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Christine Futter

Was rumliegt, ist meins!

Lino Entlebucher





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Über dieses Buch

Lino ist ein Entlebucher-Sennenhund. 

Schwarz-weiß-braun gefärbt, wie alle Sennenhunde, gerade mal halb so hoch wie seine großen Verwandten, die großen schweizer Sennenhunde, dafür aber doppelt so dickköpfig und viermal so niedlich. Mit zwei lustigen braunen Tupfen über den Augen. Alles Unangenehme, perlt an seinem kurzen schwarzen Fell zuverlässig ab. Seine flapsigen Schlappohren taugen zu allem, nur nicht zum Hören. Was aber, wenn man ihn fragt, eher ein Problem seiner Chefin Franziska ist. Ein weiteres Problem seiner Dosenöffnerin: Es gibt keinen Filter zwischen seinem Hirn und seiner Schnodderschnauze. Das dritte Problem: Ein Klimpern seiner drolligen braunen Kulleraugen, könnte eine Schlange im Korb zum Tanzen bringen. 

Dass alles weiß er haargenau und benutzt es ungeniert, um mal mehr, mal weniger diplomatisch, seinen Willen durchzusetzen. Wenn die weiche Tour mal scheitert? Er hat kein Problem damit seine Chefin mit dem Material, dass er auf ihrem Rechner findet ganz liebevoll aber bedenkenlos zu erpressen. Ganz selbstverständlich hackt er ihre Passwörter und benutzt ihre Kreditkarten. Er hasst seit jeher Hundeplätze wie die sprichwörtliche Pest. Er mag auch kein Wasser, wenn es ihm höher reicht als bis zum Bauch, hält sich aber trotzdem für einen Olympiaschwimmer und führt seit Jahren eine ganz persönliche Fehde mit den beiden Rottweilern von der örtlichen Dorfkneipe. 

Geht ihm was gegen den Strich, hält er damit nicht hinter dem Berg, sondern lässt seine Umgebung selbstverständlich und vor allem zeitnah daran teilhaben.

Seine Chefin? Nun, die wollte mal einen vorbildlichen Rettungshund aus ihm machen, inzwischen versucht sie einfach nur in dem Chaos zu überleben…

Beide wohnen dort, wo Ruhr und Möhne zusammenfließen. Hinter den sieben(hundert) Bergen im gemütlichen Sauerland.

 

***

 

Szenen aus dem Leben eines Entlebuchers.

 

.

Teil 1.

 

Sauerland 

 

 

Willkommen in meinem Leben…

“Chefin?”, flüstert es leise im Dunkeln. Struppige Härchen kitzeln Franziska im Ohr. “Wach mal auf…” Sie öffnet die Augen, aber nur zu kleinen Schlitzen. Eine feuchte Hundenase füllt ihr Blickfeld bis zum Rand. 

“Lino?” Im Dunkel kaum zu erkennen, steht ihr Entlebucher-Sennenhund neben dem Bett. Nur die weiße Nase schimmert etwas. Er riecht nach seinem Körbchen, nach dem Weichspüler der Wolldecke.

“Was‘n?”, fragt sie ihn.

“Mir is’ schlecht…”, bekommt er grad noch so heraus, dann würgt er einmal heftig. “Uurghh…”, und schon liegt der größte Teil seines Abendessens vor Franziskas ihrem Bett auf dem Schlafzimmerteppich. Der saugt die Feuchtigkeit gierig auf. ‚Na großartig, willkommen in meinem Leben’ denkt sie und ist nun hellwach.

“Tschuldigung…”, murmelt Lino, während er um das Bett herum aus dem Schlafzimmer verschwindet, nur die weiße Spitze seiner langen Rute wackelt über der Bettkante. “Jetzt geht’s mir schon besser.”

Kaum im Flur vor der Zimmertür angelangt bleibt er stehen und bekommt einen ganz in sich gekehrten Blick. Franziska sieht noch, wie sich sein Bauch zusammenzieht und der Rücken hochwölbt. Mit einem einzigen riesen Satz springt sie aus dem Bett, drückt im Flug den Lichtschalter, greift sich einen der vielen kleinen Teppiche vom Teppich im Flur und wirft ihn Lino schwungvoll vor die Schnauze. Gerade noch rechtzeitig, die zweite Hälfte vom Abendessen ist schon auf dem Weg an die frische Luft.

“Puh, das war knapp mein Engel.”

“Auhhrrmmhh…” Lino kann grade so schlecht reden.

“Was hast du da bloß gefressen?” Sie tritt neben ihn, beugt sich über seinen Rücken und schaut genauer hin. “Da sind ja Knochen drin und das da sieht aus wie ein Holzspieß. Hey, lass das!” Protestiert sie und packt ihn im Nackenfell, denn die Töle versucht seine Schnauze an Ihrem Schlafanzug abzuwischen.

“Uuh, gut dass das raus ist.”

Franziska schaut auf ihn herunter: “So, so, wie ist es überhaupt reingekommen, mein verfressener Freund?”, will sie von ihm wissen.

“Ähhh… na ja… um das mal so zu sagen…”

Während er so herumdruckst, seufzt Franziska und holt aus der Küche eine Kehrschaufel, den Mülleimer, Küchentücher und Teppichreiniger und beginnt die Sauerei zu entfernen. Der Holzspieß entpuppt sich tatsächlich als ein spitzer Schaschlikspieß vom gestrigen Grillen bei den Schwiegereltern und die Knochen sehen verdächtig nach Kotteletresten aus. Den Spieß hat er nur einmal in der Mitte durchgebissen, im Ganzen geschluckt und auch genauso wieder hochgewürgt. Bei dem Gedanken daran, was so ein Scheiß in einem Hundemagen anrichten kann, wird ihr flau im Magen. Seine Geschichte mit dem verschluckten Ball vor einigen Jahren hat ihr gereicht. 

“Also? Wo kommt das alles her? Und jetzt sag nicht, das war in deiner Fleisch-Dose.”

“Im Hundefutter? Nee…”

“Sondern? Lass dir doch nicht immer alles aus der Nase ziehen.”

Er würgt noch einmal, spuckt diesmal aber nur gelbe Galle auf den kleinen Teppich. Der ist definitiv reif für die Waschmaschine. “Is’ es meine Schuld, wenn der Mülleimer aufsteht und die Teller mit den Resten in meiner Augenhöhe abgestellt werden?” Franziska verdreht ihre Augen zur Decke. Diese Töle, selbst mitten in der Nacht will er wieder eine Grundsatzdiskussion vom Zaun brechen.

“Selbstverständlich nicht aber…”

Er fällt ihr direkt ins Wort, “Na, siehste! Passt eben besser auf eure Sachen auf. Du kennst doch die Entlebucher-Regeln:

1. Was rumliegt, ist meins. 

2. Was aussieht als sei es herrenlos, ist meins. 

3. Was…”

 “Stopp! Ist ja gut…”, ruft sie. Irgendwann hatte er mal angefangen diese Regeln in die Kühlschranktür zu kratzen, “…ich hab’ es verstanden. Trotzdem, pass bitte in Zukunft besser auf was du frisst, ja? Solche Aktionen brauche ich nur sehr sporadisch.”

“Ich passe immer sehr gut auf, was ich fresse”, grinst er.

“Du weißt genau wie ich das meine.” Sie bemüht sich ganz flach zu atmen, denn trotz der sofortigen Putzaktion, verbreitet sich der Geruch langsam im Raum.

“Du bist schließlich derjenige dem schlecht wird.”

“Och, mir macht das jetzt nicht soooo viel aus. Ich bin ein Hund.”

“Mir macht es aber was aus, vor allem um diese Zeit. Mein Wecker klingelt um fünf Uhr, also in anderthalb Stunden.” Um sechs Uhr muss sie im Tierpark sein, bei der Arbeit.

“Is’ nich’ mein Wecker.”

“Schon klar, du kannst dich den ganzen Vormittag über ausschlafen, während ich bei der Arbeit versuche nicht im Gehen einzuschlafen.”

“Verschließ halt die Mülleimer besser, dann klappts auch mit der Nachtruhe. Apropos Nachtruhe, bist du mal endlich fertig mit deiner Putzaktion? Ich will mich wieder aufs Ohr hauen.” Er reißt seine Schnauze Demonstrativ weit auf und präsentiert gähnend, zwei Reihen makellos weißer Zähne. Franziska ist genervt und haut einmal auf den Lichtschalter im Flur, dunkel. Er trollt sich entspannt wieder ins Erdgeschoss in sein Körbchen. Sie tapst im Dunkeln, im Slalom um die feuchten Stellen im Teppich herum, Richtung Bett. Ein Blick auf die Uhr, schlafen lohnt nicht mehr, also greift sie zum E-Book und liest. Keine halbe Seite später, dringt lautes Hundeschnarchen aus dem Erdgeschoss. Sie seufzt und singt leise einen, etwas abgewandelten, alten Song von Reinhard Mey vor sich hin. Den, der von seinem Dackel erzählt, der faul rumliegt und ihm voll Mitleid zusieht, wie der Mensch früh morgens in wilde Hektik ausbricht, selbst aber nur an Fressen und Schlafen denkt. Selbst schuld. Sie wollte ja unbedingt einen Entlebucher haben, genauso einen. Na ja, vielleicht ungefähr so einen. Bei einem Spaziergang zehn Jahre zuvor, war die Chefin mit Ihrem Mann einem Entlebucher begegnet. 

“Ach, ist der aber lieb. Was ist das denn für eine Rasse?” Das war’s. Angefixt und nie wieder von der Entlebucher-Droge weggekommen.

Was es genau bedeuten kann, mit einer ‚Ente’ in einem Haushalt zu leben, das haben die Beiden erst einige Jahre später festgestellt. An dem Tag, an dem sie Lino zum ersten Mal begegnet sind. Na, eigentlich erst nachdem er einige Tage bei ihnen war und begann den gesamten Haushalt auf den Kopf zu stellen.

Am Anfang… kein Anfang

„LIIINOO…“, ruft Franziska aus dem Dachgeschoss durch das ganze Haus nach unten, „wann warst du zuletzt hier im Büro?“ 

Der Hund rappelt sich sichtlich angenervt aus seinem Wohnzimmer-Luxuskörbchen, tapst über das Laminat zur Flurtür und schaut mit täuschend unschuldigen Kulleraugen aus dem Erdgeschoss die Treppe hinauf, wo sich die aufgebrachte Franziska aufgebaut hat.

Ihre Stimmlage bedeutet: das wird eine Diskussion. Aber er frag erst mal: „Warum soll das wichtig sein?“

„Antworte nicht immer mit einer Gegenfrage, das ist unhöflich!“

Betont lässig schubbert Lino sich das Fell am Türrahmen. „Dann warst also du die Erste, die beim Anschaffen des Hundes auf einen höflichen Vierbeiner geachtet hat. Na, da wäre ich zu gerne live dabei gewesen. Ist ja wohl auch gründlich in die Hose gegangen. Im Übrigen bin nicht ich derjenige der gerade das ganze Haus zusammen brüllt. Was willst du denn eigentlich?“

Bevor sie antwortet, streicht sich Franziska mit beiden Händen über schweißnasse Stirn und sammelt sich. Nur nicht die Nerven verlieren. „Wo sind meine ersten drei Kapitel.“

„Welche Kapitel?“ Das mit der Gegenfrage muss er noch üben. Wird schon irgendwann klappen, er ist ja noch jung.

„Das Buch ist fertig…“

„Schön für dich.“

„Ja, schön, Kapitel eins, zwei und drei sind verschwunden! Morgen ist der verdammte Abgabetermin und nun die Preisfrage der Woche: Was hast DU mit dem Verschwinden zu tun? Wann warst DU zuletzt im Büro an meinem Rechner?“

„Du traust mir auch alles zu.“ Schlechtes Gewissen: Fehlanzeige.

„Mal überlegen…“, die Franziska schaut kurz Richtung Himmel, “NATÜRLICH traue ich dir alles zu!“

„Keine Ahnung. Außerdem, was weiß ich, wahrscheinlich hast du sie mit deinen unglaublichen Computerfähigkeiten selbst ins Datennirwana befördert. Schau halt mal im Papierkorb nach.“

Für Lino ist das Gespräch damit beendet und er verdünnisiert sich durch den Flur, Richtung Küche. Mit dem Befehl, „Ich habe Hunger! Was gibt's zu essen? Komm endlich runter!“, legt er sich in der Küche auf den Läufer vor der Terrassentür und erwartet, dass sein Napf mit Frischfleisch gefüllt wird.

Unter dem Dach setzt sich Franziska erneut vor ihren Rechner, schimpft leise vor sich hin und sucht weiter nach den verschollenen Textabschnitten. Langsam bricht ihr der Schweiß aus. Vertraglich vereinbarter Abgabetermin, ist schließlich vertraglich vereinbarter Abgabetermin und welcher Verleger glaubt schon, dass die Geschichten, die in einem Buch über einen durchgeknallten Entlebucher stehen, auch der Wahrheit entsprechen? Dass der Entlebucher-Terrorist nicht nur den Haushalt fest im Griff hat, sondern auch die Texte der Chefin zensiert und verschwinden lässt, wenn ihm was nicht in den Kram passt? 
Aber wie dem auch immer sei…

Der Verbleib der ersten drei Kapitel dieses Buches konnte auch später nie schlüssig geklärt werden.

Das letzte Wort

“Seit Du bei uns eingezogen bist, habe ich keinen Tag mehr ausgeschlafen, in der Nachbarschaft verschwinden Katzen und ich bekomme Sachen geliefert, die ich nicht bestellt habe, weil du meine Passwörter hackst.” Sie schaut auf Lino herunter, der sich frei von jedem Schuldbewusstsein, im Körbchen räkelt. 

“Du hast eindeutig zu viel freie Zeit und zu wenig Unrechtsbewusstsein.”

Lino reibt sich den Schlaf aus den Augenwinkeln, den Vortrag kennt er noch von den vergangenen hundert Gelegenheiten.

“Ich hätte vor allem gerne mehr Ruhe”, sagt er, “ausreichend Schlaf ist für Hunde wichtig.”

“Hast du den Verleger bestochen?”

“Hätte ich das tun soll’n?”

“Natürlich nicht.”

“Was soll dann die Frage?”

“Er will dein Vorwort hinter meins setzen. Damit würdest du wiedermal das letzte Wort haben. Das hatte ich vergangene Woche anders mit ihm besprochen.”

“Das ist doch nicht gelogen? Du hast nie das letzte Wort.” Lino rollt sich auf den Rücken. Die Chefin setzt sich neben sein Körbchen auf den Wohnzimmerboden und krault ihm den Bauch.

“Ja, aber müssen das alle wissen?”

“Da kommst du schon drüber weg.”

“Ich rufe ihn an und lasse das wieder ändern.”

“Das kannst du natürlich tun…” Lino klingt, als wüsste er mehr als sie.

“Was?”

Es gibt Tage, da würde die Chefin ihn, bei aller Liebe, am liebsten vor die Tür setzten. Die meiste Zeit benimmt Lino sich wie ein großkotziger, rechthaberischer Klugscheißer. Er ist ein starrköpfiger, unsensibler, bei den unmöglichsten Gelegenheiten eifersüchtiger, Kontrollfreak. Probleme, löst er entweder durch Bellen, Kraft oder schlicht mittels Erpressung.

“Was fällt dir ein zum Stichwort…”

Sie wirft die Hände in die Luft und dreht sich von ihm weg. “Hör auf! Ich lasse mich nicht von dir erpressen.”

Er springt auf, macht zwei Schritte um sie herum und stellt sich ihr in den Weg. “Ach, nee?”

“Neee.”

“Dann hast du nicht schon seit Tagen die wichtigen Briefe in der Tasche, die du für den Chef zur Post bringen solltest?”

Franziska bekommt einen roten Kopf.

“Siehste, soll ich dir immer noch die Nummer vom Verleger raussuchen?”

“Nein, geht schon.”

“Gut, dann ist ja alles besten.” Kopf hoch, Rute hoch, Abgang Lino.

Lino kann richtig lieb sein. Am Abend kuschelt er gerne und sein glattes, glänzendes Fell will man einfach dauernd streicheln. Manchmal beschwert er sich sogar, “Hey, schupper mir kein Loch ins Fell, das sieht albern aus,” und rückt dann noch ein bisschen näher heran.

Bisweilen hilft er sehr gerne im Haushalt. Er ist der beste Freund, den man sich wünschen kann. Aber ein Freund, der jede, wirklich jede Anweisung überdenkt bevor er sie eventuell ausführt. Das gehört bei ihm wohl zur genetisch bedingten Grundausstattung. Wie beim Storch das Klappern und bei der Giraffe der lange Hals. Nach den ersten turbulenten Jahren, läuft die Zusammenarbeit von Lino und seiner Franziska inzwischen auf folgender Basis: Sie sagt WAS gemacht wird und Lino sagt WIE es gemacht wird. Aber das hat auf beiden Seiten Schweiß und Nerven gekostet. Lino hat so viele Leinen durchgekniffen, dass Franziska nur noch Meterware einkauft. Da schneidet sie immer ein passendes Stück ab und knotet immer denselben Haken dran.

War ich süß?

Franziska sitzt auf dem Sofa, Lino kommt - wieder mal - mit einem Foto angetrabt… Während sie noch überlegt alte Bilder aus dem Haus zu schaffen und besser in einem Bankschließfach unterzubringen, verkündet er fröhlich strahlend: „Das ist eins meiner ersten Bilder.“

Das Foto ist ein Schnappschuss aus der Küche seiner Züchterin. Mit hoch erhobenem Köpfchen und steil aufgeringeltem Schwänzchen, zieht Lino ein großes Badehandtuch quer durch den Raum. Seine fünf Geschwister verfolgen ihn wie eine Horde niedliche Mäuse den Rattenfänger von Hameln. Da muss er etwa sieben Wochen alt gewesen sein. Der Franziska schwant, nicht zum ersten Mal, nichts Gutes.

„Wo hast du das gefunden?“, will Sie wissen.

Lino winkt mit der Pfote lässig ab. „Unwichtig“, winkt er ab und wechselt das Thema. „War ich süß?“

„Ja, sehr süß. Auf der Arbeit im Tierheim musste ich wie der Teufel aufpassen, dass dich keiner unter den Arm klemmt und heimlich mitnimmt.“

Er zieht die Stirn kraus. „Warum hast du dann immer mit mir geschimpft?“

„Ich habe was?“, staunt Franziska mit tellergroßen Augen.

„Na, ich hab’ doch nie was gedurft.“

„Wie jetzt?“

„Na ja, ‚Lino, gib die Jacke her! Lino, lass die Schuhe stehen! Lino, spuck den Kuchen aus! Lino ...“

„Hättest du deine Zähne von unseren Klamotten gelassen, hätte niemand ein Wort verloren. Aber du warst leider erfinderisch und extrem ‘durchsetzungswillig’.“

Er kneift die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen: „Du flunkerst, gell?“

„Nicht wirklich. Du kannst die Löcher deiner Zähne noch in meiner alten Regenjacke besichtigen. Geh ruhig gucken, Sie hängt noch an der Kellertreppe.“

Lino glaubt ihr nix. „Du übertreibst.“

„Ach ja? Es gibt Löcher auf der Höhe meiner Schulter. So hoch bist du gesprungen und nur, weil du AUGENBLICKLICH!! Leckerchen haben wolltest. Noch dazu ohne Gegenleistung.“

Lino ist inzwischen in sein Körbchen abgehauen, dreht sich genüsslich auf den Rücken und reckt die Pfoten in die Luft. „Nu’ sei ma’ nich’ zimperlich. Und tu’ vor allem nich’ so, als müsste man sich anstrengen, um auf deine Schulterhöhe zu kommen. Außerdem, die Franziska von meiner Mama hat sich nie beschwert.“

„Ja, ich erinnere mich noch gut. Wenn in der Welpenstube Fütterung angesagt war, ist die nette Frau mit den vollen Schüsseln über die Absperrung gestiegen und die ganze Rasselbande hat ihr so lange in die Hosenbeine gebissen, bis sie alles abgestellt hat. In eurem Rassestandard ist die Bezeichnung dafür ‘Fersenstechen’.“

Bei der Erinnerung freut Lino sich sichtlich: „Meine Übersetzung für ‘Fersenstechen’ ist ‘Aktivitätsbeschleuniger’ und es hat doch super funktioniert. Kraul mir bitte den Rücken.“

„Geht nicht, du liegst drauf, auf deinem Rücken. Du und deine Geschwister waren damals je zwanzig Kilo leichter und dreißig Zentimeter kleiner. Bei uns warst du dann ein halbstarker Entlebucher mit mehr Kraft als Verstand.“

Der Vierbeiner tut beleidigt: „Das tut mir auch weh. Jetzt schieb einfach eine Hand unter mich und mach die Finger schön krumm. Dann beweg die Hand vor und zurück.“ Sie macht, was er sagt und vor lauter Wohlbehagen windet er sich wie ein Regenwurm.

„Jammer nicht! Du löst ALLE deine Probleme zuerst mit Kraft und Lautstärke und erst viel später mit Intelligenz und ich weiß, du bist auch noch stolz ‘drauf.“

Lino schaut die Franziska verschmitzt aus dem Augenwinkel an. „Wär’ durchaus möglich.“ Er wechselt vom Körbchen auf den Teppich und reckt sich in alle Richtungen.

„Und das Schimpfen war berechtigt?“

„Ich sage nichts ohne meinen Anwalt.“

„Anwalt?“, die Franziska wird hellhörig. „Wer ist dein ‘Anwalt’?“

„Hans-Jürgen.“

„Hans-Jürgen hat sich aber auf Sozialrecht spezialisiert. Der macht kein Tierhalterrecht, oder wie immer Anwälte das nennen.“

„Oh, ich habe ‘nen Spezialdeal mit ihm.“

„Ich habe eine starke Befürchtung, wie ein ‘Spezialdeal’ bei dir aussieht. Und? Wer von euch zieht bei diesem Deal den Kürzeren?“

Lino strahlt stolz über das ganze dreifarbige Gesicht. „Na, ich nich’.“

Bloß nicht lachen, ermahnt sich Franziska. „So? Und wie sieht euer Abkommen nun aus?“

„Solange er mich vertritt, wirst du seiner Labrador Hündin umsonst die Krallen schneiden.“

Eine bedrohliche Falte teilt Franziskas Stirn. „Du hast mich verhökert? Ohne mein Wissen?!“

„Ja, nein, sooo würde ich das nich‘ direkt sag’n woll’n, eventuell.“

„Würdest du nicht?“, Sie macht einen Schritt auf ihn zu.

„Du hast doch Spaß dran“, er geht einen Schritt rückwärts.

„Trotzdem würde ich gerne gefragt werden“, noch ein Schritt in seine Richtung. Hände bedrohlich in die Hüften gestemmt.

„Vielleicht auch noch vorher?“ Er kann es nicht lassen. Sein Mundwerk ist schneller als sein Hirn.

„Natürlich vorher, mein Engel!" Mit einer schnellen Vorwärtsbewegung versucht sie ihn am Halsband zu erwischen. Er hopst zur Seite.

„Daneeeben…“, johlt er fröhlich, „…kein Halsband an.“ Dann startet er durch, Richtung Gartentor. Bis seine Regierung sich wieder abgeregt hat, wird er mal die Nachbarschaft inspizieren.

Am nächsten Tag hat Lino das Haus für sich allein. Seine verpeilte Dosenöffnerin wird erst gegen Mittag wieder von der Arbeit zurück sein. Er lungert in der Küche herum und kontrolliert mit der Nase die Abstellflächen auf essbare Rückstände. Zum draufgucken sind seine Beine zu kurz geraten.

„Meine Franziska ist überzeugt, Entlebucher sind mit ihren Gedanken immer mindestens zehn Minuten in der Zukunft“, redet er mit sich selbst, „wenn ihr Mensch sich nicht so recht durchsetzen kann, haben sie mindestens fünf spannende Alternativpläne in der Tasche, von denen ihnen mindestens drei als absolut lebenswichtig erscheinen und darum sofort umgesetzt werden müssen. Was soll man dazu sagen? Recht hat sie. Ich treib meine Umgebung mit Begeisterung in den Wahnsinn.“ 

Sein Küchenkontrollgang bleibt leider ohne fressbares Ergebnis und er trollt sich wieder ins Wohnzimmer. Dort steht sein weiches kuscheliges Hundebett. Er wählt trotzdem das Sofa und Franziskas neue Kaschmirdecke. 

„Sie hält mich also für ‘ne professionelle Nervensäge. Und ich bin stolz drauf. Mein ELAN-Empfang ist meist großartig und mein TATEN-Volumen unerschöpflich. ‚Seit du in Rente bist, hast du viel zu viel freie Zeit’ sagt sie.“ Inzwischen hat er sich auf der Decke zusammengerollt. Mit dem Gesicht in Richtung Fenster, so hat er die Haustür im Blick.

„Na ja, wenn sie meint, es hilft …“

Warum ich?

Daheim im Wohnzimmer. Franziska sitzt auf dem Sofa. Geräuschvoll wuselt Lino mit der Nase in einer Kiste mit alten Fotos und tapert dann, mit einem Polaroid von ihm als Welpe, zu ihr rüber.

„Bin ich das?“

Die Franziska schaut zu ihm runter und auf das Foto. „Ja.“

Lino denkt einen Moment nach. „Wo komme ich eigentlich her?“

„Na, von deiner Mama.“

„Von Dir?“

„Scherzkeks, natürlich nicht. Von deiner Mama. Du erinnerst dich doch an deine Welpenzeit und deine Geschwister.“

„Ja, schon…", erneut eine Denkpause, dann sagt er: „Aber was habe ich getan, dass ich ausgerechnet bei Euch gelandet bin?“

„Gefällt es dir etwa nicht bei uns? Was dürfen wir ändern, damit eurer Hochwohlgeboren sich noch wohler fühlt?“

Lino verdreht die Augen. „Hey, is’ ja gut, reg dich mal ab. Ich will ja nur ma’ wissen, wie ihr ausgerechnet auf ‘nen Entlebucher verfallen konntet. Nicht, dass ich es ungewöhnlich fände sich mit einem Hund mit meinen überragenden Fähigkeiten und charakterlichen Qualitäten schmücken zu wollen, aber mit eurem Hundeverstand war’s ja nun nicht weit her, oder?“

Da bleibt der Franziska kurz die Spucke weg. Sie zählt in Gedanken bis zehn, bevor sie antwortet. „Kein Kommentar, Schnuppel. Bei einem Spaziergang vor einigen Jahren, sind wir einem Entlebucher begegnet. Der sooo süß, lieb, kontaktfreudig, ruhig, anschmiegsam war….“

„Also so wie ich?“

„Naaa, so in etwa…“, die Franziska schwenkt abwägend die Hand, „wie auch immer, so einen tollen Kerl haben wir uns auch gewünscht. Wir begannen uns über Entlebucher schlau zu machen, indem wir jedes erreichbare Buch über euch gelesen, Züchter besucht und gaaaanz viele Bilder im Internet gesammelt haben. Wenn wir dann abends auf dem Sofa lagen, lief auf dem Laptop nebenher immer die Diashow mit Entenbildern, Lino-Kino sozusagen. Wir waren richtig ‘schwanger’ mit dir. In einem der Bücher stand, dass ihr eine ‘liebevolle konsequente Erziehung’ bräuchtet, was genau dahintersteckt, haben wir leider erst von dir so richtig gelernt. Auf die harte Tour.“

Lino verdreht dramatisch die Augen und legt sich eine Vorderpfote über die Nase. Er sollte mal lernen, diese Geste auf Befehl zu machen. Ohne Erfolg. Lino macht prinzipiell wenig auf Befehl.

„Ich hab’s geahnt, nu’ bin ich wieder mal schuld." Dann hat er einen Gedanken: „Wenn du dich mit anderen Hundehaltern unterhältst, sagst du doch immer ‘Der Hund ist nie schuld’. Warum gilt die Unschuldsvermutung nicht für mich?"

„Bist du denn unschuldig?“

„Im Großen und Ganzen schon. Find’ ich.“

„Lass mich ganz kurz nachdenken“, die Franziska geht in sich, “meine Meinung basiert auf einigen Jahren Zusammenleben mit einem Entlebucher, der mich zum Beispiel in der Hundeschule und auch bei Ausstellungen komplett vorgeführt hat indem er an mir hochsprang, mich in die Klamotten gebissen hat, nur am Bellen war, keine einzige Sekunde ‘Beifuß’ gehen wollte …“

Lino unterbricht energisch: “Sag’ ich doch, du kannst dich nich’ durchsetzen! Warum zum Geier, sollte meiner einer daran schuld sein?“

„Seufz…“

Lino bleibt gnadenlos dran. Rindertreibhund eben.

„Sag’ schon. Warum soll ich daran schuld sein?“

„Ok, bist du nicht. Zufrieden?“

„Ich wollte nur, dass du es mal laut hörst.“

„Wie auch immer. Nach einem Telefonat mit der Besitzerin deiner Mutter sind wir ins Münsterland gefahren und haben dich und deine Geschwister kennen gelernt. Als deine Züchterin hörte, dass du nicht unser erster Hund sein würdest und wir uns auch noch bereiterklärten, auf Ausstellungen zu gehen und selbst Züchter zu werden, da hat sie sofort auf dich gezeigt und verkündet ‘Der hier ist der Richtige’ und damit hatten wir dich an der Backe. Einige Wochen später bist du bei uns eingezogen.“

„Was ist aus meiner Ausstellungskarriere geworden?"

„Ach, das weißt du doch. Deine Ergebnisse in Dortmund und Kassel und Oberhausen waren toll, Hüftprobleme hast du auch nicht, alle Untersuchungen waren top. Erst beim letzten Tierarztbesuch, der Augenuntersuchung, meinte die Tierärztin sie sähe einen Schatten in der Linse von deinem rechten Auge. Das war dann das Aus. Zuchtausschluss wegen erblicher Augenerkrankung."

„Schön blöd.“

„Jepp, schön blöd.“

„Werde ich jetzt blind?2

Franziska hält ihm drei Finger vors Gesicht. „Wie viele Finger siehst du?“

„Fünf.“

„Du kannst gucken, bist aber vermutlich besoffen. Wo war ich? Ach ja, da mussten wir einen anderen ‘Beruf’ für dich finden. Du wärst so ein toller Papa gewesen.“

„Weiß ich." Franziska sieht grade nicht hin, darum schlendert Lino zum Sofa und landet mit einem entspannten Hopps er auf der Sitzfläche. Zweimal gedreht und schon liegt er auf der blauen Kaschmirdecke, als würde ihm das ganze Haus gehören.

„Hi, hi“, grinst er, „und damit ging für euch das Elend los. Ich finde es übrigens sehr schön hier…“ Er reibt seinen Kopf schön feste an der Decke. Wieder ein paar Haare losgeworden.

„Gut zu wissen“, sagt die Franziska, ohne hinzusehen.

„Das Sofa ist sehr schön bequem …“

Jetzt erst schnellt Franziskas Kopf zu ihm rum. „Was machst DU auf dem Sofa?!“

„Für dich warmhalten. Was sonst?“, murmelt er noch und schon ist er von einer Sekunde auf die andere selig eingeschlafen.