DET-Fertig

 

 

 

Mathias Müller & Marcel Dax, Hrsg.

 

Ein Viertelstündchen Frankfurt 2

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum:
CharlesVerlag, Mathias Müller & Marcel Dax GbR, Frankfurt am Main, alle Rechte vorbehalten, eine Veröffentlichung, auch in Auszügen, ist nur mit Genehmigung des CharlesVerlag gestattet. www.charlesverlag.de
Druck: Booksfactory
Lektorat: Sonja Rudorf
Umschlaggestaltung: Marcel Dax

 

ISBN 978-3-940387-58-5

 

1. Auflage 2018

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.dbb.de abrufbar

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es ist ein großer Unterschied ob ich lese zu Genuß und Belebung oder zu Erkenntnis und Belehrung.

 

Johann Wolfgang Goethe

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Willkommen zurück

Vorwort

 

Mainhattan, Dodge City und ich

Ein Essay von Uli Aechtner

 

Über dem Tellerrand

Sehenswertes im Frankfurter Umland

 

Fast perfekt

Eine Kurzgeschichte von Tim Frühling

 

Wohin nur?

Sehenswertes in Frankfurt

 

Willkommen im Frauenhaus

Eine Kurzgeschichte von Ursula Neeb

 

Frankfurter Skandale

Unvergessliche Schlagzeilen

 

Unsterblich in Frankfurt oder Die Odyssee im Strafraum

Eine Kurzgeschichte von Gerd Fischer

 

Grüß‘ mir die Sonne

Die Geschichte des Frankfurter Flughafens

 

Aus den Aufzeichnungen der Frau Rat Goethe

Eine Kurzgeschichte von Sibylle Nicolai

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus Alt mach Neu

Über die Frankfurter Altstadt

 

Nettigkeit kennt keine Grenzen!

Eine Satire von Achim Winter

 

Hessisches Wörterbuch

Das Wichtigste von A bis Z

 

Tante Guste und das Irrenschloß

Eine Kurzgeschichte von Nikola Hahn

 

Vom Pferd zum Strom

Die Geschichte der Frankfurter Trambahn

 

Frankfurt an der Nidda – Eine Zeitreise mit Folgen

Eine Kurzgeschichte von Daniel Holbe

 

Vergessene Namen

Die Namen hinter Frankfurter Straßen und Plätzen

 

Die Kerze

Eine Kurzgeschichte von Meddi Müller

 

Nicht nur gekrönte Häupter

Über den Frankfurter Kaiserdom

 

Alles andere als kalter Kaffee!

Ein Essay von Thomas Ranft

 

 

Willkommen zurück!

 

Wir gratulieren zum Kauf des zweiten Viertelstündchens, liebe Leserin oder lieber Leser.

 

Sollten Sie dieses Buch vor dem ersten Band lesen … auch gut. In diesem Fall hoffen wir, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches sofort in den Laden gehen und sich Band 1 des Viertelstündchens besorgen.

So oder so … etwas hat Sie dazu bewogen, dieses Buch zu kaufen. Da wollen wir Sie mal nicht enttäuschen. Wieder haben sich bekannte Frankfurter für Sie Gedanken gemacht, wie Sie Ihnen unsere wunderbare Stadt näherbringen und Ihnen auch einmal von einer anderen, kreativen Seite zeigen können. Herausgekommen sind dabei 10 wundervolle Geschichten und Textbeiträge, die Sie für ein Viertelstündchen in eine andere Welt entführen. Sozusagen tolle Unterhaltung im Viertelstundentakt.

Zwischendurch haben wir wieder versucht, mit unseren Artikeln Frankfurts Geheimnisse zu lüften und Ihnen dabei zu helfen, mit einem neuen Blick durch unsere Stadt zu ziehen. Insiderinformationen helfen Ihnen nach der Lektüre dieses Buches, Ihrem Besuch von Außerhalb noch mehr zu bieten als bisher.

 

Frankfurt, das sind nicht nur Banken, Hochhäuser und Fluglärm. Frankfurt steht für Herzlichkeit, Tradition und Heimat. Das Viertelstündchen möchte Ihnen Frankfurt in all seinen Facetten zeigen. Sowohl von der modernen, als auch von der traditionellen Seite; quasi allumfassend. Aber immer mit einem Augenzwinkern bitte, denn das Leben ist ernst genug.

Frankfurt ist für seine Vielfalt berühmt. Es ist weltoffen und zugleich verschlossen, laut und auch verträumt, wunderschön und hässlich, kaltblütig und warmherzig. In vielem so widersprüchlich wie ein fliegender Fisch oder ein tauchender Vogel, was es ja auch beides gibt ... aber irgendwie nicht passt … dann aber wieder doch … Sie wissen, was wir meinen.

 

Sehr oft inszeniert sich die Stadt als Metropole. Wenn man dann aber auf die Wochenmärkte oder in die Kleinmarkthalle geht, wo man die echten Frankfurter trifft, ist es auf einmal ein Dorf. Es wird getratscht, geknoddert und gelacht, man kennt sich und babbelt mit seinem eigenen Dialekt. Und dann landet auf dem Flugplatz ein Staatsgast, und Frankfurt schaltet um auf diplomatisches Vorzeigemännchen. Das goldene Buch ist voll mit Berühmtheiten, die alle angemessen würdevoll empfangen wurden. Irgendwie paranoid, aber auch einzigartig. Das ist es aber, was unsere Stadt ausmacht. Diese Mischung aus Glaspalast und Äpplerkneipe. Hier darf jeder das sein, was er will. Dem Frankfurter wird immer Unfreundlichkeit vorgeworfen, es handelt sich aber eher um eine Art freundliches Desinteresse. Es kümmert ihn nicht, was sein Gegenüber ist, gemacht hat oder erreichen will. In unserer Stadt wird jeder gleich mürrisch behandelt. Das ist nun mal so. Es dauert, bis man den Frankfurter geknackt hat, aber wenn man es geschafft hat, dann hat man einen Freund für's Leben. Und aufgepasst, … wir verraten Ihnen jetzt die Geheimformel zum Knacken des Frankfurters. Behandeln Sie ihn immer fair und respektvoll, versuchen Sie niemals, ihn für dumm zu verkaufen und, ganz wichtig, bleiben Sie Sie selbst … nach einer Weile wird der Frankfurter über Sie sagen, dass Sie »ganz in Ordnung« sind. Dann haben Sie schon einen riesigen Schritt gemacht. Und wenn er über Ihre Witze lacht, haben Sie es geschafft. Was Sie aber auf jeden Fall mitbringen müssen, ist … Geduld.

Was ist das Rezept des Viertelstündchens?

 

Um ein gutes Viertelstündchen herzustellen, braucht es vor allem viele Informationen. Dann fügen wir eine ordentliche Portion Heimatliebe hinzu und rühren in Erinnerungen. Abschließend streuen wir eine Prise Kritik darüber und garnieren das Ganze mit Kreativität und langjähriger Erfahrung … heraus kommt: Große Unterhaltung. Auch bei diesem Buch haben wir dieses Rezept angewandt und hoffen, es schmeckt Ihnen.

 

So, jetzt haben wir aber genug gebabbelt und wünschen Ihnen ausgesprochen feine Unterhaltung mit unserem Werk, hoffen auf Ihr Wohlwollen und freuen uns, wenn es Ihnen gefällt. Wenn dem so ist, erzählen Sie es ruhig weiter, … wenn nicht, behalten Sie's für sich.

 

Und jetzt wünschen wir Ihnen viel Vergnügen mit

Ein Viertelstündchen Frankfurt - Band 2

 

Ihre Herausgeber

 

Marcel Dax & Meddi Müller

Mainhattan, Dodge City und ich

Ein Essay von Uli Aechtner

 

Ich war noch ein Kind, als ich meine erste Frankfurterin kennenlernte. Sie arbeitete als Kunstgewerbelehrerin in meiner rheinischen Heimat, und meine Mutter erkaufte mir gelegentlich für ein Pfund Kaffee eine Bastelstunde bei ihr. »Ei hoschema«, schimpfte die Gute, wenn ich die plattgebügelten Strohhalme schief auf die Keksdose klebte. Mein erster Kontakt mit einer Fremdsprache. In genau dieser Fremdsprache schilderte sie mir, wie sie in der Frankfurter Innenstadt mit dem Rad gestürzt war. Sie hatte zwei Flaschen Milch bei sich gehabt, die bei dem Sturz zerbrochen waren. Die Passanten zählten die kleinen, milchweißen Scherben. »Jesses, naa! Hat die Fraa viel Zee!« Frei übersetzt: Um Gottes willen! Wie viele Zähne kann so eine Frau nur haben?

Der erste (eingeplackte) Frankfurter, der mein Leben kreuzte, sprach aus dem Fernseher zu mir, hatte neben sich einen Affen sitzen und erklärte in gemächlichem Ton, was dieses Lebewesen für gewöhnlich »aß«, während das Tier dem netten Herrn zufrieden das schüttere Haar zupfte.

 

Von der Stadt selbst bekam ich zunächst nur den Flughafen zu sehen. Mit unserem VW-Käfer holten wir alle Jahre wieder »unsere Tante aus New York« ab. Was heute ein internationales Drehkreuz ist und so manchem Anwohner die Ruhe raubt, war Ende der Fünfziger noch ein gemütlicher Flugplatz. Meine Eltern schlürften auf einer überdachten Terrasse Kaffee, und ich wartete mit einer Anspannung auf den Düsenflieger aus Übersee, als solle jeden Moment eine Außerirdische einschweben. Als die Tante die fahrbare Treppe herunterkam, Hershey’s Kisses, Twinsets und Levis für uns im Koffer, trennte uns nur ein dünner Maschendrahtzaun vom Geschehen.

Die Straßen Frankfurts eroberte ich zum ersten Mal kurz nach dem Abi im Fiat 500 meiner Mutter. In meinem Führerschein war die Druckerschwärze noch feucht. Gerade mal vierzehn Tage zuvor hatte ich meine Fahrprüfung abgelegt, und die ewigen Warnungen meines rheinischen Fahrlehrers klangen mir noch im Ohr: »Joldstück, de Kuppelung, nä?« Meine Brieffreundin aus Bremerhaven saß neben mir auf dem Beifahrersitz, als wir über die Miquelallee in Richtung Zoo brausten, abwechselnd einen sich immer weiter auflösenden Falkplan auf den Knien. Und obwohl ich beherzt fünfzig fuhr, überholten mich sämtliche Fahrzeuge. Mein Tacho zeigte siebzig, als ich mich kurz dem Frankfurter Tempo anpasste, doch das war zu viel für meine jugendlichen Nerven. Ich ließ unser Autochen auf den Bürgersteig hüpfen und holte erst einmal tief Luft. »Nech, Spöker«, meinte meine Freundin von der Waterkant tröstend, »wenn es dir besser geht, fährsu einfach weiter.«

 

Jahrzehnte blieb Frankfurt eine Stadt voller Rätsel für mich, bis es meinen Mann Anfang der 1990er Jahre beruflich nach Mainhattan verschlug. Die Preise für eine Wohnung in Bockenheim oder im Nordend trieben einem schon damals die Tränen in die Augen, also wichen wir ins Umland aus und landeten in Dortelweil – dem ältesten Dorf der südlichen Wetterau. Und siehe da: Der Flecken hatte ab 1292 fast sechs Jahrhunderte lang zu Frankfurt gehört und war eine der 7,5 Landgemeinden Frankfurts gewesen. Die linke Hälfe des Dortelweiler Wappens zeigt daher bis heute ein halbes Frankfurter Wappenbild, in der rechten Hälfte prangt ein D für Dortelweil in einem Reichsapfel: Frankfurt war Reichsstadt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, lediglich dem Kaiser zu Steuerabgaben und Heeresfolge verpflichtet.

Dieses Wappen schmückte auch ein Mietshaus in meiner Straße, einen ziemlich langweiligen 60er-Jahre-Bau. Als er vor einiger Zeit frisch verputzt und mit einer modernen Isolation versehen wurde, sah ich den Arbeitern im Vorbeigehen kurz zu. Einer von ihnen hatte das klodeckelgroße Gips-Wappen im Arm, das auf der Hauswand geprangt hatte, allerdings in Einzelteilen. »Ei, isch Dabbes«, klagte er sich selbst an. »Des habbe mir widder aanbringe wolle. Jezz könne mir’s net mehr ganzmache.« Kopfschüttelnd warf er alles in den Container. Heute prangt auf dem Haus ein transparentes Schild, welches besagt, dass sich das Wappen unter dem neuen Putz befindet. Und dass anstelle des modernen Kastens hier einst ein Hof der Frankfurter Stiftung »Allgemeine Almosenkasten« gestanden hatte. Die Bevölkerung nannte ihn schlicht »Armenkasten«, 200 Morgen Ackerland und Wiese gehörten dazu. 1578 brannten 13 Häuser und 27 Scheunen in Dortelweil ab, und »die armen Verbrannten aus Durckelweil«, wie es in einer Chronik heißt, baten die Stadt Frankfurt um Steuernachlass. Aus dem Armenkasten bekamen sie umgerechnet tausend Kilo Korn zugewiesen. Das Wappen aus dem Jahr 1742 war mit einem frommen Spruch umrahmt: GOTT WOLLE SICH DER ARMEN ALLE ZEIT ERBARMEN.

Meine ersten Wochen in der ehemaligen Frankfurter Landgemeinde fühlten sich wie Ferien an. Es war tiefer Winter, ich war noch auf der Suche nach neuen Auftraggebern und verbrachte viel Zeit mit meinen Kindern. Wir wanderten zum Dottenfelder Hof und überquerten, nach rechts und links spähend, die Gleise des Stockheimer Lieschens. Dieser Pendlerzug hatte im Laufe der Jahre mehrere Passanten überfahren und hieß bei den Nachbarkindern schlicht »Mörderlieschen«. Vorsicht war also geboten. Mein Jüngster war mit seinem Dreirad unterwegs, und als ich einen Moment auf dem Feldweg stehen blieb und meine Blicke über die Äcker schweifen ließ, war er plötzlich wie von der Erde verschluckt. War da nicht ein leises Knistern und Knacken gewesen? Zeitversetzt erklang ein Schrei, dann ein Wimmern. Der kleine Kerl war mit seinem Dreirad durch die dünne Eisschicht gebrochen, die den seitlich verlaufenden Graben abdeckte, und im eiskalten Wasser gelandet. Nachdem ich ihn herausgezogen hatte, waren wir beide eisnass und mussten schleunigst nach Hause rennen, allein schon, um uns warm zu halten.

Später fand ich heraus, dass mein Sohn in einen Entwässerungsgraben geraten war. Das Dortelweiler Land ist schweres Ackerland, und wenn es ausgiebig regnet, muss das Wasser abgeleitet werden. Ab dem Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert hinein nutzte man ähnliche Wasserläufe auch zur Verteidigung der Dörfer. Es waren breite Gräben und Erdaufwürfe, bewachsen mit niedrigem Gebüsch und alten Baumstümpfen, die Wölfe, Wegelagerer oder auch marodierende Soldatenhorden von Vieh und Menschen fernhalten sollten. Dortelweil war im Süden natürlicherweise von der Nidda geschützt, im Norden gab es ein großes Tor. Der wasserführende Graben im Westen wurde mit der Dorferweiterung zugeschüttet und verlegt, der doppelte Haingraben im Osten geschliffen. Dazu bedurfte es jedoch der Erlaubnis der Frankfurter Obrigkeit. Beim Bad Vilbeler Verein für Geschichte und Heimatpflege fand ich eine Zeichnung aus dem Jahr 1714, die das Vorhaben zu skizzieren scheint. Dem Antrag wurde stattgegeben, und die Gräben wurden zugeschüttet, um Gartenland zu gewinnen. Im Gegenzug mussten die Dortelweiler aber eine Mauer errichten. Im kalten Winter 1715 bauten die Dorfbewohner eine Eisbrücke über die Nidda. Dazu wurde Stroh, Spreu und Asche gemischt, »in die Bach« geschüttet und eine Woche lang mit Wasser begossen. Als alles gut durchgefroren war, konnte man mit dem Pferdewagen den Fluss überqueren und Quader vom Steinbruch nahe des Dottenfelder Hofs über die Nidda bringen. Die imposante Mauer steht noch heute, und wenn ich Besuch bekomme, gehört ein Spaziergang entlang der historischen Dorfumfassung zum Programm. Mit ihren fast 450 Metern ist sie nicht die längste, aber vermutlich eine der friedlichsten Mauern der Welt.

 

Gelegentlich wandere ich durch die Straßen des alten Dorfkerns und drehe in Gedanken die Zeit zurück. Was, wenn ich vor drei Jahrhunderten hier gelebt hätte? Es gab damals nur in etwa ein Dutzend »Bürger«, alle anderen waren schlicht »Hintersassen«: einfache Landleute, die vom Grundherrn abhängig waren. Der Schultheiß wachte über die Abgaben des Dorfes an Frankfurt, ihm oblag auch die niedrige Gerichtsbarkeit. Alles, was die landwirtschaftliche Nutzung anging, sowie kleinere Vergehen wurden nicht in Frankfurt, sondern vor Ort verhandelt. Die Frankfurter bewiesen diplomatisches Geschick und wählten für das Amt stets Dorfbewohner aus. Der Schultheiß bewohnte ein stattliches Haus am Dorftor, unmittelbar vor dem Dorf stand eine imposante Linde, unter der das Gericht tagte. Doch wenn ich mir ausmale, wie streng es damals zuging, verzichte ich lieber auf meine Zeitreise. 1781 musste eine Frau »in Halseisen stehen«, weil sie Kraut gestohlen hatte.

 

Auf verblichenen Fotos aus früheren Zeiten sieht man die Dorfjugend in der Nidda baden, auf den überfluteten und zugefrorenen Auen Schlittschuh laufen oder mit dem Kahn das Flüsschen hinab staken. Die Nidda ist wohl der schönste Verbindungweg zwischen Dortelweil und Frankfurt. Ab und an schaffen mein Mann und ich unseren Kanadier aus dem Keller, und wir paddeln die Nidda hinunter bis zum Eschersheimer Wehr. »Schiffschebootsche fahre«, nennt das der Frankfurter. Viel Tempo hat die Nidda nicht, gemächlich gleiten wir das Flüsschen hinab, vorbei an Wiesen und Feldern.

Auf der Höhe der ehemaligen Frankfurter Landgemeinde Bonames verläuft der Hölderlinpfad parallel zur Nidda, und ich stelle mir vor, wie der Poet am Ufer entlang marschiert, einen Liebesbrief im Tornister. Der Dichter war Hofmeister bei der Frankfurter Familie Gontard, zuständig für die Erziehung der Kinder, als er sich unsterblich in die Mutter seiner Zöglinge verliebte. 1796 schickte Vater Gontard Frau und Kinder nebst Hölderlin auf eine »vorsorgliche Flucht« vor den nahenden Franzosen nach Kassel. Nach ihrer Rückkehr verstanden sich Susette Gontard und der Hofmeister prächtig. Der Hausherr indessen kehrt eines Abends müde von der Arbeit heim und fragt nach seiner Gattin, da wird ihm mitgeteilt, Herr Hölderlin lese vor. »Sitzt denn der Mensch beständig bei meiner Frau?«, ruft Gontard aus. Es kommt zu einer saftigen Szene, Hölderlin zieht aus und findet Zuflucht in Homburg. In den nächsten zwei Jahren läuft »Hölder«, in Susettes Briefen auch »mein Holder« genannt, immer wieder zu Fuß von Homburg nach Frankfurt – und noch am selben Tag zurück. Die Familie Gontard nutzte den Adlerflychthof am Oeder Weg als Sommersitz. Die »niedrige Hecke bei den Pappeln« wurde zum toten Briefkasten für das verzweifelte Paar, nur gelegentlich erhaschte der Dichter den Schatten seiner Verehrten hinter dem Fenster.

Frankfurt und die romantische Liebe gehören zusammen, das bezeugen nicht nur die vielen bunten Liebesschlösser am Brückengeländer des Eisernen Stegs. Als ich sie eines Tages stolz meinen Gästen aus Frankreich zeige, winken die gelangweilt ab. »Mais non, das ist gar nichts. Du hättest die Liebesschlösser in Paris sehen sollen! Das Brückengeländer der Pont des Arts ist unter dem Gewicht – wie sagt man – zerbrochen.« Schon gut, denke ich, Frankfurt ist nicht Paris, wenngleich der Eiserne Steg ein bisschen wie ein halber, umgefallener Eiffelturm aussieht. Aber mit berühmten glücklichen wie unglücklichen Liebesleuten kann Frankfurt aufwarten, von Friedrich Stoltze (glücklich) bis Wilhelm Busch (unglücklich). Goethes Liebesroman »Die Leiden des jungen Werther« regte melancholische Leser dazu an, sich das Leben zu nehmen. Mir raubte der frühe Bestseller des adoleszenten Dichterfürsten als Teenie den Atem, er machte mir Lust auf Bücher, aufs Lesen und Schreiben.

 

Wer Kriminalromane schreiben will, muss recherchieren. Unerschrocken fragte ich eines Tages im Frankfurter Institut für Rechtsmedizin an, ob ich einmal bei einer Obduktion zusehen dürfe. Und siehe da, ich durfte. In all meine Geschichten lasse ich seither gern einfließen, dass das Institut in Sachsenhausen in der prächtigen alten Villa des August Euler untergebracht ist. Euler war ein Tausendsassa, er liebte die Geschwindigkeit, egal ob auf dem Motorrad oder im Auto. 1910 erwarb er das international anerkannte Flugzeugführerpatent »Deutschland Nr. 1«, und später baute er selbst Flugzeuge. Seine Villa hat er der Uni vermacht, mit der Auflage, dass darin geforscht wird. Die Gefühle, die ich bei der Obduktion hatte, lassen sich schwer beschreiben. Respekt vor den Wissenschaftlern und Demut vor dem Leben trifft es noch am ehesten. Schließlich ist Sterben eine todernste Angelegenheit, und wenn Rechtsmediziner im Krimi flapsig oder verschroben daherkommen, zeugt das lediglich von ihrer und unserer Angst vor den letzten Dingen.

 

Andere Ecken Frankfurts lernte ich näher kennen, als ich nebenbei Deutschunterricht für arbeitslos gewordene Migranten gab. Ich besuchte mit meinen Teilnehmern den Zoo, der für mich immer mit Bernhard Grzimek, dem Mann mit dem Affen aus meiner Kinderfernsehzeit, verbunden sein wird. Ich unterrichtete im Bahnhofsviertel, wo Banken an Animierbars grenzen, in Rödelheim, das über eine der ältesten Apfelwein-Keltereien und einen Hundefriedhof verfügt, und in Hoechst, wo fast 40 Prozent der Einwohner Migranten sind. Auf dem Bahnhof dort hört man alle Sprachen der Welt. Man sieht Frauen in indischen Saris und Männer in afrikanischen Gewändern. Frankfurts Gelassenheit im Umgang mit Auswärtigen mag mit seiner langen Geschichte als Messestadt zu tun haben. Man war von jeher mit anderen Handelsstädten verbunden. Und schon immer kamen Fremde hierher.

 

Eine Eingeplackte wird man nicht von ungefähr, man muss sich selbst einplacken, also seine Wurzeln ausstrecken und wachsen lassen. Zu meinem Bild von Frankfurt gehört ein Blick vom Domturm herab. Das Treppenhaus ist eng, der Aufstieg mühsam, aber er lohnt sich, denn nun liegt einem die Stadt zu Füßen – der EZB-Turm, Sachsenhausen, der Eiserne Steg, die Unikliniken und der dahinziehende Main. Hier oben haben viele Jahrhunderte lang Türmer gelebt, im Winter müssen sie arg gefroren haben. Um sich wenigstens ein paar Auf- und Abstiege zu ersparen, zogen sie die Lebensmittel mit einem Korb hinauf. Ihre Aufgabe bestand darin, jedwede Feuersbrunst rechtzeitig zu entdecken. Doch als 1719 »der große Christenbrand« ausbrach, reichte die Warnung des Türmers nicht aus. Das Eschenheimer Tor war abgeschlossen, die Wehren der nördlichen Landgemeinden standen vor der Stadtmauer und konnten nicht eingreifen. Die Flammen fraßen Fachwerkhaus um Fachwerkhaus: Ganze 400 Gebäude innerhalb von drei Tagen.

 

In Dortelweil stehen noch immer alte Fachwerkhäuser, etliche wurden vom schützenden Putz befreit, ihre Balken geschwärzt. An Mauern und Zäunen fielen mir schon vor Jahren immer öfter Graffiti auf: »Dodge« stand da geschrieben, so hatten Jugendliche den Ort getauft. Bis heute konnte ich nicht herausfinden, ob das eine liebevolle Verballhornung des Namens Dortelweil sein sollte – oder eine Anlehnung an die letzte große Rinderstadt des Wilden Westens. In Dodge City wie in Dortelweil war es die Eisenbahn, die Auftrieb und Wachstum brachte. Längst ist die ehemalige Frankfurter Landgemeinde über die Mauer wie über die Bahngleise hinausgewachsen. Und wie in der Westernstadt teilen die Schienen den Ort in zwei Hälften, in Dortelweil-West und das alte Dorf. Unweit der Stelle, wo man einst unter der Linde Gericht hielt, entstand ein Kinderspielplatz im Western-Look. Der Name, der auf dem Eingangstor prangt, lautet: Dodge City.

 

Über die Autorin – Uli Aechtner

 

Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstwissenschaften arbeitete Uli Aechtner als Journalistin beim französischen Fernsehen TF1 in Bonn, später wechselte sie zum SWF-Mainz. Viele Jahre lang war sie dort für die aktuelle Berichterstattung tätig und moderierte die tägliche Nachrichtensendung »Landesschau«.

 

1985 gewann sie das Stipendium »Journalistes en Europe« und verbrachte ein Jahr in Paris. Als freie Autorin liefert sie TV-Beiträge für ARD und ZDF.

 

Seit 1992 schreibt sie Kriminalromane.

 

Mehr erfahren Sie unter uli-aechtner.de

Über dem Tellerrand

 

Frankfurt hat sehr viel zu bieten, da gibt es keine Zweifel. Aber der intelligente Mensch schaut auch mal über den Tellerrand hinaus. Und da wir intelligente Menschen sind, machen wir das in diesem Artikel. Wir starten im nahe gelegenen Taunus. Über die A 661 sind wir innerhalb kürzester Zeit in einer anderen Welt. Der Taunus ist relativ dünn besiedelt und besitzt einen sehr hohen Waldanteil, dennoch hat er eine Menge zu bieten. Ein Klassiker der Naherholung für Frankfurter ist natürlich die historische Saalburg, die einst als Basis für die Limesbewachung der Römer diente. Schnell zu erreichen über die B 456. Extrem gut erhalten … könnte man sagen. Das wäre aber nicht ganz richtig, denn die Saalburg wurde wiederaufgebaut. Wie so oft musste auch diese Ruine einst als Steinbruch Federn lassen. Erst 1747 hat der Regierungsrat von Hessen-Homburg Elias Neuhof erkannt, dass dieser Steinbruch einst ein Römisches Kastell war. Es sollte allerdings noch 71 weitere Jahre dauern, bis dem Steinraub 1818 durch einen Erlass des Landgrafen Friedrich v. Hessen-Homburg Einhalt geboten wurde. Heute erscheint die Saalburg wie neu. Der originalgetreue Bau bringt dem Besucher das Leben längst vergangener römischer Besatzungszeiten nahe.

 

Ein Steinwurf entfernt befindet sich der der Hessenpark, ebenfalls ein Klassiker der Frankfurter Naherholung. In diesem Freilichtmuseum ist die architektonische Geschichte Hessens zu bewundern. Mühevoll an zahllosen Orten Hessens abgebaut und im Hessenpark wieder aufgebaut, entstand dort mitten im Wald bei Neu-Anspach ein Dorf mit beachtlicher Größe und herausragender historischer Bedeutung. Sogar zwei Mühlen kann man im Dorf besichtigen. Mindestens eine davon ist sogar voll funktionsfähig. Vor dem Eingang hat man einen historischen Marktplatz errichtet mit Restaurants, Souvenirladen und Bäckerei. Insbesondere die Bäckerei ist sehr beliebt, da hier nach uralten Rezepten gebacken wird. Eine Warteschlange quer über den Marktplatz ist keine Seltenheit.

 

Wer nach so viel Historischem vergnüglich in den Alltag zurückkehren möchte, kann in wenigen Minuten vom Hessenpark in den Freizeitpark Lochmühle fahren. Die Lochmühle ist ein rustikaler Freizeitpark mit Fahrgeschäften und allerlei familienfreundlichen Plätzen wie z.B. Grillhütten, die man reservieren kann. Flossfahrten auf dem Erlenbach, der den Park durchquert, sind ein Erlebnis, ebenso die Tiere im Streichelzoo, die man füttern darf. Man findet hier zwar keine Hightech-Fahrgeschäfte wie in den Megaparks Phantasia-Land oder Europapark, kann aber auf jeden Fall einen schönen Tag mit den Kindern verbringen.

 

Bleiben wir im Taunus und entfernen uns ein wenig von seinen klassischen und, zugegeben ein wenig überlaufenen, Hauptattraktionen. Wer gerne wandert, ist hier nämlich genau richtig. Der Taunus ist ein Wanderparadies. Das Mittelgebirge ist durchzogen von schattigen Wanderwegen. Das Schöne daran ist, dass man durch den dichten Waldbewuchs die Highlights erst dann sieht, wenn man vor ihnen steht. Das erfordert natürlich einen guten Orientierungssinn oder gutes Kartenmaterial. Absolut empfehlenswert ist ein Besuch der Eschbacher Klippen bei Usingen. Hinter dem Namen »Eschbacher Klippen« verbirgt sich eine bizarre Felsformation, die gerne auch von Kletterern genutzt wird. Aber auch, wenn man nicht klettern mag, ist ein Besuch dieser Laune der Natur unbedingt empfehlenswert.

Büdinger Schloss