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Thomas Köhler

Psychische Störungen

Symptomatologie, Erklärungsansätze, Therapie

3., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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3., überarbeitete Auflage 2017

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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

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ISBN 978-3-17-032281-3

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Vorwort zur dritten Auflage

 

 

Nachdem die dritte Auflage dieses Buches in nicht allzu großem Abstand zur zweiten folgt, ist diesmal die Bearbeitung und Aktualisierung weniger eingreifend. Zwar liegt mittlerweile das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) in einer neuen Version vor; ICD-10 jedoch, dem diese Darstellung vornehmlich folgt, hat sich leider noch nicht grundlegend geändert, obwohl es – beispielsweise, was die Demenzen angeht – dringend revisionsbedürftig ist. Auch hat man nicht den Eindruck, dass die psychologische Theoriebildung und die psychologisch-therapeutischen Ansätze einschneidende Neuerungen erfuhren. Bezüglich biologischer Grundlagen und insbesondere pharmakologischer Behandlung sind jedoch einige bemerkenswerte Fortschritte zu berichten; dies betrifft speziell die affektiven Störungen, wobei die mittlerweile zunehmend verbreitete Ketamininfusion wohl die größte therapeutische Errungenschaft ist. Weiter wurden zu den genetischen Grundlagen vieler Störungen eindrucksvolle Erkenntnisse gewonnen, die hier natürlich referiert werden müssen.

Im Sinne besserer Lesbarkeit wurde die Zahl der Quellenangaben im Text gegenüber der 2. Auflage noch weiter verringert und gerade hinsichtlich der biologischen Grundlagen nicht immer jeder Einzelbefund belegt; wer solche Belege sucht, kann im Wesentlichen auf mein Buch Biologische Grundlagen psychischer Störungen verwiesen werden. Da mittlerweile zwei weitere revidierte Bücher von mir auf dem Markt sind (eines über Rauschdrogen, das andere über affektive Störungen), sind zu diesen wichtigen Themenkomplexen hier nicht Detailbelege erforderlich. Was die pharmokologische Therapie angeht, so sei auf die kürzlich erschienene 6. Auflage meines Buches Pharmakotherapie in der Psychotherapie verwiesen.

Herrn Dr. Poensgen vom Kohlhammer Verlag bin ich für eine mittlerweile Jahrzehnte umfassende angenehmste Zusammenarbeit verbunden, Frau Grupp für die wertvollen gestalterischen Veränderungen und das sehr gründliche Lektorat. Wie immer, hat meine liebe Frau Carmen herzliche Anteilnahme an der Arbeit gezeigt.

 

Hamburg, im April 2017

Thomas Köhler

 

Inhalt

 

 

  1. Vorwort zur dritten Auflage
  2. 1 Grundlagen
  3. 1.1 Definition, Diagnostik und Klassifikation psychischer Störungen
  4. 1.2 Die diagnostisch-klassifikatorischen Systeme DSM-5® und ICD-10
  5. 1.3 Ansätze zur Erforschung psychischer Störungen
  6. 2 Demenzen
  7. 2.1 Vorbemerkungen; Allgemeines zur ICD-10-Kategorie F0
  8. 2.2 Dementielles Syndrom und amnestisches Syndrom
  9. 2.3 Ätiologie, Pathogenese und Therapie verschiedener Demenzformen
  10. 2.3.1 Demenz bei Alzheimer-Krankheit
  11. 2.3.2 Vaskuläre Demenz
  12. 2.3.3 Demenzen im Rahmen anderer Erkrankungen
  13. 3 Störungen im Zusammenhang mit der Einnahme psychotroper Substanzen
  14. 3.1 Allgemeine Bemerkungen und Überblick
  15. 3.2 Alkohol
  16. 3.2.1 Allgemeines
  17. 3.2.2 Unmittelbare Wirkungen
  18. 3.2.3 Missbrauch und Abhängigkeit (Alkoholismus, Alkoholkrankheit)
  19. 3.2.4 Alkoholtoleranz, Alkoholentzugssyndrom und Delirium tremens
  20. 3.2.5 Mittel- und langfristige Folgen von Alkoholmissbrauch
  21. 3.3 Opioide
  22. 3.3.1 Allgemeines
  23. 3.3.2 Unmittelbare und langfristige Wirkungen
  24. 3.3.3 Opioidmissbrauch und -abhängigkeit
  25. 3.3.4 Toleranz und Entzugssyndrom
  26. 3.4 Sedativa und Hypnotika (Antiinsomnika)
  27. 3.4.1 Allgemeines
  28. 3.4.2 Unmittelbare und langfristige Wirkungen
  29. 3.4.3 Toleranz, Entzugssymptomatik und Missbrauch
  30. 3.5 Kokain und Psychostimulanzien
  31. 3.6 Cannabinoide (Haschisch und Marihuana; synthetische Stoffe)
  32. 3.7 Halluzinogene
  33. 3.7.1 Klassische Halluzinogene
  34. 3.7.2 Anticholinergika
  35. 3.7.3 Ringsubstituierte Amphetamine
  36. 3.7.4 Psychedelische Narkosemittel (Dissoziativa)
  37. 3.8 Nikotin und Tabak
  38. 3.9 Inhalanzien
  39. 4 Schizophrenie und verwandte Störungen
  40. 4.1 Allgemeines; historische Vorbemerkungen
  41. 4.2 Schizophrenie
  42. 4.2.1 Symptomatik
  43. 4.2.2 Diagnostik und Klassifikation
  44. 4.2.3 Erstmanifestationsalter und Verlauf
  45. 4.2.4 Epidemiologie
  46. 4.2.5 Familiäre Häufung und Vererbung
  47. 4.2.6 Biologische, neuropsychologische und experimentalpsychologische Befunde
  48. 4.2.7 Dopamin-, Hypofrontalitäts- und Glutamathypothese der Schizophrenie
  49. 4.2.8 Weitere Erklärungsansätze
  50. 4.2.9 Therapie
  51. 4.3 Schizotypie
  52. 4.4 Weitere mit der Schizophrenie verwandte Störungen
  53. 5 Affektive Störungen
  54. 5.1 Allgemeines; historische Vorbemerkungen
  55. 5.2 Depressives und manisches Syndrom
  56. 5.3 Vorkommen und Verlauf affektiver Syndrome
  57. 5.4 Diagnostik und Klassifikation
  58. 5.5 Erstmanifestationsalter und Epidemiologie
  59. 5.6 Familiäre Häufung und Vererbung
  60. 5.7 Biochemische Korrelate affektiver Störungen
  61. 5.8 Erklärungsansätze
  62. 5.9 Therapie
  63. 5.9.1 Pharmakologische Behandlung
  64. 5.9.2 Weitere biologische und somatische Verfahren
  65. 5.9.3 Psychotherapeutische Verfahren
  66. 6 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
  67. 6.1 Allgemeines; historische Vorbemerkungen
  68. 6.2 Phobische Störungen
  69. 6.2.1 Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie
  70. 6.2.2 Erklärungsansätze
  71. 6.2.3 Therapie
  72. 6.3 Panikstörung und generalisierte Angststörung
  73. 6.3.1 Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie
  74. 6.3.2 Erklärungsansätze
  75. 6.3.3 Therapie
  76. 6.4 Zwangsstörungen
  77. 6.4.1 Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie
  78. 6.4.2 Erklärungsansätze
  79. 6.4.3 Therapie
  80. 6.5 Akute Belastungsreaktion und posttraumatische Belastungsstörung
  81. 6.5.1 Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie
  82. 6.5.2 Erklärungsansätze
  83. 6.5.3 Therapie
  84. 6.6 Dissoziative Störungen
  85. 6.6.1 Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie
  86. 6.6.2 Erklärungsansätze
  87. 6.6.3 Therapie
  88. 6.7 Somatoforme Störungen
  89. 6.7.1 Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie
  90. 6.7.2 Erklärungsansätze
  91. 6.7.3 Therapie
  92. 7 Ess- und Schlafstörungen; sexuelle Funktionsstörungen
  93. 7.1 Vorbemerkungen
  94. 7.2 Essstörungen: Anorexia und Bulimia nervosa
  95. 7.2.1 Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie
  96. 7.2.2 Erklärungsansätze
  97. 7.2.3 Therapie
  98. 7.3 Schlafstörungen
  99. 7.3.1 Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie
  100. 7.3.2 Erklärungsansätze und Therapie
  101. 7.4 Nichtorganische sexuelle Funktionsstörungen
  102. 7.4.1 Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie
  103. 7.4.2 Erklärungsansätze
  104. 7.4.3 Therapie
  105. 8 Persönlichkeitsstörungen, Störungen der Geschlechtsidentität und der Sexualpräferenz
  106. 8.1 Allgemeines
  107. 8.2 Persönlichkeitsstörungen
  108. 8.2.1 Symptomatik und Klassifikation
  109. 8.2.2 Erklärungsansätze
  110. 8.2.3 Therapie
  111. 8.2.4 Spezifische Persönlichkeitsstörungen
  112. 8.3 Störungen der Geschlechtsidentität
  113. 8.4 Störungen der Sexualpräferenz (Paraphilien)
  114. 9 Intelligenzminderung, Entwicklungsstörungen und psychische Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend
  115. 9.1 Vorbemerkungen
  116. 9.2 Intelligenzminderung
  117. 9.3 Frühkindlicher Autismus
  118. 9.4 Hyperkinetische Störungen und Störungen des Sozialverhaltens
  119. Literatur
  120. Stichwortverzeichnis

 

1          Grundlagen

 

1.1       Definition, Diagnostik und Klassifikation psychischer Störungen

Definitionen von »psychischer Störung« hier zu diskutieren, wäre wenig sinnvoll. Daher sei an dieser Stelle nur die Definition in ICD-10 (S. 26) angeführt: »klinisch erkennbarer Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten«, die »immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden sind«. Hinzugefügt wird, dass »soziale Abweichungen oder soziale Konflikte allein, ohne persönliche Beeinträchtigungen« nicht als »psychische Störung im hier definierten Sinne« angesehen werden sollen. Zweifellos müssten einige der Begriffe genauer reflektiert werden (insbesondere: »Belastung« und »Beeinträchtigung von Funktionen«); der erforderliche Aufwand dürfte das zu erwartende Ergebnis nicht rechtfertigen. Dass solche Abgrenzungen historischen Korrekturen unterworfen sind, lässt sich am deutlichsten an der Homosexualität zeigen, die in früheren diagnostisch-klassifikatorischen Systemen noch als Störung (beziehungsweise Krankheit) auftaucht, nicht aber in den aktuellen Ausgaben – wie sie bekanntlich auch aus dem Gesetzbuch als Straftat verschwunden ist. Diese Vorläufigkeit rechtfertigt jedoch nicht, den Versuch einer Beschreibung und Systematisierung psychischer Störungen ganz zu unterlassen. Im Gegensatz zu den (heute kaum mehr populären) Auffassungen der Anti-Psychiatrie wird im Weiteren davon ausgegangen, dass es bei allen erwähnten Schwierigkeiten prinzipiell möglich ist, Empfinden oder Verhalten von Personen einigermaßen verbindlich als gestört zu bezeichnen und dass mit dieser Zuschreibung ein Erkenntnisgewinn verbunden ist, der letztlich den Betroffenen zugute kommt; die Ansicht der sogenannten Labeling-Theorie, dass durch eine solche »Etikettierung« automatisch Schaden entstehe, ist schwer zu teilen; diese Möglichkeit zu überdenken, mag gleichwohl zuweilen sinnvoll sein.

Diagnosestellung einer psychischen Störung erfolgt in der Praxis zumeist durch die Befunderhebung im Gespräch sowie in der Beobachtung des Verhaltens. Mittlerweile werden zwar zunehmend strukturierte Interviews entwickelt, die sich allerdings eher für die Dokumentation des Verlaufes eignen, weniger für die Erstdiagnostik. Hinzu kommt die Anamnese (griech.: Rückerinnerung), die Erforschung der Vorgeschichte der jetzigen und früher durchgemachter psychischer Störungen; hier ist man oft auf die Hilfe anderer Personen angewiesen, insbesondere Angehöriger (Fremdanamnese). Weitere Informationen können hilfreich sein, so die Familienanamnese (Erfassung psychischer Störungen in der Verwandtschaft der Betroffenen) und Information über den körperlichen Status, insbesondere die mittels neuroradiologischer Untersuchungen (Computertomogramm [CT], Kernspintomographie [MRT], Positronenemissionstomographie [PET]) erhaltenen Befunde zu strukturellen oder funktionellen Besonderheiten von Hirnregionen. Zunehmend mehr eingesetzt werden auch psychodiagnostische Verfahren zur Erhebung der klinischen Symptomatik. Letztere lassen sich in Fremd- und Selbstbeurteilungsverfahren einteilen. Bei den ersteren, beispielsweise der Hamilton Depressionsskala, befragt und beurteilt ein geschulter Beobachter den Patienten hinsichtlich verschiedener Symptome der betreffenden Störung (hier u. a. bezüglich Stimmung, Suizidneigung, Schlafstörungen) und protokolliert auf einer mehrstufigen Skala deren Ausprägung; die gefundenen Ausprägungen werden mit Zahlen versehen (gescort), die üblicherweise über alle Fragen (Items) zu einem Gesamtmaß der Depressivität summiert werden. Bei den Selbstbeurteilungsverfahren, zu denen etwa das Beck-Depressions-Inventar gehört, kreuzen die Patienten das Ausmaß ihrer Beschwerden an. Auch Persönlichkeitsfragebogen kommen zum Einsatz, meist jedoch nicht zur Diagnosestellung, sondern zu anderen Zwecken, z. B. zur Beurteilung der (prämorbiden) Persönlichkeit. Zu nennen sind schließlich auch Leistungstests, etwa Intelligenztests und speziellere neuropsychologische Untersuchungsverfahren.

Gleichwohl erfolgt – wie erwähnt – die Diagnose einer Störung (und damit üblicherweise die Einleitung einer Behandlung) im Allg. allein aufgrund der klinischen Befunderhebung ohne Zuhilfenahme der genannten Verfahren; eine Ausnahme bildet lediglich die Intelligenzminderung (image Kap. 9.2), deren Schweregrad anhand von Testergebnissen festgelegt wird. Jedoch wird für Forschungszwecke zunehmend der Einsatz standardisierter psychodiagnostischer Verfahren gebräuchlich, da angesichts der damit möglichen Quantifizierung der Symptomatik Verlauf und Wirksamkeit von Interventionen genauer betrachtet werden können.

Die Stellung einer Diagnose ist bekanntlich bei psychischen Störungen mit erheblich größeren Schwierigkeiten verbunden als bei organischen Erkrankungen. Die Übereinstimmung der Diagnosen, welche an denselben Personen von zwei unabhängigen Untersuchern gestellt werden (Objektivität oder Interrater-Reliabilität), wurde in älteren Studien vielfach niedrig gefunden; allerdings waren damals die Kriterien nur unzureichend festgelegt oder wurden nicht genügend berücksichtigt. Die neueren Ausgaben der klassifikatorisch-diagnostischen Systeme ICD (International Classification of Diseases) und DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) versuchen, diesen Schwierigkeiten durch die Angabe genauer Kriterien und Ausschlusskriterien (operationalisierte Diagnostik) Rechnung zu tragen; wie sich gezeigt hat, konnte dadurch die Interrater-Reliabilität deutlich verbessert werden. Mit zunehmendem Einsatz der Systeme dürften die diagnostischen Kriterien weitere Präzisierung erfahren.

Auch die Klassifikation psychischer Störungen stellt größere Probleme als die organischer Erkrankungen und zeigt sich u. a. darin, dass die erwähnten diagnostisch-klassifikatorischen Systeme sehr gründlichen Veränderungen unterworfen wurden. Früher erfolgte die Gliederung weitgehend unter nosologischen Aspekten, wurden Störungen also weniger aufgrund von Ähnlichkeiten der Symptomatik als vielmehr angenommener Gemeinsamkeiten hinsichtlich Ursache (Ätiologie) und zugrunde liegender Prozesse (Pathogenese) zusammengefasst; hingegen zeichnen sich die neuesten Versionen durch einen deskriptiven, weitgehend nicht-theoretischen Ansatz aus: Zusammenfassung der Störungsbilder erfolgt nun vornehmlich nach Ähnlichkeit der Einzelsymptome oder Symptomenkomplexe (Syndrome), auch wenn sie möglicherweise gänzlich verschiedene Entstehungsbedingungen aufweisen. So wird heute ein (nicht organisch oder durch Substanzkonsum bedingtes) depressives Syndrom, unabhängig welche Vorstellung der Untersucher über die Entstehung hat, einheitlich in die Rubrik »affektive Störungen« von ICD-10 eingeordnet, während es noch in der vorletzten Ausgabe dieses Klassifikationssystems entweder in die Gruppe der »affektiven Psychosen« einzureihen war oder – unter der Annahme einer gänzlich anderen Entstehung – in die der »Neurosen«. Im ersten Fall wurde es damit in die Nähe zu anderen »Psychosen«, beispielsweise den schizophrenen, gerückt, im zweiten sah man eine Verwandtschaft zu neurotischen Störungen wie Zwangsneurose oder Phobien. Nicht zuletzt die mehr und mehr deutlich werdenden unterschiedlichen Genesevorstellungen psychischer Störungen in den einzelnen wissenschaftlichen Schulen legen eine zunächst syndromatologisch-deskriptive Zusammenfassung nahe.

1.2       Die diagnostisch-klassifikatorischen Systeme DSM-5® und ICD-10

Die gängigen diagnostisch-klassifikatorischen Systeme für psychische Störungen, DSM-5 und ICD-10, haben beide eine interessante Geschichte, die bei Davison, Neale & Hautzinger (2007, S. 58 ff.) dargestellt ist und das Verständnis ihres Aufbaus erleichtert. Die International Classification of Diseases der World Health Organisation (WHO) ist der Versuch, einheitliche Bezeichnungen und Diagnosekriterien für Krankheiten zu schaffen, Bemühungen, die in die Zeit vor dem 2. Weltkrieg reichen. Nachdem das Kapitel über psychische Störungen jedoch auf Widerstand einflussreicher amerikanischer Psychiater gestoßen war, veröffentlichte die American Psychiatric Association 1952 ein eigenes Manual, DSM-I (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders); diesem folgten weitere Ausgaben (DSM-II, DSM-III, DSM-III-R, DSM-IV), schließlich DSM-5® (hier zitiert als DSM-5). Ähnliche Überarbeitungen erfuhr die International Classification of Diseases, die einschließlich des Kapitels V über psychische Störungen nun in der 10. Revision vorliegt; 1991 ist auch die deutsche Version der letzten Fassung dieses Kapitels erschienen, die in wiederholt (geringfügig) korrigierter Neuauflage vorgelegt wurde, mittlerweile der zehnten (Dilling, Mombour & Schmidt, 2015); etwas ungenau wird sie im Weiteren mit »ICD-10« bezeichnet. Eine grundlegende Revision (ICD-11) soll 2018 von der WHO verabschiedet werden, was wohl impliziert, dass vor 2020 nicht mit einem Erscheinen zu rechnen ist. Die beiden konkurrierenden Klassifikationssysteme dürften noch für Jahrzehnte nebeneinander bestehen bleiben. In grober Näherung kann man konstatieren, dass sich in der europäischen Psychiatrie weitgehend ICD-10 durchgesetzt hat, in der amerikanischen DSM-5 bevorzugt wird. In Psychologenkreisen dürfte weltweit eher DSM-5 favorisiert werden; man findet jedoch zunehmend die Tendenz, Störungen nach beiden Systemen gegenüberstellend zu klassifizieren. Dies ist in der Regel ohne große Schwierigkeiten und Zusatzerläuterungen möglich, da beide Systeme im Laufe ihrer Entwicklung den erwähnten Übergang von einer nosologischen (auf die Entstehungsbedingungen der Krankheit ausgerichteten) Betrachtungsweise zu einer stärker syndromatologischen vollzogen haben (also Bezeichnung und Gruppierung der Störungen weitgehend anhand der Symptome vornehmen). Auch die einzelnen Störungsbilder entsprechen sich, oft bei unterschiedlicher Namensgebung, weitgehend (etwa hinsichtlich Ein- und Ausschlusskriterien); die einzelnen Kategorien sind jedoch deutlich verschieden, so in DSM-5 zahlreicher.

Die Darstellung der psychischen Störungen in den folgenden Kapiteln orientiert sich an der handlicheren ICD-10; zuweilen schien es sinnvoll, zusätzlich kurz die Diagnostik und Klassifikation nach DSM-5 zu erwähnen.

Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders war in der dritten und vierten Auflage durch eine multiaxiale Klassifikationsweise charakterisiert; das gestörte Verhalten einer Person sollte also (möglichst) mehrdimensional, nämlich auf bis zu fünf Achsen, beschrieben werden. Achsen I und II stellten Oberkategorien psychischer Störungen dar, wobei auf Achse I jene zu nennen waren, die in der Regel bei der Diagnostik zuerst auffallen, also im Allg. die Klinikeinweisung oder den therapeutischen Kontakt begründen, z. B. eine affektive Störung; Störungen von Achse II sind solche längerer Dauer, die allein oft nicht zu Diagnose und Therapie führen würden, wie geistige Behinderung oder Persönlichkeitsstörungen. Drei weitere Achsen bezogen sich auf körperliche Besonderheiten oder Krankheiten, auf eventuelle psychosoziale Probleme und den Grad der sozialen und beruflichen Anpassung. Da dieses komplizierte System kaum genutzt wurde, gibt es in DSM-5, wie schon immer in ICD-10, mittlerweile nur noch (klassifikatorisch gleichwertige) Störungsgruppen, die mit Zahlen kodiert werden.

ICD-10 listet zehn Kategorien psychischer Störungen auf, die mit Ausnahme der beiden ersten (»Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen« und »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen«) nicht nosologisch, sondern eher syndromatologisch ausgerichtet sind, sich also aufgrund des Erscheinungsbildes der in ihnen genannten Störungen definieren; eine Ausnahme bildet die letzte Kategorie »Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend«, in der Störungen aufgrund ihres frühen Erstmanifestationsalters zusammengefasst sind. Die Verschlüsselung geschieht durch Angabe des Buchstabens F (entsprechend dem Kapitel F für psychische Störungen), die Nummer der Kategorie, beispielsweise 3 für »Affektive Störungen« und an weiteren Stellen die für die entsprechende Subkategorie, fakultativ weiterer für Schweregrad oder Begleitsymptomatik; so würde mit F32.01 eine leichte depressive Episode mit »somatischem Syndrom« kodiert. Doppeldiagnosen durch Angabe zweier Codenummern, etwa zusätzlich für eine Persönlichkeitsstörung, sind möglich.

1.3       Ansätze zur Erforschung psychischer Störungen

Frühe Theorien psychischer Störungen, so die Säftelehre des Hippokrates, Platons psychogenetische Theorie der Hysterie oder die dämonologischen Auffassungen des Mittelalters sind lediglich von historischem Interesse. Ansätze, die heute noch Einfluss auf die Theoriebildung haben, gehen auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Dazu gehören im Wesentlichen die nosographischen Bemühungen Kraepelins und Charcots, weiter die Rückführung psychischer Symptomatik im Rahmen der progressiven Paralyse (einem Spätstadium der Syphilis) auf den organischen Faktor einer Infektion mit dem Erreger Treponema pallidum, schließlich die erbbiologischen Degenerationstheorien der französischen Psychiatrie um J. M. Charcot. Bei Letzterem und seinem Schüler Janet zeigen sich erste Ansätze psychologischer Herangehensweisen, so die Rückführung der Hysterie auf seelische Traumen, die Erforschung der Anlässe der Symptombildung in Hypnose sowie die Beseitigung der Symptome mittels hypnotischer Suggestion. Gleichwohl sind beide – anders als oft dargestellt – noch weit von eigentlichen psychogenetischen Theorien entfernt. Als Anlässe werden psychische Traumen in einer Reihe mit Infektionen, konsumierenden Erkrankungen und körperlichen Überforderungen genannt, welche eine Schwächung des Nervensystems mit dem Resultat psychischer Symptomatik bewirkten.

Das erste systematische psychogenetische Modell psychischer Störungen wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Sigmund Freud Theorie formuliert (dazu image Kap. 6). Er fasste zunächst die Symptome als Ersatzbildungen auf, die aus der Verdrängung eines sexuellen Missbrauchs in der frühen Kindheit resultierten, sah sich jedoch bald genötigt, diese »Verführungstheorie« aufzugeben und die Symptomatik über das Wirken weitgehend unbewusster sexueller Wünsche zu erklären (etwa im Rahmen eines nicht aufgelösten Ödipuskomplexes). Die Psychoanalyse, eine auf diesen Annahmen basierende Therapie, besteht demzufolge in der Aufhebung der Verdrängung, der Bewusstmachung des Unbewussten durch Überwindung von Widerständen und stellt somit die Umkehr der Pathogenese dar. Freud ist eine hinsichtlich des Differenzierungsgrads nie mehr erreichte Krankheitslehre zu verdanken: Verschiedenen psychischen Störungen legte er unterschiedliche Genesemodelle zugrunde, vertrat dabei jedoch die Annahme, dass die Störungsursprünge im Allg. auf die frühe Kindheit zurückgingen und mit der Entwicklung der Sexualfunktionen zu tun hätten. In späteren psychoanalytischen Krankheitsmodellen, etwa den objekttheoretischen oder ich-psychologischen, rückt man zunehmend von dieser triebtheoretischen Betrachtungsweise ab und sieht die Ursachen vornehmlich in der defizitären Ausbildung von Beziehungen, insbesondere zu den Eltern. Anders als bei Freud ist das Interesse dort weniger auf die klassischen neurotischen Störungen wie Zwangsneurose oder Phobien gerichtet, sondern vielmehr auf die von Freud für psychoanalytisch untherapierbar erachteten narzisstischen Neurosen (etwa Schizophrenie) und die von der frühen Psychoanalyse wenig beachteten Persönlichkeitsstörungen. Auch die Therapie wandelt sich insofern, als die Aufhebung von Verdrängung relativ zur Durcharbeitung oft bewusster Konflikte und Verhaltensweisen in den Hintergrund tritt; die Behandlung ist häufig auch sehr viel direktiver als in der klassischen Psychoanalyse, schließt beispielsweise Hilfe bei der Lebensgestaltung ein.

Nicht zuletzt der spekulative Charakter der psychoanalytischen Theoriebildung begünstigte die Entwicklung des Behaviorismus, der mit einer geringen Zahl von Annahmen, die auch tierexperimentell überprüft werden konnten, Verhaltensabweichungen zu erklären versuchte; berühmt ist der Versuch John Watsons, eine Phobie durch gleichzeitige Präsentation eines neutralen Objekts mit einem unangenehmen Reiz klassisch zu konditionieren (image Kap. 6.2). Später kam als behavioristisches Erklärungsprinzip das der Verstärkung hinzu, demzufolge sich gestörtes Verhalten als Konsequenz von Belohnung oder Bestrafung ausformen und aufrechterhalten sollte (operante Konditionierung). Aus diesen Annahmen abgeleitete Therapieverfahren strebten konsequent ein Rückgängigmachen der Lernprozesse an, etwa die Neuverknüpfung eines phobischen Stimulus mit einem nicht-aversiven Eindruck (Gegenkonditionierung) oder die Aufhebung von Konsequenzen, die das gestörte Verhalten aufrechterhalten sollten.

Spätere verhaltenstheoretische oder verhaltenstherapeutische Modelle psychischer Störungen sind von den rein lerntheoretischen im Sinne des Behaviorismus weit entfernt und dürfen keineswegs mit ihnen gleichgesetzt werden. Insbesondere wird die Bedeutung von inneren Variablen wie Einstellungen, Erwartungen, Denkmustern für Genese und Aufrechterhaltung gestörten Verhaltens nachdrücklich anerkannt, während der Behaviorismus Watsons gerade den Versuch darstellte, Verhalten ohne solche mentalen Konstrukte zu erklären. Auch die Rolle biologischer, z. B. genetischer Faktoren, die im frühen, extrem milieutheoretisch ausgerichteten Behaviorismus minimalisiert worden war, wird nun gewürdigt. Gleichzeitig hat sich der Charakter der Therapie von simplen mechanistischen Interventionen zu komplexeren Programmen wie Selbstbehauptungstrainings oder Üben sozialer Fertigkeiten gewandelt; zudem werden nun nicht mehr Veränderungen ausschließlich von offenem Verhalten versucht, sondern ebenso von Einstellungen und Denkschemata (kognitive Verhaltenstherapie). Damit ist es aber auch schwieriger geworden, Verhaltenstherapie zu definieren und eindeutig von anderen Verfahren abzugrenzen.

Die biologische Richtung der Psychiatrie, die auf die weitgehend organischen Genesevorstellungen Kraepelins zurückgeht, erhielt eine beeindruckende Stützung, als es gelang, die progressive Paralyse mit weitgehend psychischer Symptomatik (Größenwahn, Demenz) als Spätstadium der Syphilis nachzuweisen und auf eine Infektion mit dem Erreger Treponema pallidum zurückzuführen. Eine hirnorganische Genesetheorie psychischer Störungen liegt auch den psychochirurgischen Interventionen zugrunde, die – wenn auch unter Inkaufnahme ernster Nebenwirkungen – häufig das pathologische Verhalten (Halluzinationen, Zwangsverhalten, deviante Sexualpraktiken) im gewünschten Sinne beeinflussten. Die 1938 eingeführte Elektrokrampftherapie, die Induktion eines epileptischen Anfalls mittels kurzer Stromstöße, ist bei psychischen Störungen, speziell Depressionen, therapeutisch zweifellos erfolgreich; sie trug aber vorläufig wenig zur Klärung der Grundlagen bei, da ihre Wirkweise bis heute ungeklärt ist.

Größter therapeutischer Fortschritt der biologischen Psychiatrie war zweifellos die Entwicklung wirksamer Pharmaka, wie der Neuroleptika (Antipsychotika), der Antidepressiva, der phasenprophylaktischen Lithiumpräparate und der Tranquilizer, speziell jener vom Benzodiazepintyp. Nicht selten waren erste Entdeckungen einem Zufall zu verdanken. So wurde die antipsychotische Wirkung von Chlorpromazin 1952 bei der Suche nach Antihistaminika entdeckt und der stimmungsaufhellende Effekt der MAO-Hemmer bei der Behandlung mit Tuberkulosemitteln beobachtet. Auch die psychotrope Wirkung von Lithiumsalzen war eine Zufallsentdeckung. Trotzdem hat man heute genauere Vorstellungen vom Wirkmechanismus dieser Pharmaka, die gleichzeitig Modelle der den psychischen Störungen zugrunde liegenden biochemischen Prozesse nahelegen, nämlich als Veränderungen der Neurotransmission: Verkürzt ausgedrückt, wird die elektrische Erregung einer Nervenzelle (eines Neurons) auf die nächste auf chemisch-physikalischem Weg übertragen; die erste Nervenzelle schüttet an ihren Enden Transmitter aus, die durch den synaptischen Spalt zum anschließenden Neuron diffundieren und sich dort an Rezeptoren anlagern. Diese Anlagerung verändert die elektrischen Eigenschaften der zweiten (postsynaptischen) Zellmembran, in Richtung Erregung (Depolarisation) oder Hemmung (Hyperpolarisation). Summieren sich die dort ausgelösten Veränderungen – sei es durch verstärktes Feuern oder durch gleichzeitige Impulse vieler anderer, angrenzender Neuronen –, so kann eine intensive Erregung der postsynaptischen Nervenzelle entstehen (Aktionspotential), welche sich nun entlang der Zelle (genauer: ihres Axons) fortpflanzt. Neben den erregenden Transmittern gibt es hemmende (wichtigster Vertreter: GABA), deren Ausschüttung eine Hyperpolarisation der postsynaptischen Nervenzelle bewirkt; diese neutralisiert die Wirkung erregender Transmitter zu gewissem Grade, wirkt so der Ausbildung eines Aktionspotentials entgegen und erschwert damit die Informationsübertragung. Nachdem jedes Neuron mit Tausenden anderer in Verbindung steht, ergeben sich komplizierte Formen gegenseitiger Beeinflussung. Die Grundlage der Symptomatik einiger Störungen wird nun darin gesehen, dass die Transmitterausschüttung oder Wirkung verändert ist, beispielsweise bei der Schizophrenie eine Dopaminüberaktivität angenommen wird, wahrscheinlich aufgrund erhöhter Rezeptordichte an der postsynaptischen Membran (image Kap. 4.2.7). Auch wenn diese Transmittertheorien im Laufe der Zeit Korrekturen erfahren haben (und weiter erfahren werden), ist in jedem Fall mit ihnen eine höchst fruchtbare Betrachtungsweise – ein »Paradigma«, um den etwas überstrapazierten Begriff zu verwenden – geschaffen worden.

Während man früher erwartete, bei psychisch gestörten Personen spezifische strukturelle HirnverändFerungen nachweisen zu können (etwa vergrößerte oder verkleinerte Areale), mutmaßt man mittlerweile vornehmlich funktionelle Abnormitäten als biologische Äquivalente, etwa veränderte Erregbarkeit einzelner Hirnregionen oder ihrer Verbindungen. So wird bei der in Kapitel 6.4 besprochenen Basalganglienhypothese der Zwangsstörungen angenommen, dass der Symptomatik Überaktivität eines Funktionskreises zugrunde liegt, der u. a. die Basalganglien, den orbitofrontalen Kortex und den Gyrus cinguli umfasst (image Kap. 6.4). Wie die auf solchen Modellvorstellungen basierenden psychochirurgischen Eingriffe quantitativ eine sehr geringe Rolle als Interventionsmöglichkeit spielen, so treten diese funktionell-anatomischen Annahmen als Erklärungsansätze gegenüber den angenommenen synaptischen Veränderungen deutlich in den Hintergrund.

 

2          Demenzen

 

2.1       Vorbemerkungen; Allgemeines zur ICD-10-Kategorie F0

Die erste diagnostische Kategorie F0 in ICD-10 umfasst »psychische Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer zerebralen Krankheit, einer Hirnverletzung oder einer anderen Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt« (ICD 10, S. 72). Zunächst wird dort die Demenz aufgeführt. Ein dem dementiellen Syndrom ähnliches, das amnestische Syndrom, wie es besonders als Folge chronischen Alkoholismus vorkommt, wird der Abgrenzung halber schon an dieser Stelle besprochen, in Kapitel 3 (Störungen im Zusammenhang mit der Einnahme psychotroper Substanzen) jedoch noch einmal kurz skizziert (image Kap. 3). Delir, obwohl ebenfalls unter F0 rubriziert, soll am Beispiel des Alkoholdelirs in 3.2.4 behandelt werden (image Kap. 3.2.4). Andere Störungen, die unter der ätiologisch-diagnostischen Kategorie F0 angeführt sind, nämlich diverse psychotische, affektive und ängstlich-zwanghafte Symptombilder mit ebenfalls nachweisbarer organischer Ursache, kommen in späteren Kapiteln zur Sprache. Für einen verkürzten Überblick über die unter F0 subsumierten Störungen image Tab. 2.1.

2.2       Dementielles Syndrom und amnestisches Syndrom

Bei der Demenz handelt es sich um ein Syndrom, welches bei verschiedenen Krankheiten beobachtet wird. Insofern ist Demenz keine Diagnose; ein Arzt, der einen Patienten mit dieser entlässt, hat seine Aufgaben nicht erfüllt. Auch die Feststellung einer »Altersdemenz« ist keine bemerkenswerte diagnostische Leistung; hier muss zumindest zwischen den dabei wahrscheinlichsten Grundkrankheiten, der Alzheimer-Krankheit und der vaskulären Demenz, unterschieden werden. Beobachtet wird dieses Syndrom bei verschiedenen Krankheiten, die eines gemeinsam haben: Sie führen zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Hirnatrophie mit Degeneration von Kortexzellen. Häufig finden sich neben dem dementiellen Syndrom andere, zumeist neurologische Symptome oder Störungen der Affekte, welche die Diagnosestellung üblicherweise erleichtern; die Demenzsymptomatik ist hingegen bei den verschiedenen Grundkrankheiten oft recht einheitlich.

Tab. 2.1: Amnestisches, dementielles und delirantes Syndrom

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SyndromHauptcharakteristikaVorkommen

Beim dementiellen Syndrom findet sich eine mehr oder weniger große Anzahl von Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen, die sich – anders als bei der Intelligenzminderung (image Kap. 9.2) –zuvor auf normalem Niveau befunden haben. An erster Stelle stehen Störungen des Gedächtnisses; typischerweise zeigen sich zunächst Beeinträchtigungen der Merkfähigkeit, also Defizite in der längerfristigen Speicherung neuen Materials. Eindrücke durchaus intensiver Natur werden wenig später vergessen; bei der Untersuchung kann der Ablauf des Tages, besonders wenn er vom Gewohnten abweicht, nur unzulänglich wiedergegeben werden. Weniger beeinträchtigt ist hingegen das Erlernen neuer motorischer Abläufe. Das Immediatgedächtnis, die Fähigkeit zur unmittelbaren (nach Sekunden erfolgenden) Wiedergabe soeben erfolgter Eindrücke, etwa das kurzfristige Behalten von Telefonnummern, ist ebenfalls intakt. Gleichfalls, wenigstens zu Beginn der Erkrankung, nicht gestört ist die Wiedergabe von Eindrücken, die vor der Erkrankung gespeichert wurden, etwa Jugenderlebnissen; allerdings finden sich im Krankheitsverlauf zunehmende Einschränkungen der Reproduktion; die häufig zu Beginn beobachteten Wortfindungsschwierigkeit lassen sich als beginnende Abrufstörungen interpretieren. Daneben sind weitere kognitive Fähigkeiten wie Denk- und Urteilsvermögen, Konzentration und Aufmerksamkeit beeinträchtigt sowie die Verarbeitung neuer Informationen erschwert, besonders wenn diese gleichzeitig von verschiedenen Seiten vermittelt werden. Weiter finden sich Störungen im affektiven und motivationalen Bereich (u. a. Verlust emotionaler Kontrolle, oft Aggressivität, extremes Misstrauen bis hin zu paranoid-psychotischer Symptomatik). Jedoch sind, anders als beim Delir, die betroffenen Personen bewusstseinsklar; Störungen der Wahrnehmung im Sinne von Halluzinationen und Realitätsverkennungen werden bei Demenz (ohne gleichzeitiges delirantes Syndrom) nicht beobachtet.

Vom dementiellen ist das amnestische Syndrom abzugrenzen, welches besonders als Folge von Alkoholabusus zu beobachten ist (dann üblicherweise Korsakow-Syndrom genannt wird) und vornehmlich eine Störung des Gedächtnisses, weniger der anderen kognitiven Funktionen und der Emotionalität, darstellt. Die sehr beliebte Diagnose »Alkoholdemenz« ist, obwohl es eine solche tatsächlich gibt, meistens inkorrekt; typischerweise handelt es sich um ein amnestisches Syndrom, das andere pathologisch-anatomische Grundlagen hat (Veränderungen vornehmlich im Zwischenhirn, nicht im Hippocampus). Bei intaktem Immediatgedächtnis ist wie bei der Demenz die Fähigkeit, neues Material zu speichern, erheblich reduziert; auch die Wiedergabe bereits länger gespeicherter Inhalte kann in zeitlich wechselnder Intensität beeinträchtigt sein. Anders als beim dementiellen Syndrom findet sich hier eine Neigung, die Gedächtnislücken durch erfundene Sachverhalte zu kaschieren (Konfabulationen).

Die geschilderten dementiellen Syndrome bei verschiedenen Krankheiten sowie das amnestische Syndrom wurden und werden teils heute noch in psychiatrischen Lehrbüchern als organisches oder hirnorganisches Psychosyndrom zusammengefasst, eine Bezeichnung, welche angesichts ihrer Unbestimmtheit aufgegeben werden sollte. ICD-10 ordnet die Demenzen in die große Rubrik F0: »Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen« ein. Alzheimer-Demenz wird mit der Codenummer F00 verschlüsselt, vaskuläre Demenz mit F01, dementielle Syndrome im Rahmen anderer Erkrankungen mit F02 und einer weiteren Zahl für die jeweilige Grundkrankheit, so F02.0 für die Demenz bei Pick-Krankheit. Bei der Alzheimer- und der vaskulären Demenz gibt es Unterformen, etwa hinsichtlich des Verlaufs, die mit einer weiteren Zahl zu kodieren sind. Dementielle Syndrome als Folge von Substanzmissbrauch wären hingegen in die Kategorie F1 (Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen) einzureihen.

Die Diagnosestellung geschieht vornehmlich anhand der Beeinträchtigung intellektueller Funktionen, speziell der Gedächtnisleistungen. Zuordnung zu den Unterformen erfolgt teils nach der Begleitsymptomatik, teils anhand der Anamnese und anderer Befunde (z. B. HIV-Nachweis). Die Diagnose Alzheimer-Krankheit ist oft erst posthum durch Autopsie mit Nachweis der charakteristischen neuropathologischen Veränderungen eindeutig zu sichern; nicht immer leicht gelingt klinisch die Abgrenzung gegenüber der vaskulären Demenz und der Pick-Krankheit (allgemeiner: der frontotemporalen Demenz).

Merke

image Demenz ist keine eigene Krankheit, sondern ein Syndrom mit unterschiedlichsten Ursachen. Demenz ist auch nicht identisch mit »Alzheimer«; letzteres ist eine von verschiedenen Demenzformen. DSM-5 spricht im Übrigen nicht von Demenzen, sondern von neurokognitiven Störungen. imageimage

2.3       Ätiologie, Pathogenese und Therapie verschiedener Demenzformen

2.3.1     Demenz bei Alzheimer-Krankheit

Bei dieser Erkrankung steht das Symptombild eines dementiellen Syndroms im Vordergrund. Der Beginn fällt meist ins höhere Lebensalter, zuweilen auch schon ins mittlere und sogar noch davor (Alzheimer-Krankheit mit präsenilem Beginn oder präsenile Demenz vom Alzheimer-Typ). Die Entwicklung ist, wenigstens bei den senilen Formen, im Allg. schleichend, ohne wesentliche Sprünge im Verlauf, und führt üblicherweise erst im Laufe mehrerer Jahre zum klinischen Vollbild; neurologische Einschränkungen finden sich anfangs in aller Regel nicht, treten aber nicht selten später hinzu und können Todesursache sein.

Beweisend für diese Demenzform ist das Vorliegen neuropathologischer Veränderungen in Form intrazellulär lokalisierter Alzheimer-Fibrillen und gehäufter seniler Plaques (Amyloid-Plaques); diese Veränderungen sind erst bei Autopsien sicher erkennbar. Trotz häufig zu lesender gegenteiliger Berichte ist es bis heute nicht gelungen, Alzheimer-Demenz zweifelsfrei allein anhand neuroradiologischer oder biochemischer Befunde (z. B. aus dem Liquor cerebrospinalis) zu diagnostizieren; in Verbindung mit dem klinischen Bild erhöhen sie jedoch die Treffsicherheit der Diagnose (Dubois et al., 2014). Die auch bei anderen Demenzformen zu beobachtende Neuronendegeneration ist eher diffus lokalisiert, betrifft jedoch stärker den frontalen und temporo-parietalen Kortex sowie speziell die Hippocampusregion. Zudem wird eine beeinträchtigte Übertragung an cholinergen Synapsen beobachtet, Folge insbesondere einer Abnahme des zur Acetylcholinsynthese notwendigen Enzyms Cholinacetyltransferase, eine Erkenntnis, die man therapeutisch zu nutzen versucht (s. u.). Dieses Genesemodell stimmt gut mit Befunden überein, nach denen das Behalten neuer Information durch die Blockade bestimmter Acetylcholinrezeptoren beeinträchtigt, durch deren Stimulation erleichtert wird.

Zum Verständnis der Ätiopathogenese ist von zentraler Bedeutung, dass die Amyloid-Plaques nicht – wie lange gedacht – lediglich ein Abfallprodukt des Neuronenuntergangs, sondern umgekehrt eher deren Ursache darstellen. Warum es zur Bildung dieser »toxischen« Plaques kommt, steht noch in Diskussion. Eine Hypothese ist, dass in den Neuronenmembranen schon immer ein pathologisches Eiweiß vorhanden war (das Amyloid-Präkursor-Protein = APP), welches zwangsläufig zu Amyloid mit der Folge von Plaque-Bildung abgebaut wird. Anderen Annahmen zufolge sind bestimmte eiweißabbauende Enzyme verändert, sodass Amyloid als Abbauprodukt entsteht.

Andererseits finden sich bei Autopsien immer wieder Gehirne, welche Amyloid-Plaques in großer Zahl enthalten, wobei die Betreffenden keine dementielle Symptomatik gezeigt hatten. Jedoch findet man bei Personen mit Symptomatik einer Alzheimer-Demenz stets gehäuft Plaques. Der Sachverhalt ist also alles andere als geklärt. Möglicherweise umfasst das, was als Demenz bei Alzheimer-Krankheit zusammengefasst wird, eine ganze Reihe unterschiedlicher, wenn auch hinsichtlich Symptomatik ähnlicher Störungsbilder.

Entgegen früheren Ansichten spielen bei der Entwicklung der Alzheimer-Demenz genetische Faktoren sicher keine unbeträchtliche Rolle; sie determinieren den Aufbau des APPoder sind für die veränderten abbauenden Enzyme verantwortlich. Auffällig ist nämlich u. a., dass Personen mit Trisomie 21 (Down-Syndrom) schon in sehr frühem Alter eine hohe Dichte von Amyloid-Plaques im Gehirn aufweisen. Sie haben bekanntlich das Chromosom 21 in dreifacher Zahl, auf dem das APP-Gen (genauer: der pathologische APP-Polymorphismus) lokalisiert ist. Diese Genvariante ist für die Synthese eines bestimmten Eiweißes verantwortlich, das beim Abbau zur Amyloidbildung führt. Allerdings spricht einiges für eine wichtige Mitbeteiligung noch weitgehend unbekannter Umweltfaktoren; die schon früher vertretene Hypothese einer vermehrten Aufnahme von Aluminium (etwa in Form der säurebindenden »Magenmittel«, in Essensverpackungen oder Deosprays) hat mittlerweile wieder an Plausibilität gewonnen (Walton, 2013).

Nach dem Gesagten sollte eine kausale Therapie in Verhinderung der Bildung bzw. in vollständiger Beseitigung vorhandener Amyloidplaques bestehen. Nachdem entzündliche Prozesse dabei eine Rolle zu spielen scheinen, wäre ein Alzheimer-prophylaktischer Effekt bei längerer Einnahme entzündungshemmender Medikamente zu erwarten, speziell der nichtsteroidalen Antirheumatika wie Ibuprofen, Diclofenac oder Indomethacin, wofür es tatsächlich Hinweise gibt. Weiter sollten antioxidative Agentien hier positiv wirken, etwa die reichlich in Rotwein und roten Traubensäften enthaltenen Flavonoide; mäßiger Rotweingenuss würde demnach in gewissem Maße die Ausbildung erschweren.

Entgegen früheren Auffassungen dürfte Rauchen nicht der Entstehung einer Alzheimer-Demenz vorbeugen, fördert jedoch die Ausbildung einer vaskulären Demenz beträchtlich. Andererseits ist es wohl nicht hilfreich, Alzheimer-Patienten zum Aufhören des Rauchens anzuhalten, da dann die stimulierende Wirkung auf die nikotinergen Acetylcholinrezeptoren wegfällt.

Weiter gibt es Überlegungen, durch eine Art von Impfung den Organismus zu veranlassen, gebildete Plaques sofort als Fremdkörper (Antigene) zu erkennen und sie mittels abzubauen.

Bei der Behandlung der Alzheimer-Krankheit sind unspezifisch die Hirnaktivität fördernde Medikamente mit den Inhaltsstoffen Piracetam (etwa Nootrop®), Pyritinol (Encephabol®), Nimodipin (Nimotop®) oder Extrakte aus Ginkgo biloba (etwa Tebonin®) sicher nicht von Schaden, allerdings ohne nachgewiesenen Nutzen. Ihr Wirkmechanismus dürfte teils auf Verbesserung der Durchblutung beruhen, teils auf verbesserter Verwertung des dem Hirn angebotenen Zuckers (Glukoseutilisation), zudem auf weiteren Prinzipien; dass sie in Vorstadien des geistigen Abbaus gewissen Nutzen bieten, ist nicht auszuschließen.

Medikamente mit nachgewiesener Wirksamkeit bei bestehender dementieller Symptomatik werden mittlerweile deutlicher als Antidementiva aus der großen Gruppe der Nootropika (generell auf den Verstand wirkender Substanzen) herausgehoben. Zu den Antidementiva gehören zum einen die Acetylcholinesterasehemmer (Cholinesterasehemmer), deren Gruppe durch Donepezil (etwa Aricept®), Rivastigmin (beispielsweise Exelon®) und Galantamin (Reminyl®) vertreten ist. Diese Substanzen erhöhen die synaptische Konzentration des verminderten Neurotransmitters Acetylcholin durch Hemmung des abbauenden Enzyms und sind zugelassen für die Behandlung leichter und mittelschwerer Demenzen vom Alzheimer-Typus. Auch wenn damit weder eine echte Besserung, geschweige denn eine Heilung erzielt wird, kann die Progredienz des geistigen Abbaus verlangsamt werden und zwar umso effizienter, je früher mit der Behandlung begonnen wird. Insofern sind rechtzeitige Diagnosestellung und baldiger Behandlungsbeginn von entscheidender Bedeutung.

Zu den Antidementiva gehören auch NMDA-Antagonisten wie Memantine (Axura®, Ebixa®, diverse Generika). Dies ist insofern zunächst überraschend, als die Blockade des NMDA-Rezeptors für Glutamat (beispielsweise durch Alkohol) die Einspeicherung erschwert (image Kap. 3.2.2 zum »Filmriss«). Allerdings ist zwischen einer phasischen (intermittierenden, auf Reize hin erfolgenden) Stimulation des NMDA-Rezeptors und einer permanenten (»tonischen«) Aktivierung dieser Bindungsstelle zu unterscheiden, wie sie der Theorie nach durch im Rahmen der Alzheimer-Krankheit vermehrtes Glutamat zustande kommt und kognitiven Prozessen abträglich ist. Diese NMDA-Antagonisten sind nicht nur für die Behandlung leichter und mittelschwerer, sondern auch schwerer Formen der Alzheimer-Demenz zugelassen und können mit Acetylcholinesterasehemmern kombiniert werden (Benkert & Hippius, 2015, S. 624).

Die Möglichkeit, mit psychologischen Methoden, etwa Gedächtnistrainings, die kognitiven Defizite bei Alzheimer-Demenz – generell bei dementieller Symptomatik – positiv zu beeinflussen, dürfte eher begrenzt oder wenn überhaupt, nur im Frühstadium von gewissem Erfolg sein. Sinnvoll ist es jedoch, die Umgebung entsprechend zu instruieren, sodass die Einschränkungen der Patienten möglichst wenig zum Tragen kommen.

Die affektive Symptomatik erfordert oft den Einsatz von Psychopharmaka, wobei speziell die Unruhezustände ein erhebliches Problem darstellen. Häufig reagieren die Patienten auf sedierende Medikamente wie Benzodiazepine »paradox«, werden also erst recht erregt; deswegen ist es in Heimen nicht selten Praxis, Sedierung mit Neuroleptika vorzunehmen. Letztere kommen speziell dann zum Einsatz, wenn zusätzlich psychotische Symptomatik vorliegt.

2.3.2     Vaskuläre Demenz

Diese Form ist nach der Alzheimer-Demenz die häufigste und geht in der Regel schon früh mit neurologischen Symptomen einher, die sich auf Durchblutungsstörungen bei arteriosklerotischen Veränderungen der Hirngefäße zurückführen lassen. Oft setzt die Symptomatik im Anschluss an eine ischämische Attacke (akute Minderdurchblutung) mit Bewusstseinstrübungen, Sehstörungen, Lähmungen oder Beeinträchtigungen höherer Sprachfunktionen (Aphasien) ein; der eher fluktuierende Verlauf der Erkrankung mit abrupt einsetzenden Verschlechterungen und neurologischen Herdsymptomen erleichtert die Abgrenzung von der Alzheimer-Demenz. Bei der neuroradiologischen Untersuchung zeigen sich häufig Gewebsschädigungen als Folge der Durchblutungsstörung. Bei vielen Betroffenen lassen sich in der Vorgeschichte Rauchen, Hypertonie oder Diabetes finden. Alzheimer- und vaskuläre Demenz kommen häufig vergesellschaftet vor.

Die Therapie besteht in der Ausschaltung von Risikofaktoren, Einstellung von Blutdruck und Blutzuckerspiegel, weiter eventuell in der Gabe durchblutungsfördernder Medikamente, unter Umständen in Behandlung mit Substanzen, welche die Gerinnungsfähigkeit des Blutes herabsetzen (z. B. ASS = Acetylsalicylsäure, wie etwa im altbekannten Aspirin®). Acetylcholinesterasehemmer dürften – entgegen früheren Ansichten – bei dieser Demenzform zumindest in einer Reihe von Fällen wirksam sein, sind aber nach wie vor für die Indikation »vaskuläre Demenz« nicht zugelassen.

2.3.3     Demenzen im Rahmen anderer Erkrankungen

Hier ist zunächst die Pick-Krankheit zu nennen, bei der sich oft schon vor den typischen Einschränkungen intellektueller Funktionen eine ausgesprochene Frontalhirnsymptomatik mit Veränderungen speziell im sozialen Verhalten (Taktlosigkeit, Enthemmung) und emotionaler Symptomatik findet; die Erkrankung beginnt im Allg. im 6. Lebensjahrzehnt und führt binnen einiger Jahre zum Tod. Mittlerweile wird in der Literatur – noch nicht in ICD-10 – die größere Gruppe der frontotemporalen Demenzen