Inhalt



Stefan Burban

Im Zeichen der Templer

 

Atlantis



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
Oktober 2016

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin


Titelbild: Mark Freier
Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski


ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-412-2
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-446-7

Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich.

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Prolog

Wie lange Christian d’Orléans im Wüstensand lag, vermochte der Ordensritter nicht zu sagen. Er dämmerte dahin in einem Zustand zwischen Leben und Tod.

Der Gestank nach Blut und Tod war überwältigend. Zehntausende Leichen bedeckten das Schlachtfeld und beim überwiegenden Teil handelte es sich um die Kadaver christlicher Soldaten. In der Ferne zeichnete sich eine Hügelkette ab, die wie zwei spitze, in die Höhe ragenden Hörner wirkte. Das Aussehen hatte dieser ihren Namen eingebracht: die Hörner Hattins. In einem seiner wenigen klaren Momente dachte Christian darüber nach, wie es nur so weit hatte kommen können. Er bezweifelte, dass die Hörner Hattins jemals so viel Blut gesehen hatten.

Jeder Atemzug, jede Bewegung seiner Muskeln schmerzte. Es schmerzte so sehr, dass er sich nach dem Tod sehnte. Doch dieser wollte sich nicht einstellen. Die Disziplin, mit der er aufgewachsen war und die ihm die Aufnahme bei der Armen Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem eingebracht hatte, hielt ihn am Leben, zwang ihn durchzuhalten.

Auch wenn ihm im Moment kein Grund einfiel, aus dem er durchhalten sollte.

Mit dieser furchtbaren Niederlage war das Königreich Jerusalem am Ende. Die besten Ritter und stärksten Truppen waren unter Saladins Angriff zerschlagen worden, der militärische Arm des Königreichs zerbrochen unter dem Stiefelabsatz seines entschlossenen Feindes. Christian konnte sich kaum bewegen, doch was seine Augen erfassten, waren blutüberströmte Leiber von Johanniter- und Tempelrittern, von Schwertern und Pfeilen der Sarazenen gefällt. Wie hatte das alles nur geschehen können?

Das Letzte, woran sich Christian erinnern konnte, waren die Soldaten Saladins, wie sie die Leibwache des Bischofs von Bethlehem abschlachteten und im Triumph das Wahre Kreuz Christi davontrugen, während sie Leichen aufrechter Ritter schändeten, indem sie ihnen Kopf und Gliedmaßen abschlugen.

Christian streifte seinen Helm ab und legte ihn mit zitternden Fingern neben sich auf den blutgetränkten Boden. Ja, er sehnte sich nach dem Tod. Sowohl der Großmeister seines Ordens als auch der Großmarschall waren gefallen, der König entweder tot oder in Feindeshand. Christian bezweifelte, dass dem Narren die Flucht gelungen war. Mitleid mit dem Monarchen von Jerusalem wollte nicht so recht aufkommen. Dieser Trottel hatte sie doch erst in diese Katastrophe geführt.

Wo klügere Köpfe dafür gestimmt hatten, sich in Jerusalem zu verschanzen und auf Saladins Ansturm zu warten, da hatte der Dummkopf den Ruhm der Schlacht gesucht und war Saladin entgegengezogen – in die Wüste, direkt in dessen zuschnappende Falle. Der Sultan der Sarazenen hatte nur warten müssen und Saladin hatte bereits in der Vergangenheit gezeigt, wie viel Geduld er aufbringen konnte.

Der Mond stand hoch am Himmel. Christian ließ seinen Blick über das Sternenmeer über ihm schweifen. Er fragte sich, wie lange der Tod wohl noch auf sich warten lassen würde. Erst jetzt wurde er sich der Geräusche, die ihn umgaben, bewusst: das Kreischen von Aasgeiern, die sich über seine Kameraden hermachten, ihre ekelhaften Fresslaute, doch auch das Stöhnen von Verwundeten. Er war nicht der einzige Überlebende.

Was würden die Sarazenen wohl mit ihnen machen? Sie dem Tod überantworten, indem sie sie einfach der Gluthitze der Wüste und den Aasfressern überließen? Oder würden sie vorher über das Schlachtfeld wandern und ihnen mit einem Stich ins Herz ein schnelles Ende bereiten? Es wäre auf jeden Fall gnädiger. Doch insgeheim bezweifelte er, dass sie sich damit aufhalten würden. Nicht, da der Sieg zum Greifen nahe war. Sie mussten nur noch zugreifen.

Seine Hand verkrampfte sich um das Heft der zerbrochenen Klinge, das immer noch in seiner Hand ruhte. Die Klinge des Schwerts, das er bei Abgabe seines Eids aus den Händen seines Großmeisters empfangen hatte, war schartig vom vielen Gebrauch – und der Großteil davon steckte im Leib eines gegnerischen Soldaten, der ihn aus dem Sattel hatte ziehen wollen. Was übrig war, würde sich jedoch noch eignen, um einem Sarazenen die Kehle durchzuschneiden. Er hoffte, einer würde so dumm sein, in seine Reichweite zu geraten.

Er versuchte, sich leicht zu bewegen. Wellen der Qual durchzuckten seinen Körper. Seine freie Hand tastete nach unten. Ein Pfeil steckte in seiner Seite, hatte zielsicher die kleine Öffnung zwischen Brust- und Rückenpanzer gefunden. Er fluchte. Die Wunde schmerzte wie die Hölle.

Ein Schrei durchdrang die Nacht, gefolgt von Gurgeln … dann Stille. Kurz darauf vernahm Christian ein geflüstertes Gebet – ein Vaterunser. Die Stimme des Betreffenden war voller Angst. Ein weiterer Schrei, der schnell erstickt wurde.

Christian drehte den Kopf.

Es gelang ihm nicht völlig.

Ein Knappe lag dort am Boden. Der Kleidung des Jungen nach zu urteilen, hatte er einem der freien Ritter gedient und nicht einem der Orden angehört.

Eine Gestalt beugte sich über den Knappen. Christian vermochte nicht zu sehen, was der Kerl da machte, doch der Leib des Jungen zitterte wie im Fieberwahn.

»Verfluchter Dreckskerl«, presste Christian zwischen zusammengebissenen Kiefern hervor, »lass den Jungen zufrieden! Warum legst du dich nicht mit jemandem an, der sich zu wehren weiß?«

Die Gestalt ließ sich nicht stören – was immer sie da auch tat. Der Körper des Knappen erschlaffte mit einem Mal und die Gestalt richtete sich zu beachtlicher Größe auf und drehte sich um. Sie musterte den am Boden liegenden Christian mitleidlos und lachte schließlich bellend auf.

»Damit kannst du unmöglich dich meinen, mein Freund. Du bist mehr tot als lebendig.«

Christian hob den Kopf, um besser sehen zu können, doch das Gesicht seines Gegenübers blieb im Schatten verborgen. »Für dich bin ich immer noch lebendig genug, Abschaum«, stieß er hervor. Dass seine Worte eher trotzig wirkten denn wirklich mutig, war ihm durchaus bewusst, doch im Augenblick war ihm das einerlei. Entweder der Fremde tötete ihn oder er tötete den Fremden. Wie dem auch sei, beide Ergebnisse waren ihm recht.

Die Gestalt trat einen Schritt näher. Mondlicht streifte dessen Gesicht. Nur für einen Augenblick, doch das reichte, um Christian das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.

Das Antlitz des Fremden war aschfahl. Gelbe, tief in den Höhlen liegende Augen, musterten ihn boshaft. Doch das Erschreckendste war der Mund seines Gegenübers: ohne erkennbare Lippen, doch mit Eckzähnen so scharf und spitz wie die Hauer eines wilden Tieres. Blut sickerte aus beiden Mundwinkeln des Mannes, aber Christian war sich sicher, es war nicht das Blut des Fremden. Woher er diese Gewissheit nahm, wusste er nicht zu sagen, nur dass es so war.

»Bei der Güte Gottes!«, hauchte der Ordensritter erschüttert.

Die Bemerkung löste heftiges Kichern bei der Gestalt aus. »Dein Gott hat diese Gefilde längst verlassen. Nur wir sind hier.«

Das Wort wir veranlasste Christian, sich erneut umzusehen. Erst jetzt bemerkte er die zahlreichen Gestalten, die sich zwischen den Leichenbergen bewegten und zielstrebig auf die abgehackten Bewegungen der Verwundeten zuhielten. Wie Haie, die sich auf verletzte Fische stürzten, beugten sie sich über die armen Teufel und taten etwas mit ihnen. Panische Schreie verstummten abrupt. Christian vermochte immer noch nicht zu sagen, was sie machten, doch es konnte unmöglich etwas Gutes sein. Diese Wesen waren wider die Natur. Sie waren etwas anderes – etwas Abscheuliches.

»Gefällt dir, was du siehst?« Die Gestalt breitete die Hand aus und deutete auf das Schlachtfeld. »Heute ist ein Festtag für meine Gefährten. Es ist schon lange her, dass sie sich so satt essen konnten.«

»Satt essen?« Christian würgte. »Bei der Liebe Gottes!«

»Du hörst nicht zu, Ritter. Dein Gott ist schon lange weg.«

Die Gestalt kam drohend näher. Sie ragte über Christian auf wie eine Sagengestalt aus längst vergangener Zeit. Doch dies hier war real. Diese Gestalt war wirklich. Christian sah den Hunger in den gelben Augen, die ihn mitleidlos musterten, spürte die Gier hinter der sorgsam beherrschten Miene.

Die Gestalt ließ sich neben ihm auf ein Knie nieder. Ungerührt betrachtete sie das Emblem der Templer, das stolz Christians Wappenrock und Schild zierte. Selbst in dem diffusen Mondlicht erkannte der Ritter die Verachtung auf dem Antlitz seines Gegenübers.

»Sieh dich an, Templer«, fuhr der Fremde fort. »Was hat dir der Dienst an deinem Gott gebracht?« Plötzlich griff der Fremde nach dem Pfeilschaft in Christians Seite und begann, diesen zu drehen. Christian schrie vor Schmerz auf. Er wollte nicht schreien, wollte dieser Kreatur nicht die Genugtuung geben, seinen Schmerz zu genießen. Doch die Agonie, die seinen Körper durchfuhr, ließ sich nicht in Worte fassen. Der Tod war nahe. Er spürte es.

Nach einer endlos scheinenden Zeit ließ der Mann den Pfeilschaft los. Christian japste erschöpft nach Atem. Sein Gegenüber lächelte boshaft. In der Tat schienen Bösartigkeit und Verachtung die einzigen Gefühlsregungen zu sein, derer der Mann mächtig schien.

»Ich mache dir ein Geschenk, Ritter«, hauchte die Kreatur leise. Sie packte Christian am Kragen seiner Rüstung und hob seinen Kopf vom Boden. »Deine Welt wird untergehen, Mensch. Alles, was du liebst, alles, wofür du gelebt hast, alles, wofür du gekämpft hast, wird untergehen. Und das schon sehr bald. Mein Herr kommt. Er kommt, um eure Welt zu vernichten. Ist es da nicht gnädiger, den Tod zu finden.«

»Sa… Saladin.«

Die Gestalt kicherte. »Nein, mein Freund. Den meine ich nicht. Mein Herr ist jemand ganz anderer.«

Christian holte mit seiner Faust aus und versuchte, seinem Angreifer ins Gesicht zu schlagen. Trotz des Blutverlusts und seiner schwindenden Kräfte war der Schlag überraschend schnell ausgeführt. Doch die Gestalt hob lediglich eine Hand – so blitzartig, dass Christian kaum fähig war, ihr mit den Augen zu folgen – und fing den Schlag ab. Die Kreatur schüttelte den Kopf.

»Ihr Templer. Störrisch und unbeugsam bis zum Schluss. Doch das wird euch nichts nutzen.«

»Wer bist du?«, fragte Christian mit weit aufgerissenen Augen. »Was bist du?«

Die Kreatur kicherte lediglich. Mit einem Kreischen bog sie Christians Kopf zur Seite und entblößte seinen Hals. Der Kopf des Angreifers zuckte vor und rassiermesserscharfe Zähne bohrten sich in sein Fleisch. Warmes Blut floss seinen Hals hinab. Er spürte, wie die Kreatur das Leben aus ihm saugte. Sein Körper bäumte sich auf vor Schmerz. Seine Glieder wurden mit jeder Sekunde merklich schwächer. Er zappelte beinahe unkontrolliert im Griff seines Angreifers. Der Pfeilschaft brach ab, doch inmitten seiner Qualen bemerkte er diesen Schmerz kaum.

In diesem Augenblick wurde ihm klar, seine Hand umfasste immer noch das Heft seines Schwertes. Noch war er nicht tot. Er war ein Ritter des Templerordens, hatte geschworen, die heilige Kirche und die Christenheit zu verteidigen. Er wusste nicht, was diese Kreatur für ein Wesen war. Er wusste nur, sie war keines von Gottes Geschöpfen.

Mit letzter Kraft holte er aus und hieb die Klinge in den Nacken seines Gegners. Dieser schrie gleichermaßen vor Schmerz und Überraschung auf und ließ endlich von ihm ab. Blut, dunkler als das gewöhnlicher Menschen, lief dem Mann über Nacken und Schultern. Er starrte Christian aus kleinen, gelben Augen hasserfüllt an.

Christian zögerte nicht, stieß dem Mann das Schwert tief in den Hals, bevor dieser imstande war, seinen Schrecken zu überwinden.

Blut spritzte in hellen Fontänen aus der geöffneten Halsschlagader der Kreatur und benetzte Christians Rüstung und Gesicht. Christian würgte, als ihm Blut über die Lippen und in den Rachen lief. Ungewollte schmeckte er daran. Er hatte zuvor schon Blut geschmeckt, zumeist sein eigenes. Normalerweise schmeckte es metallisch, als ob man an einer Münze leckte. Dieses hier war anders: schal, bar jedes Lebens. Noch während er dies empfand, spürte er, dass etwas geschah. Das Blut veränderte ihn auf eine Weise, die er nicht zu deuten vermochte.

Die Kreatur schrie herzzerreißend auf und versuchte, mit den Händen den Blutstrom zu stoppen, der aus ihrem Hals lief. Christian schlug erneut zu und trennte mit letzter Kraft den Kopf des Wesens von dessen Rumpf.

Jegliche Schreie brachen ab und der Torso kippte zur Seite. Bevor er jedoch den Boden berührte, lösten sich Kopf und Rumpf in feine Partikel auf, die sein Gesicht und seine Rüstung bedeckten. Christian hustete, als er den Staub versehentlich einatmete.

Christians Körper verkrampfte sich wie im Fieberwahn. Jeder Muskel seiner geschundenen Gestalt zog sich zusammen. Er wusste nicht, was mit ihm geschah. Doch neuer Lebenswille durchströmte ihn. Er musste hier weg, denn es waren noch mehr Gestalten wie diese Kreatur unterwegs. Er konnte sie sehen, wie sie über das Schlachtfeld krochen wie Aasfresser und sich an den Überlebenden des christlichen Heeres gütlich taten. Neuerliche Krämpfe schüttelten ihn, machten jede Bewegung zur Tortur.

Er warf den Rest seines Schwertes beiseite und benutzte seinen Schild, um auf die Beine zu kommen. Schwankend und mit zitternden Muskeln torkelte Christian vom Schlachtfeld.

Und die ganze Zeit über fragte er sich, was mit ihm geschah.

Kapitel 1

Christian saß in sich zusammengesunken in einer Höhle nahe einem kleinen Dorf, das westlich des Schlachtfelds lag. Wie lange saß er jetzt hier? Stunden? Tage? Es fühlte sich nach weniger an, doch seinem Zeitgefühl war nicht mehr zu trauen.

Es spielte keine Rolle.

Dass er in der Morgendämmerung nach der Schlacht diese Höhle nahe den Hörnern von Hattin gefunden hatte, war pures Glück gewesen. Er wusste nicht, weshalb, aber die Sonne bereitete ihm unsagbare Schmerzen, sodass er sich in den hintersten Winkel der Höhle verkrochen hatte. Mehrmals hatte er versucht, sie zu verlassen, doch wenn auch nur ein Lichtstrahl seine Haut berührte, warf sie sofort eitrige Blasen und verkohlte vor seinen Augen. Er trieb in einem fiebrigen Dämmerzustand dahin und war sich sicher, dass er mehrmals das Bewusstsein verloren hatte. Für wie lange? Tage? Vielleicht.

Nun saß er da – und wartete auf den Tod. Aber der wollte sich nicht einstellen, schon wieder nicht. Diese Gnade schien ihm nicht vergönnt zu sein.

Immer wieder wurde er von Krämpfen geschüttelt, von Schweißausbrüchen gepeinigt und von Fieber malträtiert. Er wünschte sich den Tod, zeitweise war er bereit, ihn sich selbst zu bringen. Nur die Angst vor dem Fegefeuer hielt ihn davon ab. Selbstentleibung war eine Todsünde. Und noch etwas fiel ihm auf: Sein Blut brannte in seinen Adern wie Feuer. Manchmal war es kaum auszuhalten.

Wäre er doch nur in der Schlacht gestorben!

Die Wunde in seiner Seite, in der immer noch die Pfeilspitze steckte, schmerzte wie die Hölle selbst.

Als er es nicht mehr aushielt, griff er sich einen Dolch und stocherte in der blutenden Wunde herum. Unter großen Strapazen schaffte er es, die Pfeilspitze zu entfernen. Er hätte sich eigentlich wundern müssen, warum er aufgrund seiner Schmerzen nicht das Bewusstsein verlor. Doch von derlei Erwägungen war er inzwischen meilenweit entfernt. Seltsamerweise fühlte er sich nach dem Entfernen der Spitze tatsächlich etwas besser.

Mit einem erleichterten Stöhnen warf er sie beiseite. Ehe er es sich versah, sank er zur Seite und gab sich einem von Albträumen heimgesuchten unruhigen Schlaf hin.

Als er erwachte, war es bereits tiefe Nacht. Er erhob sich mühsam. Erstaunlicherweise ging es ihm erheblich besser. Seine Seite schmerzte nicht mehr. Seine Hand tastete nach der Pfeilwunde, fand jedoch nur unversehrte Haut vor. Ungläubig zog er die Hand zurück.

Und noch etwas hatte sich verändert. Er konnte im Dunkeln so gut sehen, als wäre es helllichter Tag. Mit unsicheren Schritten verließ er die Höhle und hob den Kopf.

Geräusche, die er nie zuvor wahrgenommen hatte, kamen ihm plötzlich schmerzhaft laut vor. Selbst ein durch den Sand laufender Skorpion dröhnte in seinen Ohren.

Was geschah nur mit ihm?

Christian wollte zurück in die Höhle, als er unvermittelt aufmerkte. Erneut hob er den Kopf in die Luft. Etwas stimmte nicht. Er hatte etwas gehört. Etwas wie … Schreie. Gedämpfte Schreie zwar, aber unzweifelhaft war dort jemand in Schwierigkeiten. Sehr nah.

Im ersten Augenblick hoffte er, es könnte sich um Überlebende des geschlagenen Heeres handeln. Waffenbrüder, die dem Massaker entkommen waren. Doch diesen Gedanken verwarf er, als er unter den Schreien eine weibliche Stimme erkannte.

Neugierig wandte er sich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Christian bewegte sich mit einer nie gekannten Schnelligkeit und Behändigkeit über Sand und schroffe Felsen. Beunruhigt fiel ihm auf, dass er nicht müde wurde, obwohl er ohne Unterlass lief und immer noch seine Rüstung trug. Das war besorgniserregend. Überaus besorgniserregend.

Nach fast einer Stunde erreichte er den Ort des Geschehens. Er lag östlich des Schlachtfelds.

Christian ließ sich unbemerkt von den Menschen unter ihm zwischen zwei Felsen nieder und beobachtete die Szenerie. Eine Gruppe von Männern hatte einige Reisende in einer kleinen Talsenke überfallen. Die Reisenden waren unzweifelhaft Muslime. Vier Männer lagen tot am Boden. Drei Frauen und acht Kinder saßen dicht gedrängt abseits eines kleinen Feuers, streng bewacht von drei bewaffneten Männern. Zwei andere Waffenträger durchwühlten die Habseligkeiten der Reisenden. Bei den Angreifern handelte es sich eindeutig um Christen. Mehr noch: Er erkannte die Farben und Wappen, die sie trugen. Es waren in der Tat Überlebende des Kreuzfahrerheeres. Keine Ritter, sie gehörten dem Fußvolk an. Und die Art und Weise, wie sie die Frauen mit gierigen Augen musterten, gefiel Christian gar nicht.

Die Frauen und Kinder waren Muslime, das mochte schon sein, und man hatte ihm zeit seines Lebens eingetrichtert, Muslime seien seine Feinde. Doch er war ein Ritter, kein Schlächter. Und Frauen und Kinder zählte er niemals zu seinen Feinden, ganz gleich, welche Sitten sie pflegten oder zu welchem Gott sie beteten.

Er stand auf.

Seine Rüstung quietschte und die fünf Männer fuhren auf dem Absatz herum.

Ohne Eile schlenderte er zu den Männern hinunter. Als er ins Licht des Lagerfeuers trat und sie das Emblem auf seiner weißen Rüstung bemerkten, wurden ihre Augen groß und sie wichen angstvoll vor ihm zurück.

»Ein Templer«, flüsterte einer von ihnen den anderen zu.

»So einen hab ich aber noch nicht gesehen«, flüsterte ein Riese von Mann – offenbar der Anführer – zurück. »Seht euch doch nur mal sein Gesicht an.«

Christian verstand nicht, was der Kerl meinte. Es spielte für ihn auch keine Rolle. Ohne Angst trat er in ihre Mitte und sein stechender Blick musterte jeden Einzelnen der Reihe nach.

»Ihr werdet diesen Leuten ihr Eigentum zurückgeben und dann verschwinden. Ohne ihnen ein weiteres Leid anzutun.«

»Wer seid Ihr?«, fragte der Anführer.

»Der, der euch töten wird, wenn ihr es nicht tut.« Er sagte dies mit fester Stimme. Es war keine Drohung, lediglich eine Feststellung. Und sie kam auch genau so bei den fünf Männern an.

»Wer glaubt Ihr, dass Ihr seid, uns drohen zu können«, zischte der Mann zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Die Armee ist nicht mehr. Keine Armee mehr, keine Ritter mehr, keine Adligen mehr … keine Befehle mehr.«

Christian kniff die Augen zusammen. »Wie seid ihr eigentlich dem Gemetzel entkommen?«

Einer der Männer – ein spindeldürrer Kerl – kicherte. »Eine Möglichkeit zu entkommen ist, gar nicht erst daran teilzunehmen.« Der Anführer war dem dürren Kerl einen vernichtenden Blick zu, woraufhin dieser schwieg.

Wut durchströmte Christians Adern und ein Wort durchzuckte seinen Geist.

Deserteure!

»Ihr habt eure Kameraden im Stich gelassen?«

»Seht Euch doch nur selbst an, mein Freund«, sagte der Anführer der Gruppe plötzlich mutig. »Was hat Euch denn Euer Dienst gebracht? Ihr seht aus, als wärt Ihr schon tot.«

Vielleicht war das gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt.

»Ihr seid Feiglinge«, beschied Christian angewidert und trat einen Schritt näher. Trotz seiner vernichtenden Worte fühlte er sich seltsam in der Gegenwart dieser Menschen, und zwar sowohl in der der Christen wie auch in der der Muslime. Etwas fühlte sich … nicht richtig an.

»Habt Ihr es noch nicht gehört?«, versetzte der Anführer der Deserteure ungerührt. »Eure Brüder sind tot. Abgeschlachtet von diesem ungläubigen Pack.« Er deutete auf die Frauen und Kinder, die sich unter seinem unerbittlichen Blick zusammenduckten.

»Der Orden der Tempelritter wird niemals untergehen«, erwiderte Christian ungerührt mit stolzgeschwellter Brust.

»Seid Ihr blind? Ihr wart doch dort.«

»Die Schlacht mag verloren sein, doch es sind mit Sicherheit einige Brüder von mir entkommen.«

Der Anführer lachte bellend auf. »Offenbar wisst Ihr es wirklich nicht. Jeder Templer und Johanniter, den man lebend ergriff, wurde auf persönlichen Befehl von Saladin hingerichtet. Man hat ihnen wie gemeinen Verbrechern den Kopf abgeschlagen.«

Christian drohte den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er fühlte sich furchtbar schwach. Ausgelaugt. Im ersten Augenblick dachte er, es läge an der Nachricht, die er soeben erhielt, doch nach einer Schrecksekunde erkannte er, es gab noch einen anderen Grund. Einen, den er nicht ganz verstand.

»Das … das ist nicht wahr. Meine Brüder sind nicht alle tot.«

Der Anführer lachte erneut auf. »Doch, das sind sie. Findet Euch mit der Realität ab. Ihr seid allein.« Er zwinkerte Christian lüstern zu. »Warum setzt Ihr Euch nicht zu uns ans Feuer und wir teilen uns die Beute – und die Frauen.«

Der Mann gab einem seiner Kameraden verstohlen ein Zeichen. Er dachte, Christian würde es nicht mitbekommen, doch dessen Sinne waren geschärft.

Einer der Deserteure griff hinter sich und zog eine Armbrust hervor, auf der bereits ein Bolzen lag.

Ein Geruch lag plötzlich in der Luft und lenkte Christian für einen Moment ab. Der Geruch war süß. Er hatte ihn schon oft wahrgenommen, doch noch nie auf diese eigenartige Weise.

Er kniff die Augen zusammen.

Die Halsschlagader des Anführers der Deserteure pumpte unablässig. Christian sah es so deutlich, als würde er neben ihm stehen. Die Ader pumpte und machte dabei Geräusche, wie er sie noch nie zuvor gehört hatte. Beides wirkte ungemein einladend.

Christian sog die Nachtluft tief in seine Lungen. Der Duft, den er wahrgenommen hatte, ging von dem Anführer aus. Aber nicht nur von diesem – desgleichen von dessen Kumpanen und sogar von den Frauen und Kindern.

Sein Magen meldete sich unvermittelt zu Wort und knurrte, als hätte er schon ewig nichts mehr gegessen. Wie lange hatte er eigentlich schon nichts zu sich genommen? Er vermochte es nicht zu sagen.

Das Essen, das um das Lagerfeuer verstreut lag, wirkte auf ihn nicht im Mindesten appetitanregend. Doch der Duft, der von den Menschen ringsum ausging, war ungemein verlockend. Er war – unwiderstehlich.

Der Deserteur am Feuer hob die Armbrust. In dieser einen Sekunde, reagierte Christian rein instinktiv. Sein bewusstes Handeln setzte aus und pure Instinkte übernahmen die Kontrolle.

Er stürzte vor, schneller, als irgendein gewöhnlicher Mensch es vermocht hätte. Der Deserteur schoss. Christian wich seitlich aus. Der Armbrustbolzen verfehlte ihn um mehrere Zentimeter. Die Zeit dehnte sich, alles schien sich in Zeitlupe abzuspielen. Die Menschen bewegten sich quälend langsam.

Im nächsten Augenblick war Christian auch schon über dem Armbrustschützen, sah in dessen angstgeweitete Augen. Der Mann ließ seine Armbrust fallen und griff stattdessen zu einem langen Dolch an seinem Gürtel.

Er erhielt keine Gelegenheit, diesen zu ziehen.

Christian schlug erbarmungslos mit dem Handrücken zu und schleuderte den Mann mehrere Meter durch die Luft. Sogar in seinem durch Blutdurst vernebelten Geist nahm er das Knacken des brechenden Genicks wahr.

Der Anführer der Deserteure stand wie erstarrt da. Seine drei Kumpane jedoch nicht: Mit gezogenem Schwert griffen sie ihn an. Christians Kriegsdolch hing in seiner Scheide an der Seite, doch der Tempelritter kam nicht einmal auf die Idee, ihn zu ziehen.

Dem ersten Schwerthieb wich er gekonnt aus. Im waffenlosen Kampf hatte er sich nie besonders hervorgetan. Wie alle Templer war er natürlich darin geschult, seine Fertigkeiten ließen sich jedoch nur mit für seinen Orden mittelmäßigen Attributen beschreiben. Doch hier und jetzt bewegte er sich wie ein Gott unter Insekten.

Er griff nach der Hand seines ersten Angreifers und brach diesem mühelos das Handgelenk. Der Mann schrie schrill auf und ließ das Schwert fallen. Mit beiden Händen packte Christian Kinn und Genick des Mannes und riss es mit einem gewaltigen Ruck nach links.

Der Körper des Deserteurs erschlaffte augenblicklich, doch anstatt ihn fallen zu lassen, griff Christian die Leiche am Harnisch und schleuderte sie gegen die beiden folgenden Kameraden. Diese gingen in einem Gewirr aus Armen und Beinen zu Boden.

Im Bruchteil eines Augenblicks war Christian über den Männern und schlug mit seinen bloßen Fäusten auf sie ein. Er hieb mit unbändiger Kraft auf sie ein, bis ihre Köpfe nur noch blutige Klumpen Fleisch und Knorpel waren.

Der überwältigende Duft war wieder da.

Christian sog ihn tief ein und begriff erstmals, dass er von dem Blut ausging. Durst überkam ihn erneut, schlimmer als zuvor. Beinahe hätte Christian das Blut der beiden Männer aufgesogen, doch er hielt sich gerade noch zurück. Sie waren tot, und ihr Blut zu sich zu nehmen, fühlte sich falsch an.

Trinke niemals das Blut von Toten!, schoss es ihm durch den Kopf. Woher dieser Gedanke mit einem Mal kam, wusste er nicht, nur dass er dieser Anweisung folgen musste.

Sie schien einfach … richtig zu sein.

Der Anführer der Deserteure stand immer noch wie erstarrt da, wie vom Donner gerührt und vor allem – lebendig.

Mit einem Satz überbrückte Christian die Entfernung zu seinem Kontrahenten und riss diesen zu Boden. Der Mann überwand endlich seine Starre und zerrte einen Dolch aus seinem Gürtel. Christian schlug ihn verächtlich beiseite.

Er packte den Mann am Haarschopf und bog dessen Kopf grob zur Seite, entblößte dessen Halsschlagader. Sie wirkte aus der Nähe sogar noch einladender.

Mit einem erleichterten Seufzer versenkte er seine Zähne in den Hals des Mannes. Dieser keuchte vor Schreck und Schmerz auf, doch Christian beachtete dessen Bemühungen nicht mehr als ein Metzger das Quieken eines Schweines kurz vor dem Schlachten.

Er sog den roten Lebenssaft aus den Adern des Deserteurs. Das Blut benetzte Christians Lippen, floss seine Kehle hinunter. Schon beim ersten Schluck fühlte er sich belebt – weitaus lebendiger, als er sich je zuvor gefühlt hatte.

Bis auf wenige verzweifelte Zuckungen war die Gegenwehr seines Opfers zum Erliegen gekommen. Christian sog weiter das Blut aus ihm, der metallische Geschmack füllte seinen Mundraum aus.

Die Frauen und Kinder, die dem Geschehen ängstlich beigewohnt hatten, drehten sich mit einem Mal um und flohen in die Nacht hinaus. Dabei kreischten sie immer und immer wieder ein Wort.

Christian verstand genug von der arabischen Sprache, um zu verstehen, dass sie ihn einen Teufel nannten. Im hintersten Teil seines Gehirns fragte er sich, ob sie wohl recht hatten.

Christian ließ endlich von seinem Opfer ab. Dessen Bewegungen hatten vor einigen Sekunden bereits aufgehört. Christian fühlte sich stark. Seine Sinne waren hellwach. Der Durst war nicht mehr so schlimm wie noch zuvor, aber immer noch vorhanden.

Mit beiden Händen stemmte er sich vom Boden hoch. Sein ganzes Gesicht war blutverschmiert.

Durst, er hatte immer noch Durst. Christian wollte, dass es endete. Sein Durst sollte aufhören.

Er musterte die Spuren der syrischen Familie, die sich im Sand zu seinen Füßen abzeichneten. Sie konnten noch nicht weit gekommen sein. Seine Zunge leckte genießerisch das Blut von seinen Lippen. Ohne darüber nachzudenken, ging er ihnen nach.

Der Ritter trug den schwarzen Rock mit dem weißen Kreuz der Johanniter. Mit einem traurigen Kopfschütteln betrachtete der Mann den Schauplatz des Gemetzels. Neun Leichen lagen um das ausgebrannte Lagerfeuer verstreut.

Der Mond stand hoch am Himmel und spendete genug Licht, damit sich der Ritter einen Überblick verschaffen konnte.

Anhand der vorhandenen Spuren ließ sich recht schnell ableiten, was hier geschehen war. Fünf christliche Soldaten hatte eine Gruppe Reisender überfallen, die in Richtung Damaskus unterwegs gewesen waren. Sie hatten die Männer getötet und einige andere – vermutlich Frauen und Kinder – gefangen genommen.

Dann war jemand hinzugekommen und hatte sich eingemischt. Er hatte die fünf christlichen Soldaten mit äußerster Kunstfertigkeit und noch mehr Brutalität getötet.

Vier von ihnen waren schnell gestorben, doch eine der Leichen weckte seine besondere Aufmerksamkeit. Der Mann hatte zwei verräterische Löcher im Hals. Der Johanniter schnalzte durch die Vorderzähne.

Sie kamen zu spät.

Er hatte bereits menschliches Blut gekostet. Jetzt würde alles nur noch schwieriger werden.

Der Johanniter ließ den Blick über den Lagerplatz wandern. Seine scharfen Sinne nahmen jede Einzelheit wahr. Spuren führten nach Norden.

Wenigstens waren die Gefangenen entkommen.

Ein weiterer Reiter tauchte auf, ließ seinen Fuchshengst über den Hügel traben und zügelte das Tier erst wenige Meter vor seinem Gefährten. Auch dieser Reiter trug das Schwarz und Weiß der Johanniter.

»Und?«, fragte der Ritter den Neuankömmling.

»Ein paar Hundert Meter von hier liegen weitere Leichen«, erwiderte der Neuankömmling gepresst. »Zwei Frauen und ein Kind. Die anderen sind entkommen.«

Der Ritter fluchte, was seinem Freund ein missbilligendes Schnauben entlockte, doch anstatt darauf einzugehen, fragte er: »Was tun wir jetzt?«

»Wir folgen ihm. Mehr können wir im Augenblick nicht tun.«

»Und wenn wir ihn gefunden haben?«

»Dann verfahren wir so, wie die Situation es uns diktiert«, erwiderte der Ritter ausweichend.

»Er hat Menschenblut gekostet. Du weißt, was das heißt.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte der Ritter ungehaltener als ursprünglich beabsichtigt.

»Wir sollten ihn vernichten«, setzte der andere Ritter nach. »Nur um sicherzugehen.«

»So weit sind wir noch nicht.«

»Findest du?«

»Ja. Lass uns erst mal mit ihm reden. Dann entscheiden wir.«

»Wie du meinst, aber ich denke, du machst da einen großen Fehler. Er wird wieder töten.«

»Vielleicht haben wir noch eine Chance, ihn verschonen zu können. Und falls nicht«, der Johanniter seufzte, »werde ich ihn persönlich vernichten.«