitten, Sie zerknittern meine Kleidung. Lassen Sie los! Wir können das wie Ehrenmänner lösen.«

»So so, wen haben wir denn da?« fragte der Mann mit dem Akzent und einer goldenen Apparatur vor dem rechten Auge. »Was führt einen gebildeten Mann, wie Sie es zweifelsohne sind, hier herunter in meine Hölle? Antworten Sie nicht! Es ist die Kriegsmaschine, ist es nicht so? Wie haben Sie von der Sache Wind bekommen?«

Der Augapfel in der Apparatur begann hin und her zu surren, woraufhin der Mann an ein Schräubchen griff und daran drehte, bis das Auge ruhighielt und starr auf Emmerich blickte. Er dreht noch einmal daran und es bewegte sich wieder synchron zu dem gesunden.

»Also?«

»Mein Name ist Erasmus Emmerich und ich begehre eine simple Auskunft.«

Der Mann blickte ihn erstaunt an. »Sie sind nicht in der Position, irgendwelche Begehren äußern zu können, werter Mann, aber weil Sie mit Ihrer standhaften Höflichkeit meine Neugierde erweckt haben, bin ich bereit, sie Ihnen möglicherweise zu erteilen. Als letzten Wunsch quasi. Aber wo bleiben meine Manieren? Ich habe mich selber gar nicht vorgestellt, ich bin Anatole Villard, halb Mensch und halb Alb.« Er bleckte die Zähne zu einem Grinsen.

Emmerich lief bei dem Anblick ein Schauder über den Rücken, doch er ließ es sich nicht anmerken. Stattdessen besann er sich auf eine Antwort: »Lassen Sie mich mal sehen; die eine Hälfte Franzose, plus die andere, wie war das noch gleich?«

»Alb.«

»Genau, also halb und halb macht ihm Ganzen einen ausgewachsenen Albtraum Bismarcks.«

Villard lachte rasselnd. »Das gefällt mir, trifft auf amüsante Weise ins Schwarze. Sehen Sie, unter anderen Umständen, ich meine, wären Sie nicht mein Gefangener, was Sie nun mal leider sind, würden wir uns sicher blendend verstehen. Ihre Frage!«

»Warum haben Sie den eisernen Knauf der Ladentür durch einen Messing-Türknauf ersetzt?«

»Wirklich?« Villards Augenapparat summte und seine Hand drehte an einer weiteren Schraube. »Das ist Ihre Frage?«

»In der Tat. Das ist sie.«

»Und Sie wollen gar nichts zu meiner Kriegsmaschine wissen? Erstaunlich.« Für einen Moment schien er tatsächlich verblüfft. Doch diese Verblüffung wich schnell wieder seinem unheimlichen Grinsen, und mit einem Mal wusste Emmerich auch, was ihm daran so missfiel. Zu viele Zähne. Dieser Halbalb, Ganzalbtraum, musste an die 60 davon haben. Deshalb dieses verzerrte, zu breite Grinsen, das er zur Schau trug.

»Wie Sie wollen«, fuhr Villard fort. »Dieser Nachttrottel hier zermalmt einfach alles unter seinen Pranken zu Staub, so auch den eisernen Griff der Tür, als er sie öffnen wollte. Und da Sie ja unweigerlich gesehen haben, dass wir Eisen hier zu einem anderen, übergeordneten Zweck benötigen, griffen wir auf Messing zurück. Solange die Tür offen bleibt, ist das kein Problem. Glücklicherweise ließ ich den Schmetterling aus Trollstahl fertigen. So, wenn das Ihre Frage beantwortet, ich habe ein Reich zu zerschlagen und dafür muss mein Kriegsschätzchen hier fertig werden.« Sein Lächeln verschwand und er wandte sich an die Trolle: »Schafft den Trottel fort!«

 

Rauch drang durch die Sicherheitsumzäunung auf das Grundstück und wehte zum Hintereingang des mehrstöckigen Anwesens. Er löste sich auf, und Marie trat vor. Auf ihr Klopfen hin hörte sie Schritte herbeipoltern und sich der Tür nähern.

»Es ist soweit«, sagte sie.

»Meine Truppen stehen bereit.«

Generalfeldmarschall Moltke trat an ihr vorbei ins Freie.

»Sie haben Emmerich.«

Er schaute sie an.

»Wir holen ihn da raus«, versicherte er und strich ihr über die Wange. »Führe die Soldaten hin, ich informiere den Fürsten.«

Den gesamten Weg zur Friedemanngasse zurück schärfte Marie den bewaffneten Soldaten ein, dass sie Erasmus lebendig bergen sollten. Dass es hier nicht nur um eine Verhaftung ging, sondern ebenfalls darum, einen Helden zu befreien, der bei seinem Versuch, das Deutsche Reich vor einem ungeheuerlichen Anschlag zu bewahren, selbst in die Klauen der Bestie geraten war. Der stellvertretene Befehlshaber nickte, und sie eilten weiter.

An der Eisentür angelangt, brachen sie mit ihrer Maschinerie hindurch, als wäre sie aus morschem Holz. Marie betätigte zum zweiten Mal in dieser Nacht den Schmetterlingsmechanismus, und die Truppen stürmten in das Gewölbe.

 

»Einen Moment, bitte!«

Villard gebot den Trollen, zu halten. »Sie wollen also doch mehr?«

»Es ist nur …«

»Was? Ein Weilchen war es ja amüsant, aber nun beginnen Sie, meine Zeit zu stehlen, Herr Emmerich.«

»Na, wenn das so ist … dann ist nichts. Ich dachte nur …«
»Was dachten Sie nur … alors dites! Sprechen Sie schon, oder ich befehle, Sie augenblicklich in einen der Öfen … Was im Himmel, mon Dieu, geht da vor sich? Was ist das für ein Lärm und Getöse?«
»Darauf wollte ich hinaus«, hakte Emmerich ein. »Man ist durch die Tür gebrochen. Es hat einen Knall gegeben, als wäre sie gesprengt worden.«

»Wie?« Villard wurde unruhig. »Warum sagt mir das keiner? Egal wer da kommt, schnappt Sie euch!«

»Ich auch?«, fragte Emmerich.

»SIE halten jetzt Ihre Klap-«

Doch der Schwarm Soldaten, der sich in dem Augenblick in die Halle ergoss und sich seinen Weg durch die Horden heranströmender Trolle bahnte, ließ ihn verstummen. Metall klirrte auf Metall und es ertönten Schüsse.

Emmerichs Wärter hatten ihn losgelassen, um ihren Artgenossen zu Hilfe zu eilen. Doch wo war Villard? Emmerich rannte durch die verrauchte Halle in Richtung der Kriegsmaschine und sah gerade noch, wie Villard sie umrundete und im Inneren verschwand. Er setzte ihm nach.

 

»Erasmus! Erasmus! Wo stecken Sie?« Dampfwolke Marie glitt durch die Halle und rief aus Leibeskräften. In ihrer Stimme lag Verzweiflung. Um sie herum wurde gefeuert und geschrien. Es hatte bereits Verwundete und Tote gegeben. Einige Trolle waren verhaftet. Die übrigen Soldaten mühten sich mit dem Nachttroll ab. Doch wo steckte der Spitzbart, und wichtiger noch, wo war Erasmus? Sie flog auf den Kriegsschiff-Oktopus zu und erblickte gerade noch den Zipfel eines wehenden Gehrocks, bevor er im Bauch des Ungeheuers verschwand.

Marie löste sich auf. Einen Wimpernschlag später materialisierte sie sich vor der Tür und hörte Emmerichs Stimme: »Nehmen Sie Vernunft an, tun Sie es nicht! Das tut mir jetzt außerordentlich leid.« Ein Geräusch wie von einem dumpfen Schlag folgte, und Maries Knie wurden weich. Sie schluckte, griff nach dem Türrahmen und zog sich hinein. Sie stand im Mittelteil des Monstrums, und zu beiden Seiten gingen Türen ab. Das Geräusch war von rechts gekommen. Sie rannte los, riss die Tür auf und erstarrte. Jemand lag am Boden und Blut lief seine Schläfe entlang. Sie schlug die Hand vor den Mund. Etwas Metallenes glänzte an seinem Auge.

Auf seinen Spazierstock gestützt und leicht keuchend stand Erasmus Emmerich über den bewusstlosen Mann gebeugt, als er Marie erblickte.

»Marie, es ist nicht so, wie Sie …« Er zuckte die Schultern. »Entschuldigen Sie, da sind wohl die Pferde mit mir durchgegangen.« Er sah sie verlegen an.

Sie stieg über den Mann am Boden hinweg. »Ich dachte, Sie wären …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das war absolut großartig. Sie waren großartig.«

Emmerich lächelte und seine Ohren färbten sich rosa. Er straffte die Schultern, tat, als klopfe er Staub von seinem Gehrock, und bot Marie den Arm. Bevor er aus der Chimäre trat, zögerte er. »Die Trolle?«

»Sollten mittlerweile alle außer Gefecht sein.«

Er nickte und trat mit ihr in die Halle. Einige Soldaten stürmten auf sie zu.

»Da drinnen«, erklärte Marie und deutete auf das Monstrum.

»Anatole Villard liegt im Kontrollraum«, ergänzte Emmerich. »Er ist der Verantwortliche hinter dem Verbrechen und hat sich, wie es scheint, den Kopf gestoßen.«

Marie musste lachen und wandte sich ab.

Einige der Soldaten begaben sich ins Innere, um den Schurken in diesem günstigen Moment festzunehmen. Zwei andere traten auf Emmerich zu und salutierten.

»Wir möchten uns für Ihre Dienste zum Wohle Berlins und des gesamten Deutschen Reiches bedanken.«

»Hört, hört, so ist es recht. Endlich wird mir die Ehre zuteil, die mir gebührt. Es handelte sich hierbei aber auch um eine besonders abscheuliche Tat.«

»So ist es!«, stimmten sie ihm zu. »Dass Sie tatsächlich Ihr Leben für die Verhinderung des Anschlags auf das Deut-«

Marie unterbrach sie schnell. »Schon gut. Das reicht dann auch jetzt. Vielen Dank.«

Sie bugsierte Emmerich außer Hörweite und die Soldaten gingen wieder daran, das Eisen zu beschlagnahmen und die Trolle abzuführen.

»Endlich hat man den wahren Wert meiner Dienste erkannt. Sehen Sie, Marie, diese Herren wussten genau, was ein Messing-Türknauf für das Deutsche Reich bedeutet. Nur, was soll mit meinem Leben und einem Anschlag sein?«

»Äh, das war nur … das war nichts«, beeilte sie sich zu versichern. »Sie wollten Ihnen nur mitteilen, dass sie sofort den Austausch des Messing-Knaufs durch einen aus Eisen veranlassen werden, sobald sie hier fertig sind.«

»Ach so, hmm, ja, ausgezeichnet, sehr vernünftig. Auch wenn es für mich eher danach klang, als ob … Marie! Sie haben doch nicht etwa …?«

»Gar nichts habe ich.« Sie schenkte ihm einen ihrer finsteren Blicke und stapfte lächelnd von dannen.

Am nächsten Morgen unternahm Emmerich zur Feier seines gelösten Falls einen ausgiebigen Spaziergang. Schließlich hatte er quasi im Alleingang den Fall des Messing-Türknaufs aufgeklärt und nebenbei noch – auch wenn das in Anbetracht des guten Knauffall-Ausgangs keinen interessierte – für die Verhaftung eines französischen Alb-Attentäters und seiner Bande krimineller Trolle gesorgt. Nicht zu vergessen, das viele Eisen, das wegen seiner unermüdlichen Scharfsinnigkeit konfisziert werden konnte. Gut, aufgrund des Kampfes klebte an großen Teilen des Eisens Blut, aber Bismarck würde schon Verwendung dafür finden. Schließlich war es ja auch nicht Emmerichs Schuld. Er hatte jedenfalls nicht geschossen, das waren diese Rüpel von Soldaten gewesen. Aber zumindest einige von ihnen hatten die Manieren gehabt, ihm zu danken, das musste er ihnen zugestehen.

Als er den neuen Eisenknauf an dem leeren Laden begutachtete, trat ein Lächeln auf sein Gesicht, und beschwingten Schrittes stolzierte er die Friedemanngasse entlang. Sein Spazierstock klackte auf den Steinen und das Geräusch hallte von den Häuserwänden wider.

Einige Gassen weiter verdichtete sich neben ihm eine Rauchsäule. Emmerich nahm die Taschenuhr aus seiner Weste: »Pünktlich auf die Sekunde.«

Die Qualmfee hakte sich bei ihm unter, sie setzten den Spaziergang fort, und blieben erst wieder stehen, als sich das Gassengewirr zu einem großen Platz hin öffnete.

In der Ferne sahen sie einen Mann mit Schnauzbart. Emmerich hob grüßend den Stock, und zum ersten Mal schien es sogar, als nickte der Fürst zurück.

 

»Eingesperrt«, brachte Sarah tonlos hervor, »in einer Bleikammer!«

»Mein Plan verlief nicht direkt wie zu erwarten«, meinte Archibald Leach und klopfte an die Bleiplatten der schweren Zellentür.

Sie betätigte einen verborgenen Riegel in ihrer Handprothese und brachte ein Geheimfach mit Dietrichen und Metallstiften zum Vorschein.

»Dieses Schloss wird Zeit brauchen«, sagte sie und führte den ersten Stift ein.

»Erinnert mich an diese Geschichte, die Marie mal von diesem Bleimännchen berichtet hat.«

»Ich dachte, es wäre ein Zinnsoldat gewesen?«, fragte sie, ohne mit der Arbeit aufzuhören.

»Die Details habe ich nicht mehr so im Kopf.«

»Wäre aber hilfreich, denn die Einzelheiten der Geschichte könnten bei unserer aktuellen Misere nützlich sein.«
»Ich werde versuchen, Ihnen die Begebenheiten möglichst genau zu schildern. Also, da war ...«

 

 

Erasmus Emmerich und der zinnoberrote Zinnsoldat

 

Erstmals erscheinen 2015 in der Anthologie »Die dunkelbunten Farben des Steampunk«.

 

Eine in Braun gekleidete, hochgewachsene Gestalt mit Spazierstock und Zylinder huschte dicht gefolgt von einem grauen Schatten durch die Gassen eines abgelegenen Berliner Außenbezirks. Durch Schulterblicke darauf bedacht, dass es bei dem einzelnen Verfolger blieb, schlüpfte die Gestalt schließlich um eine Umgrenzungsmauer geradewegs in den Vorhof der altherrschaftlichen Villa Kupferstich, wo sie besagter Schatten einholte.

»Hetzen Sie doch nicht so!«

»Wenn ich Sie daran erinnern darf, es handelte sich um ein Eiltelegramm.«

Der Schatten, der bei näherer Betrachtung eher einer Rauchwolke in Form einer jungen Frau glich, schnaubte. Ihr Blick fiel auf das barocke Anwesen, das sich mit seinem Mansarddach in den grauen Herbsthimmel emporreckte.

»Bei Bismarcks Barte!«

»Wie bitte?«, erkundigte sich die behütete Gestalt, die zu einem Mann mittleren Alters gehörte. »Ach so, das Haus, ja. Nett.«

Er betätigte den Türklopfer, während er an dem Knauf zu rütteln begann, um nach kurzem Zögern mit seinem Spazierstock gegen die Tür zu hämmern.

»Nett«, die Rauchdame schüttelte den Kopf. »Nett!«

Der Mann trat einen Schritt zurück und sah die vergitterten Fensterreihen entlang, die sich zu beiden Seiten der Tür erstreckten. »Na ja, übertreiben Sie mal nicht. So nett nun auch wieder nicht.«

Sie seufzte. »Warum schickt Ihnen Ihr alter Studienkollege ein Eiltelegramm mit der Bitte, ihn sofort in seiner Villa aufzusuchen, wenn er uns dann nicht öffnet?«

Der Mann musterte die wabernde weibliche Rauchwolke, die nun in ihre feste körperliche Form wechselte. »In Ihrer menschlichen Gestalt sind Sie viel weniger verschwommen, Marie. Sonst zerfließen Ihre Formen immer so, dass einem ganz schummrig dabei wird.«

Sie warf ihm einen düsteren Blick zu. »Menschlich? Pah! Sie meinen meine feeische Gestalt.«

»Die sich von der eines Menschen worin unterscheidet? Genau, in absolut gar nichts.«

»Schon. Ich bin viel bezaubernder.«

Emmerich blinzelte. »Sagen wir einfach, Sie haben gewonnen.«

Als Marie zu einer Erwiderung ansetzte, winkte er ab, wodurch sich die Qualmfee jedoch keineswegs das Wort abschneiden ließ. Stattdessen reckte sie die Nase in die Luft. »Natürlich gewinne ich… Moment. Sie geben nie einfach so auf.« Sie nickte zur Tür. »Also, warum macht Ihr Freund uns nicht auf?«

Emmerich rüttelte erneut am Türklopfer. »Vielleicht habe ich das Telegramm ja nicht sofort gesehen«, nuschelte er.

Marie machte ihrer Paradedisziplin alle Ehre, indem sie ihn finster anstarrte. Schon wieder. Hatte er das verdient? Möglicherweise ja, aber Emmerich entschied sich dagegen.

»Jetzt schauen Sie nicht so. Ich war eben beschäftigt.«

Marie fixierte ihn weiterhin. Dann atmete sie tief durch und schritt auf Emmerich zu. »Sie und Ihre Erfindungen.«

Emmerich verzog die Lippen auf eine Weise, als würde er schmollen, aber Marie war sich sicher, dass er nicht einmal wusste, wie das ging.

»Wir mögen zwar mit minimaler Verspätung …«

»Minimal?«, hakte Marie nach.

»Na schön mit leichter …«

Sie sah ihn immer noch streng an. Dann musste er wohl seinen Ehrenmann stehen. Er rang die Hände.

»Fein, wir sind also mit ziemlich heftiger Verspätung hier eingetroffen, aber das erklärt noch nicht, warum er nicht öffnet.«