Inhalt



Stefan Burban

Das Vermächtnis des Königs

 

Atlantis



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
Juni 2015

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin


Titelbild: Mark Freier
Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski


ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-201-2
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-257-9

Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich.

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Prolog – Tod einer Stadt

Die Schlacht war verloren.

Neiron Dragor, von Ariadnes Gnaden König von Hasterian, sah aus dem Fenster seines Thronsaals auf das, was von seiner geliebten Hauptstadt noch übrig war. Tränen der Trauer und Wut liefen über seine Wangen.

Ein gewaltiges Flammenmeer verzehrte die Stadt. Dichter, beißender Qualm lag über allen Straßen wie ein gewaltiges Leichentuch. Die einfallenden Goblinhorden hatten sich nicht damit begnügt, plündernd und mordend über die Bevölkerung herzufallen. Nein, Sie brandschatzten seine Stadt auch noch. Ihr Triumph war vollkommen. Die Stadt war nun nicht mehr als ein riesiges Freudenfeuer zur Feier ihres Sieges.

Tansara war gefallen.

»Wie haben Sie das nur geschafft?«, fragte er niemand Bestimmten.

»Sire?«, erwiderte der Mann hinter ihm irritiert, in der Annahme, sein König rede mit ihm.

»Die Goblins. Wenn sie etwas mehr hassen als Menschen, dann sind es ihre eigenen Artgenossen. Die meiste Zeit schlachten sie sich lieber gegenseitig ab als uns. Wie ist es ihnen nur gelungen, ihre Streitigkeiten lange genug beiseitezuschieben, um so einen Angriff zu starten?«

Barras, Hauptmann der Palastwache und seit langer Zeit ein enger Freund und Vertrauter des Königs, zuckte aus Ratlosigkeit lediglich die Achseln, ehe er antwortete: »Spielt das überhaupt eine Rolle? Sie sind hier. Nur das zählt.« Barras’ Pragmatismus war meistens tröstend und hilfreich. Diesmal war er keines von beiden.

»Für mich spielt es eine Rolle«, beharrte der König. »Wie haben sie das geschafft?« Er deutete anklagend aus dem Fenster.

Vor hilfloser Wut verkrampften sich seine Finger in den Fenstersims, so fest, dass kleine Blutstropfen unter den Fingernägeln hervortraten.

»Vielleicht werden wir das nie erfahren«, antwortete sein oberster Leibwächter bedrückt. »Wir erhalten nicht viele Informationen aus der Stadt. Bei den wenigen Nachrichten handelt es sich überwiegend um Hiobsbotschaften. Die Mauern befinden sich fest in der Hand der Goblins, ebenso die Kasernen.« Barras senkte beschämt das Haupt. »Ich befürchte, unsere Männer und Mauern sind gefallen. Das Schicksal der Stadt liegt nicht länger in unseren Händen, Sire.« Ein harter Unterton trat in Barras’ Stimme. »Unsere Truppen hatten keine Chance.«

»Nein, die hatten sie wohl nicht. Und jetzt stehen wir am Rand der Niederlage.«

Eine einzelne Flammenzunge erhob sich gut sichtbar über die restlichen Flammen – wie ein Leuchtturm, der sich über einer stürmischen See erhob.

Die Goblins hatten das größte Gebäude von Tansara, den Ariadne-Tempel im Zentrum der Stadt, angezündet. Dieser Anblick würde die wenigen Verteidiger, die der Hauptstadt noch geblieben waren, zusätzlich demoralisieren.

Es wurde nun überall gekämpft. Sie kämpften in den Straßen, auf den Plätzen, in den Häusern. Das Volk stemmte sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen den drohenden Untergang. Und trotzdem war es hoffnungslos. Die Stadt war verloren.

Sein Herz verkrampfte sich vor Trauer und er krallte seine blutverschmierte Hand an die Brust, als könne er den Schmerz damit auslöschen. Es schien für einen Moment, als versuche der König, sich sein schmerzendes Herz aus dem eigenen Körper zu reißen. Seine Pflicht als König war es, seine Untertanen zu beschützen und für ihr Wohlergehen zu sorgen. Er hatte schmählich versagt. Wie um die Bemühungen der Verteidiger zu verspotten, flatterte hoch über der Stadt immer noch stolz und ungebrochen die Flagge mit dem geflügelten, sich windenden Lindwurm. Das Drachenbanner der Dragors.

Neiron warf einen schnellen Blick in Richtung des Nachbarhügels. Die Klosterfestung Caralyn überragte die brennende Stadt und stellte einen ruhenden Pol inmitten des Chaos dar. Die Tore standen weit offen und hießen alle Flüchtlinge, die es den Berg hinaufschafften, willkommen. Damit endete die Hilfe des Erzbischofs und seiner Ordensritter jedoch auch schon. Der Beschluss des Klerus, sich aus dem Kampf herauszuhalten, war enttäuschend. Sie beschränkten die Verteidigungsbemühungen auf ihre eigenen Interessen – die Klosterfestung und ihr direktes Umland.

Die Goblins waren klug genug, sich von diesem Hügel fernzuhalten und die Ritter des Ordens nicht zum Kampf zu provozieren. Diese schwer gerüsteten Kämpfer hätten mit den kleinen, grünhäutigen Kreaturen kurzen Prozess gemacht.

Neiron hätte sich besser gefühlt, wenn er auf die Priester und ihre Ritter hätte wütend werden können, doch nicht einmal dazu brachte er die Kraft auf. Zu ausgelaugt fühlte er sich. Das Gemetzel, das sein Volk erleiden musste, tötete jedes Gefühl in ihm. Außerdem bezweifelte er, dass es einen Unterschied gemacht hätte, wenn die Ordensritter an ihrer Seite in den Kampf gezogen wären. Der Feind war zu zahlreich, zu entschlossen, zu zielstrebig.

Zu intelligent, schoss es dem König durch den Kopf. Allesamt Dinge, für die die Goblins nicht gerade bekannt sind.

Das Einzige, was die Goblins davon abhielt, den Palast zu stürmen, waren die wenigen Soldaten der Palastwache, im Ganzen vielleicht zweihundert Mann an der Zahl. Auf den Zinnen standen einige Dutzend Bogenschützen, die jede Grünhaut, die es wagte, sich zu weit zu nähern, mit Pfeilen spickten. Ein ansehnlicher Berg grünhäutiger Leichen am Fuß des Hügels bewies ihr Können und ihre Entschlossenheit. Sie würden den Palast mit ihrem Leben verteidigen.

Aber wie lange würde das noch ausreichen? Bisher beschränkte die Abwehr seiner Soldaten sich nur auf versprengte, plündernde Gruppen, die von der Hauptstreitmacht getrennt worden waren. Sobald dieses gewaltige Heer jedoch mit der Stadt fertig war, würde es sich dem Palast zuwenden, ihm, seiner Familie.

Er spielte geistesabwesend mit der Sonnenkrone, die er in Händen hielt, dem Zeichen der Königswürde von Hasterian.

Oh, Ariadne, Lichtgöttin, wie rette ich nur meine Familie? Bitte hilf mir!

Doch statt Antworten erhielt er nur Stille. Ariadne antwortete nicht. Das tat sie selten dieser Tage.

An der Tür, unbeweglich wie Statuen, hielten geduldig zwei Ritter des Königs stille Wacht. Ihre Visiere waren geschlossen. Die linke Hand jedes Ritters ruhte auf dem in der Scheide steckenden Schwert. Die Rüstungen, die sie trugen, waren blank poliert. Ihre makellose Erscheinung stand in krassem Gegensatz zum Schlachten, das sich in der Stadt abspielte.

Am liebsten hätte er sie auf der Stelle fortgeschickt, damit sie seinem Volk helfen konnten, so gut sie es vermochten. Die beiden Ritter hätten, ohne mit der Wimper zu zucken, seinem Wunsch entsprochen. Sie wären gegangen im Wissen, dass es ihr sicherer Tod gewesen wäre. Doch zwei Ritter, so gut sie auch waren, hätten gegen diese Horde Goblins auch nichts ausrichten können.

Barras stand immer noch geduldig hinter ihm. Das tiefschwarze Haar kurz geschnitten und kein Gramm Fett am hünenhaften Leib, war er das Musterbeispiel eines Soldaten. Sein Körper wirkte so gespannt wie eine Sprungfeder.

Der treue alte Kämpfer wartete nur auf einen Befehl, der ihn anwies, seinen König in Sicherheit zu bringen. Dieser Befehl würde aber nicht kommen. Das wussten sie beide. Neiron war kein Feigling und er weigerte sich, sein Heil in der Flucht zu suchen, während seine Stadt einen langsamen, qualvollen Tod starb.

Barras hatte ihn in den letzten Stunden regelrecht angefleht, sich nach Caralyn zu begeben, jedoch vergebens. Der König hielt stur die Stellung.

»Gibt es Nachricht von meinem Bruder?«, fragte Neiron, obwohl er die Antwort bereits kannte. »Oder sind einige der Kuriere zurückgekehrt?«

»Nein, Sire. Nichts.«

»Nichts«, wiederholte der König nachdenklich. Inzwischen hätten bereits einige seiner Herolde und Kuriere zurückkommen müssen, um das Eintreffen der Verstärkung anzukündigen. Das verhieß nichts Gutes.

Barras räusperte sich diskret. Die Geste rang dem König selbst in dieser Situation ein leichtes Lächeln ab.

»Sprich dich ruhig aus, Barras. Du hast etwas auf dem Herzen?«

»Mit Verlaub, Mylord – ja. Ich beschwöre Euch. Ihr müsst Euch in Sicherheit bringen. Solange noch Zeit ist. Die Goblins marschieren auf den Palast zu und die Palastwache wird sie nicht aufhalten können. Außerdem sind so gut wie keine Ritter in der Stadt.« Er streifte die beiden Gestalten an der Tür mit einem kurzen Blick. »Es gibt nichts mehr, was wir tun können.«

»Selbst wenn mehr von ihnen hier wären, so bezweifle ich, dass sie mehr tun könnten, als das Unabänderliche hinauszögern. Gänzlich verhindern, könnten sie es aber wohl nicht«, erwiderte Neiron mit sorgsam beherrschter Stimme, aus der Barras jedoch die Verbitterung seines Monarchen heraushörte.

»Ein Grund mehr, dass Ihr flieht«, setzte Barras sofort nach. »Denkt doch wenigstens an Eure Familie.«

Der Schuss traf. Neiron verschränkte in einer nachdenklichen Geste seine Arme vor der Brust. Einen Augenblick erwog er tatsächlich, Barras’ Drängen nachzugeben. Er wollte gerade etwas sagen, als sein Blick auf einen Strom Menschen fiel, die sich mühsam den Nachbarhügel hinaufschleppten, auf die Sicherheit der dortigen Klosterfestung zu.

Einige Goblin-Trupps witterten leichte Beute und setzten den Flüchtlingen nach. Der König hörte, wie Frauen und Kinder innerhalb der Gruppe vor Entsetzen aufschrien. Der König stürzte vor und stützte sich mit beiden Händen auf den Fenstersims, als könnte er dadurch die sich anbahnende Tragödie verhindern.

Da preschte eine Gruppe Reiter heran. Es waren etwa dreißig. Neiron meinte die gold-blauen Uniformen der königlichen Lanzenreiter zu erkennen. Der Anführer der Gruppe erkannte die Gefahr für die Flüchtlinge ebenfalls und gab ein kurzes Handzeichen, woraufhin die Reiter hinter ihm ihre Pferde anspornten. Innerhalb weniger Sekunden formierten sie sich zu einem lockeren Keil und ritten mit angelegten Lanzen auf die Goblins zu.

Was nun folgte, war kaum als Kampf zu bezeichnen. Die Lanzer ritten die eine Hälfte der Goblins glatt nieder – zertrampelten die grünhäutige Brut unter den Hufen ihrer Schlachtrösser. Die andere Hälfte endete blutüberströmt auf den Spitzen der Lanzen. Während die Reiter die Goblins in die Flucht schlugen, schafften es die Flüchtlinge, das rettende Kloster zu erreichen.

Neiron winkte Barras näher heran und deutete auf die Szene unter ihnen und fragte interessiert seinen Hauptmann: »Kennst du diesen Mann dort unten?« Er wies mit seiner Hand auf den Anführer der Lanzenreiter.

Der Angesprochene spähte mit Argusaugen in das Schlachtgetümmel und versuchte, Einzelheiten des Reitertrupps auszumachen, der gerade wieder dabei war, sich neu zu formieren. In der Ferne konnte er schwach die Farben des Regiments ausmachen, zu dem die Reiter gehörten.

»Das sieht aus, als wären es Galeds Lanzenreiter.« Er hielt inne, als ihm bewusst wurde, dass sein König mit der vertraulichen Anrede des jungen Offiziers nichts würde anfangen können.

»Leutnant Galed Aderias, Sire«, verbesserte er sich schnell. »Ein hervorragender Offizier bei den Lanzenreitern.« Er lachte kurz auf. Und es schwang tiefe Hochachtung darin mit, für Barras’ Verhältnisse ein echtes Kompliment. »Es wundert mich nicht wirklich, dass er zu jenen gehört, die das Massaker in den Kasernen überlebt haben. Er hatte schon immer ein Talent zum … Überleben.«

Neiron antwortete nicht. Seine Gedanken überschlugen sich. Die Stadt war noch nicht gefallen. Das Beispiel dieser Lanzenreiter bewies, dass sie immer noch verbissen verteidigt wurde. Was wäre er für ein König, wenn er floh, während wackere Soldaten kämpften und starben? In diesem Augenblick traf er seine Entscheidung. Sein Volk brauchte ihn. Es brauchte ihn mehr denn je. Neue Kraft durchströmte seine Glieder. Er fühlte sich plötzlich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Die Stadt war noch nicht gefallen – und sie würde nicht fallen, nicht, solange er noch ein Wörtchen mitzureden hatte.

»Barras, ich muss dich um einen großen Gefallen bitten. Aber ich sage dir gleich, es dürfte dir nicht gefallen.«

»Ich tue alles, was Ihr verlangt, Mylord«, antwortete der Hauptmann, ohne zu zögern.

»Meine Frau und mein Sohn sind mir das Wichtigste auf der Welt. Nimm dir so viele deiner vertrauenswürdigsten Männer, wie du brauchst, und bringt sie hinauf in die Klosterfestung. Dort werden Sie in Sicherheit sein. Ich würde sie niemandem sonst anvertrauen.«

»Natürlich werde ich Euren Wunsch erfüllen«, erwiderte Barras beunruhigt. »Aber bei allem Respekt, Eure Majestät, wo werdet Ihr sein?«

Neiron straffte seine Schultern. Er war nie ein besonders großer Mann gewesen. Mit seinen eins fünfundsiebzig überragte ihn selbst der kleinste Soldat der Wache noch um Haupteslänge. In diesem Augenblick wirkte aber selbst der hühnenhafte Barras wie ein Zwerg neben ihm. Die beeindruckende Präsenz des Königs füllte den ganzen Raum. Neiron fuhr sich mit der Hand durch das dunkelbraune Haar, das an den Rändern bereits graue Strähnen zeigte, und richtete seinen strengen Blick auf die brennende Stadt.

»Dort, wo ich hingehöre.«