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Jörg Thiessen

DEN FLUTEN ZUM

TROTZ

Historischer Roman aus dem 17. Jahrhundert

Boyens Buchverlag
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Prolog

Mit gewaltiger Kraft fegt der Sturm die Wolkenfetzen über die Insel. Die Obstbäume im Garten haben ihre letzten Blätter verloren. Im Takt der Böen schlagen die Zweige im wilden Tanz hin und her. Manchmal scheint es, als würden sie dem Druck des Sturmes nicht mehr standhalten können.

Im Radio wird stündlich vor einer schweren Sturmflut für die gesamte Nordseeküste gewarnt. In der Tagesschau werden am Abend wohl wieder Bilder vom Anleger in Dagebüll gezeigt werden, wie dort die aufgewühlte Nordsee mächtige Brecher über die Mole schleudert. Anschließend werden dann wieder besorgte Freunde aus der Mitte Deutschlands anrufen, um sich zu vergewissern, dass unser Haus noch unbeschadet ist.

Es ist ein sehr altes Haus. Die Kirchbücher weisen aus, dass es seit 1632 ununterbrochen bewohnt worden ist. Weder Feuer noch Sturm, noch Überschwemmungen konnten es ernsthaft beschädigen.

Der Sturm nicht, weil das Haus in Ostwestrichtung erbaut und so nur die schmalste Seite den starken Winden ausgesetzt ist. Das Wasser nicht, da das Haus an einer der höchsten Stellen im Dorf steht. Vom Feuer aber blieb es wohl verschont, weil umsichtige Frauen hier im Laufe der Jahrhunderte wirkten.

Wie kalt muss es an solchen Tagen gewesen sein, wenn die Frau des Hauses aus Angst davor, dass der Sturm die Flammen aus der offenen Esse an die Holzbretter bläst, das Feuer gänzlich gelöscht hatte.

„In Böen Orkanstärke“ verkündet der Sprecher bei der nächsten Unwetterwarnung im Radio.

„Wie gut, dass Deiche heute so hoch, breit und stabil sind“, kam es mir in den Sinn. „Aber wie war das wohl damals, vor fast vierhundert Jahren, als am Samstag, dem 11. Oktober 1634, die große Flut weite Teile der Küstenlandschaft zerstörte?“

Da gab es keine Warnung von außerhalb. Da mussten sich die Männer auf ihre Erfahrung verlassen und auch beim schlimmsten Wetter den Deich kontrollieren.

Meine Gedanken gehen in die Vergangenheit …

Nordosten Wind und alter Weiber Schelte halten drei Tage an.
(Friesisches Sprichwort)

Historie

Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts brachte unendliches Leid und bittere Armut über die Bewohner Nordfrieslands und vor allem über die Menschen in den Uthlanden.

Eine Vielzahl schwerster Sturmfluten suchte in immer kürzeren Abständen die Inseln und Küsten heim. Neben den unmittelbaren Verlusten an Menschen und Nutztieren waren es natürlich auch Sachschäden und die daraus resultierenden Folgen, welche die Not vergrößerten. Der Deichbau war schon immer eine besondere Belastung für die Bewohner an der Küste. Das Spadelandrecht verpflichtete Landbesitzer, den ihnen zugeteilten Deichabschnitt, entsprechend den Vorgaben des Deichgrafen, instand zu halten, zu verstärken, zu erhöhen und im Falle von Deichdurchbrüchen oder gänzlichem Verlust zu erneuern. Wer dieser Pflicht nicht nachkam oder nachkommen konnte, wurde seines Besitzes verlustig. Die Reihe der zerstörerischen Sturmfluten, die immer wieder die Bewohner zu Arbeiten an den Deichen zwang, fanden ihren Höhepunkt in der 2. Mandränke vom 11. 10. 1634, die nicht nur weite Landesteile vernichtete, sondern auch tausende Menschen und unzähligen Stück Vieh das Leben kostete.

Besonders betroffen war die damalige Insel Strand. Als „Summa summarum“ sind in einem Aktenstück des Schleswiger Staatsarchivs die Verluste allein für diesen Teil Nordfrieslands wie folgt aufgelistet: „6123 Menschen ertrunken und umgekommen, darunter neun Prediger, zwölf Küster; 1339 Häuser ganz weggetrieben; 375 Hauswirte oder Landeigner und 58 Kätener behalten; 28 Windmühlen weggetrieben; 6 Glockentürme weggetrieben. An Tieren und lebendiger Habe, als Pferde, Ochsen, Kühe, Schafe und Schweine sind ertrunken mehr und nicht minder über 50 000 Stück.“

Die alte Insel Strand – einst als „Der Strand“ bezeichnet – wurde in dieser Nacht von der Nordsee in der Mitte durchbrochen. Heute zeugen nur noch Pellworm, Nordstrand und Nordstrandischmoor vom „Alten Strand“.

Waren auch auf der Insel Föhr keine Menschenverluste gemeldet worden, so trafen die Einwohner der große Verlust an Vieh und die enormen Aufwendungen für die Wiederherstellung der zerstörten Deiche hart.

Die schwierige wirtschaftliche Lage war noch dadurch verschärft worden, dass die hohen Lasten, die auch die Menschen auf Föhr im Zusammenhang mit dem Dreißigjährigen Krieg zu tragen hatten, noch nicht verkraftet waren. Wenn auch die Föhringer eine im Jahr 1628 versuchte Landung der kaiserlichen Truppen selber abschlugen, kam es doch in dem Folgejahr zu einer Stationierung dänischer Truppen, die einen neuen Versuch der Kaiserlichen, auf der Insel zu landen, schon im Vorweg verhindern sollten. Zeitweilig sollen mehr als tausend dänische und auch englische Soldaten auf der Insel gewesen sein, die entsprechend damaliger Gebräuche von der Bevölkerung zu unterhalten waren. Dies führte zu einer drastischen Verringerung des Nutztierbestandes und in Folge zu einer Hungersnot auf der Insel.

Eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der Menschen in den Uthlanden wurde auch dadurch hervorgerufen, dass die Laichzüge der Heringe, die rund zweihundert Jahre an Helgoland vorbeiführten und den Männern durch den Fischfang eine sichere Erwerbsquelle boten, mit Beginn des Jahrhunderts andere Routen nahmen.

Auch die Pest forderte auf den Inseln ihre Opfer, und so sank in diesen Jahren z. B. die Einwohnerzahl der Insel Amrum auf rund hundert Menschen.

Eine Veränderung zum Positiven setzte dann mit dem Beginn der Jagd auf den Wal ein, an der sich die Inselfriesen in steigendem Maße beteiligten. Hier waren es auch die Hamburger, die gerne auf die Uthländer zurückgriffen, um den immer größer werdenden Bedarf an guten Seeleuten zu decken.

Neben der Tatsache, dass immer mehr Schiffe für den Walfang ausgerüstet wurden, verschärfte ein im Jahre 1634 ergangener Erlass der französischen Regierung, der den Basken den Dienst auf holländischen Schiffen verbot, die personellen Engpässe der niederländischen Reeder. Nun suchten auch sie ihre Besatzungen unter den Nordfriesen aus, was in steigendem Maße dazu führte, dass – in der Zeit von April bis Oktober – Föhr die „Insel der Frauen“ genannt wurde.

Der mit dem Walfang verbundene Wohlstand hatte aber in der hohen Verlustrate an Männern, die diese Unternehmen mit sich brachte, auch seine Schattenseiten. Nicht nur der eigentliche Walfang forderte seine Opfer, auch die Hin- und Rückreise zu den Ausgangshäfen forderte einen hohen Tribut. Die Zahl der Witwen und Waisen war in keinem Landstrich Nordfrieslands so hoch wie auf den Inseln.

Von der Insul Föhr

Die Insul Föhr oder Föhrd ist ihrer Grösse nach ein hübsche Insul / wird aber auch bewohnet von rauen Leuten / wiewol sie ein wenig mehr als die Sylter polieret seyn / halten sonst noch über ihren alt-Friesischen Habit / zusampt deroselben Sprachen / steiff und faest / wiewol viele deren auch ihr Niedersaechsisch zu reden wissen. Sie ist länglich rundt / so man Oval oder Eyformig nennet : ihre Laenge ist bey nahe anderthalb Meil weges / die Breite eine grosse Teutsche Meile/ist wol bewohnet / hat Geest und Marsch / und traegt demnach allerhandt Getreide / und hat gute Viehezucht / drey Kirspel / und in denselben 4200. Einwohner / wird durch 2. Landvoegten nach den Herrschafften regieret.

Ihr. Fuerstl. Durchl. stehet zu der Osterteihl Osterharde genennet / als die eine Landvoegtey / und gehoeret noch mit zu diesem Ampte Tondern / als nemblich

1. Die Oster Kirch oder S. Nicolaus. i. Wick. 2. Boldigsum. 3. Wrixum

11. Die Mittelkirche oder S. Johannis. 1. halb Niebelum 2. Alckersum 3. Middelum 4. Ovenum.

Der Rest als der Westertheil so nach Ripen gehoerig ist die andere Landtvogtey / hat folgende Oerter. 1. halb Niebelum 2. Borgsum 3. Wydsum 4. Goeting.

111. Westerlands Kirch oder S. Laurentius. 1. Utersum. 2. Dontsum. 3. Oldesum. 4. Clintum 5. Toefftum 6. Suederend 7. Hoddesum.

(Aus: Newe Landesbeschreibung der zwey Hertzogthümer Schleswich und Holstein von C. Danckwerth Anno 1652)

Teil I
 
Die erste Hälfte
des 17. Jahrhunderts

Ein schlechter Vogel, der sein eigenes Nest nicht unterhalten kann.
(Friesisches Sprichwort)

OCKE

Ocke Hayen trat durch die nach Süden gelegene Gartentür in die Abenddämmerung und warf einen prüfenden Blick nach Westen. Die Dunkelheit kam, jetzt im Oktober, jeden Tag merklich früher. Im Westen und Süden zogen dunkle Wolkenmassen herauf, obgleich der Wind vollkommen ruhte. Es war die Totenstille, die oft dem Sturm vorausging.

Im fernen Westen zuckten Blitze, als wollten sie den Menschen an der Küste, auf den Inseln und den Halligen eine Warnung zukommen lassen.

Wie jeden Abend umrundete Ocke sein Haus, das er erst vor zwei Jahren hier in Oldsum errichtet hatte. Mit Genugtuung betrachtete er die festgefügten roten Klinkersteine und das dicke, vor Wind und Regen schützende Reetdach.

Ja, das war doch ein ganz anderes Haus als die Lehmhütte seiner Eltern, welche am nördlichen Rand von Toftum an der Marsch stand. Sein Vater hatte ihn bedrängt, auf dem angestammten Grund zu bleiben oder, wenn es denn unbedingt sein müsste, dort sein neues Haus zu errichten. Auch Kerrin, mit der er damals noch versprochen war, hatte ihm zu verstehen gegeben, lieber dort, wo auch ihre Eltern und Geschwister wohnten, bleiben zu wollen.

Ocke aber hatte auf den Rat seines Onkels gehört, sich im höher gelegenen Teil von Oldsum anzusiedeln. Immer wieder waren in der Vergangenheit vor allem die am tieferen Marschrand gelegenen Anwesen vom Meer heimgesucht und die dort wohnenden Menschen um ihre ganze Habe, häufig genug auch um ihr Leben gebracht worden.

Der Heringsfang im Sommer und die Austernfischerei im Winter, die er gemeinsam mit seinem Onkel vor Helgoland bzw. vor Sylt betrieb, hatte in den letzten Jahren genug eingebracht, um die Ziegelsteine zu kaufen. Die Balken für das Ständerwerk waren teilweise aus dem Abbruch eines Hauses aus Toftum gewonnen, aber auch durch angeschwemmtes Strandgut ergänzt worden.

Nachdem er seinen Rundgang beendet hatte, betrat der junge Föhringer das Haus durch die an der Nordseite gelegene Tür, unterhalb des Spitzgiebels.

Das Haus war vor zwei Sommern fertig geworden und, wie in den Uthlanden üblich, in Ost-West-Richtung ausgerichtet, um bei den hier vorherrschenden Westwinden so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Die Längsseite war in der Mitte durch die Diele geteilt und trennte so den Wohn- vom Wirtschaftsteil.

Ocke nahm den hohen, mit einer Krempe versehenen Filzhut vom Kopf und hängte diesen in der Diele an einen hölzernen Dorn.

In diesem Moment kam Kerrin aus der Stalltür, die genau der Küchentür gegenüber lag, in der einen Hand einen Eimer mit Milch und auf dem Arm den kleinen Hay.

Hay war nun schon eineinhalb Jahre alt und fremdelte noch ein wenig bei seinem Vater, der ja fast ein halbes Jahr nicht zu Hause gewesen war, und suchte deshalb, noch mehr als sonst, die Nähe zur Mutter.

Die junge Frau bewegte sich etwas schwerfällig, denn trotz des locker herunterhängenden Kittels war es unübersehbar, dass sie bald zum zweiten Mal Mutter werden würde. Sie war froh, dass Ocke jetzt im Winter auf der Insel bleiben und so nicht mehr alle Arbeit an Haus und Hof sowie mit den Tieren an ihr hängen bleiben würde.

Es war gerade zwei Wochen her, dass er vom Heringsfang zurückgekommen war. Seitdem er im Mai die Insel verlassen hatte, war sie allein mit der Arbeit gewesen. Das Vieh, wenn es auch nicht zahlreich war, musste versorgt, der Acker bestellt und der Hausgarten angelegt werden. Im Haus war auch noch lange nicht alles gerichtet, aber nachdem Ocke im letzten Winter den gemauerten Herd fertiggestellt hatte, ging doch alles viel schneller von der Hand.

Sie gingen zusammen in die Küche, den einzigen beheizbaren Raum im Haus, wo Ocke sich an den langen, grob bearbeiteten Tisch setzte, der, dem Herd gegenüber, unter dem Fenster stand. Durch die kleinen Sprossenfenster fiel nur noch wenig Licht in die niedrige Küche, aber der Feuerschein aus dem Herd reichte, um den Teil zwischen Herd und Tisch schwach zu erleuchten.

Kerrin hatte inzwischen in den mit Grütze gefüllten Kessel, der über dem Herd an einem Eisenhaken hing, noch die frische Milch geschüttet und rührte diese nun langsam unter.

Ocke schaute ein wenig mürrisch auf seine junge Frau, die alle diese Tätigkeiten, den Kleinen die ganze Zeit auf ihrem Arm, mit einer Hand verrichtete. Als sie an den Tisch kam, um den großen hölzernen Teller dorthin zu stellen, wo dann der Grütztopf seinen Platz finden sollte, knurrte er: „Du solltest ihn nicht immer mit dir rumschleppen, du verzärtelst ihn!“ Kerrin lachte leise und entgegnete mit ihrer hellen Stimme, die er so an ihr liebte: „Keine Sorge, wenn er alt genug ist, mit dir auf See zu gehen, wird er schon seinen Platz ausfüllen.“

Mit diesen Worten setzte sie den Jungen auf seinen Schoß, holte den Grütztopf vom Haken, stellte ihn auf den Holzteller, legte Ockes Löffel auf den Tisch, nahm auch ihren Löffel vom Bord, den Sohn von des Vaters Schoß und setzte sich mit ihm auf ihren Stuhl.

Ocke konnte sein Erstaunen über seine Frau kaum verbergen. Noch vor einem Jahr wirkte sie recht hilflos, wenn sie kritisiert wurde, reagierte oft überempfindlich und schroff, jetzt ging sie mit einem Lächeln und einer Selbstsicherheit mit solchen Dingen um, die ihm klar werden ließen, dass auf der Insel die Frauen, die ja den ganzen Sommer alleine waren, im Haus das Sagen hatten. Nun löffelten alle gemeinsam aus dem Topf, wobei Kerrin immer zuerst den Mund von Hay stopfte und dann selber zwei Löffel nahm. In diesem Rhythmus ging es weiter, bis der Kleine den Kopf zur Seite drehte, um damit anzuzeigen, dass er gesättigt sei.

Nachdem auch Ocke gesättigt war, zündete er das Talglicht an, denn in der Zwischenzeit war es – da auch das Feuer im Herd nur noch mit kleiner Flamme brannte – so dunkel geworden, dass nur noch das Fenster gegen den Himmel Konturen zeichnete.

Hay war auf dem Schoß der Mutter eingeschlafen, und so saßen die Eheleute ruhig am Tisch, wobei Kerrin die Unruhe bei Ocke bemerkte. Sie hatte gelernt, ihn nicht zu drängen, sie wusste, dass er sich von ganz alleine mitteilen würde.

„Ich denke, ich sollte noch alle Luken und Türen kontrollieren, da braut sich was zusammen“, begann er und ergänzte auf ihren fragenden Blick: „Weit draußen auf der See rumort es. Hast du nicht bemerkt, wie still der Wind und wie unnatürlich warm es ist?“ Kerrin zuckte mit den Achseln, weil sie mit Ockes Worten nichts Rechtes anzufangen wusste. Er aber ging noch einmal durch den Stall, in dem die beiden Kühe, die zwei Ziegen und die zwölf Hühner zur Ruhe gekommen waren. An der Stallaußentür, die zur östlichen Giebelseite gelegen war, verhielt er, um diese noch zusätzlich mit einem Hanfstrick zu sichern. Danach kletterte er auf den Heuboden, um zu kontrollieren, ob das Eulenloch gängig und frei war. Es musste dann aufspringen, wenn durch den Wind der Druck auf das Dach von innen zu stark wurde. Ebenso prüfte er, ob die Ladeluke im Giebel fest verriegelt und gesichert war.

Nachdem dieser Kontrollgang zu seiner Zufriedenheit ausgefallen war, kletterte er über eine zweite Leiter herunter in die Dreschtenne, von der er dann wieder in den Flur kam, um noch die Gartentür zu überprüfen.

Dort hatte Kerrin ihm noch den großen Kessel hingestellt, damit er diesen am Brunnen, der im Garten war, auffüllen konnte.

Als er in die Küche zurückkam, um den Kessel dort abzustellen, stand ein dampfender Becher an seinem Platz: Heißes Wasser mit einem kräftigen Schuss Branntwein vermischt, wie er ihn gerne zum Tagesabschluss zu sich nahm.

Während er den wärmenden Trank genüsslich schlürfte, saßen die Eheleute sich still gegenüber. Ocke erfreute sich an ihrem fein gegliederten Angesicht, ihren strohblonden, lang herunterhängenden Haaren und an ihrer durch die Schwangerschaft noch fraulicher gewordenen Figur.

Kerrin hingegen betrachtete, nicht ohne Stolz, die kräftige Statur ihres Mannes, die sie schon erregt hatte, als sie ihn vor drei Jahren, sie waren noch gar nicht verlobt und sie gerade zwanzig, im Spätsommer bei der Arbeit am Deich mit freiem Oberkörper gesehen hatte.

Nachdem er den Becher geleert hatte, nahm er das Licht, sie den schlafenden Hay und beide gingen nun über den Flur in die Döns, wo der Junge in die langsam zu klein werdende Wiege gelegt wurde. Nachdem die beiden dann ihre Oberkleider abgelegt hatten, bestiegen sie das Wandbett, welches mit einer Seite an den Herd grenzte und so über eine angenehme Restwärme verfügte.

* * *

Die Nächte wurden länger, und so war auch die Nachtruhe länger als im Sommer, und der Weckruf des Hahnes hatte sich der späteren Morgendämmerung angepasst. Nachdem die Eheleute den Alkoven verlassen hatten, spürten sie die morgendliche feuchtkalte Luft, die in der Döns herrschte. Schnell zog sich Ocke Hose und Kittel über und ging vor die Tür, um einen prüfenden Blick zum Himmel zu werfen. Die Nacht war, entgegen seiner Befürchtungen, ruhig geblieben, und über dem Festland stieg eine blutrote Sonne am Horizont auf.

Es war ein schöner Morgen, kein Windhauch war zu spüren und eine ungewohnte Stille lag über dem Dorf. Vielleicht stieg gerade deshalb in dem erfahrenen Fischer eine erneute Unruhe auf. Er beschloss, sich zu seinem Boot zu begeben, welches noch am Strand lag, und es hinter den Deich zu bringen.

Mit einem kurzen „Ich bin zum Boot!“ nahm er Hut und Stock vom Haken und machte sich auf den Weg zum Strand, der ihn in nördlicher Richtung durch die tiefer gelegene Marsch zum Deich führte.

Sein Blick schweifte über die grünen Fennen, während er mit schnellen, weit ausholenden Schritten entlang der Entwässerungsgräben zum Bootsliegeplatz strebte. Die meisten Rinder waren noch auf den Weiden, nur Kerrin hatte ihre beiden Kühe schon in den Stall gebracht, da in ihrem Zustand der tägliche Weg zum Melken mit den schweren Holzeimern zu beschwerlich geworden war.

Als er die Deichkrone erklommen hatte, schaute er prüfend über das Land und freute sich über das friedliche Bild, welches sich ihm bot. Immer noch regte sich, selbst hier am Wasser, kaum ein Luftzug, und das Meer lag ruhig wie ein See zu seinen Füßen. Nur weit draußen im Westen schien es, als ob sich der Himmel über der See dunkel zu verfärben begann.

Ocke verfolgte mit den Augen die Linie des Deiches, der die Insel an der gesamten Nord- und Westseite vor der See schützte. Seit er sich erinnern konnte, wurden viele Tage und Wochen des Jahres der Erhaltung dieses notwendigen Schutzwerkes gewidmet. Auch seine Eltern und Voreltern berichteten von der Mühsal, aber auch voller Stolz über den seit Generationen dauernden Kampf gegen die immer wieder mit vernichtender Macht anrollende See.

Jeder Landbesitzer hatte einen der Größe seines Besitzes entsprechenden Deichabschnitt zugeteilt bekommen. Den hatte er nicht nur instand zu halten, sondern er musste auch für die vom Deichgraf festgelegte Erhöhung oder gar Verbreiterung sorgen.

Schlimm wurde es, wenn – wie in den letzten Jahren immer häufiger geschehen – durch schwere Sturmfluten größere Deichabschnitte zerstört und weggespült wurden. Dann musste alle andere Arbeit um Haus und Hof ruhen, und auch die sonstigen Verpflichtungen hatten in den Hintergrund zu treten. Dann gab es nur eine Pflicht! Der Ring musste geschlossen werden, bevor die nächste schwere Flut noch weiteren Schaden anrichten und den Bestand der Insel gefährden würde.

Hart traf es dann vor allem die Alten und die Witwen, wenn keine kräftigen Männer mehr im Haus waren, um die schwere Arbeit am Deich zu bewältigen.

Das Spadelandrecht war da unerbittlich! Wer seinen Pflichten zur Deicherhaltung nicht nachkommen konnte und auch die Strafen der Deichrichter missachtete, so dass dem ganzen Land Schaden erwachsen könnte, der wurde seines Landes verlustig. Der Spaten wurde an der entsprechenden Stelle auf den Deich gesteckt, und wer ihn herauszog, übernahm Land und Lasten des Säumigen. So war auch Ocke in den Besitz seines Grundstückes und der Fennen in der Marsch und der Ackerfläche auf der Geest gekommen.

Der Deich an der West- und Nordseite war erst im vorigen Jahr fertiggestellt worden und bot in seiner Gesamtheit den Anblick eines mächtigen Schutzwalles, der dem Meer trutzen konnte.

Von der Höhe des Deiches sah er am Strand des Vorlandes die kleinen Boote liegen, mit denen er und die anderen Fischer auf Fang in die inselnahen Gewässer gingen. Von dieser Stelle fuhr er auch zu den zwischen Föhr und Sylt gelegenen Austernbänken, um die am herzoglichen Hof in Gottorf sehr geschätzten Austern zu holen. Um das Recht der Austernfischerei hatte es in der Vergangenheit immer wieder Streit zwischen den Syltern und den Föhringern gegeben, der schließlich durch den dänischen König mit einem Erlass geschlichtet worden war, indem die Bänke zwischen den beiden Inseln aufgeteilt wurden. Trotzdem gab es immer wieder handfeste Auseinandersetzungen, wenn, was häufig vorkam, diese Aufteilung nicht beachtet wurde. Das Geschäft mit der Auster war äußerst lukrativ, denn am Hof wurden hohe Preise gezahlt. Das Privileg, die Austernfischerei betreiben zu dürfen, war äußerst begehrt und wurde nur wenigen erteilt. Ockes Onkel hatte dieses Privileg schon vor Jahren erhalten, und – da seine beiden Söhne den Tod auf See schon früh erlitten hatten – seinem Neffen die Partnerschaft angeboten, um dieses von allen begehrte Recht in der Familie halten zu können.

Wie üblich beschäftigten sich einige Männer mit ihren Booten und Fanggeräten, als Ocke den Strand betrat. Trotz seiner Jugend hatte er sich durch seine Umsicht und Geschicklichkeit, die er bei der Handhabung seines Bootes an den Tag legte, schon die Achtung der anderen Fischer erworben.

„Da im Westen braut sich was zusammen, wir sollten unsere Boote hinter den Deich bringen!“, warf er mit ruhiger Stimme ohne weitere Vorrede in die Runde.

Sein Wort zählte in diesem Kreis, aber angesichts des ruhigen Wetters und der Gedanken an die Schinderei, die schweren Boote über den Deich zu bugsieren, regte sich doch Widerstand bei den Anwesenden.

„Es ist unnatürlich warm und windstill“, gab Frerk Matzen zu bedenken.

„Ja, das Wetter wird umschlagen“, pflichtete Momme Mommsen ihm bei. „Aber in den nächsten beiden Wochen wird das noch nicht so schlimm werden. Ich werde mein Boot noch hier lassen.“

„Ich will morgen in aller Frühe raus, da brauch ich das Boot!“, warf Roluff Rörden ein.

Wie immer beteiligte sich Knudt Knudten an diesem Wortwechsel in gar keiner Weise, sondern stand nur ruhig an seinem Boot. Er hatte seinen Entschluss bereits gefasst, ging zu Ockes Boot und sagte: „Na dann!“

Gemeinsam erleichterten sie erst das Gefährt von allen beweglichen Teilen und Gerätschaften, hievten es unter Mithilfe der anderen drei auf den Transportkarren, um dann den Karren mit dem Boot auf die andere Deichseite zu bringen. Der untere, fast zwei Meter hohe, senkrechte Teil des Stackdeiches wurde mittels schräg angelegter Balken überwunden. Dann wurde der Karren auf die Deichkrone verbracht, wobei zwei Männer sich vorne ins Geschirr legten, die anderen drei den Karren schoben. Zur Seeseite hatte der Deich, nachdem das Bohlwerk des senkrechten Teiles überwunden war, eine sehr flache Neigung. Auf neun Meter stieg der Deich nur um einen Meter, und so konnten die fünf das Gefährt ohne größere Probleme nach oben bringen. Auf der Landseite hingegen fiel der Deich auf einem halben Meter um einen Meter extrem steil ab. Die Fischer hatten auf der Deichkrone eine Winde installiert, um die Boote herunterzulassen.

Dieses war der härteste und zugleich gefährlichste Teil des Unternehmens. Bei einem Höhenunterschied von rund vier Metern bestand zwangsläufig die Gefahr, dass sich das Boot selbstständig machte und aus der Vertäuung rutschte. Die oftmals geübten Handgriffe brachten die Last aber sicher an den unteren Rand des Deiches, wo das Boot auf die sich dort befindenden Böcke gehievt wurde.

Da auch Knudt sein Boot lieber vom Strand wegholen wollte, war es notwendig, die ganze Schinderei noch einmal zu wiederholen. Die anderen drei aber verharrten in ihrer Auffassung, die Boote am Strand zu belassen, und so machte sich Ocke, nachdem er auch die Bootsausrüstung über den Deich gebracht hatte, auf den Weg zurück.

Gegen Mittag, als er sein Haus erreicht hatte, stellte er mit Sorge fest, dass sich der Himmel im Westen immer dunkler färbte und der vor kurzem aufgekommene Wind an Stärke zunahm.

Die Sonne verschwand hinter den heraufziehenden Wolken, und bei stetig heftiger werdendem Wind öffnete auch der Himmel seine Schleusen und peitschte den Regen über das Land.

Gegen Abend verstärkte sich der Sturm, nunmehr aus Südwest kommend, zum Orkan. Als Ocke noch einmal um das Haus ging, um zu prüfen, ob alles gut gesichert war, konnte er sich, obwohl er mitten im Dorf war, kaum auf den Beinen halten.

Nachdem er wieder, durch die Vordertür kommend, die Diele betreten hatte, entledigte er sich des vollkommen durchnässten Umhanges und betrat die Küche. „Mach das Abendessen jetzt schon warm, der Sturm nimmt zu, und wer weiß, ob wir an diesem Abend noch Zeit dafür bekommen. Wenn es noch ärger kommt und ich zum Deich raus muss, denke daran, dass ich für den schlimmsten Fall auf dem Heuboden ein Notlager vorbereitet habe. Bleib wach und angekleidet, solange ich weg bin, und hab Acht, ob Wasser über die Türschwelle rinnt. Nimm aber kein Licht mit, du weißt, wie schnell der Sturm ein Loch in das Dach reißen kann und die Flamme in das Stroh oder das Dach weht und das eine oder andere entzünden kann. Bei der Sturmflut ist nicht nur das Wasser, sondern auch das Feuer unser Feind!“ Kerrin hängte daraufhin den schweren Eisenkessel, der bereits mit Grütze gefüllt war, an den im Rauchabzug angebrachten Haken und legte noch einige getrocknete Kuhfladen in die nur schwach glimmende Glut, damit der Brei schneller warm wurde.

Im selben Augenblick zuckte der Lichtschein eines gewaltigen Blitzes durch die trüben Fenster der Küche, und unmittelbar danach zeigte der ohrenbetäubende Krach des Donners die direkte Nähe des Gewitters an. Die junge Frau zuckte zusammen und blickte mit weit geöffneten Augen zu ihrem Ehemann. Der kleine Hay, der auf dem Boden saß, begann angstvoll zu weinen und streckte seine kleinen Arme der Mutter entgegen. Kerrin nahm ihn auf den Arm und ging mit ihm zu Ocke, um sich dort anzulehnen. Dieser umfasste seine Frau mit einem Arm und strich mit der freien Hand abwechselnd über das Haar von Mutter und Kind. „Wir haben ein gutes Haus, das wird dem Sturm schon trotzen“, sagte er mit fester Stimme, welche die beiden auch sofort beruhigte. Nur in Gedanken setzte er hinzu: „Dass bloß der Blitz nicht einschlagen möge!“ Blitz und Donner folgten nun in immer kürzeren Abständen, der Regen peitschte gegen die kleinen Scheiben, und es schien, als ob der Sturm noch weiter an Gewalt zunehmen würde.

Schnell löffelte die kleine Familie den noch nicht ganz heißen Brei auf, um dann das Feuer im Herd zu löschen. Noch heller zuckten jetzt die Blitze in der dunklen Küche, die nur durch ein spärliches Tranlicht erleuchtet war. Es reichte gerade aus, die wenigen Möbelstücke zu erkennen, die sich hier befanden. Das Getöse wurde nun noch durch Hagelkörner verstärkt, welche gegen Scheiben und Türen schlugen.

Die Eheleute saßen sich am Tisch gegenüber, Hay war auf dem Schoß der Mutter eingeschlafen, und Ocke erzählte nun, um seine Frau ein wenig abzulenken, vom Heringsfang vor Helgoland und welche Pläne er für das nächste Jahr habe.

Unvermittelt unterbrach er seine Rede, um angestrengt nach draußen zu lauschen. „Ich glaube, der Wind dreht“, sagte er, stand auf, ging in die Diele, um sich seinen Umhang zu nehmen und vor das Haus zu treten. Er hatte richtig vermutet, der Wind hatte auf Nordwest gedreht. Vor dem Gebäude konnte er sich kaum auf den Beinen halten, und so suchte er schnell wieder das schützende Innere auf.

Mit fragenden Augen sah ihn Kerrin an. „Es wird schlimm“, sagte er zu seiner Frau. „Zuerst hat der Südwest das Wasser rein gedrückt, und die Drehung nach Nordwest verhindert jetzt, dass es abfließen kann. Wir wollen nur hoffen, dass zuerst die Deiche am Festland dem Druck nicht mehr standhalten und so die unseren entlastet werden.“

Bevor Ocke weiter reden konnte, hämmerte es an der Tür. Es war Früdde Wagens, der davor stand. Früdde war für den Deich vor Oldsum verantwortlich. „Ocke, wir müssen zum Deich!“

Wortlos nahm dieser erneut seinen Umhang vom Haken, hüllte sich darin ein, zog seine schweren Seestiefel an und ging mit Früdde in Richtung des nördlichen Dorfrandes.

Es war eine tiefschwarze Nacht, der peitschende Regen nahm den beiden die letzte Sicht, schwer kämpften sie gegen Regen und Wind und erreichten den Bereich, wo das Dorf zur Marsch abfiel. Sie waren gerade am letzten Haus vorbei gekommen, als dort glucksendes Wasser ihre Füße umspülte.

Erschrocken blieben beide stehen. Früdde beugte sich nieder und versuchte, mit seinen nackten Händen, die Geschwindigkeit der Strömung zu schätzen. „Wie stark strömt es?“, brüllte Ocke gegen den Orkan in Früddes Ohr. „Nicht stark!“, war die knappe Antwort.

Das war ein gutes Zeichen, bedeutete es doch, dass der Deich noch nicht gebrochen war, sondern dass nur das Wasser über die Deichkrone schwappte. Wegen der Entfernung des Deiches vom Ort versuchten sie es gar nicht erst, noch weiter vorzudringen.

„Wir müssen die anderen warnen, damit sie es sich auf den Dachböden ihrer Häuser einrichten können. Wer noch Vieh in der Marsch hat, soll versuchen, es zu retten. Ich bleibe hier und beobachte den Pegelstand, und du gehst gleich hier vorne zu Boy Riewerts, damit der sofort alle anderen Dorfbewohner alarmiert, und kommst dann zu mir zurück!“, schrie Früdde in Richtung Ocke. Während der kurzen Zeitspanne, die dieser brauchte um zurückzukommen, hatte sich das Wasser zehn Schritt weiter vorgearbeitet und erreichte bereits die ersten Häuser des Friesendorfes.

Während die meisten der Marschrandbewohner ihre Kleintiere, das wenige Mobiliar und dann sich selbst auf den Dachböden in Sicherheit brachten, suchten die, welche an den niedrigsten Stellen ihre Anwesen hatten, Schutz in den weiter oben im Dorf gelegenen Häusern. Es waren zwar nur wenige Meter, die der Höhenunterschied ausmachte, aber diese kleine Differenz konnte den Ausschlag über Leben und Tod geben.

Ocke ging zu Boy Riewerts, dessen Haus an der tiefst gelegenen Stelle des Dorfes lag. Das Wasser stand schon kniehoch in den Räumen. Er brüllte ihm durch den unverminderten Lärm der Naturgewalten zu: „Bring deine Frau und die Kinder zu Kerrin, da können sie erst einmal im Warmen bleiben, und wenn die Flut kommt, habe ich auf dem Boden ein Notlager vorbereitet. Deine Frau soll Kerrin sagen, dass ich nicht am Deich bin und erst einmal hier am Dorfrand bleiben werde. Wenn du deine Familie abgegeben hast und zurückkommst, schaffen wir deine Sachen auf den Dachboden.“

Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Deich durch die Überspülung so aufgeweicht war, dass er zusammensackte und das Wasser der aufgewühlten Nordsee sich über das Dorf ergoss.

Noch aber stieg der Pegel zwar stetig, aber ohne die so gefürchtete reißende Strömung an. Dennoch schäumte das nur so wenig hoch stehende Wasser über der überfluteten Marsch durch die Kraft des Sturmes, als wenn es die offene See wäre.

Um die zehnte Stunde, nachdem der untere Marschrandweg schon längst überspült war, erreichten die Wassermassen auch den dazu parallel verlaufenden inneren Dorfweg.

Ocke eilte, jetzt mit dem Sturm im Rücken, zu seinem nur noch knapp hundert Meter entfernten Haus und betrat es durch den Vordereingang, wobei ihm die Wucht des Orkanes die Tür aus der Hand riss und er diese nur, indem er sich von innen mit aller Kraft dagegen stemmte, wieder schließen konnte.

Die Angst stand in den fragenden Augen der Frauen geschrieben, während Hay immer noch auf dem Schoß der Mutter schlief und die drei, schon etwas älteren Knaben von Boy Riewerts auf der Truhe saßen und neugierig auf den vollkommen durchnässten Hausherren starrten.

„Noch scheint der Deich nicht geborsten zu sein, aber wenn der Druck nicht bald nachlässt, müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen. Ihr solltet jetzt Bettzeug, warme Kleidung, Essen sowie Getränke und das Kleinvieh auf den Boden bringen. Ihr Jungs müsst den Frauen dabei helfen, ich verlasse mich auf euch! Denkt daran, kein Licht auf dem Dachboden!“

„Bleibst du nicht hier?“, versuchte Kerrin ihren Mann zum Bleiben zu bewegen. „Du kannst da draußen ja doch nichts mehr ausrichten!“ Ocke überlegte kurz, dann entgegnete er: „Es ist besser, wenn ich die Situation draußen einschätzen kann. Ich komme sofort zurück, wenn ich merke, dass die Flut unser Haus bedroht. Vorher braucht ihr auch nicht selber auf den Boden rauf, hier unten ist es immer noch wärmer als da oben!“

Kerrin wollte ihn noch überreden, doch trockene Sachen anzuziehen, aber da lachte er trotz der angespannten Lage und sagte: „Ach, mein Lieb, das hält noch nicht einmal fünf Schritte, dann ist alles wieder wie jetzt. Aber einen Becher Milch könnte ich doch vertragen.“

Während er den Becher langsam leerte, blinzelte er ihr aufmunternd zu und merkte, dass dieses kurze Lachen beiden Frauen gut getan hatte. Sie schauten jetzt merklich beruhigter drein.

Als Ocke das Haus verließ, tobte das Unwetter mit gleicher Stärke weiter wie zuvor. Nur das Gewitter schien sich abzuschwächen, was aber dazu führte, dass nicht einmal mehr für den kurzen Augenblick, in dem ein Blitz die Umgebung erhellte, die Finsternis dieser schlimmen Nacht durchbrochen wurde.

Ocke kämpfte sich wieder zu der Stelle zurück, an der er vor nicht allzu langer Zeit Früdde Wagens verlassen hatte. Dieser stand immer noch dort und rief Ocke durch den Sturm zu: „Es steht!“

Was für ein Satz! Aber noch war nicht klar, ob das Wasser nur andere Flächen auf der Insel gefunden hatte, auf denen es sich ausdehnen konnte, oder ob der Zufluss von der schäumenden See tatsächlich nachgelassen hatte.

„Bald werden wir es wissen! Wenn es jetzt noch eine Weile stehen bleibt, könnten wir davon gekommen sein!“, rief Ocke seinem Nachbarn zu.

Beide Männer starrten gebannt auf die Markierung, die sie an der Hauswand angebracht hatten, und merkten gar nicht, wie die Kälte an ihnen höher kroch. Sie waren viel gewohnt. Wie oft waren sie den ganzen Tag und auch viele Nächte beim Heringsfang vor Helgoland nicht aus ihrer nassen Kleidung heraus gekommen!

Hier ging es um das Leben! Um das Leben aller! Hier ging es, auch wenn das Leben verschont bliebe, um alles, was sie besaßen!

Das Wasser stieg nun zwar nur noch sehr langsam, aber die vom Sturm gepeitschten Wellen schlugen mit Macht gegen die der Marsch zugewandten Hausmauern. Dort, wo die Wände noch aus Lehm gefertigt waren, gaben diese als erstes nach. Sie stürzten nicht mit einem Schlag ein, sondern lösten sich Stück für Stück auf und verschwanden in den kochenden Fluten. Die Ständer, die das Dach trugen, blieben stehen, aber das Wasser hatte nun einen freien Zugang zu den ebenerdigen Räumen, um dann dort sein Zerstörungswerk fortzusetzen. Die Wogen schäumten durch die Räume, zerschlugen die Zwischenwände und rissen alles mit sich fort, was sich dort befand.

Wie bei Boy Riewerts, waren aus den meisten an der Marschkante gelegenen Häusern Frauen und Kinder in die höher liegenden Wohnhäuser geflüchtet.

Die Männer waren geblieben, um zu retten, was noch zu retten war. Einigen war es noch gelungen, Kuh, Ziege oder Schwein ebenfalls in höher gelegenen Ställen unterzubringen, aber die meisten mussten schon jetzt erkennen, dass der größte Teil ihres kleinen, aber für sie so wichtigen Tierbestandes verloren war. Vor allem für das Vieh auf den Marschweiden gab es keine Rettung mehr.

Nachdem sie noch versucht hatten, ihr bewegliches Habe auf den Heuboden zu bringen, mussten sie nun auch dieses Unterfangen aufgeben, um das eigene Leben zu retten.

Einige versammelten sich noch an der Stelle, an der Ocke und Früdde immer noch ausharrten, um den Wasserstand zu beobachten. Viele aber waren mutlos zu ihren evakuierten Familien zurückgegangen.

Um Mitternacht kam bei der kleinen Schar, die sich am selbstgefertigten Pegelstandsmesser eingefunden hatte, Hoffnung auf. In der letzten Stunde war das Wasser wiederum nur wenig gestiegen.

Die von den Altvorderen überlieferte Erfahrung, dass bei solch gewaltigen Sturmfluten die Deiche der Insel durch großflächige Überflutungen auf dem Festland Entlastung erfahren, schien sich auch diesmal zu bestätigen. Keiner verschwendete auch nur einen Gedanken an das Schicksal der dort Betroffenen. Hier ging es um das eigene Überleben. Es schien auch, als wenn der Sturm nicht mehr die Gewalt der letzten Stunden hätte.

Jetzt erst, als die größte Anspannung von den Männern abfiel, spürten sie die Kälte und Erschöpfung. Früdde teilte nun Posten ein, die Wache am Pegelstand halten sollten, um die Bewohner zu warnen, wenn ein rasches Ansteigen des Pegelstandes doch noch einen größeren Deichdurchbruch signalisieren würde. Die nicht eingeteilten Männer, so auch Ocke, strebten ihren Häusern zu.

Als Ocke in die Diele trat, kam ihm Kerrin entgegen, um ihm, der total durchnässt war, aus den schweren Kleidern zu helfen. Auch Boy Riewert kam ihm mit müdem Gesichtsausdruck entgegen. „Wir sind wohl noch einmal davongekommen, das Wasser scheint nicht mehr zu steigen!“, war alles, was Ocke den Anwesenden mitteilte.

Nachdem er sich mit trockener Kleidung versehen hatte, ging er in die Küche und ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen. Hay und die drei Knaben von Boy Riewerts waren zum Schlafen in die Stube gelegt worden. Boys Frau saß auf der Bank und weinte. Nun, da die Angst um das Leben wich, wurde ihr bewusst, was sie in dieser Nacht alles verloren hatte. Das Haus mitsamt der Einrichtung waren zerstört, ein Großteil des Viehs ertrunken. Vollkommen mittellos und ohne Obdach waren sie nun auf die Hilfe der Nachbarn angewiesen, und da auch diese viel verloren hatten, ahnte sie schon, wie hart dieser Winter für sie alle werden würde.

Es musste ja nicht nur das Haus wieder bewohnbar gemacht werden, auch an der Herrichtung der Deiche würden sie sich, wollten sie nicht auch noch das Recht auf Haus und Land verlieren, beteiligen müssen.

Kerrin hatte inzwischen einen Krug mit Branntwein und dazu gesalzenen, geräucherten Speck auf den Tisch gestellt, damit sich die Männer stärken konnten.

Speck und Branntwein gab es normalerweise nur am Sonntag und an Festtagen, aber, wie Ocke nach dem vierten Schluck bemerkte, hatte der Sonntag ja schon angefangen, denn Mitternacht war längst vorbei.

Die Anspannungen und die Strapazen der letzten Stunden führten, in Verbindung mit der Wirkung des scharfen Brandes, dazu, dass die Männer von bleierner Müdigkeit übermannt wurden. Nachdem Kerrin das Notlager für die Obdachlosen hergerichtet hatte, suchte auch sie mit ihrem Mann den Alkoven auf, wo beide sofort in einen Tiefschlaf fielen.

* * *

Mit dem ersten fahlen Licht des Morgens standen die Eheleute auf. Auch Boy Riewerts und seine Frau waren schon angekleidet. Nur die vier Kinder schliefen noch.

Nach dem Getöse der vergangenen Nacht wirkte die Stille, die jetzt vorherrschte, unwirklich. Der Sturm hatte sich vollkommen gelegt. Während Kerrin sich in die Küche begab, um im Kamin das Feuer zu entzünden und für alle das Morgenmahl zu richten, verließen Ocke und die beiden Riewerts das Haus.

Nur noch ein leichter Wind empfing sie, als sie vor die Tür traten. Während Boy mit seiner Frau eilig ihrem Haus zustrebten, umrundete Ocke als erstes sein Anwesen. Der Orkan hatte einige Schäden am Reetdach angerichtet, die aber schnell und ohne viel Aufwand zu beseitigen sein würden. Auch die Zerstörungen an der Umzäunung waren mit kleinem Aufwand zu beheben. Nun ging auch er in Richtung Marschrand.

Welch ganz anderes Bild bot sich ihm hier! Das Wasser stand noch immer bis zum Weg, der Oldsum mit Klintum und Toftum verband. Die Häuser, die zwischen diesem Weg und dem Marschrand gelegen waren, standen je nach Lage, unterschiedlich hoch im Wasser. Während die Außenwände der weiter nach oben gelegenen Häuser dem Druck der anrollenden Wogen noch standgehalten hatten, waren diese bei den Gebäuden am unteren Dorfrand in den meisten Fällen völlig herausgeschlagen.

Diese Anwesen glichen Pfahlbauten, wie sie so mit ihrem nur das Dach tragendem Ständerwerk einen ungehinderten Durchblick boten. Nur der gemauerte Kamin war ebenerdig stehen geblieben. Auch die Dächer vermittelten nach erster flüchtiger Überprüfung einen brauchbaren Eindruck.

Vom Dorfrand bis zum fast zwei Kilometer entfernten Deich erstreckte sich jetzt eine einzige Wasserwüste, unterbrochen nur von Tierkadavern, die in den Fluten trieben. Nur wenige Kühe hatten sich aus eigenem Antrieb selbst auf den hohen Teil des Dorfes gerettet.

Scharf zeichnete sich die Deichkrone gegen den hellen Streifen am Himmel ab. Die obere Deichlinie, die noch gestern ein gerader Strich war, bot nun einen schartigen, zerwühlten Anblick. Aber der Deich hatte gehalten, die Mühen der vergangenen Jahre hatten sich ausgezahlt!

Ocke schaute nun in Richtung Boy Riewerts, der in den Resten seines Hauses bis zur Brust im Wasser stand, da er gerade wieder von seinem Dachboden heruntergestiegen war und sich nun den Weg zur Dorfstraße zurückkämpfte. „Dort oben ist alles in Ordnung, das Ständerwerk hält!“, sagte er zu seiner Frau, die ihn am Flutsaum erwartete. „Wir werden es wieder herrichten!“

Ocke rief nun beiden zu: „Kommt! Kerrin wird bereits das Frühstück bereitet haben, wir sollten sie nicht warten lassen!“

Als sie die Küche betraten, waren auch die Kinder aufgestanden und hatten sich um den Tisch versammelt. Alle zusammen löffelten jetzt ihren Grießbrei, und nachdem sie den Topf geleert hatten, verkündete Boy: „Wir werden unsere Kinder zu meinem Bruder bringen, dessen Haus ist auch von der Flut verschont geblieben. Die Kinder werden dort bleiben können, bis das unsere wieder bewohnbar ist.“ Indem er sich seiner Frau zuwandte, ergänzte er: „Du wirst bei deiner Schwester wohnen müssen, und ich werde mich auf unserem Heuboden einquartieren.“

Nachdem die drei nun wieder alleine waren, verkündete Kerrin mit leiser, aber fester Stimme: „Wir sollten in den Gottesdienst gehen und dem Herrn danken, dass er seine schützende Hand über uns gehalten hat!“ Ocke, der sonst gerne den Kirchgang zu umgehen suchte, erkannte an der Betonung des Wortes w i r, dass sie auf seine Begleitung zu diesem Kirchgang besonderen Wert legte.

Also warf auch er seinen guten Umhang über, und beide machten sich, nachdem sie Hay bei der alten Elke abgegeben hatten, auf den Weg zur Süderender Kirche. Elke konnte den langen Weg zum Gotteshaus nicht mehr gehen, und sie achtete gerne auf den kleinen Hay, wenn seine Eltern unterwegs waren.

Der Gang zur Kirche war beschwerlicher als sonst. Die Niederschläge der vergangenen Nacht hatten den Weg stark mitgenommen, aber die meisten Gebäude in Süderende waren ebenfalls von der Flut verschont geblieben. Nur die Dächer waren durch den Sturm in Mitleidenschaft gezogen worden, und der Orkan hatte bei einigen Häusern teilweise die schützende Reeteindeckung weggerissen.

Als sie die Kirche erreicht hatten, wurden sie von Pastor Ricardus Petri in dem breiten Zwischengang, der den Nord- mit dem Südeingang verband, empfangen.

„Gottes Segen mit euch!“ begrüßte er sie, um gleich die Fragen anzuschließen: „Wie geht es euch, wie habt ihr die Nacht überstanden, sind im Dorf Menschen zu Schaden gekommen?“ „Uns geht es gut, die Fluten sind ganz kurz vor unserem Hause zum Stehen gekommen. Aber dem, der seine Bleibe am Marschrand hatte, wurde in dieser Nacht übel mitgespielt. Die meisten, die dort lebten, konnten nichts als ihre Haut retten. Aber keiner scheint das Leben verloren zu haben!“, beantwortete Ocke die Fragen des Pastors. „So scheint es in allen Dörfern unseres Kirchspieles gewesen zu sein! Ich stand heute, gleich am frühen Morgen, auf dem Turm und konnte die Überflutungen vor Utersum und Hedehusum sehen. Auch dort hat die Flut die an der Marsch stehenden Häuser teilweise zerstört. Einige der aus Hedehusum Geflüchteten haben in der Nacht Schutz in unserer Kirche gesucht. Wie es im Ostteil der Insel steht, ist mir noch nicht bekannt!“, gab der Pastor zu wissen.

Die Glocken der St. Laurentiikirche läuteten den Gottesdienst ein. Sie läuteten heute sehr lange, denn immer noch kamen Menschen aus den umliegenden Dörfern, um dem Herrn für die Errettung zu danken.

Die Kirche lag auf freiem Feld, nahezu gleich weit entfernt von den zum Kirchspiel gehörenden Dörfern Utersum, Hedehusum, Dunsum und Oldsum mit Klintum, Toftum und Süderende.

Ricardus Petri hatte bereits mit dreiundzwanzig Jahren die Stelle als Pastor übernommen. Er war auf Dagebüll geboren und kannte sich mit den Gewohnheiten und Gebräuchen der Nordfriesen aus.

Jetzt, bereits vierzehn Jahre im Amt, hatte er es in der Gemeinde zu hohem Ansehen gebracht. Er war nicht nur ein guter Hirte für seine Gemeinde, geschickt und unermüdlich, wenn es um die Bearbeitung des ihm zur Verfügung stehenden Kirchenlandes ging. Zusätzlich unterwies er die jungen Männer in der Navigationswissenschaft.

Er begann den Gottesdienst mit den Worten:

„Heute, am Tage Burchardi, Sonntag, dem 12. Oktober im Jahre 1634 nach der Geburt Jesu Christi, haben wir uns im Haus des Herren versammelt, um ihn zu preisen und für die Errettung aus der Not zu danken.“

Wohl wissend, dass viele der Anwesenden zwar ihr Leben behalten, aber ihre Existenzgrundlage verloren hatten, versuchte er im Besonderen auch diese zu trösten und rief seine Gemeinde auf, denen zu helfen, die alles verloren hatten.

Viele Frauen weinten in diesem Gottesdienst, und doch war das „Vater unser, der Du bist im Himmel“ selten lauter gesprochen worden als an diesem Sonntag, und nachdem der Pastor den Segen erteilt hatte und am Ausgang jedem die Hand und ein gutes Wort gab, kam in die zuvor bekümmerten Gesichter die Hoffnung zurück.

Wie oft schon hatten ihre Vorfahren Ähnliches über sich ergehen lassen müssen! Der ewige Kampf mit der fordernden, aber sie auch ernährenden See gehörte zum Leben der Uthländer.

Nach dem Mittagessen begab sich Ocke wieder in Richtung Marsch. Dort hatten einige Männer einen kleinen Nachen bis zur überfluteten Dorfstraße gebracht, und nun wollte Früdde Wagens den Deich inspizieren und auch die Sielschleuse überprüfen, um diese, soweit sie noch funktionsfähig war, bei Niedrigwasser zu öffnen, damit das Wasser aus der Marsch abfließen konnte. Ocke, Knudt, Momme und Roluff schlossen sich an, da sie sehen wollten, was aus ihren Booten geworden war. Mit langen Stangen stakten sie in Richtung Deich. Vorbei an treibenden Tierkadavern, stießen sie auf halber Strecke auf ein vollgelaufenes Boot, das auf der Seite lag und sich nach kurzer Inspektion als das von Knudt erwies. Wenn auch vieles zerschlagen war, würde es aber doch wieder auszubessern sein. Nicht weit entfernt fanden sie auch Ockes Boot, das sich in einem ähnlichen Zustand befand. Wenn das Wasser erst abgelaufen war, würde er sich darum kümmern. Beim Anblick seines Bootes dachte er mit Schrecken an das Schiff, welches er gemeinsam mit seinem Onkel besaß und das in der Bucht an der Ostseite der Insel lag, gleich hinter Boldixum.

Mittlerweile hatten sie den Deich erreicht. Als sie sich auf der Deichkrone befanden, wurde es für Momme und Roluff zur traurigen Gewissheit: Keine Spur war von ihren Booten zu finden. Die wahllos herumliegenden Bohlen stammten zumeist aus dem in den Boden gerammten senkrechten, hölzernen Teil des Deiches. An vielen Stellen war diese einer Spundwand ähnlichen Konstruktion zerschlagen und aus dem Erdreich gerissen. Vor allem in diesen Bereichen und auch dort, wo die Grasnarbe der Abdeckung zerstört worden war, waren zudem auch die Erde und die Füllmasse des Deiches weggespült. Vor allem hier musste so schnell wie möglich mit der Reparatur begonnen werden, denn eine weitere Sturmflut würde der Deich nicht aushalten. Aber zuerst musste das Wasser aus der Marsch abgelaufen sein, denn vorher war an diese an sich schon mühselige Arbeit nicht zu denken. Man konnte weder genügend Erde noch das dafür notwendige Holz mit den kleinen Nachen heranschaffen.

So begaben sich die Männer zum Siel, um dessen Zustand zu prüfen. Das Tor hatte gehalten, vielleicht weil schon sehr früh von der See viel Sand und Geröll in den trichterförmigen Einschnitt des Sieles geworfen worden war. Diese Massen mussten jetzt beseitigt werden, da erst dann das Tor geöffnet werden konnte.