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Für Mama und Papa,
ihr seid für immer mein Zuhause.

ISBN 978-3-492-97565-0

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: Mina Entertainment GmbH, N. Bielendorfer

Covermotiv: © Guido Engels (Fotos)

Datenkonvertierung: Eberl & Kœsel Studio GmbH

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Inhalt

Wenn der Vater mit dem Sohne ...

Der Aufzug

Papa wird alt

Seiber Seel

Ein Name wie ein Urteil

Ludger I

Der Heizpilz

Die Reinigungsdame

Das Familiengeheimnis

Ludger II

Die Inselbegabung

Otto süss-sauer

Der Messias zu Pferde

Mein schlimmstes Urlaubserlebnis: Der Reiterhof

Die Rückrufaktion

Vater, der Survivalexperte

Ludger III

Das Schampong

Der Apple fällt nicht weit vom Stamm

Papa, der Kosmopolit

Ludger IV

Mein schlimmstes Urlaubserlebnis: Der Zelturlaub

Ludger V

Der Scart-Club

Traumata frei Haus

Mein schlimmstes Urlaubserlebnis: Antalya ist nicht New York

Der beste Stein aller Zeiten

Ivan, der Brauser

Mein schlimmstes Urlaubserlebnis: Quallen unter sich

Rache ist Word Art

Hochgebockt

Wenn der Sohne mit dem Vater ...

Danksagung 

Wenn der Vater mit dem Sohne ...

Die Sonne scheint über Gelsenkirchen. Ein Paradoxon, würde der Dichter sagen.

»Schön«, sagt dagegen Vater, als er den Kopf aus dem Fenster streckt und zufrieden unseren Vorgarten betrachtet.

Mein Mops Otto und ich sind bei meinen Eltern zu Gast und liegen noch müde auf der Gästecouch. Der Hund und ich haben einen ähnlichen Biorhythmus: Wir schlafen mehr, als wir wach sind, und wenn wir wach sind, wünschen wir uns zu schlafen.

»Sohn, steh auf, die Hunde müssen auch mal raus«, sagt Vater und steht mit Maja an der Leine vor uns.

Otto lehnt diese kühne Behauptung klar ab und rollt sich auf dem Sofa zusammen. Anders als Maja, der neue Hund im Hause Bielendorfer senior, der freudig mit dem Schwanz wedelt. Meine Eltern haben Maja aus dem Tierasyl geholt, nachdem sie auf einer polnischen Müllkippe aufgewachsen ist, sich von Abfall ernährt hat und schließlich von Tierschützern gerettet wurde. Ein ziemlich großer, toller Hund mit wachen Augen und einem freundlichen Gesicht, der mich oft scheinbar verwundert über sein Schicksal ansieht, wenn er bei Mutter auf dem warmen Sofa sitzt, mit homöopathischen Globuli gefüttert wird und sich täglich sein Essen aus vier verschiedenen Sorten Leberpasteten aussuchen darf.

»Oh, Papa, es ist doch noch viel zu früh«, quake ich und schirme meine Augenschlitze gegen das einfallende Tageslicht ab.

»Papperlapapp! Wir haben bereits die dritte Stunde!«, sagt Vater, der den Tag immer noch in Schulstunden einteilt. Ein bisschen wie ein ehemaliger Weltkriegskapitän, der beim Mittagessen immer »Nun haben wir Zwölfnullhundert« brüllt.

Wenige Minuten später stehen wir auf dem Hof vor unserer Garage. Fünfzig Quadratmeter deutsches Ordnungsparadies. Ein halb beglatzter Nachbar kniet vor unserem Gartentor und kratzt akribisch das Unkraut aus den Pflasterritzen. Das Leben kann ohne solche Aufgaben auch verdammt lang werden.

»Hallo, Walter!«, grüßt mein Vater und winkt. Der Mann richtet sich kurz auf und mustert mich. Er hat mich wohl zuletzt als Kind bewusst wahrgenommen und ist entsprechend erschrocken, einen Feingeist gefangen im Körper eines adipösen Wikingers vorzufinden.

»Hat der Gallenreiter schon den neuen Streuplan aufgehängt?«, fragt Vater. Der Mann verneint.

»Dann muss ich wohl einen Brief schreiben, wir haben ja schon September, da kann es bald glatt werden.«

Im Nachbarschaftskrieg benutzt man Leuchtspurmunition in Form von Briefen, damit man weiß, woher der Angriff stammt. Norbert Gallenreiter ist der direkte Nachbar meiner Eltern, Intimfeind und anscheinend nachlässig, was die Winterstreupläne angeht. Könnte allerdings auch daran liegen, dass es September ist und wir in kurzen Hosen auf dem Hof stehen.

Großherzoglich nickt mein Vater dem Unkrautkriecher zu und wir gehen die Straße meiner Kindheit entlang, an die ein kleiner Wald grenzt.

»Hast du schon eine Rede für deine Hochzeit geschrieben, Sohn?«, fragt Vater, während Maja in den Rosenbüschen des verhassten Gallenreiters schnüffelt.

»Na ja ... noch nicht wirklich«, antworte ich kleinlaut. Ich bin Westfale, öffentliche Liebesbekundungen fallen mir genetisch bedingt eher schwer. Wir können traditionell gut schweigen und sitzen. Jeder hat seine Stärken.

»Dir wird schon was einfallen. Sei froh, dass du so eine tolle Frau bekommen hast«, sagt Vater und zieht Maja ein paar Zentimeter zurück in die Rosenbüsche. »Schön hier machen, Kleine«, sagt er und tätschelt Majas Kopf.

»Papa! Die kann doch nicht da hinmachen!«, insistiere ich.

»Und wie die kann ... da kommt es schon«, sagt Vater mit geradezu kindlicher Freude, weil der Hund gerade seinem Intimfeind Gallenreiter auf den Rasen gekackt hat.

»Und jetzt?«, frage ich.

»Jetzt laufen wir!«, sagt Vater und erhöht sein Schritttempo.

Wer den Streuplan nicht früh genug aufhängt, der wird zugeschissen.

Wir kommen am Ende der kleinen Spielstraße an. Ich bin mehr außer Atem als Vater. Wahrscheinlich hat er Majas Guerilla-Kacken schon so oft durchgeführt, dass er Kondition aufgebaut hat.

»Sohn, man darf sich im Leben nicht von anderen reinpfuschen lassen, da muss man zurückschlagen.«

»Papa, es ist nur ein Streuplan.«

»Heute ist es ein Streuplan, morgen die ganze Welt. Man muss seinen Weg gehen!«, sagt Vater und richtet sich dabei stolz auf.

»So, jetzt durch den Wald?«, frage ich. Otto neben mir japst, wir sind für solchen Frühsport nicht gemacht.

»Nee, Maja will linksherum, siehst du?«, sagt er und lässt sich seinen Arm fast auskugeln von der Zugkraft des Straßenhundneuzugangs.

»WIE BITTE? Der Hund geht ja wohl da lang, wo DU hin willst!«

»Das hatten wir schon, das klappt nicht«, erwidert mein Vater, der mir eben noch eine beeindruckende Brandrede auf die Freiheit gehalten hat.

»Aber es ist doch ein Hund!«

»Trotzdem, ich kann sie ja nicht zwingen«, sagt Vater.

Otto schaut mich irritiert an, so viel Mitbestimmungsrecht verwirrt ihn. Normalerweise geht er dort lang, wo ich langgehe. Das Konzept hat sich bewährt. Bevor er auch noch eine Revolte vom Zaun bricht, lenke ich ein und akzeptiere, dass Vaters Verständnis von »Du musst deinen Weg gehen« eher elastisch ist.

»Gut, dann da lang«, sage ich.

Wir laufen an einer alten Kohlehalde vorbei.

»Lässt du Maja eigentlich auch mal frei laufen?«

»Deine Mutter möchte das nicht. Sie hat Angst, dass Maja abhaut.«

»Ach Papa, der Hund ist doch total auf euch geprägt, die haut doch nicht ab! Das wäre ja bekloppt, wer würde denn freiwillig euren Robinson Club für Vierbeiner verlassen, den ihr gratis anbietet?«

»Meinst du?«

»Ja klar, schau mal, wenn ich Otto die Leine abnehme, ist er viel entspannter.« Ich löse Otto vom Halsband, und er springt vergnügt durch die Pfützen, die sich entlang des alten Zechenwegs gebildet haben.

»Na ja ... man kann es mal versuchen«, sagt Vater und löst Maja von der Leine.

Sie schaut ihn an, schaut mich an – und donnert dann mit Vollgas in das angrenzende Unterholz, in dem sie mit einem lauten »Schlömp« verschwindet.

»Scheiße«, sagt Vater.

»Scheiße«, sage ich.

Der Hund ist weg, wir laufen den Zechenweg entlang und brüllen: »Maaajaaa ... Maaajaaa.«

Otto schaut uns dabei irritiert zu.

Ohne Maja nach Hause zurückzukehren ist keine Option. Lieber werfen wir uns gemeinschaftlich vor den nächsten Bus, das wäre sicherlich die schmerzfreiere Version von dem, was Mutter uns antut, wenn sie erfährt, dass wir den Hund verloren haben.

Plötzlich taucht Maja aus dem Unterholz wieder auf. Sie schaut uns unschuldig an.

»Meine Güte, Maja!«, seufzt mein Vater voller Erleichterung, gerade noch dem heimischen Würgegriff entkommen zu sein.

Plötzlich sehe ich, dass Maja etwas in ihrem Maul trägt. Ihre gespreizten Lefzen sehen fast so aus, als würde sie uns anlächeln.

»Eine Ratte!«, brülle ich erschrocken, als ich erkenne, was da schlaff und pelzig in Majas Mund hängt. »Ist die tot?«

Vater starrt seinen Hund ebenso erschrocken an wie ich, selbst Otto weiß nicht, was er dazu sagen soll, er würde niemals etwas jagen und fressen. Wenn die Futterdose auf die Idee käme, sich zu wehren, würde er wohl lieber den Hungertod sterben.

»Ich denke, die hat dem Fährmann Charon bereits die Münze gegeben«, sagt Vater reichlich pathetisch. Ob Ratten wirklich den Styx überqueren müssen, halte ich für sehr fraglich.

»Auuuus, Maja! Auuuus!«, zieht Vater seine Vokale lang, geht dabei in die Knie und breitet seine Arme beschwichtigend aus, was ein bisschen wie ein russischer Volkstanz aussieht.

Maja macht tatsächlich Platz und mustert mich und meinen Vater irritiert. Dann öffnet sie den Schlund und schluckt die komplette Ratte in einem Haps herunter wie ein behaarter Tyrannosaurus Rex.

»Scheiße«, sagt Vater.

»Scheiße«, ergänze ich.

»Was machen wir denn jetzt?«, frage ich ihn, und er erwidert ziemlich schnell: »Jetzt laufen wir!«

Als wären wir in einer Zeitschleife gefangen, beginnt er wieder zu rennen, wuchtet dabei aber diesmal Maja auf den Arm. Ich packe Otto ebenfalls. Wir sehen wahrscheinlich aus wie zwei geisteskranke Hundekidnapper, wie wir da mit den Hunden unter dem Arm in die Spielstraße zu unserem Haus einbiegen.

»Wir müssen sofort zum Tierarzt«, sagt Vater und setzt Maja auf den Rücksitz des Autos, das zum Glück außerhalb von Mutters Sichtweite geparkt ist. »Wenn deine Mutter das rauskriegt, sind wir einen Kopf kürzer!«

»WIR?«, frage ich, bis mir wieder einfällt, dass ich meinen Vater ja ermutigt hatte, Maja laufen zu lassen.

»Wir müssen uns beeilen, vielleicht kann der die da noch rausholen. Man kann ja gar nicht wissen, was für Krankheiten so ein Viech in sich trägt.«

Wir rasen zum Tierarzt. Als wir dort aufschlagen, steht gerade eine Oma mit einer Kiste an der Rezeption.

»Hansi ist irgendwie nicht in Ordnung«, sagt sie, während man aus der Kiste nur ein lautes und deutliches »Arschloch! Du Arschloch« hört.

Entweder hat die Frau einen kranken Papagei oder einen sehr kleinen und vulgären Enkel in der Kiste.

Vater und ich stürmen die Praxis wie die GSG 9, wobei wir uns vom Überfallkommando dadurch unterscheiden, dass wir keine Maschinengewehre tragen, sondern Mischlingshündin Maja, die recht verdutzt auf die anderen wartenden Herrchen und Frauen herabblickt.

»Es ist ein Notfall!«, ruft Vater und rennt an der Rezeption vorbei direkt ins Zimmer des Arztes, der sich gerade über ein Meerschweinchen beugt.

»Ich operiere!«, beschwert er sich.

»Egal, was es kostet, helfen Sie uns«, brüllt Vater.

Hier wird heute große Theatralik geboten – ungewöhnlich für einen Mann, der meine Geburt der Legende nach mit den Worten »Gute Sache« kommentiert hat.

Der Arzt sieht genervt von den winzigen Hoden seines kleinen Patienten auf, die er gerade mit einer Klemme fixiert. »Was ist denn?«

»Der Hund hat eine Ratte verschluckt! EINE RATTE

»Und ich soll Ihnen jetzt helfen?«

»Ja!«, brüllt Vater. »Was sollen wir denn jetzt machen?«

»Reichen Sie ihm halt eine Serviette«, sagt der Arzt und besinnt sich wieder darauf, das arme Meerschweinchen zu kastrieren.

»Was?«, erwidern Vater und ich fast zeitgleich.

»Es gibt kaum eine bessere Mahlzeit für den Hund als so eine Ratte. Haut, Knochen, Innereien, da ist alles drin, was der Hund braucht«, sagt der Mann seelenruhig und vollendet den finalen Schnitt, der aus Meerschweinchenbulle Meerschweinchenbully macht.

»Und wir können nichts tun?«, schiebt Vater unsicher hinterher, vielleicht haben wir den Mann ja falsch verstanden.

»Doch, Sie können 52,50 Euro für die Beratung dalassen, so viel kostet der Besuch meiner Sprechstunde«, antwortet der Tierarzt und verweist uns mit einem ernsten Blick des Raumes.

Als Vater und ich zu Hause ankommen, schaut uns Mutter fragend an.

»Wo wart ihr denn so lange?«, will sie verständlicherweise wissen, der Blick auf die Uhr verrät, dass wir fast drei Stunden weg waren. Wenigstens ist das Rudel inzwischen wieder komplett: Otto und die Rattenfresserin trotten hinter uns ins Wohnzimmer.

»Ach, wir sind mal eine andere Route gegangen«, lüge ich nicht gerade gekonnt. In der Zeit wäre man in etwa einmal nach Bochum und zurückgelatscht.

»Ja ... wirklich schön ... am See«, ergänzt Vater.

Manchmal sollte man lieber die Klappe halten.

»Welcher See denn?«, fragt Mutter sofort misstrauisch, denn wir wohnen in Gelsenkirchen, nicht an der Mecklenburgischen Seenplatte.

Plötzlich hören wir ein polterndes Husten aus der Ecke, Maja hinter uns klingt, als hätte sie ihr Lebtag in einer Eisenerzmine gearbeitet.

»Ist alles gut mit Majalein?«, fragt Mutter, inzwischen höchst misstrauisch.

»Klar, alles super!«, sage ich, beuge mich zum Hund runter, hebe den hervorgewürgten Rattenschwanz auf, verberge ihn hinter meinem Rücken und schiebe lächelnd ein »Alles wunderbar« hinterher.