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Aaron Sahr

Keystroke-Kapitalismus

Ungleichheit auf Knopfdruck

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Alles gehört dir
Eine Welt aus Papier
Alles explodiert

Tocotronic

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition

eISBN 978-3-86854-924-9

© 2017 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-315-5

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Einleitung

ISchulden

Kapitalangebot

Verschuldungsstimmung

Von Kontrolle auf Sorge

Soziotechnische Innovationen

Auf- und Abwertungsmechanismen

#haben

IIHaben

Von System zu Praxis

Ökonomische Praktiken

Kapitalistische Praktiken

#können

IIIKönnen

Geschriebene Werte

Verteilungsanstalten

Kapitalproduzenten

#aneignen

IVAneignen

Zum Dualismus in der Politischen Ökonomie

Vermögensinflation

Plünderungszirkel

Zinsgewinne

#verändern

VVerändern

Legitimatorische Obdachlosigkeit

Instabil und dysfunktional

Banken ökonomisieren?

Geldschöpfung demokratisieren?

#keystrokes

Literatur

Zum Autor

Einleitung

Es gibt auf der Welt derzeit etwa 256 Billionen US-Dollar Privatvermögen. Diese Zahl ist gut 800 Mal so groß wie der Staatshaushalt der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2016 und etwa dreieinhalb Mal so groß wie die globale Wirtschaftsleistung.1 In wohlhabenden OECD-Ländern wie den USA, Großbritannien oder Frankreich entspricht das Privatvermögen etwa fünf- bis sechsmal der Summe des jährlich erwirtschafteten Wertes. Und auch im poststaatswirtschaftlichen China ist das Privatvermögen inzwischen auf das Viereinhalbfache der Wirtschaftsleistung angewachsen.2

Dieser Rekordwohlstand steht im Kontext zweier weiterer Befunde, die zusammen auf eine gesellschaftliche Krise verweisen und das Thema dieses Buches bilden. Gleichzeitig zum prosperierenden Privatvermögen kämpft die Welt mit einem Höchststand an Schulden: Staaten, realwirtschaftliche Unternehmen und Konsumenten sind mit 152 Billionen Dollar verschuldet,3 hinzu kommen gut 45 Billionen Dollar Schulden der Finanzindustrie.4 Dass die Welt ungeheures Privatvermögen anhäufen kann und gleichzeitig in einem solchen Maße verschuldet ist – in der Mitte des 20. Jahrhunderts unvorstellbar –, ist selbstredend kein Zufall. Natürlich sind die Schulden des einen die Vermögen des anderen. Die gute Hälfte des Privatvermögens besteht aus Finanzanlagen, also Bankguthaben, Ansprüchen gegenüber Fonds oder Versicherungen, Staatskrediten, Aktien usw.5 Werten also, die nur deswegen Vermögen sind, weil ein anderer versprochen hat, Zahlungen zu leisten – und von jenen gibt es immer mehr. Viele Experten warnen seit Jahren davor, dass die privaten und öffentlichen Schulden Höhen erreicht haben, die durch die mit normalen ökonomischen Prozessen generierten Einnahmen nie wieder abzutragen sein werden.6

Das Wachstum privater Vermögen und die zunehmende Verschuldung der OECD-Welt stehen darüber hinaus aber auch in einem dynamischen Kausalzusammenhang, der auf die Ungleichheitswende verweist – den dritten Ausgangsbefund. Denn sowohl Einkommen und Vermögen als auch die Schulden selbst sind zunehmend ungleichmäßig verteilt. Zwar sind im weltweiten Maßstab die Einkommen der sogenannten »globalen Mittelklassen« in den letzten Jahren gestiegen und haben insofern die Ungleichheit zwischen den Ländern relativ gesehen etwas abnehmen lassen,7 allerdings zeigt der Blick in einzelne der wohlhabenden Länder ein ganz anderes Bild. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Anteil, den die einkommensstärksten und reichsten oberen Prozent der Vermögenspyramide bei sich konzentrieren konnten, in vielen entwickelten OECD-Ländern zunächst gesunken. Die dadurch geschürte Hoffnung auf sich zunehmend und dauerhaft egalisierende Gesellschaften allerdings wurde enttäuscht.8 Seit den späten 1970er Jahren wird die Verteilung des Einkommens und besonders die Verteilung des Privatvermögens wieder zunehmend asymmetrischer. Zwischen 1978 und 2015 ist beispielsweise die tatsächliche, inflationsbereinigte Kaufkraft des Einkommens der ärmeren Hälfte der amerikanischen Bevölkerung um ein Prozent gefallen. Im gleichen Zeitraum hat das tatsächliche Einkommen des reichsten einen Prozents der Einkommensverteilung um fast 200 Prozent zugenommen.9 In Frankreich, das unter Umständen als Repräsentant eines westeuropäischen Musters gelten kann,10 ist das Einkommen seit Mitte der 1970er um etwa ein Prozent pro Jahr gewachsen. Zieht man allerdings das eine Prozent der Bevölkerung mit den höchsten Einkommen ab, so bleiben nur noch 0,6 Prozent für die verbleibenden 99 Prozent. Für die meisten Länder des OECD-Raums lässt sich Vergleichbares feststellen.11

Die Verteilung von Vermögen zeigt dieselbe Entwicklung: Anfang der 1960er besaßen die reichsten zehn Prozent in Großbritannien beispielsweise etwa 67 Prozent des Privatvermögens und in Frankreich und den USA waren es etwa 70 Prozent. Zwanzig Jahre später war dieser Anteil zunächst auf unter 50 Prozent respektive gut 60 Prozent in den USA gesunken.12 Dann kam die Trendwende, um 2010 besaßen die reichsten Bürger Großbritanniens bereits wieder annähernd 54 Prozent, Frankreichs etwa 56 Prozent und der USA knapp 74 Prozent des gesamten Privatvermögens.13

Ökonomische Ungleichheit kann deswegen von der Soziologie heute, wie Pierre Rosanvallon bemerkt, nicht als »eine Erblast der Vergangenheit« behandelt und etwa mit einem Verweis auf langfristige Trends der Egalisierung beiseitegeschoben werden.14 Vielmehr haben wir es mit der »Umkehr einer säkularen Tendenz« zu tun, einem »spektakulären« und »historische[n] Bruch«.15 Es gilt, nach den Ursachen für diesen Bruch zu forschen.

Beobachter und Beobachterinnen mit einem wirtschaftsliberal imprägnierten sozialen Sensorium kritisieren die Ungleichheitsforschung manchmal dafür, am Interesse der Menschen vorbeizudenken. Anstatt sich darüber zu echauffieren, dass einige Wenige fast das gesamte Kapital der Welt besitzen, und damit Neiddebatten anzuheizen, solle man sich auf die Kritik und Bekämpfung von Armut konzentrieren.16 Gegen Armut könne man, so die Begründung des Einwands, mit wenig Aufwand große Verbesserungen erreichen. Schon geringe Investitionen hätten hier weit größere Effekte als etwa teure, aufwendige und normativ umstrittene Umverteilungspolitiken. Da ist etwas dran, doch letztlich steckt im Verweis auf Armut als eigentliches Problem ein problematisches theoretisches Konstrukt des (Neo)liberalismus: die Vorstellung nämlich, Ökonomie sei letztendlich eine Veranstaltung von Individuen – und nicht, wie es die Perspektive der Wirtschaftssoziologie voraussetzt, eine Sache von Strukturen. Die liberalistische Wirtschaftstheorie von Adam Smith bis Milton Friedman denkt Ökonomie als Veranstaltung autonom entscheidender Haushalte, die Kapital einsetzen, um ihre Situation zu verbessern. Armutsbekämpfung heißt in dieser Tradition die Verbesserung der »Marktchancen« kapitalloser Haushalte durch Transferzahlungen und Ausbildung, die die »Marktgängigkeit« der Menschen erhöhen. In der Forderung, sich statt mit Ungleichheit doch lieber mit Armut zu beschäftigen – die nicht zufällig mit dem Morgengrauen des neoliberalen Zeitalters en vogue wurde –, steckt also bereits die theoretische Annahme einer klassisch liberalistisch gedachten (politischen) Ökonomie, die strukturelle Bedingungen wie asymmetrischen Kapitalbesitz oder die ungleich verteilten Begünstigung durch wirtschaftliche Systeme oder gesellschaftliche Bedingungen schlicht ignoriert.17 Damit soll die in den meisten Fällen lebensbedrohliche Dramatik von Armut als gesellschaftlichem Problem keinesfalls in Abrede gestellt werden. Armutsbekämpfung ist wichtig und sie muss ausgeweitet werden, weil sie Leben rettet. Aber von den Sozialwissenschaften zu fordern, sich deswegen nicht mehr mit ökonomischer Ungleichheit zu beschäftigen, ist keine wissenschaftliche, sondern eine politische Forderung, die denjenigen in die Hände spielt, die von diesem System so viel stärker profitieren als die große Mehrheit. Der Versuch, mit dem Verweis auf die Armut von der Ungleichheit abzulenken, verhindert sogar eine wirksame Armutsbekämpfung, wie nicht zuletzt die Weltbank betont.18 Es gilt also – und dazu versucht dieser Essay einen Beitrag zu leisten – die Strukturen zu identifizieren, die einige wenige bevorzugen und so viele benachteiligen. Eine dieser Strukturen ist das Finanzsystem.

Finanzvermögen sind noch ungleicher verteilt als die Vermögen insgesamt. In den USA gehören über 90 Prozent der Unternehmensanteile, Schuldverschreibungen sowie Fonds- und Stiftungsforderungen den reichsten zehn Prozent; bei Lebensversicherungen, Bankeinlagen und Pensionsforderungen sind es jeweils gute 60 Prozent. Eine relativ kleine Minderheit besitzt also eine deutliche Mehrheit der Finanzanlagen – und das gilt praktisch für die ganze Welt.19 Je weiter man in der Vermögensverteilung nach oben schaut, desto mehr Finanzvermögen im Verhältnis zu Sachvermögen wird man sehen. Das ist nun vor allem deswegen beachtenswert, weil der Halter einer Finanzanlage – der Gläubiger – Anrechte auf Tilgungs- und Zinszahlungen des Schuldners sein Eigen nennt. Anders als Sachwerte wie Häuser, Autos, Maschinen, Land usw. sind Finanzwerte also immer auch Transferbeziehungen. Einkommen aus diesen Transferbeziehungen werden mehr und wichtiger für das Gesamteinkommen, je näher man der Spitze der Vermögenspyramide kommt.20

Die Schuldner dieser Transferbeziehungen finden sich in der Mehrheit in den ärmeren Schichten der Vermögensverteilungen: Während die Bürgerinnen und Bürger der Eurozone beispielsweise im Durchschnitt (also inklusive der reichsten zehn Prozent) Schulden in der Größenordnung von etwa 20 Prozent ihrer Vermögen haben, so haben die einkommensschwächsten 20 Prozent mit etwa 110 Prozent mehr Schulden als Vermögen, sind im Durchschnitt also komplett überschuldet.21 Anfang der 1980er Jahre waren die einkommensschwächeren 95 Prozent der US-Bevölkerung im Durchschnitt weniger verschuldet als die oberen fünf Prozent. Mitte der 2000er hingegen waren die 95 Prozent deutlich überschuldet (ihre Schuldenquote hat sich verdoppelt), während die einkommensstärkeren fünf Prozent ihre Verschuldung sogar reduziert hatten.22 De facto, unabhängig von einer Bewertung dieser Entwicklung, ist das Finanzsystem in den letzten 25 Jahren asymmetrischer geworden. Weil Finanzvermögen (vor allem bei sehr Wenigen versammelt) und Schulden (vor allem bei der großen Mehrheit zu finden) zwei Enden einer Beziehung sind, die man Zahlungsversprechen nennen kann, hat das System der Finanzanlagen intrinsische Wohlstandseffekte: Die wohlhabende Spitze der Vermögensverteilung und die ärmere untere Hälfte stehen sich nicht nur als unabhängige Gruppen gegenüber, die »Habenden« auf der einen Seite der Mauer, die »Nichthabenden« auf der anderen; vielmehr ist die Minderheit an der Spitze als Halter der meisten Finanzanlagen Gläubiger der Mehrheit. Die Finanzanlagen leiten als Zahlungsversprechen Zins- und Tilgungszahlungen von der Schuldnermehrheit zur Gläubigerminderheit. Das Finanzsystem funktioniert als gewaltiges Transfersystem von unten nach oben. Um die Trinität aus privatem Wohlstand, Schuldenrekord und der Ungleichheitswende zu durchschauen, muss man deswegen verstehen, wie das Finanzsystem so groß und wichtig und gleichzeitig zunehmend asymmetrisch werden konnte.

Die wachsenden Finanzvermögen der Wenigen, die gleichzeitig die wachsenden Schulden der Mehrheit darstellen, verweisen genauer gesagt auf eine Restrukturierung des globalen Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 20. und den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts. Der erste Aspekt dieser Restrukturierung ist der Prozess der Finanzialisierung: Ausgelöst durch eine Lockerung der Spielregeln für die Finanzwirtschaft und die Erfindung innovativer Produkte wurde das Finanzsystem seit den späten 1970er Jahren zu einem immer attraktiveren Ort für Kapitalakkumulation. Das heißt, immer mehr Kapitaleinnahmen wurden durch Investitionen in Schulden generiert, immer weniger durch die Investition in Arbeitskraft, Industrie oder sonstige Realwirtschaftsbereiche. Wer verstehen will, warum es so viel Privatvermögen gibt, das gleichzeitig so ungleich verteilt ist, der muss sich zunächst anschauen, warum überhaupt so viele Finanzwerte – und damit so viele Schulden – produziert werden und warum diese Investments so ertragreich wurden. Die Grundlagen dafür legt das erste Kapitel und verweist dabei auf die Besonderheit des Treibstoffs der Finanzialisierung, den Kredit.23

Die Trinität aus wachsendem privaten Wohlstand, anschwellenden Schuldenbergen und zunehmender Ungleichheit verweist auf eine besondere Struktur im Maschinenraum des Kapitalismus. Diese Struktur wird in Analysen und Kritiken allzu oft unterschätzt. Auch deswegen fehlen uns derzeit vernünftige und zielführende Antworten auf die ökonomischen Krisen und neuen globalen Verwerfungen. Wenn man von Kapitalismus spricht, dann wird der Begriff zumeist gleichbedeutend mit »kapitalistischer Ökonomie« verwendet. Kapitalismus gilt uns als eine spezielle Form, ökonomische Wertschöpfungsprozesse zu organisieren, was auch erklärt, warum kritische Analysen dieser Organisationsform des Ökonomischen häufig auf alternative Wirtschaftsmodelle abzielen. Digitalisierungseuphoriker wie Jeremy Rifkin oder Paul Mason beispielsweise sehen durch die neuen Internettechnologien postkapitalistische Wertschöpfungsprozesse am Horizont aufziehen, weil dank dezentraler Produktion (z. B. durch den heimischen 3D-Drucker) und freiem Informationsaustausch (z. B. die Muster, die dem 3D-Drucker sagen, was er zu tun hat) Produkte ressourcenschonend, dezentral und ohne Gewinnoptimierungszwang hergestellt werden könnten.24 In anderen kapitalismuskritischen Studien und Kommentaren liest man von nichtkapitalistischen Wertschöpfungsprozessen, die sich auf Gemeineigentum, lokale Tausch- und Geschenkprojekte, urbane Selbstversorgungsexperimente, solidarische Netzwerke und viele andere auf Hoffnung beruhende Alternativen beziehen.25 Das Problem dieses Denkmusters ist dabei die unhinterfragte Identifikation von Kapitalismus und kapitalistischer Ökonomie. Auf den ersten Blick suggeriert die Redeweise von einer kapitalistischen Ökonomie zwar, dass »Kapitalismus« und »Ökonomie« zwei differenzierbare Konzepte sind. Dann aber wird in einem zweiten Schritt so argumentiert, als könne man allein kapitalistische Wertschöpfungsprozesse von prä- oder postkapitalistischen unterscheiden, über das Gegenteil wird nicht gesprochen. Denn wenn »Kapitalismus« und »Ökonomie« zwei differenzierbare Konzepte sind, dann muss es auch so etwas geben können wie einen nichtökonomischen Kapitalismus. Das zweite Kapitel wird sich bemühen zu ergründen, was man sich darunter vorstellen kann.

Die Identifikation von nichtökonomischen – oder, wie es später etwas abgeschwächter heißen wird: paraökonomischen, aber dennoch kapitalistischen – Wertschöpfungsprozessen ist für eine Analyse (und eine Kritik) der Trinität von wachsendem privaten Wohlstand, anschwellenden Schuldenbergen und zunehmender Ungleichheit entscheidend. Denn die Finanzialisierung, die im ersten Kapitel in ihre Einzelteile zerlegt wird, wird von einer solchen paraökonomischen Wertschöpfung angetrieben: dem Privileg privater Banken, Geld durch die Vergabe von Krediten aus dem Nichts zu erschaffen. Dieses Geldschöpfungsprivileg wird im dritten Kapitel vorgestellt. Die gewaltigen Kapitalmengen, die seit Jahrzehnten den Aufstieg des Finanzsystems und damit die Ausdehnung der Schuldenmenge antreiben, kommen nicht, wie manchmal in der Alltagskommunikation unterstellt wird, durch Arbeit in die Welt, sie werden auch nicht, wie die meisten vermuten,26 durch die Regierungen produziert und auch nicht, wie in Ökonomielehrbüchern häufig zu lesen ist, durch die Zentralbanken. Vielmehr sind es heute private Geschäftsbanken, die einen Großteil des Geldkapitals durch die Vergabe von Krediten »aus dem Nichts« erschaffen, unabhängig von der Kontrolle durch Regierung oder Zentralbank, einfach, indem sie eine Zahl auf einem Computerkeyboard eintippen und mit der Eingabetaste bestätigen. Geldkapital wird heute durch Tastendruck – »keystroke« – erzeugt.27

Die Tatsache, dass Banken heute bei der Vergabe von Krediten Kapital aus dem Nichts erzeugen können, ohne dabei auf den verfügbaren Bestand an Kapital eigentum angewiesen zu sein, unterläuft nicht nur eingespielte Verortungen des kapitalistischen Kommandozentrums bei den Kapitaleigentümern, sondern auch die politische Semantik, mit der die Zusammenhänge von Finanzialisierung und radikal ungleichmäßiger Vermögensbildung gemeinhin beschrieben und diskutiert werden. Die Wertschöpfung von Banken ist eine Ausnahme im Herzen des kapitalistischen Systems – nicht, weil sie nicht kapitalistisch agieren würden, sondern im Gegenteil, weil sie so agieren können, ohne den Beschränkungen zu unterliegen, die allgemein für Akteure in ökonomischen Systemen unterstellt werden. Diese Ausnahmesituation, in der Kapital einfach »auf Knopfdruck« entsteht, nenne ich Keystroke-Kapitalismus.28

Während die ersten drei Kapitel zu erklären versuchen, wieso die Schulden und das private Vermögen im letzten Vierteljahrhundert derartig stark zugenommen haben, stellt das vierte Kapitel die Verbindung zum dritten Teil der Triade her, der Ungleichheitswende. Es wird darum gehen, genauer zu verstehen, wie – auf welche Weise, durch welche Strukturierungen oder Kanäle – Akteure von dem Geldschöpfungsprivileg privater Banken profitieren. In der Ungleichheitsforschung wird allzu häufig übersehen, dass im Kapitalismus der Gegenwart ökonomische und paraökonomische Verteilungseffekte zusammenwirken. Dieser blinde Fleck verhindert auch eine wirksame Sondierung möglicher Dimensionen für Veränderung – das Thema des abschließenden fünften Kapitels. Der Umverteilungsstaat muss eben nicht nur gegen die Effekte von Prozessen arbeiten, die von Kapitaleigentümern angestoßen werden, sondern auch gegen solche, die auf Kapitalproduzenten – Banken – zurückzuführen sind. Will man diesen ungleichen 2-gegen-1-Kampf gewinnen, darf man nicht nur über Umverteilung reden, sondern muss auch den Keystroke-Kapitalismus selbst zur Disposition stellen.

1Diese kollektive Wertschöpfung wird vom Internationalen Währungsfonds (IWF) für das Jahr 2015 auf etwa 73 Billionen US-Dollar (im Folgenden: Dollar) geschätzt. Vgl. zu diesen Daten Credit Suisse, Global Wealth Databook 2016.

2Alvaredo u. a., »Global Inequality Dynamics«.

3Daten des IWF, abrufbar unter https://www.imf.org/en/Data.

4McKinsey Global Institute, »Financial Globalization: Retreat or Reset?«.

5Vgl. Credit Suisse, Global Wealth Databook 2016.

6Vgl. Streeck, Gekaufte Zeit; Crouch, »Privatised Keynesianism«; Keen, Debunking Economics; Pettifor, Production of Money; McKinsey Global Institute, »Financial Globalization: Retreat or Reset?«.

7Milanovic, Die ungleiche Welt.

8Diese Erwartung geht nicht zuletzt auf die einschlägigen Studien von Simon Kuznets zurück (siehe etwa: Kuznets, »Economic Growth and Income Inequality«). In der neueren Ungleichheitsforschung wird vielfach auf diese enttäuschte Erwartung Bezug genommen: Piketty, Das Kapital, S. 25–34; Atkinson, Ungleichheit, S. 63f.; Milanovic, Die ungleiche Welt, S. 55; Bourguignon, Die Globalisierung der Ungleichheit, S. 65f.; Galbraith, Inequality, S. 29f. Man glaubte, in den Worten Pikettys, dass »die ausgleichenden Kräfte von Wachstum, Wettbewerb und technologischem Fortschritt von selbst zu einer Verringerung der Ungleichheit und einer harmonisierenden Stabilisierung in den fortgeschrittenen Entwicklungsphasen« (Piketty, Das Kapital, S. 13) von Volkswirtschaften führen würden.

9Alvaredo u. a., »Global Inequality Dynamics«.

10Ebd., S. 4.

11OECD, Divided We Stand.

12Daten der World Income and Wealth Database (www.wid.world) und der OECD (stats.oecd.org/).

13Förster u. a., »Trends in Top Incomes and their Taxation in OECD Countries«; OECD, In It Together.

14Rosanvallon, Gesellschaft der Gleichen, S. 12.

15Ebd., S. 15.

16Zu diesem Einwand: Atkinson, Ungleichheit, S. 35ff.

17Ebd., S. 37.

18World Bank, Poverty and Shared Prosperity 2016: Taking on Inequality.

19Brandmeir u. a., Allianz Global Wealth Report 2015, S. 19.

20Förster u. a., »Trends in Top Incomes«.

21Credit Suisse, Global Wealth Databook 2016.

22Kumhof/Rancière, »Leveraging Inequality«; Goda/Lysandrou, »The Contribution of Wealth Concentration to the Subprime Crisis«.

23Offensichtlich kann die Ungleichheitswende nicht durch singuläre Faktoren erklärt werden. Die Ursachen der zunehmenden Einkommens- und Vermögenskonzentration lassen sich grob in drei Kategorien einteilen: Die Ökonomen Atkinson und Milanovic verweisen für eine Erklärung der Ungleichheitswende auf die Umstrukturierung der Arbeitsmärkte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die man unter dem Titel Globalisierung und technologischer Wandel zusammenfassen kann. (Milanovic, Eine ungleiche Welt, S. 18; Atkinson, Ungleichheit, S. 111ff.). Die Globalisierung von Arbeitsmärkten begünstigt, verschärft von der steigenden Technologieabhängigkeit der Produktionsketten, gut ausgebildete Arbeitskräfte in sogenannten wissensintensiven Betätigungsfeldern und benachteiligt einfache Industriearbeiter. Diese Einschätzungen teilen viele institutionelle Beobachter der Ökonomie (ILO, World of Work Report 2011; OECD, Employment Outlook 2007; OECD, Growing Unequal?; European Commission, Employment in Europe 2007; IMF, World Economic Outlook 2007). Piketty, Das Kapital, oder Stiglitz, Reich und Arm, diskutieren weitere Faktoren, die soziologische Debatte sowieso, einen Überblick bieten Mau/Schöneck (Hg.), (Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten; Bude/Staab (Hg.), Kapitalismus und Ungleichheit.

24Rifkin, Null-Grenzkosten-Gesellschaft; Mason, Postkapitalismus; vgl. zur These der Digitalökonomie als nichtkapitalistische Wertschöpfungsform: Elder-Vass, Profit and Gift in the Digital Economy.

25Vgl. exemplarisch Helfrich/Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Commons.

26Cobden Centre, Public Attitudes to Banking.

27Wray, Modern Money Theory, S. 81.

28Vgl. zu diesem Begriff Sahr, »Reichtum aus Feenstaub«, und ders., Das Versprechen des Geldes.

ISchulden

Wer im Jahr 1980 einen Betrag von 1000 Dollar anlegen wollte und davon Gold gekauft hat, hätte seinen Barren 35 Jahre später nur mit einem Verlust verkaufen können.29 Wer im Jahr 1980 von den 1000 Dollar Rohöl erworben hat, der bekam dafür gut 15 Fässer, die im Jahr 2005 (inflationsbereinigt) etwa 1600 Dollar wert gewesen wären.30 Wer die 1000 Dollar allerdings stattdessen im Jahr 1980 in erfolgreiche Unternehmensanteile des S&P-500-Aktienindex der USA investiert hat, konnte sich im Jahr 2005 über rund 23800 Dollar freuen. Für diesen Preisanstieg von Finanzanlagen ist eine tiefgreifende Transformation der globalen Ökonomie in einem erheblichen Maße verantwortlich, die Finanzialisierung genannt wird.31 Die Sozialwissenschaften diagnostizieren mit diesem Begriff eine seit den späten 1970er Jahren spürbare Verschiebung des Schwerpunkts der Gewinnerwirtschaftung von der Realauf die Finanzwirtschaft – man könnte auch von der Herausbildung eines dominanten Akkumulationsmusters sprechen.32 Immer mehr Geld wurde auf den Finanzmärkten investiert und wurde sich von den Finanzmärkten geliehen, statt unmittelbar durch die Produktion und den Verkauf von Nahrungsmitteln, Kraftfahrzeugen oder Haarschnitten und dergleichen verdient zu werden.

Auf den Finanzmärkten werden Zahlungsversprechen gehandelt – Schulden – in vielen verschiedenen Formen.33 Wenn wir von Finanzanlagen sprechen, reden wir sowohl über ganz schlichte Rückzahlungsversprechen wie Kredite für den Erwerb von Wohnimmobilien, Konsum, Ausbildung oder Unternehmensgründungen und Schuldverschreibungen von Unternehmen und Staaten oder Anteile von Fonds, aber auch über Zahlungsversprechen, die mit weiteren Elementen angereichert wurden. Aktien etwa sind Anrechte auf Gewinnbeteiligungen, sie sind also Versprechen auf Dividenden, ermöglichen in zweiter Instanz aber auch die Ausübung eines gewissen Einflusses auf die Entscheidungen des Unternehmens. Ebenso sind Versicherungsansprüche mehr als »bloße« Schulden, im Kern aber auch an bestimmte Bedingungen geknüpfte Zahlungsversprechen. Zusammenfassend lässt sich der mit dem Finanzialisierungsbegriff in den Blick gewonnene Wandel deswegen als Bedeutungsgewinn von Schulden im Kapitalismus der Gegenwart begreifen.

Dieser Bedeutungsgewinn lässt sich in den Statistiken leicht entdecken: Kredite und sonstige Schuldverschreibungen sind zusammen mit Unternehmensanteilen von zwölf Billionen Dollar im Jahr 1980 über 56 Billionen Dollar im Jahr 1990 auf etwa 239 Billionen Dollar im Jahr 2015 angewachsen.34 Zahlungsversprechen haben sich damit in den letzten gut vierzig Jahren viel schneller vermehrt, als die Wirtschaftsleistung der Welt nachgewachsen ist, das Volumen an Finanzanlagen hat also vor allem relativ zur Wirtschaftsleistung zugenommen.35 Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1970 sind Bankschulden in den entwickelten Volkswirtschaften von ungefähr 16 Prozent auf 70 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts angewachsen, heute erreichen sie im Durchschnitt etwa 140 Prozent.36 Schaut man sich in den Daten der Weltbank den Indikator broad money an,37 der, neben Bankeinlagen, Bargeld (das einen zu vernachlässigend geringen Anteil hat), Festgeld und anderen, kurz- oder langfristige Schuldpapiere umfasst, wird diese Entwicklung auch für die globale Dimension deutlich: Im Jahr 1960 gab es solche Finanzanlagen in einem Umfang von etwa 50 Prozent der Weltwirtschaftsleistung, heute sind es gut 120 Prozent. Außerdem ist zusätzlich zu den im Indikator broad money erfassten Finanzanlagen die weltweite Marktkapitalisierung – der Wert der Aktien – von knapp 30 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung im Jahr 1975 auf gut 97 Prozent im Jahr 2015 gestiegen. Es gibt heute also viel mehr Schulden in Relation zur Leistungsfähigkeit der Wirtschaft als noch vor gut vierzig Jahren. Mit dieser Expansion geht auch eine Erhöhung der finanzwirtschaftlichen Profite relativ zu den insgesamt in allen Bereichen erzielten Unternehmensgewinnen einher. Das heißt, Finanzfirmen erzielen einen deutlich höheren Gewinn auf den Kapitaleinsatz als Industrieunternehmen oder nichtfinanzielle Dienstleister.38 In diesem Zusammenhang ist es kaum überraschend, aber doch noch einmal wichtig, gesondert zu betonen, dass auch die Gehälter der Finanzwirtschaft deutlich gestiegen sind – und zwar deutlich stärker als der allgemeine Durchschnitt. Das Durchschnittsgehalt in der US-Finanzbranche lag im Jahr 2000 etwa 60 Prozent über dem allgemeinen Mittelwert, vor 1980 gab es noch keinen Unterschied.39

Diese eindrucksvolle Expansion der Finanzen wurde von einer wachsenden Nachfrage nach Finanzanlagen aus allen Sphären der Gesellschaft angetrieben. Diese Nachfrage kann (und muss) bei Finanzwerten immer beides bedeuten: es braucht sowohl jemanden, der Gläubiger werden will (also Kapital zum Verleihen anbietet), als auch jemanden, der Schuldner werden möchte – etwa um eine Geschäftsidee umzusetzen, Konsumträume zu verwirklichen, in Ausbildung zu investieren oder alte Schulden zu begleichen. Wer Schuldner werden will, der will Kapital sofort und hat entweder keine Geduld oder keine Möglichkeiten, es anzusparen. Wer Gläubiger werden will, also eine Nachfrage nach Finanzanlagen entwickelt, der will mit Zinsen oder Dividenden Geld verdienen. Um den Prozess der Finanzialisierung zu verstehen, ist es deswegen hilfreich zu fragen, welche Akteure sich verstärkt für die Zahlungsversprechen als Investitionsfeld interessiert haben und welche sich zunehmend als Schuldner engagierten.

Kapitalangebot

(HNWIs) waren im Jahr 2007 Gläubiger von 14 Prozent der weltweiten Schuldverschreibungen.41