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HELGE-ULRIKE HYAMS

Das Alphabet
der Kindheit

Von A wie Atmen

bis Z wie Zaubern

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»Es ist deine Zukunft, an die du dich erinnerst.«

Anne Michaels

Vorwort

Einleitung

A

ABC-Lernen

Adoption

Anders sein

Angst

Archetyp Kind

Atem

Autismus

B

Baum

Bindung

Blind

Brot

C

Clique

D

Däumling

Disziplin

E

Eifersucht

Einsamkeit

Eis

Ekel

Eltern

Ende der Kindheit

Engel

Erstes Mal

Essen

F

Familie

Farben

Ferien

Film

Fliegen

Fragen

Freunde

G

Gang

Garten

Geburt

Gedichte

Geheimnis

Geruch

Geschwister

Gesicht

Glück

Großeltern

H

Haare

Hände

Haus

Heimweh

Honig

Hören

I

Ich

Initiation

Insel

J

Ja und Nein

Jugend

K

Karussell

Kindermord

Kinderwunsch

Kindheitserinnerungen

Kindheitsgeschichte

Kleidung

Körper

Krankheit

Kunst

Kuscheltier

L

Lachen

Lamm

Langeweile

Lehrer

Liebe

Lob

Luftballon

Lügen

M

Magisches Denken

Märchen

Milch

Murmeln

Musik

Mutter

N

Namen

Nest

Neue Medien

O

Opfer

Osterei

P

Pippi Langstrumpf

Puppe

Q

Quälen

R

Raum

Rechts und links

Rituale

S

Sammeln

Sauberkeit

Scham

Scheidung

Schießgewehr

Schlafen und Wachen

Schmetterling

Schnee

Schokolade

Schulschwänzen

Schulweg

Sehnsucht

Selbstmord

Sexualität

Spielzeug

Sprache

Stehlen

Stille

Strafen

Struwwelpeter

T

Tanzen und sich drehen

Teddybär

Tiere

Tod

Träume

U

Ungeborene Kinder

Urvertrauen

V

Vater

Verbotenes

Vögel

W

Wachsen

Wiederfinden

Wiederholung

Wille

Wolfskinder

Wunderkind

Wünschen

Würde

X

Xenophobie

Y

Youngster

Z

Zahl

Zärtlichkeit

Zaubern

Zeit

Zwillinge

Anmerkungen

Zitatnachweise

Für Yannis Behrakis

VORWORT

»Wie kamen unsere Kinder zustand? Wie wurden sie groß?«

Giorgos Seferis

Die Struktur des Alphabets – sie steht unerschütterlich fest. Jeder Buchstabe nimmt seinen angestammten Platz ein und folgt dem vorhergehenden. Die Themen dieses Alphabets der Kindheit dagegen wählte ich frei und subjektiv. Ich bin mir sicher, dass jeder von Ihnen eine andere, ebenso eigensinnige, ebenso subjektive Auswahl treffen würde. Jeder von uns trägt sein eigenes Wörterbuch der Kindheit in sich, gespeist von seinen persönlichen Erfahrungen und Neigungen.

Eine Anleitung, wie das Alphabet der Kindheit zu lesen sei, gibt es nicht. Seine 26 Buchstaben, jeder für sich einzigartig in Wesen und Gestalt, sind unsere treuen Begleiter. Sie schaffen das Gerüst und den Rahmen, der uns Orientierung gibt beim Durchwandern der Kindheit.

Es liegt ganz an Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ob Sie diese abschreiten von A bis Z, so wie Sie es damals als Kind in der Schule gelernt haben, oder ob Sie nach eigenem Begehren zwischen den Buchstaben herumspazieren wie in einem wilden Garten.

Alles ist möglich.

Helge-Ulrike Hyams

EINLEITUNG

»… hinter der Wissenschaft die Dinge erspüren und verehren, auf die es eigentlich ankommt und über die so schwer zu sprechen ist.«

Werner Heisenberg

Im Zentrum des Buches steht das Kind. Es befindet sich in ständigem Wandel: Es wird gezeugt1 und wächst im Mutterleib heran2, es wird geboren und durchwandert alle Phasen des Wachstums. Dabei pendelt es andauernd zwischen Rückbindung und zukunfts-gerichtetem Vorwärtspreschen.

Ich meine, all diese Erscheinungsformen der kindlichen Metamorphose lassen sich nur ungenügend in vorgegebene theoretische Konzepte pressen. Obgleich lange Zeit als wissenschaftliche Pädagogin tätig, entferne ich mich deshalb hier bewusst vom akademischen Diskurs und fühle mich einem fließenden Denken verpflichtet3, einem Denken, das Wissenschaft und Kunst, Alltagsbeobachtungen und philosophische Erkenntnis beweglich verbindet.

»Das Leben des Individuums wiederholt das Leben der Spezies.«4 Dieser knappe Satz des englischen Psychiaters Ronald D. Laing durchzieht die Texte wie ein roter Faden. Das Kind, das da geboren wird, kommt niemals als Tabula rasa zur Welt. Es hat bereits einen weiten Weg hinter sich. In seinem individuellen Werdegang, den es nun antritt, wird es noch einmal die verschiedenen Stufen der Menschwerdung durchlaufen, welche die Gesellschaft als Kollektiv schon durchwandert hat. Es wird zunächst die Phase des Vorsprachlichen durchleben5, es wird – wie seine Spezies – den aufrechten Gang lernen und sich in Sprache und Denken einüben, als sei es der erste Mensch.6 In Wirklichkeit wiederholt es also die Etappen der Menschwerdung am eigenen Leib. Es ist angewiesen auf die Unterstützung der anderen, auf ihr Vorbild, auf ihre Sprache und ihr Mitgefühl, ohne die es nicht wirklich Mensch werden kann.

Dieses Wunder der Wiederholung der Menschheitsgeschichte im einzelnen Kind spielt sich weitgehend unbewusst ab.7 Zu tief gelagert sind die Erinnerungsspuren an jene fernen Zeitdimensionen, in denen die Menschheit sich als solche heranbildete. Nur manchmal, meist in ganz unerwarteten Momenten und gleichsam als Sternstunden der Kindheit, schimmert etwas durch von diesen Reminiszenzen der kollektiven Vergangenheit. Dann nämlich, wenn das Kind in seine Träume versinkt, wenn es mit den Gestalten der Märchen und Mythen verschmilzt und wenn seine ganz eigene Logik von der unseren entrückt zu sein scheint.

Natürlich steht das Alphabet der Kindheit theoretisch nicht im luftleeren Raum. Doch mit welcher wissenschaftlichen Methode auch immer wir die inneren Vorgänge des Kindes betrachten, mit welcher Theorie wir versuchen, sie zu vermessen, zu erklären und zu durchschauen – am Ende ist es der Satz des griechischen Philosophen Heraklit, der für uns gültig bleibt: »Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfindig machen, auch wenn du gehst und jeden Weg abwanderst, so tief ist ihr Logos.«8

Wir alle waren einmal Kinder, und so wird auch die Betrachtung der Kindheit zu einer ganz persönlichen, manchmal auch abenteuerlichen Reise. Sobald wir uns mit Kindheit beschäftigen, tauchen unsere eigenen frühen Erlebnisse auf – unmöglich, dabei neutral zu bleiben. Doch das ist gut so, denn unsere frühen Erinnerungen haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Allerdings, unabhängig von unserem jetzigen Alter, ist unsere Kindheit sowohl vom Erinnern als auch vom Vergessen geprägt. Über allem Geschehen von damals schwebt ein heilsamer Schleier der frühkindlichen Amnesie (Freud). Es ist also nie die ganze Wahrheit, die wir rückblickend sehen, sondern es sind einzelne Facetten, die wir real zu erkennen glauben, mehrfach gefiltert und umgedichtet im Zuge unserer Biografie.

Sie als Leser kennen sicher alle die Frage: »Habe ich dieses Ereignis wirklich so erlebt oder war es nur die Erzählung der anderen, die es mir heute so real erscheinen lässt?« Häufig lassen sich die einzelnen Fäden, aus denen Kindheit gewebt ist, nur schwer auseinandertrennen. Und oft flüchten wir deshalb in vereinfachende Zuweisungen: in Gut und Böse. Alte Wunden werden verklebt und manchmal wird Glück heraufbeschworen, wo doch keines war. Und umgekehrt: Manchmal wird ein kleines Unglück herausgegriffen und pauschalisiert, so dass die Kindheit von damals nur dunkel und traurig erscheint: »Das sind Jahre, die unglücklich scheinen, aber die glückliche Seite ist darin verflochten, ohne dass ich mir ganz darüber im Klaren bin«, schreibt der französische Regisseur François Truffaut.9

In Wahrheit ist Kindheit niemals ganz gut und nur selten ganz schlecht. Die eigentliche Existenz der Kinder spielt sich in Zwischentönen ab. Sie machen die Musik. Sie durchdringen die Widersprüche des kindlichen Lebens, wie des Lebens generell. Ja, ich kann Mama und Papa lieben und zugleich auch hassen. Ich kann die Schule mögen und trotzdem lieber schwänzen. Und ja, ich möchte wachsen – aber gleichzeitig doch auch ganz klein bleiben. Das ist Kinderleben und das ist der Stoff, aus dem Kindheit gestrickt ist: aus Zwischentönen und Widersprüchen. Das macht ihren Zauber aus und das ist der Inhalt des Alphabets der Kindheit.

A

»Ich bin das Alpha und das Omega,

der Erste und der Letzte,

der Anfang und das Ende.«

Offenbarung 22,13

ABC-Lernen

»Und ich bin froh, dass der alte Mann schläft, dass er nicht gesehen hat, wie rot ich geworden bin. Mir scheint, dass er nicht von dem heißen Tee eingeschlafen ist, sondern vor Kummer, dass wir so schlecht lernen. Er ist ein so stiller Mann, er möchte uns so gern das Alphabet lehren, uns so weit bringen, dass wir wenigstens eine Seite in der Bibel lesen können, wie er immer sagt.«

Bella Chagall

Viele Erwachsene, und vor allem die älteren unter ihnen, besinnen sich der Tränen, die sie beim Erlernen des ABC vergossen haben. Wie kann es sein, dass Schullehrer die Kinder damals zum Schönschreiben zwangen, jene aber später keine Spur von Schönheit erinnern? Sie erleben die fremden Buchstaben nicht selten wie feindselige Soldaten, gerade und stramm, keine Abweichung nach rechts oder links, kein Straucheln unter die Linie. Kinderkrämpfe.

Dabei ist doch das Schreibenlernen, dieser Moment, in dem das Kind erstmals in die Geheimnisse der Schrift eingeführt wird, es sein erstes A, sein erstes O malen darf, ein magischer und einzigartig kostbarer Moment. Hier macht das Kind den bedeutungsvollen Schritt, den die Menschheit als Kollektiv schon lange vor ihm vollzogen hat: den Übergang von der schriftlosen in die Schriftzeit, von einer Zeit vorher in eine nachher.

Vorher, das ist die Zeit, in der das Kind, und ursprünglich die Menschheit als Ganzes, die Dinge um sich herum ausschließlich direkt-sinnlich in sich aufnahm, wohl auch beim Namen nannte, jedoch nicht schriftlich fixierte. Dass ein Ding, ein Mensch, die Sonne, der Mond, das Wasser oder die Tiere aber zum Zeichen werden kann, zu einer in sich verdichteten Hieroglyphe, liegt für das Kind vor dem Schulbeginn noch ganz außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Sicher hat das Kind jetzt auch noch kein wirkliches Begehren10, danach zu suchen und diese fremden Zeichen in ihrem tieferen Sinn zu verstehen.

Und dann, eines Tages, unter der Anleitung eines guten Lehrers, und auch aus einem Impuls heraus, will das Kind die Zeichen enträtseln. Es beginnt von sich aus zu begreifen, dass ein einziger Laut, zu einem Buchstaben geronnen, das Tor zu den unterschiedlichsten Wirklichkeiten eröffnen kann. Das W zu Wasser und Welle. Das K zu Karamell und Kamel. Das M zu Mama und Makkaroni. Und das P zu Papa und Puppe, Popo und Pipi, Parmesan und Pups. Diese Worteinfälle stammen sämtlich von einem siebenjährigen Mädchen, das gerade das P zu schreiben gelernt hat. Dass auch Popo, Pipi und Pups darunter sind – direkt neben Papa und Parmesan –, ist für das Kind glaubwürdig und faszinierend zugleich. Und lustig! In diesem Alter gibt es zum Glück noch keine Hierarchie der Werte – und der Worte.

Das Heranführen an die Schrift ist eigentlich ein Mysterium, und es tut dem Kind gut, wenn es die Einführung in dieses Mysterium bewusst durchleben darf. Im Judentum war traditionell Brauch, dass der Lehrer am ersten Schultag die Buchstaben mit Honig an die Tafel malte. Die Kinder gingen an die Tafel und schleckten mit ihren Fingern den Honig ab. Die Lehrer der Montessori-Schulen lassen ihre Kinder die Buchstaben aus Pappe und anderen Materialien ausschneiden und mit ihnen spielen. In den Waldorfschulen erwächst jeder Buchstabe aus einem Bild, einer Geste oder einer Geschichte heraus, er wird farbig gemalt und nimmt so lebendig Gestalt an. Auf diese Weise haben die Kinder das Gefühl, dass die Buchstaben aus ihren eigenen Händen heraus entstehen, dass sie selbst deren Schöpfer sind.

Die allermeisten Kinder, die in unseren Schulen heute schreiben lernen, erleben dieses große Mysterium nicht. Sie erleben nicht das Glück, die Dinge der Welt in Zeichen zu verzaubern – und umgekehrt die Zeichen zurückzuversetzen in Realität. Die allermeisten Kinder schlucken die Buchstaben wie Medizin, die man ihnen reicht, einen nach dem anderen, in schön ordentlicher Reihenfolge. Sie kritzeln sie auf Linien, und dabei ist es fast belanglos, ob sie ein A oder ein I, ein L oder N schreiben. Kein Buchstabe schillert für sie. Keiner spricht wirklich zu ihnen.

Hören beziehungsweise lesen wir, was der französische Schriftsteller und langjährige Lehrer Daniel Pennac aus seiner Kindheit erinnert. Ich muss erwähnen, dass Pennac als Schulkind ein cancre war, ein Krebs, wie die Franzosen ihre schlechten Schüler gnadenlos bezeichnen. Pennac hatte, als er schreiben lernen sollte, eigentlich nur eines im Sinn: weglaufen! Er berichtet in seinem Buch »Schulkummer«: »Zweifellos ist diese Lust, davonzulaufen, auch der Grund für das seltsame Schreiben, dem ich mich hingab, ehe ich schreiben konnte. Statt Buchstaben malte ich kleine Männchen, die an den Rand flohen, wo sie sich zu einer Bande zusammenschlossen. Obwohl ich mir anfangs immer Mühe gab. Ich pinselte die Buchstaben des Alphabets so gut es ging, aber nach und nach verwandelten sie sich von allein in diese kleinen davonhüpfenden und sich fröhlich anderswo tummelnden Wesen. Noch heute verwende ich diese Männchen in meinen Widmungen. Ich hänge an ihnen. Sie sind mein Band aus der Kindheit, dem ich die Treu halte.«11

Wenn man Daniel Pennac mit seinem Männchen-Malen genau anschaut – und in seinem Buch findet man sie gezeichnet –, dann entdeckt man, dass er damit den Prozess der Schreib-Zivilisation gleichsam umkehrt, rückgängig macht. Er verwandelt die Buchstaben in das, was sie ursprünglich einmal waren, nämlich lebendige Wesen, Männchen, Menschen, vielleicht auch Tiere.12 Auf jeden Fall mussten es kleine Gestalten sein, die weglaufen konnten.

Pennac spielt auf seine fantastisch-poetische Weise mit den Buchstaben. Dabei ahnen wir, dass ihm als Schriftsteller das Thema heilig ist, so wie es auch uns heilig sein sollte. Die Einführung in die Schrift ist für das kleine Kind der zentrale Moment der Initiation in die geistige Welt. Wenn das Kind erst einmal all die kleinen Strichzeichen, die kompliziert zusammengefügten Geraden und Krummen, die Häkchen und Pünktchen beherrscht, dann steht ihm alles Wissen der Welt offen. Und nicht nur das gegenwärtige Weltwissen. Das Kind kann mittels des geschriebenen Wortes auch die Vergangenheit aufschlüsseln und auf diese Weise »mit Hilfe des Aufgezeichneten am kollektiven Gedächtnis teilhaben«.13 Und es kann auch die Worte Morgen und Zukunft schreiben und damit seine Identität auf Papier, auf einer Baumrinde oder im Sand einritzen.

Adoption

»Ein Kind zu adoptieren ist – ich kann es bezeugen – eine gefühlsmäßig reiche Erfahrung, die an Intensität der Erfahrung biologischer Elternschaft durchaus gleicht.«

Olivier Poivre d’Arvor

Es gibt sie nicht: die Adoption. Adoption hat viele Gesichter. Eigentlich bräuchten wir mindestens drei Begriffe, um die extrem unterschiedlichen Wirklichkeiten und Wahrnehmungsweisen ein und desselben Vorgangs zu begreifen. Da ist die Geschichte der Frau, die ihr Kind – unter welchen Umständen auch immer – abgibt. Da ist die Geschichte des Elternpaares oder der Einzelperson14, das sich sehnlichst ein Kind wünscht. Und schließlich ist da das Kind selbst, Objekt des Begehrens und zugleich des Verlassenwerdens. Drei eigene Realitäten, drei zutiefst unterschiedliche Geschichten. Und sofort wird auch spürbar, dass wir damit nur die Hauptakteure erfassen. Um jeden dieser drei ranken sich wieder andere Personen (Partner, Eltern und andere Familienangehörige) oder Institutionen (Sozialämter, Kirchen, Adoptionsvermittler) sowie unendlich viele Möglichkeiten, Sehnsüchte, womöglich auch Abgründe.

Betrachten wir deshalb diese Geschichten einzeln, rücken wir je einen der Akteure ins Licht.

Erstens: Da erscheint das Gesicht der meist jungen Frau, die ungewollt ein Kind empfängt, austrägt, zur Welt bringt und zur Adoption abgibt. Kaum ist dieser Satz ausgesprochen, so schaltet sich Widerspruch ein: Was heißt ungewollt? Welcher Wille war da am Wirken? War es der Eigenwille der Frau, ihr Begehren, ihr Sehnen und ihre körperliche Bereitschaft, schwanger zu werden? War es ihr eigener Wille, das Kind abzugeben? Oder war es vielleicht ein fremder Wille? Etwa der der Eltern, die die Schande von der Tochter abwenden wollten? Oder der Widerspruch des Partners, der sich durch diese Schwangerschaft gestört fühlte? Oder der einer wohlmeinenden Lehrerin, die dem jungen Mädchen riet, erst einmal ordentlich die Schule zu absolvieren? (»Später kannst du noch viele Kinder kriegen!«) Oder war es die Dorfgemeinschaft oder die Kirche, die, zumindest in der Vergangenheit, außereheliche Schwangerschaften als Vergehen ahndete und die Frau häufig drängte, die sündige Tat durch eine Adoption ungeschehen zu machen?15 Im Nachhinein ist es extrem schwer, den authentischen Willen einer Frau zu ergründen, die das Kind zur Adoption freigibt. Häufig ist die junge Frau innerlich extrem zerrissen, hat also Schwierigkeiten, ihren wirklichen Willen zu erkennen und zu benennen.

Manche Frauen, die ihr Kind abgeben, tun dies mit einem hohen Maß an Konsequenz. Vielleicht wollten sie ursprünglich abtreiben, ließen jedoch Termine verstreichen und sehen nun die Lösung in der Freigabe des Kindes zur Adoption. Andere dagegen haben sich eindeutig entschieden, das ungewünschte Kind nicht abtreiben, sondern leben zu lassen, aber sie fühlen sich nicht in der Lage, es anzunehmen und aufzuziehen. Sie glauben, dass das Kind in einer Adoptivfamilie besser aufgehoben ist und gute Entwicklungschancen erhält. Deshalb planen sie gezielt die Adoption und lassen sich selten in ihrem Entschluss irritieren.

Aber das ist doch eher eine Minderheit. Die große Mehrheit der Frauen, die ihre Kinder zur Adoption freigibt, handelt aus dem Gefühl einer seelischen Überforderung heraus. Sie fühlen sich übermäßig beansprucht durch die Schwangerschaft und allein gelassen von Partnern, Eltern, Geschwistern und Freunden. Nicht zu unterschätzen ist auch die Zahl derer, die schon ein oder zwei Kinder haben und plötzlich spüren, dass die Kraft für ein weiteres Kind nicht mehr ausreicht. Die Geburt des Kindes und die damit verbundenen Ängste überwältigen manche Frauen, und sie sind außerstande, die mütterliche Rolle zu übernehmen.

Alle Frauen, die ein Kind zur Welt bringen, brauchen im Moment der Geburt selbst Bemutterung, das heißt liebevolle, umfassende Versorgung und Zusprache. Einfühlsame Partner, die Mütter der Gebärenden, Freundinnen und vor allem Hebammen wissen dies und bauen im Idealfall um die schwangere und gebärende Frau eine Art Schutzwall. Bei der jungen Frau aber, die ihr Kind zur Adoption freigibt, fehlt dieser Schutzwall meistens ganz. Sie ist nur selten umgeben von liebenden und aufbauenden Personen, sondern – wenn überhaupt – von professionellen Helfern, die sie bei den notwendigen juristischen Schritten begleiten.

Nach der erfolgten Adoption fühlt die Frau, selbst dann, wenn sie ihre Emotionen beiseite schiebt, meist eine Leere, die man sich in ihrer Intensität nur schwer vorstellen kann. Wir lassen uns leicht täuschen: Auch wenn die biologische Mutter ihre Entscheidung aus vermeintlichen Vernunftgründen fällt, so durchlebt die Seele die Trennungsqual doch unvermindert stark. Tiermütter klagen oft tagelang nach ihren Jungen, die man ihnen wegnimmt. Menschenmütter schreien selten laut, doch ihr Schmerz ist nicht minder groß.

Seit Sigmund Freud wissen wir, dass die Menschen in unserer Gesellschaft gut lernen, zu verdrängen. Aber er verweist uns gleichzeitig darauf, dass diese Verdrängung ihren Preis fordert und dass sie auf Dauer meistens nicht trägt.16 Ich kenne eine Frau, die als fünfzehnjähriges Mädchen ein Kind aus einer Verbindung mit einem Oxford-Studenten aus Indien zur Adoption gegeben hatte. Lebenslang reiste sie später nach Indien, in der unbewussten Hoffnung, dem Kind eines Tages womöglich dort zu begegnen. Und der Film Philomena (2013) zeigt eine andere Frau, die fünfzig Jahre nach der Geburt ihres unehelichen Sohnes geschwiegen hat und plötzlich verzweifelt nach ihm zu suchen beginnt. So lange hat die Verdrängung ihr Werk getan – dann aber glaubt die Frau nicht weiterleben zu können, ohne ihren Sohn gefunden zu haben.17 »Der Mensch vergisst niemals wirklich. Alle kleinen Einzelheiten leben versteckt irgendwo in den Erinnerungen unseres Geistes«18, schreibt der Koreaner Jung in seinem berührenden Comic über seine eigene Adoption, und in seinen Bildern bezeugt er, dass diese nicht nur im Geist, sondern auch im Körper selbst bewahrt und erinnert werden.

Zweitens: Die Geschichte der Adoptiveltern – so gut wie immer ist dies eine lange Geschichte. Meistens verstreichen Jahre mit vergeblichem Warten auf das eigene (biologische) Kind.19 Oftmals hat das Paar bereits mehrere Fertilitätsuntersuchungen und auch -behandlungen über sich ergehen lassen, bis es sich zur Adoption entscheidet, bisweilen wohl auch durchringt, aus der Einsicht, dass der eigene Kinderwunsch nicht realisierbar ist. Manchmal war es eine qualvolle Wartezeit. Oder, diese Variante existiert heute in zunehmendem Maße, homosexuelle Partner, Männer oder Frauen, ersehnen ein gemeinsames Kind und entscheiden sich für die Adoption.

Der Kinderwunsch entspringt eben nicht, wie manche behaupten, einem narzisstischen Impuls, im Kind ein Stück eigenes Ich zu schaffen. Das wäre psychologisch zu kurz gegriffen. Vielmehr ist es das Begehren, dass der Fluss des Lebens mit mir nicht abbricht, dass er weiterfließe, fleischlich-lebendig. Der Wunsch nach Kindern entspringt der Bejahung des Lebens, der Akzeptanz des Zyklus von Sterben und Werden, so wie Goethe es formulierte: »Und so lang du das nicht hast, dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.«20 Die meisten Menschen fühlen das – bewusst oder unbewusst. Sie spüren den Impuls, dass das Leben weitergehen soll durch sie. Sie wollen Kinder, und zwar Männer und Frauen gleichermaßen.21 Viele Adoptiveltern, die keine Kinder bekommen können, wählen zur Befriedigung dieses Begehrens ein fremdes Kind. Mit der Kraft ihres Willens und ihrer Liebe nehmen sie ein ihnen unbekanntes Wesen an Kindes statt an, geben ihm Namen, Nahrung, Haus und Zukunft. Das erfordert Mut und eine tragfähige Motivation und Durchhaltekraft. Ganz so wie jedes Elterndasein.

Und schließlich – drittens – ist da das Adoptivkind selbst. Die allermeisten Kinder haben das Glück, in eine liebende Familie aufgenommen zu werden, die schon lange sehnsüchtig auf sie gewartet hat. Auf jeden Fall gelangen sie in Familien, die amtlich geprüft und für gut befunden wurden, die Kinder aufzunehmen. Sie haben das Glück, eine Familie zu bekommen, Wohnung, Nahrung und Wachstumschancen. Ganz besonders trifft dies für Kinder aus dem Ausland zu – inzwischen die große Mehrheit der Adoptivkinder –, wo sie oftmals wenig gute bis gar keine Entwicklungschancen haben.

So war es bei Anna, dem jungen Mädchen aus Rumänien. Die Adoptiveltern, ein kinderloses Arztehepaar aus England, holten sie und ihre zwei Brüder aus einem jener unvorstellbar lieblosen Kinderheime des Rumäniens der Neunzigerjahre. Anna war damals fast zwei Jahre alt, sie konnte noch nicht laufen, weil sie bis dahin meist an Gurten angekettet im Kinderbett gehalten wurde. Heute ist Anna eine junge Frau, auffallend zugewandt, fröhlich und selbstbewusst. Und dennoch erzählt die Adoptivmutter, dass die Tochter bisweilen in kaum zügelbare Zornattacken verfällt, so als wolle sie alles, ihre Vergangenheit und ihre jetzige Wirklichkeit, zerstören. So als wäre das Leben in England und in dieser liebevollen Familie das falsche Leben. So als sei sie selbst falsch.

Jedes Adoptivkind drängt irgendwann einmal danach, Auskunft über seine biologischen Eltern zu bekommen. Das Kind möchte wissen, wer es zur Welt gebracht hat, wer es gezeugt hat, und vor allem will es erfahren, warum die eigene Mutter es weggegeben hat. Wenn diese Frage nicht beantwortet wird, gibt es sich die Erklärung selbst: »Sie hat mich abgelehnt. Sie wollte mich nicht. Sie hat mich nicht geliebt.«

Das sind die im Adoptivkind kreisenden Gedanken. Es spricht sie selten aus. Wie Anna sind die meisten Adoptivkinder voller Dankbarkeit. Sie wissen sehr wohl, was sie den Adoptiveltern verdanken. Dennoch nagen diese Fragen in ihnen. Sie tragen das Trauma in sich, von ihrer eigenen Mutter für immer weggeschickt, ausgesetzt worden zu sein. Wie bei so vielen anderen Lebenskränkungen, die jeder von uns in sich trägt, gibt es Wege, damit zu leben und eine Balance herzustellen. Gegenüber dem Schmerz als Schattenseite der Adoption wiegt die andere Waagschale, in welcher das Glück, der Lebenswille und die Hingabe vereint sind. Und Letzteres wiegt, wenn man das Bild der Waage ernst nimmt, spürbar schwerer. Wie sagt der Koreaner Jung, der als Fünfjähriger zwischen Mülleimern aufgegriffen und zur Adoption nach Europa verschickt wurde? »Schließlich haben sie mir doch die Hauptsache gegeben: eine Familie.«22

Anders sein

»Kinder ertragen absolut keine Unterschiede. Sie lehnen sie ab, weil sie darunter leiden.«

Aldo Naouri

Seltsame, vertrackte Welt. Manche Kinder sind anders. Manche Kinder fühlen sich anders, und manche wollen anders sein als sie sind. Wie soll man sich da zurechtfinden?

Mir geht das Mädchen Muriel nicht aus dem Kopf. Ich traf sie im Sommer 1990. Muriels Vater stammt aus Ghana, ihre Mutter aus Berlin. Muriel war acht Jahre, ihre dunkle Haut samtweich. Ihr Körper vibrierte vor Bewegung, und ihr Lachen steckte alle an. Zum Sommerfest trug sie Blumen im Haar, hatte Glanz in den Augen. Doch ihre Mutter erzählte mir, dass sie abends, wenn keiner sie sah, Penaten-Creme unter ihrem Kopfkissen hervorholte und sich die weiße Paste ins Gesicht schmierte, um weiß zu sein wie die anderen.

Kinder, die sich wie Muriel durch Haut- oder Haarfarbe, durch Sprache und Verhaltensweisen spürbar vom Rest der anderen unterscheiden, sind exponiert. Ihre Umgebung begegnet ihnen mit Neugier und Faszination, die allerdings unvermittelt in ihr Gegenteil umschlagen können. Dann nämlich, wenn sie die Rolle des niedlichen und gefälligen Fremdlings verlassen, wenn sie eigenwillig oder gar zornig werden. Kinder spüren dies. Sie genießen die Zuwendung, aber insgeheim ersehnen sie ein Leben in Normalität, nicht aufzufallen und unter den anderen »zu sein wie sie«.

Zwanzig Jahre später hat sich viel geändert. Wer heute am Zaun eines Schulhofs steht, entdeckt gerade in Großstädten eine viel größere kulturelle Buntheit. Sprachen purzeln durcheinander, und niemand wundert sich über Kinder, die anders aussehen, andere Feste feiern und anderes Schulbrot essen.

Aber das Problem des Andersseins ist nicht vom Tisch. Es bedarf durchaus nicht dunkler Hautfarbe oder fremdartigen Aussehens, dass sich Kinder auch heute anders und damit infrage gestellt fühlen. Eine große Anzahl von Jungen und Mädchen nehmen sich deutlich anders als die sie umgebende Gruppe wahr, und sie durchleben damit einen tief menschlichen Konflikt: Schon das Kind sehnt sich danach, seine Individualität auszuleben, mit all seinem Begehren, seinen Macken und Fantasien. Und zugleich fürchtet es, damit anzuecken oder gar ausgestoßen zu werden. Aus dieser Angst heraus nimmt es sich oft in seiner Individualität zurück und sucht Schutz in der Konformität der Gruppe, es taucht ganz einfach unter zwischen den anderen. Die Schriftstellerin Cordelia Edvardson, Tochter einer christlichen Mutter (Elisabeth Langgässer) und eines jüdischen Vaters, beschreibt die Spannung, die sie als Kind während der Nazizeit aufgerieben hat: »Das Mädchen selber war hin und her gerissen zwischen dem Stolz darüber, ›anders‹ zu sein, einem Stolz, der immer zweifelhafter wurde, und dem hoffnungslosen Wunsch, dazuzugehören, so zu sein ›wie alle anderen‹«.23

Nicht nur Muriel wünschte sich in eine andere Haut. Erstaunlich viele Kinder wollen ohne offensichtlichen Grund anders sein: klüger, hübscher, musikalischer, sportlicher. Sie ersehnen sich einen anderen Körper, andere Augen oder andere Haare und mitunter auch ein anderes Wesen, vielleicht auch ein anderes Geschlecht. Und beängstigend viele Kinder neigen dazu, sich über den Mangel zu definieren, über das ihnen vermeintlich Fehlende, über das, was sie eigentlich sein wollen oder glauben, sein zu sollen.

Warum definieren sich Kinder über den Mangel? Warum glauben sie, anders und besser sein zu müssen? Die Antwort darauf ist nicht leicht, sie führt uns zurück in die früheste Lebenszeit des Kindes. Die ersten Wochen und Monate des Lebens sind die prägende Phase, in der das Kind schrittweise Vertrauen in seine Welt entwickelt. Wenn das Kind von Vater und Mutter vorbehaltlos angenommen wird, wenn ihm durch Sprache und Verhalten vermittelt wird: »Ja, du bist das Kind, das wir uns gewünscht haben«, dann ist dies die nährende Basis für das spätere Selbstgefühl und Vertrauen in die Welt. Dann ist das Kind richtig und muss nicht danach trachten, anders zu sein. Das kleine Mädchen muss nicht der ersehnte männliche Stammhalter sein, um sich akzeptiert zu fühlen. Der kleine Junge muss kein Genie sein, um den Vater stolz zu machen. Das Kind muss nicht anders sein, als es ist. Der Tiefenpsychologe Erik H. Erikson bezeichnet dieses besondere Gefühl des Kindes mit der schönen Formel Urvertrauen.24 Ein starkes Wort und eine gute Vorstellung. Ein Kind, das sich seiner selbst sicher ist, wird es später nicht nötig haben, in die Haut eines anderen schlüpfen zu wollen – es sei denn als Schauspieler.

Wenn Kinder sich wünschen, anders zu sein, erfahren die Eltern dies nur selten und Lehrer so gut wie nie. Kinder halten diese Sehnsüchte lieber geheim, weil die damit verbundenen Gefühle hoch empfindlich sind und sie zu Recht befürchten, dass die Erwachsenen ihre Fantasien zerstören könnten.

Mit dem Wunsch zum Anderssein verdichten sich so viele Geheimnisse, so viele Lebensrätsel. Und alle kreisen nur um die eine nach Antwort drängende Frage: »Warum bin ich anders?«

Eine klassische Lösung – und damit Erlösung für das Kind – ist die Erklärung, dass es womöglich aus einer anderen Familie stammt und vielleicht nur durch Zufall hierher geraten ist: »Ich bin das Kind eines (einer) anderen.« Im Märchen würde es heißen: »Ich bin das Kind eines Königs«, als Zeichen der Erhöhung, denn nach Erniedrigung sehnt sich das Kind wohl kaum, wobei auch dies möglich ist. Sigmund Freud bezeichnet solche Fantasien als Familienroman.25

Demnach erdichten sich zahlreiche Kinder, die sich in ihrer eigenen Haut, beziehungsweise in ihrer Familie, nicht zu Hause fühlen, ihre eigene, für sie stimmige Geschichte, um sich selbst zu beschwichtigen und zu versöhnen. Typisch für diesen Familienroman ist immer, dass das Kind ihn für sich als Geheimnis bewahrt. Niemand, wirklich niemand, darf daran rühren.

Fassen wir zusammen. Jedes Kind ist ein einzigartiges Wesen. Jedes Kind entwickelt unter vielen Wachstumsschmerzen sein eigenes Ich. Und je intensiver dieser Prozess sich vollzieht, desto deutlicher nimmt das Kind seine Einzigartigkeit auch als Andersartigkeit wahr. Es gibt Wachstumsschmerzen, die wir unseren Kindern nicht ersparen können, das müssen wir als Erwachsene ohne Schrecken und ohne Schuldgefühle akzeptieren. Das irritierende Gefühl, anders zu sein als die anderen, gehört dazu.

Angst

»Als Kind: meine Liebe äußerte sich als Angst.«

Peter Handke

Ich muss damals neun gewesen sein. Meine Mutter hatte kurz vorher ein zweites Mal geheiratet, den Lehrer meines Bruders, und natürlich war dies ein aufregendes Ereignis für unsere Familie. Allerdings liegt all das, die Hochzeit, das Vorher und Nachher in meiner Erinnerung ganz im Dunkeln. Nicht aber die folgende zeitgleiche Szene: Meine Eltern besuchten mit meinem Bruder und mir einen Zirkus in einer nahe gelegenen Stadt. Spaßeshalber versteckten sich die drei ganz plötzlich hinter einem Zirkuswagen – und ich war wie verloren. Nie werde ich den Schrecken, diese Mischung aus Ohnmacht und Traurigkeit vergessen, wie ich mutterseelenallein inmitten des Zirkusgetümmels ins Leere schaute, nicht wissend, in welcher Richtung ich suchen sollte. Merkwürdig, viele meinen, dass es stets große, dramatische Ereignisse sind, die das Kind ängstigen. Dabei kann schon die geringste, scheinbar banale Begebenheit das Kind in Angst und Schrecken versetzen – nämlich wenn es sich allein gelassen fühlt. Dann verliert es den Boden unter sich.

Die Hauptangst des Kindes besteht darin verlassen, vergessen, ausgesetzt zu werden, also die (An-)Bindung zu denen, die es liebt, zu verlieren. Alles andere, was wir gemeinhin Kinderängste nennen, sind im Grunde nur unterschiedliche Grade und Erscheinungsweisen dieser Urform der Angst.

Zur menschlichen Grundausstattung gehört die Angst, sie begleitet uns von Beginn an und nicht selten bis zum letzten Atemzug. Angst ist nicht nur ein mentaler, sondern ein durch und durch körperlicher Zustand: Angst lässt uns in die Hose machen, sie lässt unser Herz rasen und reißt uns schweißnass aus dem Schlaf. Angst essen Seele auf, wie ein bekannter Filmtitel sagt.26

Das Grundmuster aller Ängste ist tatsächlich schon in der Geburt angelegt: Angst kommt von Enge, und beim Durchgang durch den Geburtskanal, getrieben von den mütterlichen Wehen, erfährt das Kind erstmals und im wahrsten Sinn des Wortes jenes Gemisch aus Enge und Angst. Gleichzeitig jedoch erlebt es – und dies ist das eigentliche Wunder der Geburt – die Auflösung der Enge, die Befreiung. Wir wissen nicht genau, wie weit die Erinnerungsspuren an dieses frühe Erlebnis heranreichen, aber ich bin überzeugt, dass diese ersten Angsterfahrungen körperlich in den Zellen gespeichert werden und uns lebenslang begleiten.27

Im Idealfall wird das neugeborene Kind sofort liebevoll aufgenommen, das Geburtstrauma durch Zuwendung, Wickeln und Muttermilch aufgefangen. Doch dies ist nicht immer gegeben. Auch heute noch sterben Kinder, weil sie medizinisch schlecht versorgt werden. Und in der Vergangenheit war es gang und gäbe, dass Kinder während der Geburt oder sofort danach starben. Ungewollte Kinder wurden (und werden auch heute noch) lieblos beiseite gelegt, niemand geht mit ihnen eine Bindung ein.

Neugeborene haben möglicherweise eine instinktive Ahnung davon, dass sie Glück haben, wenn sie bei der Geburt freundlich aufgenommen werden, wenn die Mutter sie bedingungslos annimmt. Und es ist ab sofort ihr Lebens- und Leitmotiv, diese Bindung zu erhalten. Die Allgegenwart der Mutter oder der Erwachsenen schlechthin schützt das Kind vor der Angst. Wo sie fehlt, ist das Kind bedroht. Krieg, Flucht, Zerstörung und andere Turbulenzen können die Kinder oft erstaunlich gut ertragen, solange sie die Hand von Vater oder Mutter halten und solange sie selbst gehalten werden. Sie sind zwar erschreckt und verwirrt, aber sie fühlen sich nie verloren. »Ich war während des Angriffs auf Dresden an der Hand meiner Mutter«, sagt eine Frau, »und erstaunlicherweise habe ich gar nicht geweint.« Geht der schützende Kontakt jedoch verloren, bricht Panik aus. Dann trägt nichts mehr, und das Kind wird von Angst überflutet.

Ängste kommen und gehen. Sie kommen angerollt wie Gewitter, sie treten auf in Gestalt von Hexen, Geistern oder Raubtieren, die das Kind angreifen und in Stücke zu zerreißen drohen. Doch verschwinden Ängste auch wieder und lösen sich wie böse Träume auf. Es nützt wenig, das Kind zu mahnen und seine Angst dumm oder peinlich zu nennen. Dann rächt sie sich, erscheint in anderem Gewand und will erst recht die kleine Seele aufessen.

Ja, Angst ist unsere Begleiterin, sie gehört wesensmäßig zu uns. Und sie ergibt manchmal sogar Sinn, dann nämlich, wenn sie uns vor drohenden Gefahren warnt. Vielleicht sollten wir ihr offener begegnen, wie einem Besucher aus einem fremden Land, der uns etwas zu sagen hat.

Archetyp Kind

»Kleiner als klein, doch größer als groß.«

C. G. Jung

Die meisten von uns leben auf irgendeine Weise real mit Kindern. Wir sehen sie, hören sie, unterrichten oder heilen sie und freuen uns an ihnen. Einige haben aber Gründe, keine Kinder um sich haben zu wollen und stattdessen mit Hunden, Katzen oder Vögeln oder ganz allein zu leben. All das ist möglich – doch niemand kann auf die Kinder in seiner Umgebung nicht reagieren.

Daneben aber – weit über dies Reale hinaus – tragen wir alle ein Bild vom Kind in uns, welches oft wenig bewusst und mitunter sogar ganz unbekannt ist. Dieses Bild existiert völlig unabhängig von unseren eigenen individuellen Kindheitserfahrungen – als Urbild, als Archetypus vom Kind.

Der Begriff Archetypus stammt von Carl Gustav Jung und ist ein Grundpfeiler seiner Tiefen-Psychologie.28 Und in die zeitlichräumliche Tiefe führt dieses Denken tatsächlich. Nach Jung tragen wir Menschen nämlich nicht nur die Nachwirkungen unseres eigenen, individuellen Erlebens in uns – und dies ist schon viel –, sondern wir haben darüber hinaus menschheitsgeschichtliche Ablagerungen gespeichert. Wie die Ringe alter Bäume tragen wir die Erinnerungsspuren unendlich vieler vorhergehender Generationen in uns. Die Sprache dieser Erinnerungsspuren zu entschlüsseln fällt uns nicht leicht. Aber die alten Bilder leben in uns und werden wirksam in unseren Träumen, in Ängsten und Visionen und in Momenten besonderer seelischer Wachsamkeit.29

Der Kindarchetypus birgt viele Aspekte. Am aufregendsten erscheint mir das Motiv »kleiner als klein, doch größer als groß«, wie Jung es benennt, jene krasse Polarität und die dazugehörige gefahrvolle und gleichzeitig lustvolle Bewegung zwischen diesen beiden Seinszuständen.

Das neugeborene und gar das ungeborene Kind: Ist es nicht kleiner als klein? Ist es nicht unendlich fragil und bedroht von Anfang an? Und gleicht es nicht einem Wunder, wenn es trotz dieser Bedrohtheit und durch sie hindurch überlebt und seinen Weg findet? Das Wunder ist tatsächlich so groß, dass wir es kaum angemessen in Sprache fassen können. Wie matt sind Worte, wenn es um das Überleben geht, das den meisten von uns als selbstverständlich erscheint.

Deshalb brauchen wir starke Bilder, die über Worte hinausreichen. Deshalb brauchen wir Mythen und Märchen, die das Wunder des Großwerdens unter Gefahren immer wieder neu beschwören und die den Segen betonen, der darin liegt, heil daraus hervorgegangen zu sein. Da wird ein Kind als Däumling geboren, als Dummling oder gar als Tier (»kleiner als klein«), und es wächst doch heran, allen Widrigkeiten zum Trotz wird es doch »größer als groß«: Es wird zum Menschen. Das im Korb ausgesetzte und todgeweihte Moses-Kind wird zum Befreier seines Volkes. Die Söhne und Töchter von Bauersleuten, also kleiner Leute im Sinne der sozialen Hierarchie, bestehen Prüfungen und werden zu Königen und Königinnen erhoben und damit doch »größer als groß«.

Der Archetypus meidet das mittlere Maß. Er liebt die Extreme. Und er schöpft aus dem tiefen Brunnen der menschlichen Erfahrung: Die Bedrohung des Lebens und die darauf folgende Errettung ist wohl die dramatischste existenzielle Erfahrung, die ein Mensch durchleben kann, zumal wenn sie (s)einem Kind widerfährt.

Was den Archetypus des Kindes für uns so faszinierend, gleichwohl so schwer fassbar macht, ist seine Offenheit nach allen Seiten hin. Offen hinsichtlich der zeitlichen Dimension umfasst der Kindarchetypus alles Vergangene, alles Gegenwärtige und alles Zukünftige. Kindheit ist ein fließender Strom, darin kreuzen sich Kinderschicksale millionenfach, und auch zukünftig werden Kinder die Erde bevölkern und ihr menschliches Potential entfalten. Dabei unterstreicht Jung vor allem den Zukunftscharakter des Kindarchetypus, wenn er sagt: »Das Kind ist potentielle Zukunft.«30 Vielleicht ist dies überhaupt der für uns kostbarste Aspekt des Kindarchetypus, das Kind als Repräsentant von Zukunft und damit Hoffnung – und für manche sogar Heil (»Denn euch ist heute der Heiland geboren«).

Offen ist der Kindarchetypus auch hinsichtlich der menschlichen Möglichkeiten, denn diese sind gewissermaßen unendlich. Das neugeborene Kind trägt alle Möglichkeiten in sich: Es kann Briefträger werden, Mathematiker, Raumfahrer oder Opernsänger. Im Kindarchetypus ist dieses unendliche Potential voll existent; letztlich entscheidet die Biografie darüber, wie das Kind es in seinem Leben umsetzt.

Was wir soeben über den Archetypus sagten, seine Verknüpfung mit menschheitsgeschichtlichen Erinnerungsspuren, seine Zukunftsbezogenheit und sein Alternieren zwischen den Polen »kleiner als klein« und »größer als groß« – all dies sind innere Bilder. Wir sollten sie als solche begreifen und wertschätzen und ihnen großzügig Raum in uns geben. Leben ist Leben. Bilder sind Bilder. Und Archetypen sind Archetypen. Und dennoch: Alles ist eins.

Atem

»Die Atemzüge dieser Kinder, all dieser Kinder, und das soll uns nicht retten?«

Elias Canetti

»So können wir den kreativen Impuls als etwas Eigenständiges betrachten, das natürlich notwendig ist, wenn ein Künstler ein Kunstwerk erschafft, das aber auch bei jedem anderen vorhanden ist – sei es nun ein Kleinkind, ein Kind, ein Jugendlicher, ein Erwachsener oder ein Greis. Im augenblicksbezogenen Leben eines Kindes, das sich am Atem erfreut, ist es ebenso vorhanden wie in der Inspiration eines Architekten, dem plötzlich einfällt, wie er etwas bauen kann.«31 Dies schreibt Donald W. Winnicott in seinem Buch Vom Spiel zur Kreativität. Dass da jemand wie er, als gestandener Psychoanalytiker und Kinderarzt, den Atem nicht als passives Geschehen, sondern als »kreativen Impuls« eines Kindes deutet, ist, zumindest in unserer Kultur, außergewöhnlich.32 Wir nehmen den Atem des Kindes als derart selbstverständlich gegeben an, dass wir uns seiner Schönheit, seines Rhythmus, seines Klangs, seines Geruchs und seiner Vibrationen gar nicht wirklich gewärtig sind. Wir würden in Gesellschaft anderer Erwachsener leicht lächerlich erscheinen, wenn wir offenbarten, wie sehr uns der Atem unseres Kindes fasziniert. Stattdessen unterhalten wir unsere Mitmenschen – oder sie uns – mit Geschichten über PolypenOperationen und Zahnspangen.

Dabei ist doch gerade der Atem das Kostbarste und Wunderbarste, was das Kind in sich trägt. Ohne Atem kein Leben. Atem ist Leben, und das wissen wir (theoretisch) alle. Warum begegnen wir diesem Wunder so wenig achtsam?

Für den Atem fehlt uns, ebenso wie für die vielschichtigen Vorgänge des Körpers oder einzelner Organe im gesunden Zustand, meist die Sprache. Erst wenn ein Teil des Körpers aussetzt, wenn wir uns krank fühlen, finden wir Worte. Erst wenn der Atem spürbar schwer wird, wie beim Asthma, wenn er ins Stocken gerät oder wenn er zu rasen beginnt wie etwa in einem epileptischen Anfall, nehmen wir ihn bewusst wahr und können ihn benennen. Und erst wenn der Atem plötzlich versagt wie beim plötzlichen Kindstod, offenbart sich seine existenzielle Bedeutung.

Heute gibt es nur noch selten Hausärzte oder gar Mütter und Väter, die, den Kopf an den Leib des Kindes gepresst, seinen Atem abhorchen. Dabei wäre es aufschlussreich, etwas über die Atemtätigkeit des Kindes zu erfahren – nicht nur an kranken, sondern auch an gesunden Tagen. Oder in Momenten, in denen das Kind Stimmungen ausgesetzt ist, die es allein nicht mehr regulieren kann. Wie atmet eigentlich das erregte Kind? Oder gar das hyper-erregte? Wie atmet das traurige Kind oder das depressive? Wie atmet das Kind, das nicht in den Schlaf findet? Lässt sich über den Atem lenkend eingreifen, wenn das Pendel in die eine oder andere Richtung ausschlägt? Mit anderen Worten: Lässt sich der Atem besänftigen? Lässt sich der Atem – und damit das Kind – erheitern, lebendiger, mutiger machen?

Tatsache ist, dass bei Kindern, stärker noch als bei Erwachsenen, der Atem auf alle Handlungen und Seelenregungen sensibel reagiert und mitschwingt:

– ein Schock verschlägt dem Kind den Atem,

– aus Angst muss es den Atem anhalten,

– nach einer schweren Anstrengung muss es erst einmal tüchtig durchatmen,

– beim Lernen in der Schule braucht es immer wieder Atempausen

– und die Eltern verlangen von ihm, dass es, wenn es etwas gründlich lernen will (wie beispielsweise ein Musikinstrument), einen langen Atem haben muss.

Überall in der Menschwerdung ist der Atem präsent, ganz konkret und ebenso stark im übertragenen Sinne. Im antiken Mythos entspricht Atmung dem Akt der Zeugung selbst, eine Vorstellung, die sich gleichfalls in manchen Märchen widerspiegelt, wenn etwa der Atem eines Tieres ein junges Mädchen zu schwängern vermag.33 Auch der Wind hat Zeugungskraft, und so verschmelzen im Unbewussten der individuelle Atem mit dem großen Atem der Erde selbst. Wie recht hatten doch die alten Rabbiner im Talmud Sabbat, wenn sie davon sprachen, dass die Welt nur aus dem Hauch (ruach) der kleinen Kinder bestehe!

Autismus

»Der Schlüssel zum Autismus ist der Schlüssel zum Wesen des Menschen.«

L. Wing

Dieses Kapitel ist das einzige innerhalb des Alphabets der Kindheit, das sich mit einem psychiatrischen Krankheitsbild befasst. Dabei ist meine Wahl keineswegs zufällig. Wir müssen manchmal, um die sogenannte normale, gesunde Entwicklung des Kindes besser zu verstehen, Umwege machen, und zwar Umwege über Abweichungen, über Extreme, über Krankheit gar. Dem Normalen gegenüber sind wir hin und wieder betriebsblind. Wir sehen es einfach nicht. Wir öffnen die Augen erst für die Abweichung. Hier horchen wir auf, hier reagieren wir. Und aus dieser Perspektive begreifen wir bisweilen das Wesen dessen, was wir gemeinhin als normal wahrnehmen. Thomas Mann bezeichnet die Pathologie als ein anthropologisches Erkenntnismittel ersten Ranges.34 Nehmen wir hier den Autismus als Pathologie, so gibt er uns tatsächlich eine besondere Möglichkeit, zu verstehen – und zwar in vielerlei Hinsicht:

Erstens: Wir können erkennen, wie unendlich nahe Gesundheit und Krankheit liegen. In Wirklichkeit sind die Grenzen überaus fließend. Schauen wir zunächst auf die Merkmale, die dem autistischen Kind allgemein zugeordnet werden. Wichtigstes Leitmotiv ist das schwach ausgeprägte Ich-Gefühl und entsprechend keine wirkliche Vorstellung von einem Du. In der Sprache haben autistische Kinder unterschiedlich ausgeprägte Defizite (Umkehrung von Worten, Echolalie oder auch völliger Sprachausfall). Ihr Schlaf ist häufig gestört und ebenso ihr Essverhalten. Viele der Kinder leiden an körperlichen Ticks, bizarren oder auch stereotypen Gebärden mit den Händen, den Armen und Beinen und/oder dem gesamten Körper. Fast alle schwanken extrem in den Stimmungen. Es fällt ihnen schwer, symbolisch wahrzunehmen, und gleichzeitig fallen einige durch außergewöhnliche, meist einseitige intellektuelle, zeichnerische oder musische Begabungen auf. Ganz generell sind sie »einfach anders in die Welt gestellt«.35

Wenn wir uns diese Merkmale im Einzelnen anschauen, sind all diese Erscheinungen in abgeschwächter Form bei einer Vielzahl von Kindern zu beobachten. Welches Kind hat nicht, zumindest temporär, Essstörungen oder Schlafprobleme? Welches Kind schwankt nicht in seinen Stimmungen und ist zeitweise ganz auf sich selbst zurückgeworfen – ohne Beziehung und ohne Einfühlung in das Du? So gut wie alle diese autistischen Züge gehören zum Bild und ebenso zum schwankenden Selbstbild der allermeisten Kinder.

Damit Autismus Krankheitswert erhält, müssen diese Merkmale so stark ausgeprägt sein, dass sie das betroffene Kind in seinem Wachstum ernstlich behindern und stören und dadurch auch seine Umgebung in Mitleidenschaft gezogen wird. Selten ist es das Kind selbst, das an seinem Sosein leidet, es sind die anderen, die es als autistisch wahrnehmen und es sein Anderssein spüren lassen, und oftmals schafft erst dies das eigentliche Leiden des autistischen Kindes. Auf die Frage »Ray, bist du autistisch?« antwortete der Rain Man im gleichnamigen Film: »Ich glaube nicht. Nein. Definitiv nicht.«36

Zweitens: Wir können erkennen, wie irritierend und zugleich fragwürdig

Diagnosen und Krankheitszuweisungen sind.

Es versteht sich, dass im Fall einer gravierenden Einschränkung des Kindes – dann nämlich, wenn es nicht wirklich sein Ich entwickelt, wenn es gar nicht in die Sprache hineinfindet und wenn es nicht in der Lage ist, soziale Kontakte mit anderen aufzubauen – Psychologen und Psychiater zu Hilfe geholt werden. Sobald die Eltern Anzeichen von Autismus bei ihrem Kind spüren, verlangen sie nach Diagnose und Rat.

als auch die theoretischen Standpunkte der Diagnostizierenden.