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Systemische Horizonte –
Theorie der Praxis

Herausgeber: Bernhard Pörksen

»Irritation ist kostbar.«

Niklas Luhmann

Die wilden Jahre des Konstruktivismus und der Systemtheorie sind vorbei. Inzwischen ist das konstruktivistische und systemische Denken auf dem Weg zum etablierten Paradigma und zur normal science. Die Provokationen von einst sind die Gewissheiten von heute. Und lange schon hat die Phase der praktischen Nutzbarmachung begonnen, der strategischen Anwendung in der Organisationsberatung und im Management, in der Therapie und in der Politik, in der Pädagogik und der Didaktik. Kurzum: Es droht das epistemologische Biedermeier. Eine Außenseiterphilosophie wird zur Mode – mit allen kognitiven Folgekosten, die eine Popularisierung und praxistaugliche Umarbeitung unvermeidlich mit sich bringt.

In dieser Situation ambivalenter Erfolge kommt der Reihe Systemische Horizonte – Theorie der Praxis eine doppelte Aufgabe zu: Sie soll die Theoriearbeit vorantreiben – und die Welt der Praxis durch ein gleichermaßen strenges und wildes Denken herausfordern. Hier wird der Wechsel der Perspektiven und Beobachtungsweisen als ein Denkstil vorgeschlagen, der Kreativität begünstigt.

Es gilt, die eigene Intelligenz an den Schnittstellen und in den Zwischenwelten zu erproben: zwischen Wissenschaft und Anwendung, zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Philosophie und Neurobiologie. Ausgangspunkt der experimentellen Erkundungen und essayistischen Streifzüge, der kanonischen Texte und leichthändig formulierten Dialoge ist die Einsicht: Theorie braucht man dann, wenn sie überflüssig geworden zu sein scheint – als Anlass zum Neu- und Andersdenken, als Horizonterweiterung und inspirierende Irritation, die dabei hilft, eigene Gewissheiten und letzte Wahrheiten, große und kleine Ideologien so lange zu drehen und zu wenden, bis sie unscharfe Ränder bekommen – und man mehr sieht als zuvor.

Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft
an der Universität Tübingen

Matthias Eckoldt

Kann sich
das Bewusstsein
bewusst sein?

Gespräche mit

DIRK BAECKER

MARKUS GABRIEL

JOHN-DYLAN HAYNES

PHILIPP HÜBL

NATALIE KNAPP

CHRISTOF KOCH

GEORG KREUTZBERG

KLAUS MAINZER

ABT MUHÔ

MICHAEL PAUEN

JOHANNES WAGEMANN

HARALD WALACH

2017

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

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Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Themenreihe »Systemische Horizonte«

hrsg. von Bernhard Pörksen

Reihengestaltung: Richard Fischer

Umschlagfoto: Richard Fischer · www.richardfischer.org

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Erste Auflage, 2017

ISBN 978-3-8497-0202-1 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8103-3 (ePUB)

ISBN 978-3-8497-8090-6 (PDF)

© 2017 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

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»Nur dadurch, dass ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein verbinden kann, ist es möglich, dass ich mir die Identität des Bewusstseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle.«

Immanuel Kant

Inhalt

Vorwort

Die Erklärungslücke

Phänomenales und intentionales Bewusstsein

Das Leib-Seele-Problem

Das schwierige Problem des Bewusstseins

Die Gesprächspartner

»Wie kann das Hirn die Grundlage von Bewusstsein sein, obwohl es selbst aus nichtbewussten, geistlosen Atomen besteht?«

PHILIPP HÜBL über Baseballschläger, Zombies und den ViP-Bereich des Bewusstseins

Mentale Faulheit

Bewusstsein als gut geputzte Brille

Saurer Kitsch

Wie hängen Hirnzustände und Gedanken zusammen?

Freier Wille

Über den Determinismus

Der Zombie als Beweis des Epiphänomenalismus

Die Funktion des Bewusstseins

Bewusstsein und Aufmerksamkeit

Zwischen Materialismus und Idealismus

Die Macht des Unbewussten

»Ich bin ein Verfechter der Sichtweise, dass wir Menschen uns als Analog- und Digitalmaschinen begreifen sollten«

KLAUS MAINZER über Hunde, Orakelmaschinen und den Menschen als eine Zwischenstufe der Evolution

Götter mit Hufen und Hörnern

Tierisches Bewusstsein

Die Stufen menschlichen Bewusstseins

Künstliche Intelligenz

Sieg der Maschinen

Neuronale Netze

Die Orakelmaschine

Vom Gehirn lernen

Software, Hardware, Middleware

Die Korrelate des Bewusstseins

Über das Leib-Seele-Problem

Ein Adapter für Schmerzen

Empfindungsfähige Maschinen

Jenseits des Menschen

Digitale Neandertaler

»Der Geist untersteht nicht den Naturgesetzen, sondern seinen eigenen Gesetzen«

MARKUS GABRIEL über Hegel, Orgasmen und den einfachsten Beweis für den freien Willen

Zweifel und Täuschung

Geist und Bewusstsein

Probleme mit dem Ich

Phänomenales und intentionales Bewusstsein

Wovon handeln Orgasmen?

Geist und Materie

Selbstbewusstsein

Bewusstsein in der Neurowissenschaft

Meme

Antinaturalismus und Pluralismus

Ich kann tun, was ich will, aber vermag nicht zu wollen

Freier Wille

Der Geist ist nichts Natürliches

»Wir wissen nicht, wie wir entscheiden und was die wirklichen Gründe für unsere Entscheidungen sind«

JOHN-DYLAN HAYNES über Gedankenlesen, Domino-Effekte und ein Western-Duell

Eine philosophische Herausforderung

Die Libet-Versuche

Ende des Dualismus

Kritik an Libet

Brain reading

Der Haynes-Versuch

Rasche und langsame Entscheidungen

Das Veto des Bewusstseins

Das Gehirnduell

Freier Unwille

Determinismus

»Die weitverbreitete Vorstellung, eine angemessene Beschreibung phänomenalen Bewusstseins könne nur aus der Erste-Person-Perspektive gelingen, ist falsch«

MICHAEL PAUEN über Tische und Stühle, die Introspektionsillusion und den Kapitän eines Mississippi-Dampfers

Bewusstsein als schwieriges Problem

Ignorabimus

Erste- und Dritte-Person-Perspektive

Mögliche Lösung des Bewusstseinsproblems

Realismus und Physikalismus

Neuronale Korrelate des Bewusstseins

Was die Neurowissenschaft über das Bewusstsein weiß

Philosophie und Hirnforschung

Illusionen des Bewusstseins

Definition des Bewusstseins

Bewusstsein der Tiere

Sprache und Bewusstsein

Funktion des Bewusstseins

Bewusstes und unbewusstes Nachdenken

»Angenommen, unser Wille ist nicht frei: Wie kommt es, dass uns dieser nichtfreie Wille dazu zwingt, so zu leben, als hätten wir einen freien Willen?«

ABT MUHÔ über herumtollende Schafe, höllische Schmerzen beim Meditieren und die Rückseite des Spiegels

Das Leib-Seele-Problem

Zen-Buddhismus

Quirliges Bewusstsein

Ich und Bewusstsein

Zazen

Bewusstsein und Ego

Neurowissenschaft und Bewusstsein

Freier Wille

Das Ich als Illusion

Wiedergeburt

Alles verändert sich

Sterben hat noch jeder geschafft

»Das Ich ist ein Henkel, an dem ich mich selbst aufhängen kann, aber nicht muss«

DIRK BAECKER über dösendes und düsendes Bewusstsein, eine Gesellschaft, die zum Mond fliegt und die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge

Die Blackbox namens Bewusstsein

Die Funktion des Bewusstseins

Wo sitzt das Bewusstsein?

Neurowissenschaft und Bewusstsein

Operationen der Vernunft

Bewusstsein als System

Intentionales und phänomenales Bewusstsein

Die strukturelle Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation

Hinterherhinkendes Bewusstsein

Ich und Bewusstsein

Über den Determinismus

Neuronale Korrelate

Über Wahrheit und Lüge

Überraschungen bis zum Tod

»Die Leistung des Gehirns besteht genau in dem, was man zunächst nicht von ihm vermutet: Das Gehirn erzeugt nicht Ordnung, sondern Chaos, nicht Zusammengeführtes, sondern Einzelnes«

JOHANNES WAGEMANN über Nahtoderfahrungen, das Bewusstseinsorgan und überforderte Schimpansen

»Maschinenbewusstsein«

Tierisches Bewusstsein

Der Sinn vom Sinn

Möglichkeitssinn

Neurowissenschaft und Bewusstsein

Introspektive Psychologie

Zur Strukturphänomenologie

Die Neurophänomenologie

Die Subjektwerdung des Menschen

Das Bewusstseinsorgan

Vereinigung von Monismus und Dualismus

Ist Bewusstsein sterblich?

Die Nahtstelle zwischen Materie und Bewusstsein

Entstehung des Bewusstseins

»Lasst uns aufgeschlossen bleiben und sehen, inwiefern die Wissenschaft eine fundamentale Theorie des Bewusstseins entwickeln kann!«

CHRISTOF KOCH über die Fußspuren des Bewusstseins, die Vorgänge in einer Mühle und das Bewusstseinsmeter

Bewusste Wahrnehmung

Die Erste-Person-Perspektive

Neuronale Korrelate des Bewusstseins

Die Erklärungslücke

Computer-Bewusstsein

Die Integrated Information Theory (IIT)

Praktische Anwendung der IIT

Selbstwirksamkeit

Das Claustrum

Selbstbewusstsein

Das Ich

Die Funktion des Bewusstseins

»Jedes Bewusstsein, das nach dem Bewusstsein fragt, ist an seine eigene kulturgeschichtliche Grammatik gebunden«

NATALIE KNAPP über integrales Bewusstsein, das Denken in Analogien und die Traurigkeit eines Hundes

Wahrnehmung und Bewusstsein

Vorbedingungen des Denkens

Emergenz

Arten der Weltwahrnehmung

Denken in Analogien

Sprache und Bewusstsein

Definition von Bewusstsein

Rückkopplungsphänomene

Bewusstseinsleistungen eines Hundes

Das Ich

Ich-Bewusstsein versus Gruppenbewusstsein

Veränderungen des Bewusstseins

Integrales Bewusstsein

Freier Wille

Nichtwissen

»Das Entscheidende des Menschseins und -werdens passiert auf der sozialen Ebene«

GEORG KREUTZBERG über springende Gene, Bewusstseinstrübungen und einen Dopingfall vor 282 000 Jahren

Vom klinischen Umgang mit Bewusstsein

Moleküle und Bewusstsein

Mikroglia

Das Bindungsproblem

Springende Gene

Menschwerdung

Bewusstseinsbildung

Die Entdeckung des Ichs

Komplementarität

Warum gibt es Bewusstsein?

»Ich halte die Neurowissenschaft für komplett überschätzt!«

HARALD WALACH über Quantenverschränkungen, chaotische Systeme und ein Experiment mit einem tibetischen Lama

Das Leib-Seele-Problem

Das schwierige Problem des Bewusstseins

Phänomenales Bewusstsein

Freier Wille

Meditation

Determinismus

Komplementarität

Erleuchtung

Bewusstsein und Materie

Ismen der Bewusstseinsforschung

Generalisierte Quantentheorie

Bindungsproblem

Zurück zum Geist-Materie-Problem

Über den Autor

Vorwort

Die Erklärungslücke

Wie konnte Bewusstsein überhaupt entstehen? Wie war es möglich, dass an einem durch nichts ausgezeichneten Punkt am Rande einer eher durchschnittlichen Galaxie die Funken des Geistes zu sprühen begannen? Warum fühlte es sich plötzlich nach etwas an, in einem Universum zu sein, einem Universum aus gewaltigen Massen fühlloser Materie, der ihre eigene Existenz gleichgültig war? Wenn die Atome keine bewussten Zustände kennen, wieso dann einige wenige Organismen, die doch ihrerseits aus nichts als Atomen aufgebaut sind? Im menschlichen Körper setzt sich dieses Paradoxon fort: Warum laufen die allermeisten Prozesse, wie Verdauung, Blutkreislauf und selbst das Schalten der Neurone im Hirn, ohne Bewusstseinsbeteiligung ab, während Zähne und Gedanken schmerzen können?

Möglicherweise werden wir die Antworten auf diese Fragen niemals finden. Doch das hält uns nicht davon ab, Bewusstsein zu erleben, womit eine weitere Eigentümlichkeit ins Spiel kommt. Obwohl uns allen eine im Prinzip gleiche Welt gegeben ist, empfindet sie doch jeder anders – aus der Perspektive des Ichs, der ersten Person. Das macht die Erforschung des Phänomens schwer, da sich die Naturwissenschaft genau jene subjektive Sicht verbietet und die Welt der Dinge aus der Dritte-Person-Perspektive beobachtet, um objektiv gültige Zusammenhänge zu erschließen. Das bereitet keine Probleme, solange es um die Welt der Dinge geht. Sobald aber die empirische Wissenschaft das Bewusstsein erkennen will, stellt sich die Differenz als unüberwindbar dar, was der US-amerikanische Philosoph Joseph Levine in den Begriff der grundsätzlichen Erklärungslücke zwischen der Erste-Person-Perspektive und der Dritte-Person-Perspektive fasste.

Zwar versuchen wir, unsere innere Erlebniswelt mitzuteilen, das jedoch kann nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass niemand meine Schmerzen zu fühlen und meine Gedanken zu denken vermag. Den tiefen Graben zwischen der Erste- und der Dritte-Person-Perspektive spürt man sogar an und in sich selbst in Momenten, in denen man dem behandelnden Arzt vergeblich die Qualität des Schulterschmerzes zu beschreiben sucht oder daran scheitert, seinem Gegenüber einen Gedanken mitzuteilen, der sich unausgesprochen im Inneren noch ganz klar anfühlte.

Phänomenales und intentionales Bewusstsein

Der Philosoph Thomas Nagel fand für den Zusammenhang von Bewusstsein und individueller Erlebniswelt eine griffige Formel. Immer, wenn es für einen Organismus auf irgendeine Weise ist, dieser Organismus zu sein, verfügt er über Bewusstsein. Sobald es ein Gefühl für sich selbst gibt, werden aus Tieren mehr als pure Reflexmaschinen. Man kann dann nicht umhin, ihnen mentale Zustände zuzubilligen. Für uns Menschen ist dieser Status selbstverständlich und drückt sich in der sprachlichen Formel des Ichs aus. Wenn es sich nicht anfühlen würde, ein Mensch zu sein, könnte man auch nicht von sich reden und brächte das Wort »Ich« nicht über die Lippen. Aber was ist mit Affen, mit Fledermäusen, mit Bienen, mit Amöben? Und was mit künstlichen Intelligenzen?

Dieser exklusive, von außen nicht erfahrbare Zustand wird auch als Qualia oder als phänomenales Bewusstsein bezeichnet. Neben der Erlebnisqualität weist Bewusstsein noch eine weitere Eigenschaft auf. Es ist immer auf etwas bezogen. Selbst die eigensinnigsten Gedanken handeln von etwas, ebenso wie man Schmerzen nicht an sich hat, sondern es immer ein Etwas gibt, das wehtut. Für diesen Aspekt hat sich der Begriff intentionales Bewusstsein eingebürgert.

Das Leib-Seele-Problem

Der französische Philosoph und Naturforscher René Descartes bringt im 17. Jahrhundert logische Schärfe in die Debatte um den zwar in jedem Menschen offensichtlichen, bei genauerem Nachdenken jedoch verwirrenden Zusammenhang zwischen Leib und Seele (später zwischen Geist und Materie oder Sein und Bewusstsein, noch später zwischen Gehirn und Geist). Descartes sieht das entscheidende Kriterium der gegenständlichen Welt in der Ausdehnung und findet dafür die Bezeichnung res extensa, die ausgedehnte Substanz. Gegenstück dazu bildet die res cogitans, die denkende Substanz. Sie verfügt offensichtlich über keinerlei räumliche Ausdehnung, denn einen Gedanken kann man nicht verorten. Er ist überall und nirgends. Mit dieser strikten Trennung geistiger und materieller Wesenheiten handelt sich Descartes – und mit ihm das abendländische Nachdenken über das Bewusstsein – nun jedoch ein gravierendes, unlösbares Problem ein: Wenn res cogitans und res extensa zwei ihrem Wesen nach getrennte Substanzen sind, wie ist es dann zu erklären, dass sie miteinander wechselwirken und sich sogar gegenseitig hervorbringen? Descartes behauptet, dass die Zirbeldrüse im Gehirn die Kraft besitze, die Wechselwirkung zu leisten. Diese durch nichts gedeckte Spekulation erscheint bereits seinen Zeitgenossen fragwürdig, seit die Steuerung des Schlaf-wach-Rhythmus durch die Produktion von Melatonin in der Zirbeldrüse aufgeklärt ist, klingt sie geradezu absurd.

Aber die Frage bleibt: Wenn man von der kausalen Geschlossenheit der Welt ausgeht, in der jeder materiellen Wirkung eine materielle Ursache vorausläuft, wie sollen dann nichträumliche, nichtmaterielle Zustände wie Gedanken materielle Wirkungen verursachen? Wäre es nicht geradezu ein Akt der Magie, wenn der Gedanke, meine Hand zu bewegen, die tatsächliche Bewegung meiner Hand verursachen würde? Die Philosophie schlägt sich fortan mit dem Thema herum und entwickelt ein breites Spektrum an Lösungsversuchen, bei denen der Prozess der Wechselwirkung entweder vom Geist her (Idealismus) oder von der Materie her (Materialismus) gedacht wird. Derweil geht die Naturwissenschaft zur Tagesordnung über und widmet sich ihrem Aufgabenfeld, das Descartes im Erkennen der Gesetze im Bereich der res extensa, der gegenständlichen Welt, sah.

Die Euphorie, die durch die Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaften ausgelöst wird, lässt alle Grenzen überwindbar erscheinen, sodass sie sich schließlich sogar die Lösung des Leib-Seele-Problems zutrauen. Eine zur Demut mahnende Stimme erhebt sich jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus den eigenen Reihen. Der Begründer der Elektrophysiologie Emil du Bois-Reymond legt dar, dass Bewusstsein aus seinen materiellen Bedingungen heraus nicht erklärbar ist und sein wird: »Ignoramus et ignorabimus» (»Wir wissen es nicht, und wir werden es nicht wissen«).

Das schwierige Problem des Bewusstseins

Im 20. Jahrhundert verhallt die Stimme von du Bois-Reymond angesichts des immer rasanteren technischen Fortschritts. Besonders die Entwicklung einer Maschine, die so vieles besser kann als der Mensch, nimmt dem Erkenntnispessimismus den Wind aus den Segeln. Wenn man Computer bauen kann, die sogar das hochkomplexe Schachspiel besser beherrschen als der menschliche Weltmeister, scheint man auf dem richtigen Weg, um auch das Rätsel des Bewusstseins mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu lösen, indem man entweder eine künstliche Intelligenz mit den markanten menschlichen Eigenschaften kreiert oder die Entstehung des Bewusstseins aus der immer besseren Kenntnis der Neurone und ihrer Verschaltungen heraus zu erklären vermag. Beides ist trotz jährlicher Verdopplung der Computerleistungen und der Entwicklung bildgebender Verfahren nicht gelungen, sodass der 1994 von dem australischen Philosophen David Chalmers geprägte Begriff vom schwierigen Problem des Bewusstseins bis heute Bestand hat. Nach seiner Unterscheidung tun sich mit der Frage nach dem Bewusstsein zwei Probleme auf: das einfache, bei dem es um die Erklärung von Verhalten geht, und das schwierige, das die Entstehung subjektiver Erfahrung aus physikalischen Prozessen zum Gegenstand hat.

Das vorliegende Buch gibt einen Einblick in den gegenwärtigen Stand der Erforschung jenes schwierigen Problems des Bewusstseins. Die dialogische Form ermöglicht dabei den schrittweisen Nachvollzug der Gedankengänge, sodass der Leser eine exklusive Einführung in die aktuelle Debatte erhält. Sie ist heute an einem spannenden Punkt angelangt, an dem sich mit einer gnadenlosen Deutlichkeit abzeichnet, dass keine Wissenschaftsrichtung allein das Rätsel Bewusstsein lösen wird. Daher versammelt das Buch Gesprächspartner aus verschiedenen Disziplinen.

Die Gesprächspartner

Die Philosophen sind dabei in der Mehrheit, weil sie die ersten Adressaten einer Forschungslandschaft sind, die sich langsam eingesteht, noch nicht die richtigen Fragen an den Untersuchungsgegenstand Bewusstsein formuliert zu haben. Mit begrifflicher Strenge reflektieren sie den Stand der Erkenntnisse und die Methoden, mit denen sie gewonnen wurden. Dabei herrscht unter den hier versammelten Philosophen alles andere als Einigkeit über den einzuschlagenden Weg.

Michael Pauen plädiert dafür, die Erklärungslücke zwischen Erste- und Dritte-Person-Perspektive zu minimieren, indem man objektivierbares Wissen über die nur subjektiv erfahrbare innere Welt sammelt, und setzt dabei auf Fortschritte der Hirnforschung bei der Erforschung der neuronalen Korrelate des Bewusstseins: »Wenn wir sehr spezifische Korrelationsdaten über neuronale Muster und psychologische Prozesse hätten, dann wäre die sinnvollste Erklärung unter bestimmten Umständen, dass es tatsächlich zwei Beschreibungen ein und desselben Prozesses sind.«

Markus Gabriel hält dagegen wenig von den Neurowissenschaften als Lieferanten neuer Erkenntnisse über das Bewusstsein, weil er den Geist nicht den Gesetzen der Natur, sondern seinen eigenen Gesetzen unterstellt sieht und daher eine an Hegel geschulte Konzeption des Geistes entwirft: »Wichtig daran zu verstehen ist, dass Geist hier als eine Invariante gesehen wird. Was jedoch variiert, ist das Bild, das wir uns von uns machen. Wenn wir nun sagen: ›Wir sind bewusst‹, dann machen wir uns ein Bild von uns selbst als geistige Lebewesen und fragen uns beispielsweise, in welcher Kontinuität steht unser Bewusstsein mit dem Bewusstsein anderer Tiere? Bewusstsein ist also gebunden an die Begriffe unseres Selbstporträts.«

In ähnlicher Richtung denkt der Strukturphänomenologe Johannes Wagemann, der Bewusstsein als ein eigenes, nichtmaterielles Organ begreift, dessen Funktion darin besteht, die vom Gehirn geleistete Zerlegung der Wirklichkeit in einem Sinnhorizont zusammenzufügen: »Die Funktion des Organs Bewusstsein wäre dementsprechend erstens mentale, interessengeleitete Eigenaktivität – ich kann mich ja in jedem Moment auch anderen Dingen zuwenden – und zweitens Sinnstrukturierung, also die innere, logische Gesetzmäßigkeit dessen, dem ich mich zuwende. Aber um die Sinnstrukturen auf den Punkt zu bringen, auf den konkreten Einzelfall festlegen zu können, benötige ich wiederum das Gehirn, das mir all die zusammenhanglosen Ansatzpunkte dazu vermittelt.«

Näher an der empirischen Wissenschaft sieht sich Philipp Hübl, wenn er sich im besten Sinne des Wortes als Szientist versteht und Erhellendes für das Verständnis des Bewusstseins von einer Disziplin erwartet, die nicht mehr streng zwischen Philosophie und Psychologie unterscheidet und die Erkenntnisse der Aufmerksamkeitsforschung systematisch in den Blick nimmt: »Da unser Geist eine begrenzte Aufnahmekapazität hat, brauchen wir eine Art Flaschenhals, über den Informationen selektiert werden. Aufmerksamkeit fungiert wie ein Türsteher in einem angesagten Klub. Es kommt niemals alles rein, was da auf den Eingang einprasselt. Ansonsten würde uns der Kopf platzen.«

Natalie Knapp konfrontiert in ihrem Nachdenken hingegen Bewusstseinsformen verschiedener Menschheitsalter mit dem je individuellen Bewusstseinswandel. Sie ist auf der Suche nach Anzeichen für die Entstehung einer neuen Bewusstseinsebene, die es ermöglicht, sich wieder über die eigene Lebensspanne hinaus verantwortlich zu fühlen: »Ich kann mir bewusst werden, dass mir verschiedene Arten der Rhythmisierung zur Verfügung stehen und sie ineinandergreifend praktizieren. Ich kann zwischen ihnen hin- und herpendeln und sehen, welche unterschiedlichen Welterfahrungen sie eröffnen. Das Resultat wäre dann eine integrale, vieldimensionale Einheit. So stelle ich mir vor, was Jean Gebser mit integralem Bewusstsein gemeint haben könnte.«

Der Soziologe Dirk Baecker setzt wiederum anders an und sieht bei der Erforschung des Bewusstseins in der gesellschaftsbildenden Du-Perspektive das notwendige Bindeglied, das es erlauben könnte, den Graben zwischen der Erste- und der Dritte-Person-Perspektive zu überspringen, denn: »Sie kennen den schönen Spruch, dass man ein Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. So braucht man eine Welt, um ein Bewusstsein zu erklären.«

Zugleich aber kommen auch empirisch forschende Wissenschaftler zu Wort: John-Dylan Haynes kann mithilfe eines von ihm entwickelten neurowissenschaftlichen Verfahrens bestimmte Gedanken lesen und weiß bereits sieben Sekunden bevor sich seine Probanden zu einer Handlung entschließen, was sie tun werden. So liefert er neuen Diskussionsstoff für die alte Frage, ob wir Menschen über einen freien Willen verfügen: »Das klingt wahrlich völlig paradox. Aber die Resultate waren solide.«

Klaus Mainzer beschäftigt sich mit der Theorie und Praxis künstlicher Intelligenzen. Ihm stellt sich der Mensch mit seinem Bewusstsein nicht als Krone der Schöpfung, sondern als Zwischenstufe der Evolution dar: »Bewusstsein ist bei uns Menschen hochgradig ausgebildet. Gleichzeitig erleben wir heute aber eine Strategie der technischen Intelligenz, die eine ganz andere Richtung einschlägt. Hier spielt das Bewusstsein allenfalls eine untergeordnete Rolle – zumeist jedoch gar keine.«

Mit Georg Kreutzberg ist ein Hirnforscher vertreten, der weltweit als Instanz auf dem Gebiet der Gliazellen gilt und sich nach seiner Emeritierung mit den verschiedenen Theorien der Menschwerdung auseinandergesetzt hat: »Einerseits stammen wir von Tieren ab, und die Natur hat uns alles, was die Tiere erfolgreich gemacht hat, weitergegeben, als wir noch auf den Bäumen saßen. Vor 282 000 Jahren ist jedoch noch ein zweiter Strang dazugekommen, der des Bewusstseins.«

Christof Koch ist ebenfalls Neurowissenschaftler und forscht über die neuronalen Grundlagen des Bewusstseins. Dabei stellt sich mit dem Claustrum eine kleine Struktur unterhalb der Großhirnrinde als enorm wichtig für die Bildung von Bewusstsein heraus: »Wir haben das Claustrum mit dem Dirigenten in einem Orchester verglichen, der zweihundert verschiedene Solisten synchronisiert, sodass eine Symphonie entsteht. Die Solisten wären die einzelnen Areale der Großhirnrinde und die Symphonie das Bewusstsein.«

Der Psychologe Harald Walach hält nicht viel vom Weg der Neurowissenschaft, sofern sie versucht, alle Phänomene auf materielle Grundlagen zu reduzieren. Er entwickelt seinen Ansatz von einer Einheit her und begreift Materie und Bewusstsein eher in einem komplementären als in einem gegensätzlichen Verhältnis, »als komplementäre Erscheinungsformen derselben Sache. Damit wird die Materie nicht als das Grundlegende angesehen, sondern als eine transzendente Realität, die sich zunächst erst einmal weder als Geist noch als Materie interpretieren lässt. Uns Menschen mit unserer speziellen Konstitution erscheinen diese beiden Dinge immer in der Doppelform.«

Neben den professionellen Forschern kommt auch ein Profi der Erste-Person-Perspektive zu Wort. Abt Muhô steht einem japanischen Zen-Kloster vor und hat sich in dreißigjähriger Meditationspraxis mit dem Bewusstsein auseinandergesetzt – im Extremfall bis zu 17 Stunden am Tag: »Wir sitzen vor der weißen Wand und lassen alle möglichen Fragen hochkommen. Wenn man philosophisch geneigt ist, können auch Fragen zum Bewusstsein selbst aufsteigen: Wer hört, wenn ich eine Vogelstimme höre? Warum bin ich ich und nicht mein Nachbar?«

Die Zusammenschau dieser zwölf unterschiedlichen Ansätze zur Erforschung des Bewusstseins gibt letztlich eine mögliche Antwort auf die titelgebende Frage nach dem Bewusstsein: Bewusstsein ist das Medium, in dem sich der Selbstklärungsprozess des Menschen vollzieht.

Matthias Eckoldt
Sarmstorf, Neujahr 2017

»Wie kann das Hirn die Grundlage von Bewusstsein sein, obwohl es selbst aus nichtbewussten, geistlosen Atomen besteht?«

Philipp Hübl über Baseballschläger, Zombies und den ViP-Bereich des Bewusstseins

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© Juliane Marie Schreiber

Philipp Hübl, geboren 1975 in Hannover, Studium der Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin, Berkeley, New York und Oxford; Lehrtätigkeit an der RWTH Aachen sowie der Humboldt-Universität zu Berlin; Fulbright-Scholar und Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes; Vorträge unter anderem in Antwerpen, Barcelona, Belfast, Bielefeld, Groningen, Innsbruck, Konstanz, Krakau, Lissabon, New York, Potsdam, Utrecht und Zürich.

Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart. Er forscht in der Philosophie des Geistes, Handlungstheorie, Sprachphilosophie, Metaphysik und Wissenschaftstheorie. Neueste Publikation zum Thema: Der Untergrund des Denkens. Eine Philosophie des Unbewussten (2016).

Mentale Faulheit

MATTHIAS ECKOLDT: Wie und warum ist Bewusstsein zu einem Thema für Sie geworden?

PHILIPP HÜBL: Ich habe mich schon in der Schulzeit sehr für Psychologie interessiert. Im Studium wählte ich zunächst Sprachwissenschaft, weil ich immer wissen wollte, wie Sprache funktioniert. Ich dachte, wenn man der menschlichen Natur auf den Grund kommen will, muss man wissen, wie Sprache funktioniert. Dabei habe ich aber gemerkt, dass Sprache nur eine geistige Fähigkeit ist, die uns Menschen ausmacht und bin dann über mehrere Seminare in der Philosophie dazu gekommen, dass die Philosophie des Geistes eine übergeordnete Disziplin ist, in der es darum geht, unseren Geist, speziell unser Bewusstsein zu verstehen. Dabei ist Sprache eine wichtige Fähigkeit, aber dazu kommen noch die Handlungsfähigkeit, die Emotionen die Wahrnehmung, das Denken und so weiter. Diese Prozesse sind beim Menschen begleitet von Bewusstsein. In meiner Doktorarbeit habe ich mich dann mit Handlungstheorie beschäftigt. Dabei hat mich nicht so sehr interessiert, was die ethischen Grundlagen des Handelns sind, sondern wie die empirischen Grundlagen des Handelns aussehen. Welche Entscheidungen, Wünsche und Präferenzen treiben uns an, und wie setzen wir die tatsächlich in Handlung um? Da spielte dann natürlich sofort die Frage nach Aufmerksamkeit und Bewusstsein mit hinein.

MATTHIAS ECKOLDT: Wie bewusst sind wir eigentlich? Wenn wir uns beispielsweise die Aufgabe anschauen, die der israelisch-US-amerikanische Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann seinen Probanden stellte, nämlich: Baseballschläger und Ball kosten zusammen 1,10 Dollar. Der Schläger kostet einen Dollar mehr als der Ball. Wie viel kostet dann der Ball? Die meisten Probanden antworteten: 10 Cent. Was würden Sie sagen?

PHILIPP HÜBL: Der Ball muss 5 Cent kosten, dann kostet der Schläger 1,05 Dollar und zusammen kosten die beiden dann 1,10 Dollar. Aber es ist richtig, die erste Antwort, die einem spontan in den Kopf schießt, lautet: 10 Cent. Interessant sind Prozesse, die an der Grenze zwischen Bewusstsein und Unbewusstem stattfinden. Da gibt es viele automatische, schnelle, auch als »intuitiv« bezeichnete Reaktionen und Einschätzungen. Diese Aufgabe mit dem Schläger und dem Ball ist dafür ein gutes Beispiel. Die spontane Antwort kommt uns sofort in den Sinn und führt zu der vorschnellen, aber falschen Antwort. Wenn wir dann aber reflektiert und aufmerksam nachdenken, merken wir, dass wir in die Irre geleitet wurden. Da muss dann erst das bewusste Nachdenken aktiviert werden.

MATTHIAS ECKOLDT: Nicht umsonst bezeichnet Kahnemann dieses Phänomen, das der schnellen, falschen Antwort zugrunde liegt, als »mentale Faulheit«!

PHILIPP HÜBL: Es ist unglaublich anstrengend, sich bewusst auf eine Sache zu konzentrieren. Wenn man das den ganzen Tag über macht, ist man abends völlig erschöpft. Unser Gehirn ist insofern ökonomisch, als es so viel wie möglich sparsam und mit wenig Aufwand betreibt, das heißt, möglichst viele Prozesse ohne Bewusstsein ablaufen lässt. Daher befinden wir uns oft im Zustand der mentalen Faulheit. Das funktioniert eigentlich auch ganz gut. Der Zustand ist nur dann gefährlich, wenn uns jemand zum Kauf von Dingen, die wir gar nicht brauchen, überreden möchte. Dann sollte man die Aufmerksamkeit und damit das Bewusstsein einschalten.

Bewusstsein als gut geputzte Brille

MATTHIAS ECKOLDT: Was macht für Sie Bewusstsein aus? Sicherlich sind verschiedene Aspekte wie Aufmerksamkeit und Wachheit wichtig. Zugleich gibt es ja auch noch eine interne Unterscheidung zweier Bewusstseinsarten, nämlich intentionales und phänomenales Bewusstsein.

PHILIPP HÜBL: Das sind die beiden wichtigen Begriffe, wenn man über Bewusstsein redet. Ich will mal etwas weiter ausholen: Mit Bewusstsein meinen wir im Alltag viele Phänomene. An dieser Stelle ist die Philosophie gefragt, die man als Arbeit am Begriff verstehen kann. Wir müssen also erst einmal sauber trennen und definieren, was wir überhaupt mit dem Wort »Bewusstsein« meinen. Da gibt es unter anderem folgende Aspekte: Aufmerksamkeit, Wissen, Selbstreflexion, Absicht. Wenn man über Bewusstsein als größtes Rätsel der Wissenschaft nachdenkt, stellt sich die Frage so: Wie kann es sein, dass in einem Universum, das aus Elementarteilchen besteht, die für sich genommen kein subjektives Erleben haben, irgendwann dieses subjektive Erleben entstanden ist? Dieses subjektive Erleben bezeichnen Philosophen auch als »phänomenales Bewusstsein«. Um sich klar zu machen, was damit gemeint ist, kann man sich Folgendes vorstellen: Man wacht morgens auf, und sieht die Welt nur noch schwarz-weiß. Das, was uns da verloren gehen würde, sind eben die Bewusstseinsqualitäten, nämlich die Farbeindrücke. Wenn wir jetzt alle Bewusstseinsqualitäten verlieren würden, also gar keine Farben mehr sehen würden, keine Töne mehr hören könnten, keine Körperempfindungen und keine Emotionen mehr hätten, dann wäre unser phänomenales Bewusstsein weg. Der Begriff »phänomenal« drückt aus, dass Bewusstsein eine bestimmte Erlebnisqualität hat. »Intentional« ist ein Fachwort, das die Eigenschaft unseres Geistes beschreibt, sich auf Dinge und Ereignisse in der Welt zu beziehen. Wir haben nicht einfach nur einen Körperzustand, den wir subjektiv erleben, sondern der hat auch einen Bezug zur Außenwelt. Meine Wahrnehmung repräsentiert die Welt um mich herum, mein Gleichgewichtsorgan repräsentiert meine Lage im Raum, mein Schmerz repräsentiert eine Körperverletzung. Selbst mein Wunsch, dass morgen auch die Sonne scheinen möge, bezieht sich auf die Welt. Das ist dann nicht die Welt, wie sie aktual existiert, sondern wie sie in der Zukunft sein soll. Insofern sind Intentionalität und Phänomenalität des Bewusstseins zwei Aspekte, die oft zusammenspielen, die sich aber nicht aufeinander reduzieren lassen. Das sind tatsächlich zwei unterschiedliche Aspekte, die unser Bewusstsein mit sich bringt. Darüber hinaus ist Bewusstsein immer das Bewusstsein einer Person: Es hat eine Erste-Person-Perspektive. Man kann nicht sagen: »Da ist ein Schmerz«, so wie man sagen kann: »Da ist ein Baum«. Ein Schmerz muss vielmehr immer der mentale Zustand einer Person sein, die diesen Schmerz hat. Ich empfinde also immer nur meinen eigenen Schmerz, ich kann ihn nicht teilen oder anderen geben wie meine Armbanduhr. Des Weiteren gibt es noch die Eigenschaft der Transparenz. Das heißt, man kann sich Bewusstsein als Ganzes nicht anschauen, sondern man kann sich immer nur einzelne bewusste Zustände gleichsam vor Augen führen. Ich kann sagen, dass diese Decke hier rote Streifen hat, aber ich kann mir nicht noch einmal die Röte selbst vergegenwärtigen. Bewusstsein ist die gut geputzte Brille, durch die wir auf die Welt blicken. Aber die Brille selbst können wir nicht anschauen.

MATTHIAS ECKOLDT: Ein weiterer Aspekt des Bewusstseins ist ja auch die schwere Ausdrückbarkeit bewusster Zustände. Das fängt bei Schmerzen an, die man beim Arzt zumeist nur unzureichend beschreiben kann, und hört bei manchen Gedanken und seelischen Zuständen noch lange nicht auf. Ein wunderschönes literarisches Zeugnis dafür ist beispielsweise der Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal, in dem er seiner Verzweiflung über die Abstraktheit der Sprache Ausdruck gibt, die ihm nicht auszudrücken erlaubt, was er wirklich denkt und fühlt.

Saurer Kitsch

PHILIPP HÜBL: Diese Idee hat schon Goethe in einem Brief an Lavater angesprochen, in dem er über die Unausdrückbarkeit des Individuellen schreibt. In der Romantik wird das zu einem großen Topos. Das ist ein bisschen zweischneidig. Mein Doktorvater, Gert Keil, hat eine Lesart mal sehr treffend »sauren Kitsch« genannt. Also demnach gibt es den süßen Kitsch – etwa in Filmen –, der von der Sentimentalität lebt, und den sauren Kitsch, den Intellektuelle produzieren, wenn sie aus der Unausdrückbarkeit des Bewusstseins etwas Mystisches machen. Ich würde sagen: Wir können über alles reden, was in uns vorgeht. Wenn mir etwas wehtut, und Sie auch schon einmal Schmerzen gehabt haben, können Sie nachvollziehen, dass ich Schmerzen habe. Klar ist natürlich auf der anderen Seite, dass man innere Zustände nicht so beschreiben kann, dass sich tatsächlich dasselbe Erlebnis beim anderen einstellt, aber das kann man auch bei Objekten der Außenwelt nicht. Wenn ich Ihnen sehr detailliert den Tisch dort drüben beschreibe, entsteht der Tisch dadurch nicht. Außerdem könnte ich wahrscheinlich diesen Tisch nicht so beschreiben, dass sie ihn von einem anderen baugleichen Modell unfehlbar und eindeutig unterscheiden könnten. Die Differenz beim Bewusstsein ist nur, dass der andere, dem ich davon erzähle, auch ähnliche bewusste Erlebnisse gehabt haben muss, um mich zu verstehen. Jemandem, der nie verliebt gewesen ist, könnte man diesen Zustand nicht beschreiben. Man würde vielleicht sagen: Man ist dann sehr aufgeregt, kann nicht essen, die Gedanken kreisen immer um den geliebten Menschen und so weiter. In der Weise könnte man die Merkmale aneinanderreihen, ohne dass der andere wirklich begrifflich erfassen könnte, was es heißt, verliebt zu sein.

MATTHIAS ECKOLDT: Allerdings kann man auch ohne sauren Kitsch über das Phänomen der Unausdrückbarkeit des Bewusstseins reden. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann, der über jeden Kitschverdacht erhaben war, sprach in diesem Zusammenhang von der strukturellen Kopplung von Bewusstsein und Sprache. Strukturell gekoppelt heißt hier, dass vieles ausgeschlossen wird, um weniges einzuschließen. Sprache schließt also viele Bewusstseinszustände aus, um wenige einzuschließen. Über die reden wir dann.

PHILIPP HÜBL: Das ist ein sprachphilosophisches Problem. Sprache ist ein diskontinuierliches Medium, mit dem wir die diskontinuierliche Welt beschreiben. Sprache benutzt Begriffe, die jeweils Grenzen ziehen. Wenn ich sage: Da stehen sechs Stühle! Dann ignoriere ich die Individualität der einzelnen Stühle. Ich fasse sie einfach unter einem Begriff zusammen und reduziere damit die Komplexität der Welt. Wie stark ich mich dabei auch um Genauigkeit bemühe, ich liege immer etwas daneben, weil die Welt eine unendliche Vielfalt darstellt, die wir mit endlich vielen Begriffen fassen müssen. Dabei gibt es auch noch ein wissenschaftstheoretisches Problem, das bislang in der Neurowissenschaft und Psychologie relativ wenig reflektiert wurde, wenn man herausfinden möchte, auf welche Weise Bewusstsein mit Hirnzuständen korreliert ist. Man will am Ende Aussagen treffen können wie: Wenn ich diesen stechenden Schmerz im Knie habe, ist gleichzeitig genau diese Zellpopulation aktiv. Die Idee der Naturwissenschaft ist es, immer präziser zu werden. Während die Empfindlichkeit der Messgeräte fast beliebig gesteigert werden kann, sind der Genauigkeit der Selbstbeobachtung natürliche Grenzen gesetzt. Ab einem bestimmten Punkt können wir nicht mehr einschätzen, ob der Schmerz vor fünf Minuten stärker oder schwächer oder gleich war wie der, den wir jetzt gerade erleben. Selbst wenn man dabei das gerade angesprochene Sprachproblem mal beiseitelässt, dann gibt es einen Punkt, an dem es uns nicht mehr möglich ist, uns selbst so präzise zu beobachten, wie die Maschinen das Gehirn untersuchen können. Diese Genauigkeit bräuchte man aber, um Bewusstseinszustände perfekt auf Hirnzustände abzubilden. Das heißt, man wird bewusste Zustände niemals so genau erfassen können, wie es sich die Naturwissenschaften erträumen.

Wie hängen Hirnzustände und Gedanken zusammen?

MATTHIAS ECKOLDT: Hier stellt sich dann noch ein weiteres Problem. Denn die Suche nach Korrelaten, die von der Neurowissenschaft betrieben wird, täuscht ja darüber hinweg, dass man – im besten Falle – nicht mehr als die Korrelate gefunden hat. Das ist also ein Parallelismus. Man kann dann sagen, bei diesem Gedanken sehen wir dieses Hirnmuster. Aber man kommt auf diese Weise nicht zu der Einsicht, wie der Gedanke auf neuronaler Ebene entsteht.

PHILIPP HÜBL: Nehmen wir mal den bestmöglichen Fall, von dem die Neurowissenschaften noch weit entfernt sind. Der Neurowissenschaftler schaut auf das Erregungsmuster des Hirns und sagt mir: »Du hast gerade an deinen letzten Urlaub an der Nordsee gedacht.« Wenn das dann stimmt, wäre das eine unglaubliche Leistung. Wäre die Hirnforschung auf diesem Stand, hätte sie eine neuronale Hirnkarte, die alle gedanklichen, sensorischen, emotionalen Zustände des Geistes erfassen kann. Aber das große Rätsel, das Philosophen interessiert, hätte sie damit noch nicht gelöst. Die Frage ist nämlich: Warum ist dieser Hirnzustand mit genau diesem Gedanken verbunden und nicht mit einem anderen oder mit gar nichts? Dahinter steht die Frage: Wie kann es sein, dass Bewusstsein vom Hirn abhängig ist, aber für sich genommen etwas ganz anderes ist, weil es nämlich subjektiv erlebt wird? Bewusstsein scheint etwas ganz anderes zu sein als das, wovon es abhängt. Anders gefragt: Wie kann das Hirn die Grundlage von Bewusstsein sein, obwohl es selbst aus nichtbewussten, geistlosen Atomen besteht? Dieses Rätsel bleibt bestehen, selbst wenn man die perfekte neuronale Hirnkarte des Geistes hätte.

MATTHIAS ECKOLDT: Wir sind jetzt oft bei Schmerzen als Bewusstseinszuständen gelandet. Aber es gibt ja auch noch andere Ebenen des Bewusstseins, die für Ihre Arbeit wesentlich wichtiger sein werden. Ich meine Gedanken. Da gibt es ja auch noch einen entscheidenden Unterschied zu bewusst erlebten Schmerzzuständen. Während man Schmerzen immer nur selbst haben kann, sind Gedanken nicht an das Subjekt gebunden. Sie sind gewissermaßen in der Welt. Ich kann sie nachvollziehen, aber es gibt sie auch ohne mich.

PHILIPP HÜBL: Es gibt zwei Lesarten des Wortes »Gedanke«. Einmal gibt es die Proposition, also den Inhalt eines Satzes. Nehmen wir »a2 + b2 = c2