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JÜRGEN WERTHEIMER | ISABELLE HOLZ | FLORIAN ROGGE

MAIDAN, TAHRIR, TAKSIM

DIE SPRACHE DER PLÄTZE

PROTEST, AUFBRUCH, REPRESSION

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INHALT

Geleitwort

Vorwort und Dank

1. Einführung

1.1. Der Platz als politisches Zentrum

1.2. Die Versammlung als Auftakt der Revolte

2. Tahrir – »Jetzt wird Ägypten aufgebaut«

2.1. Vorgeschichte

2.2. »Zeichenschlachten« – Kunst in der Revolte

2.3. Der Platz und die Kunst

2.4. Was bleibt?

3. Taksim – »Überall ist Taksim, überall ist Widerstand«

3.1. Vorgeschichte

3.2. Kreativer Widerstand

3.3. Der Platz als Heterotopie

3.4. Was bleibt?

4. Maidan – »Der Maidan steht!«

4.1. Vorgeschichte

4.2. Drei Monate im Herzen der Stadt

4.3. »Planet Maidan«

4.4. Ein Platz wird zum Programm

4.5. Was bleibt?

5. Epilog

Chronologie Tahrir

Chronologie Taksim

Chronologie Maidan

Glossar

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

»Nicht jeder Wert löst eine Revolte aus,
doch jede revoltierende Bewegung
ruft stillschweigend einen Wert an.«

Albert Camus

GELEITWORT

»Man kann eine Idee durch eine andere verdrängen, nur die der Freiheit nicht« soll der deutsche Journalist, Literatur- und Theaterkritiker Carl Ludwig Börne einst gesagt haben. Das Streben nach mehr Freiheit, einem universalen, kulturunabhängigen Wert, und mehr Mitspracherecht hat bei den Demonstrationen 2011 in Ägypten, sowie 2013 in der Ukraine und der Türkei eine maßgebende Rolle gespielt. Symbol dieses Strebens wurde jeweils ein Platz, nämlich der Tahrir, übersetzt »Platz der Befreiung«, in Kairo; der Unabhängigkeitsplatz in Kiew, »Maidan« genannt, und der Taksim-Platz in Istanbul. Wenngleich sich die jeweiligen politischen Voraussetzungen dieser drei Länder voneinander unterschieden, so waren die Gründe der Demonstrationen an diesen drei Plätzen sehr ähnlich: der Wunsch der Menschen nach mehr Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Hierbei handelt es sich um Werte, die neben vielen anderen, fest im Artikel 2 des Vertrages der Europäischen Union verankert und in meinen Augen niemals verhandelbar sind.

Diese Proteste haben alle auf ihre ganz eigene Weise gezeigt, welch unglaublich große Macht ein Volk über das Schicksal seines Landes haben kann, trotz einer für die Menschen erst einmal aussichtslos erscheinenden Ausgangslage. »David gegen Goliath« würde das Kräfteverhältnis zwischen den Demonstranten und ihren Machthabern wohl gut beschreiben. Dies hat die Menschen jedoch nicht davon abgehalten, für ihre Rechte auf die Straße zu gehen, sich einzusetzen und Ungerechtigkeiten die Stirn zu bieten. Hierfür gebührt ihnen mein voller Respekt. Sie haben der Welt gezeigt, dass es einen Unterschied macht, nicht wegzuschauen und auf friedliche Art und Weise für mehr Demokratie und Menschenrechte zu demonstrieren.

Nun kann man dem natürlich entgegensetzen, dass Ägypten, die Ukraine und die Türkei heute, trotz dieser Proteste, noch einen langen Weg zu mehr Demokratisierung vor sich haben und nicht alle Forderungen der Demonstranten in die Realität umgesetzt wurden. Und doch bin ich davon überzeugt, dass das Aufbäumen der Bürger gegen die jeweiligen nationalen Machtstrukturen auf lange Sicht einen positiven Einfluss auf die Entwicklung ihrer Länder haben wird. Veränderung braucht manchmal Zeit, aber vor allen Dingen braucht sie Mut. Diesen haben die Menschen auf dem Tahrir, dem Maidan und dem Taksim ohne Zweifel bewiesen. Aus diesem Grund sollten sie für uns alle ein Vorbild sein.

Dies gilt vor allem deshalb, weil sie sich für Werte eingesetzt haben, die für die Europäische Union stehen. Frieden, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gehören zur Grundlage der europäischen Idee und unserer gemeinsamen europäischen Geschichte. Letztere zeichnet sich seit mehr als 70 Jahren durch Frieden aus. Somit ist die Europäische Union unverkennbar ein Friedensprojekt, das für viele Menschen weltweit ein Erfolgsmodell darstellt. Doch wenn uns die Geschichte und die politischen Ereignisse der vergangenen Monate eines gelehrt haben, dann, dass Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Freiheit niemals selbstverständlich oder vollständig gegeben sind und ihre Einhaltung stets überwacht und eingefordert werden muss, auch innerhalb der Europäischen Union. Rechtswidrige Vorhaben von Regierungen einiger EU-Mitgliedsstaaten, die dem europäischen Geist zutiefst zuwider sind, haben in den vergangenen Monaten klar gezeigt, dass wir auch im 21. Jahrhundert nicht blind darauf vertrauen können, dass antidemokratische Tendenzen in Europa der Vergangenheit angehören. Wir müssen daher unaufhörlich auf der Hut sein, damit unsere Grundrechte nicht mit Füssen getreten werden. Umso mehr freut es mich zu sehen, dass derzeit viele Initiativen aus der Zivilgesellschaft, wie zum Beispiel »Pulse of Europe«, die Werte Europas und die Wichtigkeit der europäischen Idee für unser gemeinsames, friedliches Zusammenleben hochhalten.

Derzeit wird viel über die Zukunft der Europäischen Union gesprochen. Diese steht an einem Scheideweg und die kommenden Monate werden darüber entscheiden, welche Union wir uns für die Zukunft wünschen. Am 1. März 2017 hat die EU-Kommission in diesem Zusammenhang das Weißbuch zur Zukunft Europas veröffentlicht, das fünf mögliche Szenarien für Europa im Jahr 2025 vorstellt. Dieses Weißbuch liefert uns neue Bausteine für eine systematische Reflexion über die Zukunft der EU, die in meinen Augen auch dringend notwendig ist. Welches Szenario nun das Beste ist, darüber lässt sich diskutieren. Fest steht für mich jedoch, dass sich die Europäische Union nicht auf dem Status Quo ausruhen darf, genauso we nig, wie sie sich ausschließlich auf den Binnenmarkt konzentrieren sollte. Die EU ist und bleibt eine Wertegemeinschaft und sollte sich daher nicht nur auf den Wirtschaftsbereich beschränken, ganz im Gegenteil. Sie hat in Bezug auf Themen wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Menschenrechte eine Vorreiterrolle in der Welt zu spielen und muss in diesem Sinne mehr Verantwortung übernehmen, um sich für diese Werte stark zu machen. Ihr Erfolg und der Kampf gegen den Euroskeptizismus wird auch davon abhängen, ob sich die Europäische Union in Zukunft verstärkt glaubwürdig für diese Belange einsetzen und es schaffen wird, einen positiven Unterschied im Leben der Menschen, sowohl in Europa als auch im Rest der Welt, zu bewirken.

Daher ist es unabdingbar, in Europa darauf achtzugeben, dass unsere demokratischen Errungenschaften, für die viele Menschen in anderen Teilen der Welt kämpfen, nicht durch antidemokratische, nationalistische und populistische Tendenzen schleichend abgeschwächt werden. Als Wertegemeinschaft hat die EU die Pflicht für ihre Werte einzustehen und nicht wegzusehen, wenn sie nicht respektiert werden, auch über den europäischen Tellerrand hinaus. Alles andere würde ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen und viele Menschen, die große Hoffnungen in den positiven Einfluss der Europäischen Union auf die Entwicklung ihres Landes setzen, eines wichtigen Verbündeten berauben. Dazu gehören auch jene Menschen, die damals auf dem Tahrir, dem Taksim und dem Maidan Freiheit, Demokratie und Menschenrechte eingefordert haben.

Jean Asselborn

VORWORT UND DANK

Kairo, Dienstag, 25. Januar 2011: Schwelender Unmut am »System« Mubarak verwandelt sich in Protest, Protest in Revolte. Tausende Demonstrant*innen aus verschiedenen politischen Richtungen strömen auf dem symbolträchtigen Tahrir-Platz in Kairo zusammen. Das Regime setzt von Beginn an auf Gewalt. Bis zu 30 000 Polizisten und Sicherheitskräfte versuchen, den Widerstand auf gewohnte Art und Weise im Keim zu ersticken. Doch angesichts der unerwarteten »Selbstorganisationsfähigkeit« des Platzes wird die gewalttätige Intervention zum Bumerang und Brandbeschleuniger für den Widerstand: Innerhalb weniger Tage steigt die Zahl der Protestierenden landesweit auf einige Hunderttausend und weitet sich – angefacht durch ein Gewitter aus Twitter- und Facebookeinträgen – flächenbrandartig aus.

Istanbul, Dienstag, 28. Mai 2013: Mitglieder der Initiative »Solidarität mit dem Taksimplatz« werden von Polizeieinheiten verprügelt und mit Pfefferspray traktiert. Doch dieser Einsatz bedeutet nicht das Ende, sondern den Anfang des Aufstands. Am Folgetag strömen bereits 10 000, einen Tag später 100 000 Menschen auf den Taksim-Platz: Sozialisten, Alewiten, Sunniten, Kurden, Atheisten, Rentner, Studenten, Künstler, Fanclubs von Fußballvereinen – ein Querschnitt der Bevölkerung. Es ist, als ob eine kollektive Wut auf den Namen Recep Tayyip Erdoğan als Symbolfigur eines faulen Modernisierungs-Prozesses unterschiedlichste und teilweise bis auf den Tod miteinander verfeindete Gruppierungen auf dem Platz zusammenschweißt.

Kiew, Sonntag, 1. Dezember 2013: Scheinbar von einem Tag auf den anderen stehen hunderttausende Demonstrant*innen auf dem Majdan Nesaleschnosti, dem »Platz der Unabhängigkeit« in Kiew. Noch am Vorabend hatte eine Spezialeinheit der Polizei (Berkut) eine studentische Protestversammlung routiniert brutal aufgelöst. Wie sehr die Machthaber sich dabei verrechnet hatten, zeigte sich nicht nur an diesem 1. Dezember. Drei Monate lang bleibt der Platz im Herzen der Hauptstadt besetzt.

Drei Geschehnisse, die nicht nur lokale oder nationale Auswirkungen hatten, sondern weltweit, besonders in Europa für Aufsehen sorgten. Die, wie die jüngsten Ereignisse in der Türkei (15./16. Juli 2016), der weiterhin andauernde Konflikt in der Ukraine und die politischen Spannungen in Ägypten zeigen, offensichtlich noch nicht abgeschlossen sind. Dieses Buch entstand und wuchs rund ein halbes Jahrzehnt nach den oben geschilderten, ersten Platzbesetzungen. Zeit genug, einen Blick in den Rückspiegel der Geschichte zu werfen. Man mag es als eine raffinierte Pirouette der Weltgeschichte betrachten, dass der Arabische Frühling, die Proteste in Istanbul und die Proteste in Kiew ihren Ausgang nicht von den oft zitierten »Hütten und Palästen«, nicht im Umfeld von Kirchen und Moscheen, sondern von Plätzen – einem in Europa entstandenem Zeichensystem – nahmen: dem Maidān at-Tarīr in Kairo, dem Taksim Meydanι in Istanbul, dem Majdan Nesaleschnosti in Kiew. Ob im Persischen oder Arabischen, Russischen oder Ukrainischen, der Begriff »Majdan« bezeichnet im weitesten Sinne einen Platz. Doch was ist außer Schlagzeilen, archivierten Blogposts und Facebookeinträgen, außer imposanten bzw. verstörenden Fotos und Filmaufnahmen, außer zerschlagenen Hoffnungen und Trümmern von diesen Platz-Revolten übriggeblieben? Worin besteht überhaupt die Rolle des Platzes: Ist er nur Schauplatz oder ist er Subjekt der Revolte?

Zugleich soll dieses Buch den Versuch darstellen, aus der außenstehenden Beobachterposition nach der Vergleichbarkeit der drei Plätze und Szenarien des Ausbruchs zu fragen. Handelt es sich um drei autonome historische Geschehnisse? Wie nehmen sie Bezug aufeinander? Erscheinen sie nur oberflächlich betrachtet als einander ähnlich? Dass noch während des Aufarbeitungs- und Schreibprozesses wieder ein Platz – wieder der Taksim-Platz in Istanbul – besetzt wurde, hat gezeigt, wie aktuell und wichtig es ist, sich mit der Semantik und Symbolik dieser sich immer wieder neu aufladenden Bedeutungsträger auseinanderzusetzen.

Dieses Buch soll keine politikwissenschaftlichen oder historischen Detailstudien enthalten, keine enzyklopädische Gesamtdarstellung anbieten und versteht sich auch nicht als Ansammlung von Reportagen. Was in diesem Buch unternommen wird, ist der Versuch einer essayistischen Betrachtung der drei Plätze aus der kultur- und literaturwissenschaftlichen Vogelperspektive. Es ist eine Art Beobachtungsreiseführer, um eine neue Perspektive auf die Sprache der Plätze, ihre Kunst, ihre Ausdrucksformen zu erhalten. Dabei geht es auch um die Plätze als Orte des kulturellen Gedächtnisses und als Knotenpunkte des politischen Diskurses. Wie sind die Plätze historisch entstanden? Welche repräsentative Funktion üben sie aus? Wie verändert sich ihre architektonische Struktur, ihre Rolle im urbanen Alltag? Welche Denkmäler werden auf ihnen errichtet oder eingerissen? Welche Erinnerungen werden auf ihnen manifest? Welche Erinnerungen sollen von ihnen verbannt werden? Daran schließt die Frage nach den Kommunikationsstrategien an, mit denen die Plätze im Moment der Revolte subversiv bespielt, übernommen, besetzt werden. Wie gelangt die »kritische Masse« auf den Platz und wie verändert der Platz das Bewusstsein, die Sprache und die Ausdrucksform der Demonstrant*innen?

Wichtige Anregungen fand dieses Buch u. a. in dem klugen Beitrag des Journalisten Arno Widmann über »Plätze als Teilchenbeschleuniger«1 und in Deniz Yücels tiefgehenden Analysen und Reportagen zur Gezi-Bewegung2. Ohne die Mitarbeit und Unterstützung von zahlreichen indirekt und direkt Beteiligten wäre dieses Gedankenexperiment aus der Ferne nicht möglich gewesen. Wir danken ganz herzlich Andrée Gerland, Musadiye Yildirim und Fatma Polat für die Recherchearbeit, Elena Gladkova für ihre unermüdliche Unterstützung, die Materialsammlungen und die Übersetzungsarbeiten, Mostafa Ibrahim und Dr. Manar Omar aus Kairo, Laila Soliman, die mit ihren Stücken Lessons in Revolting und No Time for art die Revolution in Ägypten 2011 auf die internationalen Theaterbühnen brachte, sowie Sherif Abdel, Ibithal Shedid, Prof. Tezcan Levent und Iryna Ivanova für ihre Beobachtungen aus Kiew sowie Stimmen, Meinungen und Beiträge zu diesem Buch.

1 Widmann, Arno: Plätze als Teilchenbeschleuniger. In: Frankfurter Rundschau, 5. Mai 2014. URL: http://www.fr-online.de/kultur/plaetze-alsteilchenbeschleuniger,1472786,27034846.html. Stand: 10.10.2016.

2 Yücel, Deniz: Taksim ist überall. Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei. Hamburg 2014.

1.

EINFÜHRUNG

1.1. Der Platz als politisches Zentrum

Die Sprache der Plätze ist das Resultat einer sehr speziellen kulturellen Entwicklung. Die Zahl der sogenannten »Unabhängigkeitsplätze« ist Legion – versteinerte Träume eines so gut wie nie erreichten Zustands. Platz und Stadt gehören im europäischen Kulturraum zusammen und häufig ist in Europa der Sitz der kommunalen Regierung auch der Geburtsort eines Platzes. Besonders eindrucksvoll zu sehen ist dies an Orten wie Siena (Piazza del Campo) (Abb. 1) und Venedig (Piazza San Marco) (Abb. 2).

Deutlich verschieden von dieser Art Plätze sind jene machtrepräsentativen Riesenflächen inmitten von im 20. Jahrhundert aus dem Boden gestampften Städten wie zum Beispiel Brasilia (Brasilien) (Abb. 3) oder Astana (Kasachstan). Offenbar waren die international renommierten Architekten dieser Städte der Ansicht, dass große Plätze zu einer modernen Stadt dazugehören. Allerdings wirken diese Plätze allenfalls monumental und künstlich – sie sind keine historisch gewachsenen Zentren.

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Abbildung 1

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Abbildung 2

In amerikanischen oder asiatischen Metropolen ist es gar nicht so einfach, einen Platz des Typus jener zentralen, in sich gegliederten leeren Flächen zu finden, die für Europa zu Selbstverständlichkeiten geworden sind. Roland Barthes hat in seinem Buch Das Reich der Zeichen auf die wesentliche Zentrumslosigkeit der japanischen Stadt-Kultur verwiesen: so kreist die japanische Hauptstadt um einen verbotenen und indifferenten Ort, ein »heiliges ›Nichts‹« – den Kaiserpalast. Anders als in europäischen Städten, in denen sich im Zentrum maßgebliche Institutionen der westlichen Zivilisation (Kirche, Banken, Kaufhäuser) sammeln bzw. verdichten und die damit die »soziale Wahrheit« verkörpern, ist das Zentrum der japanischen Hauptstadt eine »Idee«. Eine Idee, die nicht die Aufgabe hat, »Macht auszustrahlen«, sondern den Zweck erfüllt, »einer ganzen städtischen Bewegung den Halt ihrer zentralen Leere zu geben«3.

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Abbildung 3

Die Geschichte der europäischen Plätze ist Ausdruck eines sehr speziellen Raumgefühls, aber auch Ausdruck eines umfassenden gesellschaftlichen Wandels. Genauer gesagt ist die Art der Gestaltung der Plätze ein ziemlich präziser Indikator für den Stand und Bestand des politischen Bewusstseins. Es ist kein Zufall, dass das hierarchisch geordnete Sparta kaum Wert auf einen ausgedehnten Versammlungsort für seine Bürger legte, während eine demokratisch organisierte griechische Polis wie Athen ihre jeweilige Agora als Herz der Stadt betrachtete. Als die Perser Athen 480 v. Chr. unter Xerxes I. eroberten, zerstörten sie die Agora, das Herz der Stadt, zu einem großen Teil. In ihren Augen musste dieses öffentliche Forum der Diskussion und Argumentation als bedrohlicher Fremdkörper erscheinen. Selbst große Metropolen des persischen Reiches wie etwa Persepolis kannten bei aller Toleranz gegenüber unterworfenen Völkern keinen bürgerlichen Versammlungsort im Sinne der Agora. Es gab Paläste, Bazare, Handelshäuser, den berühmten Hundertsäulensaal, Tempel von beeindruckender Gestalt, aber eben keinen öffentlichen Raum der Verhandlung. Wozu auch? Unter der Regentschaft der persischen Großkönige war eine kontrovers über Staatsgeschicke diskutierende Bürgerschaft nicht vorgesehen.

In Europa ist das Aufkommen der Plätze untrennbar mit sozialen Emanzipationsbestrebungen verknüpft. Die Plätze sind Ausdruck eines bürgerlichen Selbstbewusstseins. Mit der Piazza del Campo, dem Zentrum der toskanischen Stadt Siena, errichtete sich ab 1169 eine damals starke Kaufmanns- und Händlerschaft eine Marktfläche, in der auch ihr »Gottesdienst«, das jährlich zweimal stattfindende Ritual des mythischen Pferderennens rund um den Platz, abgehalten wurde. Mehr als hunderttausend Bewohner der Stadt und ihrer Contraden (Stadtteile Sienas) fanden sich dabei über Stunden auf dem Campo zusammen und verwandelten ihn so in einen wahren Hexenkessel kollektiver Gefühle, die alle ergriffen und jeden in das städtische Gefüge einbanden. Der Platz als »Arena« identitätsstiftender Emotionen ist in Siena nach wie vor alljährlich hautnah zu erfahren.

Im Verlauf der folgenden Jahrhunderte rückte der »Platz« als öffentlicher Ort immer mehr ins Zentrum nicht nur des ökonomischen, sondern zugleich auch des politischen Interesses. Insbesondere republikanisch organisierte Staatskörper erinnerten sich der antiken Traditionen – der Agora und des Forums – und so wurde der Platz mehr und mehr zum symbolischen Ort nicht nur der kommunalen, sondern weit mehr noch der nationalen Repräsentanz. Oft verweisen noch heute allegorische Darstellungen, meist in der Mitte des jeweiligen Platzes, auf diese neue Funktion. Spätestens im 19. Jahrhundert begannen sich die Plätze mehr und mehr ideologisch aufzuladen und zur Projektions- und Repräsentationsfläche zu werden: Aufmärsche, nationale Gedenkfeiern, Paraden, Kranzniederlegungen – der Platz wurde zum Mausoleum großer Gefühle, zum Schauplatz symbolischer Gesten.

Doch nicht nur Machthaber benutzten den Platz als Forum der Selbstinszenierung. Immer wieder beanspruchte auch das Volk ihn für sich. In Krisensituationen werden Plätze häufig umfunktioniert zu »Laboratorien für Öffentlichkeit und Demokratie«: Wie – neben dem Tahrir, dem Taksim und dem Maidan – zum Beispiel auch auf dem Syntagma-Platz in Athen 2012, wo »junge Anarchisten« neben »Omas mit Pelzkragen-Mäntelchen« gemeinsam gegen das zweite Sparpaket der EU demonstrierten4. Erinnerungen an weitere, mit Menschen überflutete Plätze stellen sich ein: die »Samtene Revolution« auf dem Prager Wenzelsplatz 1989, die »Alexanderplatzdemonstration« aus demselben Jahr; die im Jahr 2005 vom »Place des Martyrs« ausgehende »Zedernrevolution« im Libanon.

Masse und MachtDemokratie! Wofür wir kämpfen. Dieses Gebilde mutiert in solchen Momenten zu einem Organismus, der alles Individuelle in einen neuen Zustand transformiert. Dieses Etwas manifestiert sich dann in Form einer Neubenennung, die einer existenziellen Wandlung, einer parareligiösen Umwidmung, einer säkularisierten Taufe gleichkommt.