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Über dieses Buch:

England, 1936 – die Welt steht am Abgrund, ohne es zu ahnen ... Dorabella und Violetta Denver sind Zwillinge und doch höchst unterschiedlich: Während die extrovertierte Dorabella es genießt, im Mittelpunkt zu stehen, und kein Risiko scheut, bleibt Violetta stets vernünftig – schließlich muss sie ihre Schwester mehr als einmal aus brenzligen Situationen befreien. Und so ist sie vom ersten Moment an skeptisch, als Dorabella ihr Herz während einer Deutschlandreise an den charismatischen Dermot Tregarland verliert und ihm auf seinen Familienstammsitz nach Cornwall folgt. Als dort das Schicksal grausam zuschlägt, setzt Violetta alles daran herauszufinden, welches dunkle Geheimnis die Familie Tregarland hütet – koste es, was es wolle …

Spannend und romantisch – ein Roman der Saga »Die Töchter Englands«: Bestsellerautorin Philippa Carr verwebt große historische Ereignisse mit den Lebensgeschichten starker Frauenfiguren zum mitreißenden Lesevergnügen!

Über die Autorin:

Philippa Carr ist – wie auch Jean Plaidy und Victoria Holt – ein Pseudonym der britischen Autorin Eleanor Alice Burford (1906–1993). Schon in ihrer Jugend begann sie, sich für Geschichte zu begeistern: »Ich besuchte Hampton Court Palace mit seiner beeindruckenden Atmosphäre, ging durch dasselbe Tor wie Anne Boleyn und sah die Räume, durch die Katherine Howard gelaufen war. Das hat mich inspiriert, damit begann für mich alles.« 1941 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem in den nächsten 50 Jahren zahlreiche folgten, die sich schon zu ihren Lebzeiten über 90 Millionen Mal verkauften. 1989 wurde Eleanor Alice Burford mit dem »Golden Treasure Award« der Romance Writers of America ausgezeichnet.

Eine Übersicht über den Romanzyklus »Die Töchter Englands« finden Sie am Ende dieses eBooks.

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eBook-Neuausgabe November 2017

Copyright © der Originalausgabe 1992 Philippa Carr

Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel »The Gossamer Cord«.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1998 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/faestock und Lukasz Major

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-115-6

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Philippa Carr

Ein hauchdünnes Band

Roman

Aus dem Englischen von Gerda Bean

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Vorfall im Wald

Wenn ich zurückdenke, wird mir klar, daß alles beim Frühstück zuhause auf Caddington Hall begann, als meine Mutter von dem Brief aufsah, den sie gerade las, und beiläufig bemerkte: »Edward hat den jungen Deutschen eingeladen, die Ferien bei ihm in England zu verbringen.«

»Dann kommt er mit seinem Freund sicher bei uns vorbei«, sagte mein Vater.

Mich interessierte alles, was Edward betraf. Wegen seiner Herkunft war er für mich der romantischste Mensch, den ich kannte. Meine Mutter war in Belgien zur Schule gegangen. Dann brach der Krieg aus, und sie mußte das Land wegen der anrückenden deutschen Armee schnell verlassen. Edwards Eltern waren durch eine Bombe ums Leben gekommen, die ihr Haus in der Nähe der Schule getroffen hatte, und sterbend hatte seine Mutter der meinen das Versprechen abgenommen, ihr Kind nach England mitzunehmen, was sie tat.

Edward zeigte sich meiner Mutter gegenüber immer sehr dankbar; und mit Recht, denn was hätte er von einer Armee, die das Land überfiel, wohl erwarten können, oder von Flüchtlingen, die genug mit sich selbst zu tun und bestimmt keine Zeit für ein hilfloses Baby hatten?

Meist lebte er bei meinen Großeltern mütterlicherseits auf Marchlands, ihrem Besitz in Essex, oder im Londoner Haus der Familie im Stadtteil Westminster. Mein Großvater war Mitglied des Parlaments gewesen – eine Tradition der Familie Greenham. Jetzt hatte mein Onkel Charles den Sitz übernommen.

Edward war inzwischen zweiundzwanzig Jahre alt. Er wollte Rechtsanwalt werden und galt selbstverständlich als Familienmitglied.

Mein jüngerer Bruder Robert warf ein, bestimmt würde Edward seinem Freund in Deutschland bei Gelegenheit einen Gegenbesuch abstatten.

»Ich würde auch gern hinfahren«, sagte er. »Es muß schön sein dort. Es gibt Biergärten, und die Leute duellieren sich dauernd. Sie halten nämlich nichts von Männern ohne Schmisse, und die müssen im Gesicht sein, wo sie jeder sehen kann.«

Meine Mutter lächelte nachsichtig. »Das kann ich kaum glauben, mein Schatz«, sagte sie.

»Doch, es stimmt – ich hab's irgendwo gehört.«

»Du darfst nicht alles glauben, was du hörst«, belehrte ihn meine Schwester Dorabella.

Robert schnitt eine Grimasse und zischte: »Und du ... du weißt alles besser!«

»Laßt gut sein«, warf meine Mutter beschwichtigend ein, »streiten wir uns doch nicht deswegen. Ich hoffe, daß Edward uns besuchen wird mit diesem ... äh ...« Sie blickte auf den Brief. »Kurt«, fuhr sie fort. »Kurt Brandt.«

»Klingt ziemlich deutsch«, bemerkte Robert.

»Erstaunlich!« spottete Dorabella.

Es war ein typischer Morgen in den Sommerferien, mit der ganzen Familie gemeinsam am Frühstückstisch.

Ich sehe diesen Morgen noch deutlich vor mir – jetzt, wo ich weiß, wie bedeutsam er war.

Mein Vater, Sir Robert Denver, saß am Kopfende des Tisches. Er war ein wundervoller Mensch, und ich liebte ihn von Herzen. Anders als alle Männer, die ich kannte, wirkte er nicht im mindesten arrogant und benahm sich stets sehr zurückhaltend. Meine Mutter tadelte ihn wegen seiner Bescheidenheit, liebte ihn aber gleichzeitig dafür. Er war sanft, gütig und vor allem äußerst zuverlässig.

Den Titel hatte er beim Tod seines Vaters vor nicht allzu langer Zeit geerbt. Mein Großvater und er waren sich sehr ähnlich gewesen – beides liebenswerte Menschen. Es war für uns alle ein schwerer Schlag gewesen, als mein Großvater starb.

Großmutter Belinda lebte bei uns. Wir nannten sie so, um sie von Großmutter Lucinda zu unterscheiden. Sie kam nicht zum Frühstück, sondern ließ es sich aufs Zimmer servieren. Großmutter Belinda war ganz anders als mein Großvater und mein Vater. Sie war schrecklich selbstherrlich, verlangte viel Aufmerksamkeit und zeigte ein beständiges, meist zynisches Interesse an allen Familienangelegenheiten. Gleichzeitig wirkte sie faszinierend. Sie war schön, hatte immer noch prächtige schwarze Haare, die auf wundersame – oder vielleicht raffinierte - Weise ihre Farbe nicht verloren, und tiefblaue Augen, mit denen sie die Welt stets amüsiert und ein ganz klein wenig boshaft betrachtete. Dorabella und mein Bruder ängstigten sich ein bißchen vor ihr, ich sogar mehr als nur ein bißchen.

Es waren also nur Dorabella, mein Bruder, ich und unsere Eltern am Tisch versammelt.

Dorabella und ich waren Zwillinge. Uns verband etwas Besonderes. Viele Zwillinge kennen das. Wir waren keine eineiigen Zwillinge und sahen uns zwar ähnlich, waren aber geprägt von unseren jeweiligen Charaktereigenschaften. Meine Mutter behauptete, als Babys habe man uns kaum auseinanderhalten können, aber jetzt, wo wir sechzehn waren – das heißt im Oktober sein würden – war die Ähnlichkeit nicht mehr so deutlich.

Dorabella war leichtsinniger als ich. Sie war impulsiv, während ich lieber erst nachdachte, bevor ich handelte. Sie machte einen zerbrechlichen Eindruck, ich einen robusten. Dorabella hatte etwas Hilfloses an sich, das auf das andere Geschlecht anziehend wirkte. Immer hatte sie Männer um sich, die ihr etwas tragen mußten oder sich irgendwie um sie kümmerten. Ich dagegen konnte sehen, wo ich blieb.

Dorabella verließ sich vollständig auf mich. Als wir noch klein waren und in die Schule kamen, wollte sie, daß wir ständig nebeneinander saßen. Sie kuschelte sich an mich und schrieb dabei die Rechenaufgaben von mir ab. Später, als wir ins Internat kamen, hingen wir noch mehr aneinander. Wir mochten uns eben sehr.

Sobald der Krieg zu Ende war, kehrte mein Vater heim. Das war 1918. Er und meine Mutter heirateten, und im Oktober des folgenden Jahres wurden Dorabella und ich geboren.

Damals liebte meine Mutter Opern über alles. Es muß aufregend für meine Eltern gewesen sein, als sie nach vier entbehrungsreichen Jahren, in denen sie ständig um das Leben des anderen hatten bangen müssen, nach London in das Haus meiner Großeltern zogen. Sie wollten alles genießen, was sie versäumt hatten. Meine Mutter war schon immer ein Opernfan gewesen, aber nun wurde diese Vorliebe zu einer richtigen Leidenschaft, und ihr kam die romantische Idee, uns nach Frauen aus zwei Lieblingsopern zu nennen. so wurde ich Violetta aus La Traviata und meine Schwester die Dorabella aus Cosi fan tutte. Was meine Großmutter lachend zu dem Kommentar veranlaßte, bei Turandot hätte sie protestiert.

Unser Bruder, der ungefähr drei Jahre nach uns geboren wurde, mußte Robert heißen, weil es immer einen Robert in der Familie gegeben hatte. Das führte manchmal zu gewissen Schwierigkeiten, wenn keiner wußte, wer gemeint war. Aber Traditionen mußten eben gewahrt werden.

Wie angekündigt, stattete uns Edward einen Besuch ab und brachte Kurt Brandt mit.

An einem wunderschönen Sommertag mitten im August trafen sie ein. Wir alle erwarteten den Wagen bereits, und als er in den Hof fuhr, liefen meine Mutter, Dorabella, Robert und ich hinunter, um die beiden zu begrüßen.

Edward sprang aus dem Auto, und ich sah, wie er zunächst nach meiner Mutter Ausschau hielt. Gleich darauf umarmten sie sich. Wenn er sie nach langer Zeit wiedersah, dachte er vermutlich immer daran, daß sie ihn als Baby gerettet hatte. Dadurch war eine besondere Bindung zwischen ihnen entstanden; ganz bestimmt war er für meine Mutter wie eines ihrer leiblichen Kinder.

Ein junger Mann, etwa in Edwards Alter, stieg ebenfalls aus und kam auf uns zu.

»Das ist Kurt ... Kurt Brandt«, sagte Edward. »Ich habe ihm von euch allen erzählt.«

Er sah zierlich aus neben Edward und wirkte irgendwie dunkel, weil Edward so groß und blond war. Sehr gerade baute er sich vor meiner Mutter auf, schlug die Hacken zusammen, nahm ihre Hand und küßte sie. Dann wandte er sich Dorabella und mir zu und tat das gleiche. Robert schüttelte er nur die Hand, was meinen Bruder ziemlich enttäuschte, dem das Hackenzusammenschlagen gefallen hätte, ein Handkuß natürlich weniger.

Meine Mutter versicherte, wie sehr sie sich freue, Edward und seinen Freund bei uns zu haben, und führte sie ins Haus, über das Kurt seine Bewunderung in gutem, wenn auch nicht akzentfreiem Englisch zum Ausdruck brachte. Das Haus war sehr alt; es stammte aus dem fünfzehnten Jahrhundert, und die Leute waren immer sehr beeindruckt, wenn sie es zu sehen bekamen. Das war also nichts Außergewöhnliches.

Zum Mittagessen gesellte sich mein Vater zu uns. Normalerweise hatte er auf den Ländereien zu tun, aber dies war eine besondere Gelegenheit, und meine Mutter hatte ihn gebeten, doch dabei zu sein.

Kurt erzählte uns, er komme aus Bayern und lebe in einer Burg, die seit vielen Jahren im Besitz der Familie sei.

»Nicht so groß ... nicht so prachtvoll wie dieses Haus«, erklärte er bescheiden. »Burg klingt großartig, aber in Deutschland gibt es viele davon. Burgen und Schlösser ... aber meistens sehr klein. Unsere ist jetzt ein Gasthof – schon seit einigen Jahren. Die Zeiten waren schlecht ... der Krieg ... und danach war es auch nicht leicht ...«

Ich dachte an meinen Vater, der im Krieg für seine Tapferkeit ausgezeichnet worden war, und mir fiel ein, daß er dann ja gegen Kurts Vater gekämpft haben mußte. Nun, jetzt war ja alles vorbei.

»Erzählen Sie uns etwas vom Wald«, bat meine Mutter.

Wie begeistert er von seiner Heimat sprach! Ich konnte sehen, wie sehr er sie liebte. Wir lauschten hingerissen. Mit seinen Augen betrachtet, war der Wald ein verzauberter Ort. Er erzählte, wie dort im Herbst der Nebel aufstieg – bläuliche Nebelschwaden, die die Tannen plötzlich ohne Vorwarnung verhüllten, so daß sich sogar Leute, die sich gut auskannten, verirren konnten. Er erzählte, daß an den Hälsen der Kühe, die zu den wenigen auf den waldigen Abhängen verstreut liegenden Bauernhöfen gehörten, Glocken hingen, die läuteten, wenn die Tiere sich bewegten, so daß ihre Besitzer immer wußten, wo sie sich aufhielten.

Was für ein faszinierender Erzähler er war. Edward lehnte sich stolz lächelnd zurück, weil sein Gast für uns alle eine solche Bereicherung war. Tatsächlich war es ein hervorragender Anfang – und nicht etwa; daß der Rest eine Enttäuschung gewesen wäre!

Edward wollte ihm unbedingt etwas von unserem Land zeigen, und da er sein neues Auto leidenschaftlich liebte, bestand er darauf, uns alle jeden Tag irgendwo hinzufahren.

Wir machten einen Ausflug nach Portsmouth, damit Kurt das Flaggschiff Admiral Nelsons bewundern konnte, und erforschten die nähere und weitere Umgebung. Dann sollte Kurt den Forst kennenlernen, wo Wilhelm der Eroberer auf Jagd gegangen war. Danach war Stonehenge an der Reihe, das Kunde von einer noch früheren Zeit gab.

Jeden Tag kehrten wir nach Hause zurück und schnatterten beim Abendessen ausgiebig über alles, was wir gesehen hatten.

Dabei lernten wir Kurt immer besser kennen. Meist blieben wir lange am Tisch sitzen, weil die Gespräche zu interessant waren, um sie abzubrechen. Wenn es heiß war, aßen wir draußen. Wir hatten einen Hof, der von roten, efeubewachsenen Backsteinmauern umgeben war und wo in einer Ecke ein Birnbaum stand; der ideale Ort für eine Mahlzeit im Freien.

Ich glaube, Kurt genoß seinen Besuch genauso wie wir. Er erzählte uns viel von den Schwierigkeiten des Lebens in seinem Land nach dem Krieg. Es war wohl sehr schwer gewesen. Der Gasthof mußte für eine Weile geschlossen bleiben, und erst vor kurzem hatte man ihn neu eröffnet.

»Jetzt sind wieder Gäste da«, sagte er. »In der schlechten Zeit nach dem Krieg ist niemand gekommen.«

»Das Volk, das keinen Einfluß darauf hat, daß Kriege geführt werden, leidet am meisten an den Folgen«, bemerkte mein Vater.

Wir waren für eine Weile ernst, aber dann lachten wir wieder. Kurt mußte uns noch mehr vom Wald, von seinem Zuhause und seiner Familie erzählen.

Er hatte einen Bruder, Helmut, und eine Schwester, die Gretchen hieß. Sie halfen seinen Eltern, den Gasthof zu führen.

»Helmut übernimmt irgendwann die Wirtschaft«, fügte er hinzu. »Denn er ist der Älteste.«

»Und Sie werden ihm helfen?« fragte meine Mutter.

»Ich glaube, es wird nötig sein.«

Danach wurde das Thema nicht mehr erwähnt. Meine Mutter wollte wahrscheinlich nicht zu viele Fragen stellen, um nicht neugierig zu erscheinen.

Schließlich kam der letzte Abend. Dorabella, Robert und ich würden zwei Tage später ins Internat zurückkehren müssen. Für Dorabella und mich sollte das letzte Schuljahr beginnen.

Wir saßen im Garten, und die Stimmung war ziemlich traurig, wie es eben so ist, wenn etwas Schönes zu Ende geht.

»Schade«, meinte Kurt schließlich. »Morgen muß ich Lebewohl sagen. Es war wunderbar hier. Sir Robert und Lady Denver – wie kann ich Ihnen nur danken?«

»Sagen Sie nichts«, erwiderte meine Mutter. »Es war eine große Freude für uns, Sie bei uns zu haben. Ich sollte Edward danken, daß er Sie mitgebracht hat.«

»Und Sie besuchen uns irgendwann im Bayerischen Wald?«

»O ja, bitte!« rief Dorabella aus.

»Ich komme bestimmt«, sagte Robert. »Blöderweise gibt's aber noch sowas wie Schule.«

»Es gibt aber auch Ferien«, erinnerte ihn Edward.

»Ich wünschte, du könntest mit mir zurückfahren«, sagte Kurt. »Jetzt ist die beste Zeit des Jahres.«

»Ich möchte den blauen Nebel sehen«, seufzte Dorabella.

»Und die Kühe mit den Glocken«, fügte Robert hinzu.

»Es wäre wunderbar«, wisperte ich.

»Nächstes Jahr müssen Sie kommen ... Sie alle!«

»Wir werden uns das ganze Jahr darauf freuen, nicht wahr, Violetta?« hauchte Dorabella.

Kurt sah mich an. »Spricht Ihre Schwester für Sie beide? «

»Das tut sie meistens«, antwortete ich. »Und in diesem Fall hat sie recht.«

»Dann ist es abgemacht«, sagte Kurt. Er hob sein Glas. »Auf nächstes Jahr im Bayerischen Wald!«

Es war ein aufregendes Jahr für Dorabella und mich, weil es unser letztes im Internat war. Im kommenden Oktober würden wir siebzehn werden, und das beschäftigte uns sehr, so daß wir uns erst mitten im Schuljahr wieder an unseren geplanten Deutschlandbesuch erinnerten. Edward hielt sich in Caddington auf, und das erste, was er sagte, war, Kurt habe nicht vergessen, daß wir versprochen hätten, ihn im Sommer zu besuchen. Da fiel es natürlich auch uns wieder ein, und wir hielten es für eine ausgezeichnete Idee.

Wir verabschiedeten uns von unseren Freunden in der Schule und warfen ohne Bedauern einen letzten Blick auf die Tennisplätze und die Aula; schließlich waren wir erwachsen geworden, und vor uns lag die Aussicht auf eine Reise nach Deutschland.

Robert folgte einer Einladung, die Ferien bei einem Freund in Devon zu verbringen. Damit war für ihn gesorgt. Meine Mutter war erleichtert, denn sie meinte, Edward habe genug zu tun, auf uns Mädchen aufzupassen, ohne sich auch noch um einen lebhaften Jungen kümmern zu müssen.

Meine Eltern fuhren uns an die Küste, und bald darauf gingen wir an Bord des Kanaldampfers und kamen im Hafen von Ostende an. Dorabella und ich waren auf der langen Eisenbahnfahrt durch Belgien und Deutschland schrecklich aufgeregt. Edward, der diese Reise schon einmal unternommen hatte, machte uns auf interessante Sehenswürdigkeiten aufmerksam; natürlich wollten wir nichts verpassen. Schließlich wurde es dunkel, und wir schliefen ein, wurden aber durch das Ruckeln des Zuges immer wieder aus dem Schlaf gerissen.

Als wir endlich in München ankamen, mußten wir dort übernachten, da der Zug zum Städtchen Regensbruck erst am folgenden Tag fahren würde.

»Dann«, informierte uns Edward, der sich gut auskannte, »haben wir wieder eine lange Fahrt vor uns, aber natürlich nicht so lang wie die, die hinter uns liegt. Wir sollten noch vor Einbruch der Dunkelheit in Regensbruck eintreffen. Dort wird Kurt uns abholen und zur Burg fahren.«

»Ich kann es nicht erwarten«, sagte Dorabella.

»Das mußt du aber«, neckte sie Edward. »Also sag nicht, daß du's nicht kannst!«

»Ich meine, ich freu' mich so darauf.«

»Ich weiß«, sagte er lächelnd. »Wir freuen uns alle.«

Es war aufregend in der großen Stadt. Wir wurden ins Hotel gebracht, wo zwei Zimmer – eins für Dorabella und mich und eins für Edward – reserviert worden waren.

»Vielleicht wollt ihr euch erst einmal ausruhen«, schlug Edward vor.

Wir sahen ihn entgeistert an. Ausruhen! Wo wir doch in München waren, einer Stadt, die für uns bis jetzt nur aus Buchstaben auf der Landkarte bestanden hatte!

»Na schön«, sagte er. »Schauen wir uns ein bißchen um. Aber nicht lange, weil ich nämlich Hunger habe und dringend etwas Nahrhaftes in den Magen kriegen muß.«

Die Frau mittleren Alters an der Rezeption war sehr freundlich. Sie lächelte uns an und sagte mit starkem Akzent auf Englisch, sie hoffe, daß es uns in München gefallen werde.

Edward, der etwas deutsch sprach und seine Sprachkenntnisse gerne einsetzte, erzählte ihr, daß wir am nächsten Tag nach Regensbruck fahren wollten.

»Ah«, rief sie aus. »Sie fahren in den Bayerischen Wald! Das ist gut ... wunderbar, wunderbar. Haben Sie Freunde dort?«

»Ja, jemand, mit dem ich studiert habe.«

»Das ist gut ... gut ... so eine Freundschaft. Aber Sie müssen auch etwas von München sehen – nur ein bißchen wenigstens, nur die schönsten Dinge. Zuerst die Kirchen – die Frauenkirche, dann den Alten Peter ...«

Wir baten sie, uns zu sagen, wie wir dort hinkämen, und sie gab uns lächelnd Auskunft.

München war wirklich eine schöne Stadt, und es war eine Menge los, Es gab mehrere Museen, aber wir hatten keine Zeit, sie zu besuchen. Edward sagte, wir hätten nur einen Nachmittag zur Verfügung und erinnerte noch einmal an die dringend nötige Nahrungsaufnahme.

Überall wurden wir freundlich behandelt. Es machte Spaß, nach dem Weg zu fragen und Auskunft zu bekommen. Gutgelaunt kehrten wir zum Hotel zurück, um zu Mittag zu essen.

Das Restaurant war fast voll, nur ein einziger Tisch war noch frei. Er war zwar für sechs Personen gedeckt, aber wir durften uns setzen.

Heiße Suppe wurde vor uns hingestellt, und während wir sie aßen, erschien der Kellner mit zwei jungen Männern. Er bat für irgend etwas um Entschuldigung. Edward bemühte sich, ihn zu verstehen, und mit Hilfe einiger Gesten begriffen wir, daß auch die jungen Männer etwas essen wollten. Es war kein anderer Tisch frei – gestatteten wir, daß sie sich zu uns setzten?

Sie waren groß und blond, und wir hatten ganz und gar nichts gegen ihre Gesellschaft einzuwenden. Sie zeigten großes Interesse, als sie hörten, daß wir aus England stammten.

Die jungen Männer wohnten am Stadtrand von München, einer sehr großen Stadt, wie sie stolz hinzufügten – der zweitgrößten Deutschlands nach Berlin.

Wir blickten angemessen beeindruckt drein.

Sie hatten geschäftlich in der Stadt zu tun. Es hätte sich viel verändert, seit der Führer an die Macht gekommen sei, erklärten sie.

Wir lauschten aufmerksam. Ich wollte ein paar Fragen stellen, aber es war schwierig wegen der Sprachprobleme. Sie konnten nur ein bißchen Englisch, doch mit Edwards Deutschkenntnissen klappte die Verständigung einigermaßen.

»Wir mögen die Engländer«, sagten sie.

»Wir finden die Leute hier sehr hilfsbereit«, erwiderte Edward.

»Oh, natürlich sind sie das.«

»Und uns hat alles gefallen, was wir gesehen haben«, warf ich ein.

Dorabella war still. Sie war ein wenig beleidigt, glaubte ich, weil die jungen Männer ihr nicht die Aufmerksamkeit schenkten, die sie gewohnt war. Diese beiden schienen für einen kleinen Flirt zu ernsthaft zu sein.

»Es ist gut, daß Sie unser Land besuchen«, sagte einer der jungen Männer, dessen Name Franz war. Der andere hieß Ludwig.

»Es ist schön, daß Sie sehen, wie gut es unserem Volk geht.«

Wir warteten, bis er weiterredete.

»Wir haben viel gelitten. Nach dem Krieg gab es ein schlimmes Abkommen. Es ging uns wirklich schlecht. Aber jetzt nicht mehr. Wir werden bald wieder eine Großmacht sein!«

»Aber das seid ihr doch schon!« rief Dorabella aus und lächelte süß.

Beide Männer betrachteten sie danach mit Interesse.« Das haben Sie bemerkt?«

»O ja«, sagte Dorabella.

»Und Sie fahren nach Hause und erzählen Ihren Leuten, daß Deutschland wieder an Bedeutung gewonnen hat?«

Dorabella sagte: »O ja.« Dabei wußte ich ganz genau, daß sie nicht die geringste Absicht hatte, so etwas zu sagen, und wenn sie es täte, wäre keiner daran interessiert.

»Wir sind stolz«, sagte Ludwig, »weil unser Führer hier in München den großartigen Versuch wagte, unsere Nation zu lenken.«

»In welchem Jahr war denn das?« fragte Edward.

»1923«, antwortete Franz. »Es war der Putsch im Bierkeller.«

»Bierkeller!« rief Dorabella aus. »Können wir in einen Bierkeller gehen?«

Keiner der beiden Männer schien sie zu hören. Sie starrten schweigend geradeaus, die Gesichter vor Aufregung gerötet.

»Der Putsch wurde niedergeschlagen, und Adolf Hitler mußte ins Gefängnis«, sagte Franz.

»Aber diese Zeit war nicht umsonst«, setzte sein Freund hinzu. »Denn dort entstand das Buch Mein Kampf

»Und als Hindenburg starb, wurde er Reichskanzler ... und alles änderte sich«, sagte der andere.

»Oh, gut«, murmelte Dorabella. »Wie nett.« Es klang ein bißchen spitz. Diese ernsten jungen Männer langweilten sie. Aber die Stimmung am Tisch blieb harmonisch, und das Essen schmeckte.

Wir hatten uns erholt und verbrachten einen angenehmen Nachmittag in der Peterskirche – dem Alten Peter, wie ihn die Münchner nannten –,einer der ältesten Kirchen, die ich je gesehen hatte. Danach saßen wir vor einem Restaurant, tranken Kaffee und aßen wunderbaren Kuchen. Es war interessant, die Leute beim Vorbeischlendern zu beobachten, doch Edward sagte, wir dürften uns nicht zu lange aufhalten. Wir müßten an unsere Weiterreise denken und früh aufstehen.

Im Hotel aßen wir dann zu Abend und gingen auf unsere Zimmer, wo Dorabella und ich über unsere Erlebnisse redeten, bis wir einschliefen.

Wir freuten uns riesig auf unsere Ankunft in Regensbruck.

Als wir aus dem Zug stiegen, glaubte ich, mich in einer Märchenwelt zu befinden. Wir waren durch eine bergige Landschaft mit waldigen Abhängen, Wasserfällen und Bächen, die im Sonnenlicht glitzerten, gefahren. Ab und zu hatten wir Dörfer mit Backsteinhäusern und Straßen mit Kopfsteinpflaster gesehen, die mich an Märchenbücher meiner Kindheit erinnerten.

Kurt erwartete uns und begrüßte uns so freudig, daß wir uns wie Ehrengäste fühlten.

»Wie froh ich bin, daß ihr gekommen seid!« rief er aus. Ihr habt eine sehr lange Reise hinter euch, und es ist wirklich schön, daß ihr sie auf euch genommen habt, um uns zu besuchen.«

»Wir fanden, daß sich die Mühe lohnen würde«, sagte Edward lachend. »Kurt – ich freue mich, dich wiederzusehen!«

»Und die jungen Damen sind auch da ... Violetta ... Dorabella!«

»Ja, wir sind auch da«, sagte Dorabella energisch. »Hoffentlich finden Sie es richtig, daß wir Edward begleitet haben?«

»Sie können es alle kaum erwarten, Sie zu begrüßen. Meine Familie, meine ich«, sagte Kurt. »Kommen Sie! Wir wollen keine Zeit verschwenden. Ist das Ihr Gepäck?«

Kurt nahm unsere Koffer, und wir verließen den Bahnhof und setzten uns in sein Auto. Die Luft duftete nach Tannen.

»Es ist wunderbar!« jubelte ich. »Alles ist so, wie ich es mir vorgestellt habe.«

Bald fuhren wir durch einen Wald. »Die Burg ist fünf Kilometer vom Bahnhof entfernt«, erklärte Kurt.

Wir blickten uns neugierig um und kamen in ein kleines Städtchen mit einer Kirche, holperten auf dem Kopfsteinpflaster der Straßen entlang und überquerten den Marktplatz, den das Postamt und ein paar Läden säumten. Die kleinen Häuser waren bestimmt schon mehrere hundert Jahre alt, und es hätte mich nicht gewundert, den Rattenfänger von Hameln zu sehen.

Kurts Zuhause lag einen knappen Kilometer außerhalb des Städtchens, das Waldenburg hieß. Die Straße verlief leicht bergauf. Mir blieb die Luft weg, als ich die Burg im Licht des Nachmittags erblickte – wie eine Szene aus einem Märchen.

Es war ein recht kleines Bauwerk aus hellgrauem Stein, an dessen beiden Seiten sich runde Türmchen befanden. Ich stellte mir eine Prinzessin vor, die ihr langes Haar aus einem der Turmfenster herabließ, damit ihr Liebster zu ihr emporklettern konnte, und hörte Dorabellas Stimme: »Wie albern! Er hätte ihr das Haar herausgerissen, und das hätte doch weh getan!« Aber ich war romantischer als sie, und für mich war es ein Zeichen wahrer Liebe, für die Freude, den Liebsten im Turm empfangen zu können, Schmerzen zu ertragen.

Fast hätte ich sie daran erinnert, aber ich kam nicht dazu, denn am Eingang dieses faszinierenden Baus standen Leute.

Kurt rief auf deutsch: »Wir sind da!« Und alle klatschten in die Hände.

Wir stiegen aus und wurden vorgestellt. Edward kannten sie ja bereits und begrüßten ihn herzlich. Kurt machte uns – wie immer überaus höflich, woran ich mich inzwischen schon gewöhnt hatte – mit allen bekannt. Da waren seine Eltern, sein Großvater und seine Großmutter, sein Bruder Helmut und seine Schwester Gretchen. Daneben, etwas abseits, standen die Angestellten – ein Mann, zwei Frauen und ein Mädchen, das im gleichen Alter wie Dorabella und ich zu sein schien.

Als die förmlichen Vorstellungen vorüber waren, wurden wir herzlich aufgenommen und zu unseren Zimmern geführt.' Dorabella und ich sollten eines miteinander teilen, was wir gerne taten. Wir standen am Fenster und blickten auf den Wald hinaus, auf den sich ein zarter Nebel senkte, der der Landschaft etwas Geheimnisvolles verlieh. Für einen kurzen Augenblick wurde ich unruhig und schauderte. Wieder erinnerte mich der Nebel an die Märchen der Brüder Grimm, in denen häufig irgendwo Böses lauerte.

Das unangenehme Gefühl verschwand sofort, als mich Dorabella umarmte, was sie immer tat, wenn sie aufgeregt war.

»Es ist fantastisch!« rief sie aus. »Ich weiß, wir werden unheimlich viel Spaß haben. Wie gefällt dir Helmut?«

»Ich fürchte, so schnell kann ich mir keine Meinung bilden. Er schien aber sehr nett zu sein.«

Dorabella lachte. »Wie schrecklich konservativ du bist, Schwesterlein! Ich bin froh, daß du die steife Art in unserer Familie geerbt hast!«

Sie behauptete oft, daß sie und ich eigentlich eine Person wären und daß die guten und schlechten Eigenschaften, mit denen die meisten Menschen geboren werden, zwischen uns aufgeteilt worden seien.

Ich muß an unsere erste Mahlzeit in der Burg denken und erinnere mich, die schmale Wendeltreppe zur Gaststube hinabgestiegen zu sein, wo wir mit der Familie aßen, nachdem die übrigen Hausgäste fertig waren.

Es war nur ein kleiner Raum, dessen Fenster – wie in den meisten Zimmern – auf den Wald blickten. Auf dem Holzfußboden lagen Teppiche, und rechts und links neben dem Kamin hingen zwei Hirschköpfe an der Wand.

Wir erfuhren, daß das Gebäude vor langer Zeit, als Deutschland noch aus vielen kleinen Ländern bestand, Jagdsitz eines Barons gewesen war und die Tierköpfe noch aus dieser Zeit stammten. Einer der Hirsche blickte ziemlich grimmig drein, der andere schaute voller Verachtung auf uns herab. Sie paßten eigentlich nicht in die friedliche Atmosphäre des Raumes. Auch Bilder der Familie hingen an den Wänden, die, wie ich später hörte, noch vor den schrecklichen Kriegsjahren gemalt worden waren.

Wir waren eine fröhliche Runde. Die Sprache machte wenig Probleme. Dorabella und ich hatten in der Schule ein wenig Deutsch gelernt, was uns weiterhalf. Kurt und Edward beherrschten beide Sprachen ziemlich gut. Und Kurts Eltern schienen ebenfalls ein bißchen Englisch gelernt zu haben – vielleicht von den Gästen. Auch Helmut und Gretchen hatten Englischkenntnisse. Mißverständnisse, die hin und wieder auftauchten, trugen zur Erheiterung bei.

Es war ein sehr angenehmer Abend.

Dorabella und ich redeten darüber, als wir allein in unserem Zimmer waren.

»Bestimmt wird es hier sehr lustig«, sagte Dorabella. »Helmut ist allerdings eine ziemliche Enttäuschung.«

»Du meinst, daß er den Reizen einer Miss Dorabella Denver nicht sofort verfallen ist?«

»Er ist ein wenig schwerfällig«, sagte sie. »Ich kann solche ernsten Typen nicht leiden. Wie die Männer in München. Helmut lacht ja kaum.«

»Vielleicht hat er nichts zum Lachen, oder vielleicht hält er es nicht für nötig, daß jeder sofort weiß, was er empfindet.«

»Morgen«, verkündete sie, »wird die Umgebung erforscht. Wird bestimmt interessant.«

»Auf jeden Fall sicher ganz anders als alles, was wir bisher gemacht haben.«

Ich ging ans Fenster und sah hinaus. Der Nebel war dichter geworden, und ich konnte die nächsten Bäume nur noch schemenhaft erkennen.

»Es sieht aufregend aus«, sagte ich.

Dorabella stellte sich neben mich.

»Beinahe unheimlich«, fuhr ich fort. »Findest du nicht?«

»Es sieht wie Nebel aus, weiter nichts.«

Ich konnte mich nicht losreißen – und sah plötzlich eine Gestalt, die aus der Burg lief.

Dorabella wisperte: »Das Zimmermädchen.«

»Else«, murmelte ich. »Ja, so heißt sie. Wo sie wohl hingeht? Es ist doch schon fast elf.«

Dann sahen wir, wie ein Mann aus dem Dunkel trat. Wir konnten ihn nicht deutlich erkennen, aber er gehörte offenbar nicht zu den Leuten, die wir bisher gesehen hatten. Er war groß und blond. Else warf sich in seine Arme, und sie hielten sich lange fest.

Dorabella kicherte neben mir.

»Ihr Liebhaber«, sagte sie.

Wir beobachteten, wie sie Hand in Hand in einem der Nebengebäude verschwanden, die zu Zeiten des Barons vielleicht Ställe gewesen waren.

Dann traten wir vom Fenster zurück. Dorabella schlüpfte in ihr schmales Bett, und ich in meines.

Wie vorauszusehen war, schliefen wir nicht besonders gut, und als ich schließlich doch noch ein wenig schlummerte, träumte ich von einem Märchenkönig, umgeben von blauem Nebel, aus dem sich die Formen seltsamer Menschen lösten. Die Zweige der Bäume wurden zu langen Armen, die sich nach mir ausstreckten, um mich zu packen.

In den folgenden Tagen lebten wir uns in der Burg gut ein. Von Kurts Mutter erfuhr ich, daß der Gasthof keineswegs ausgebucht war. Es hielten sich zur Zeit nur sechs Gäste hier auf, womit die Familie jedoch recht zufrieden war. Die Zeiten waren schlecht gewesen, besserten sich aber mit dem zunehmenden Wohlstand des Landes.

»Es brauchte lang, um sich vom Krieg zu erholen«, sagte Kurt. »Jetzt haben wir mehr Besucher, weil auch wieder Leute aus dem Ausland kommen – aus England, Amerika und anderen Teilen der Welt. Immerhin gibt's auch unseren Biergarten, und bei schlechtem Wetter haben wir eine große Gaststube mit Ausschank. Davon leben wir.«

»Und wir sind dankbar dafür«, setzte seine Mutter hinzu.

Sie war eine sehr energische Frau, und ich staunte, wie fürsorglich sie sich um die Familie kümmerte. Tatsächlich kümmerte sich jeder um den anderen. Das war mir sofort aufgefallen. Es schien mir sogar, als hätten sie Angst um einander. Ein Rätsel.

Der Großvater war ziemlich schwach, verbrachte die meiste Zeit auf seinem Zimmer und las in einem dicken Buch. Mit einer kleinen schwarzen Mütze auf dem Kopf hockte er auf seinem Stuhl und bewegte lautlos die Lippen.

Die Großmutter saß fast immer in ihrem Sessel und strickte Pullover und andere Dinge für die Familie. Sie sagte, im Wald könne der Winter sehr grimmig sein.

»Das Haus liegt sehr hoch«, murmelte sie. »Und die Wolken kommen herab und hüllen uns ein.«

Sie summte leise vor sich hin, und Kurt meinte, sie lebe in der Vergangenheit und sei dort öfter als in der Gegenwart.

Seine Eltern arbeiteten ununterbrochen. Der Vater war häufig im Wald. Ich hatte ihn Bäume fällen sehen, und ab und zu wurden auf einem langen wagenartigen Gefährt Baumstämme zur Burg transportiert.

Es gab eine Menge zu tun, und wahrscheinlich konnten sie sich nicht viel Personal leisten.

Helmut, dieser ernste junge Mann, blieb eine Enttäuschung für Dorabella. Er brachte ihr genauso wenig Interesse entgegen wie Edward und mir, obwohl er uns mit ausgesuchter Höflichkeit und Zuvorkommenheit behandelte. Dorabellas Charme schien ihn jedenfalls nicht zu beeindrucken, was ihm natürlich wenig Zuneigung von ihrer Seite einbrachte.

Gretchen hatte wie alle in der Familie dunkle Haare und dunkle Augen und war ein sehr hübsches Mädchen. Ich bemerkte, daß Edward sie oft lange ansah und sagte das Dorabella. Sie zuckte aber nur mit den Schultern. Die Romanzen anderer Leute interessierten sie nicht.

Nach wenigen Tagen in der Burg hatte ich das Gefühl, schon wochenlang dort zu sein. Kurt hatte uns umhergefahren, damit wir die Gegend kennenlernen konnten. Manchmal stiegen wir den Berg hinunter, an Fichten, silbrigen Tannen und Buchen vorbei. Dann ging es wieder bergauf, wo die Tannen ganz dicht beieinander standen.

Wir mußten viel klettern, dabei gab es aber eine Menge zu entdecken. Es machte Spaß, die kleinen Dörfer aufzusuchen. Sie waren ganz anders als zu Hause, und die meisten erinnerten mich an Märchen. Den Wald fand ich ein bißchen gruselig; oft dachte ich an Kinder, die zwischen den Bäumen verlorengingen und ein Pfefferkuchenhaus fanden, oder an Riesen, die im Unterholz lauerten.

Ich glaube, diese Gefühle wurden durch etwas ausgelöst, das ich damals nicht verstand. Hinter der Freundlichkeit, dem Gelächter und der Fröhlichkeit in Biergarten und Gaststube, die sich mit Leuten aus den umliegenden Dörfern füllten, schien sich irgend etwas Bedrohliches zu verbergen, auch wenn die Menschen an den Tischen saßen, tranken und Lieder mit schönen Melodien sangen, die ins Ohr gingen und meist das Vaterland rühmten.

Hätte ich Edward und Dorabella von meinen Gefühlen erzählt, wäre ich ausgelacht worden. Immer bildest du dir etwas ein, hätten sie gesagt. Und mir wäre nichts übriggeblieben, als ihnen recht zu geben. Es war die Atmosphäre des Waldes, die mich beunruhigte, weiter nichts.

Dorabella und ich marschierten oft alleine los. Wir hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, in die kleine Stadt zu wandern, vor einem Café zu sitzen, Kaffee zu trinken und ein köstliches Stück Kuchen zu essen. Für den Kellner waren wir inzwischen »die jungen Engländerinnen«, und jedesmal, wenn er uns bediente, redete er ein bißchen mit uns. Wir beobachteten die Leute, die vorübergingen, und nach ungefähr einer Stunde dieser angenehmen Beschäftigung machten wir uns wieder auf den Heimweg.

Die zweite Woche begann. Es war ein wunderschöner Tag, aber nicht mehr ganz so warm wie bisher. Ein Hauch von Herbst lag in der Luft.

Während wir vor dem Café saßen, schlenderte ein junger Mann vorbei. Er war groß und blond und schien auffallend heiter – ganz anders als die ernsten Menschen, denen wir so oft begegneten. Irgendwie wirkte er sympathisch, und als er uns im Vorübergehen mit einem Blick streifte, spürte ich, wie Dorabellas Interesse erwachte.

»Der sah – so anders aus«, meinte Dorabella und sah ihm hinterher.

»Ich glaube, das war ein Tourist. Der ist bestimmt nicht von hier«, sagte ich.

»Für einen Moment dachte ich, er würde stehenbleiben.«

»Wie kommst du denn darauf?« fragte ich.

»Vielleicht hat er gedacht, daß er uns schon einmal begegnet sei.«

»Ganz bestimmt nicht. Jedenfalls ist er jetzt weg.«

»Schade. Er sah gut aus.«

»Möchtest du noch ein Stück Kuchen?«

»Nein, ich glaube nicht. Violetta, ist dir klar, daß wir bald heimfahren werden?«

»Wir sind noch eine Woche hier.«

»Aber die Zeit verfliegt so schnell. Bald sind wir wieder zu Hause.«

»Es war doch richtig nett hier, nicht wahr?«

»Hmm«, brummte sie – und hob plötzlich den Kopf.

Sie saß mit dem Blick zur Straße gewandt, und ihr Mund verzog sich zu einem strahlenden Lächeln.

»Was ist?«

»Dreh dich nicht um. Er kommt zurück.«

»Wer?« fragte ich.

»Der Mann.«

»Du meinst ...«

»Der, der vorhin vorbeiging.«

Jetzt schien sie sich sehr für ihre Kaffeetasse zu interessieren. Und dann sah ich ihn, denn er hatte sich an einen Tisch in unserer Nähe gesetzt.

»Ja«, fuhr Dorabella fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. »Jetzt ist es bald soweit. Wahrscheinlich finden unsere Eltern, daß zwei Wochen ohne ihre geliebten Töchter lang genug sind.«

Mir war klar, daß sie sich dabei ganz auf den anderen Tisch konzentrierte.

Plötzlich stand der Mann auf und kam auf uns zu. »Verzeihen Sie«, sagte er. »Ich konnte nicht überhören, daß Sie englisch sprechen. Es ist doch wirklich eine Freude, in der Fremde auf Landsleute zu treffen, nicht wahr?«

»O ja, ja«, stimmte ihm Dorabella bei.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen? Man kann schlecht über die Tische hinweg miteinander reden. Machen Sie hier Urlaub?«

»Ja«, antwortete ich. »Und sie?«

Er nickte. »Wandern.«

»Allein?« fragte Dorabella.

»Ein Freund war dabei. Aber er mußte unerwartet nach Hause zurück. Ich wußte nicht, ob ich mitfahren sollte, aber da es sich nur um eine Woche handelte, beschloß ich, dazubleiben.«

»Sind Sie weit gewandert?«

»Meilenweit.«

»Und Sie sind eben erst angekommen?« fragte Dorabella.

»Vor drei Tagen. Ich dachte, ich hätte sie schon einmal hier gesehen.«

Der Kellner war gekommen, und der junge Mann bestellte Kaffee. Er lud uns zu einem zweiten Kännchen ein, und Dorabella nahm die Einladung sofort an.

»Eine faszinierende Gegend«, sagte ich. »Und beim Wandern sieht man am meisten.«

»Das stimmt«, gab er mir recht. »Sind Sie viel herumgekommen?«

»Nur ein bißchen.«

»Wohnen Sie hier im Ort?«

»Nein«, antwortete Dorabella. »In einer kleinen Burg, nicht weit von hier – kein richtiges Hotel, eher ein Gasthof.« Sie schwenkte die Hand in Richtung unserer Herberge.

»Kenne ich – eine herrliche Umgebung. Wie lange sind Sie schon da?«

»Wir reisen am Wochenende ab. Dann sind wir vierzehn Tage hier gewesen.«

Der Kaffee war eingetroffen, und der Kellner lächelte freundlich, als er uns so angeregt miteinander plaudern sah.

»Es ist schön, englisch sprechen zu können«, sagte der junge Mann. »Mein Deutsch läßt noch ziemlich zu wünschen übrig.«

»Unseres auch«, erklärte Dorabella. »Aber wir haben jemand dabei, der gut deutsch spricht.«

»Ein Freund?«

»Ein Freund der Familie. Eigentlich fast ein Bruder –- nur kein richtiger.«

Er erwartete, daß wir die Sache erklärten, da wir aber beide nicht weiter darauf eingingen, entstand eine kurze Pause.

Dann sagte Dorabella: »Wir sind bei einem seiner Freunde zu Besuch. Er war in England und lud uns ein, hier Ferien zu machen. Was wir getan haben.«

»Und jetzt bin ich froh darüber. Es ist tröstlich, jemanden aus England zu treffen, obwohl ich gar kein richtiger Engländer bin.«

»Ach?« Wir waren beide überrascht.

»Ich bin aus Cornwall«, sagte er grinsend.

»Aber ...«

»Ein kleiner Scherz. Der Tamar trennt uns, und wir behaupten immer, daß wir auf unserer Seite einer anderen Rasse angehören.«

»Wie die Schotten und die Waliser«, sagte ich.

»Keltischer Stolz«, erwiderte er. »Wir halten uns für ebenso gut wie ... nein, für besser als die Angelsachsen, wie wir euch Ausländer nennen.«

»O je!« Dorabella tat, als sei sie tief erschüttert. »Und ich hatte schon gedacht, wie toll es ist, jemanden zu treffen, der unser Landsmann ist!«

Er sah sie mit ernster Miene an. »Ist es auch«, sagte er. »Es hat diesen Tag zu etwas Besonderem gemacht.«

»Erzählen Sie uns von Cornwall«, warf ich ein. »Leben Sie nah am Meer?«

»Manchmal zu nah, finde ich. Beinah mittendrin.«

»Muß faszinierend sein.«

»Ich liebe unser altes Haus. Und wo wohnen Sie?«

»Hampshire.«

»Ganz schön weit von Cornwall.«

»Freuen Sie sich auf Ihr Zuhause?« fragte Dorabella.

»Nicht in diesem Augenblick.«

»Werden Sie morgen wieder wandern?«

»Ich nehme jeden Tag, wie er kommt.«

Dorabella amüsierte sich. Ihre Augen glänzten. Sie sah sehr attraktiv aus, und ich bemerkte, wie fasziniert er von ihr war. Was mich nicht überraschte. Oft genug hatte ich Ähnliches erlebt.

In ihrer lebhaften Art erzählte sie ihm von Caddington, und er beschrieb sein Zuhause in Cornwall.

Er sagte, sein Name sei Dermot Tregarland. »Ein alter kornischer Name«, erklärte er. »Wir heißen entweder Tre, Pol oder Pen. Wirkt wie ein Etikett. ›Hörst du die Namen Tre, Pol und Pen, weißt du, es sind Cornishmen.‹ Das hab' ich mal irgendwo aufgeschnappt, und es stimmt.«

Und so redeten wir weiter, bis ich sagte, es sei Zeit, zur Burg zurückzukehren – obwohl mir natürlich klar war, daß Dorabella noch nicht wollte.

Wir verabschiedeten uns und machten uns auf den Weg. Nicht lange, dann sagte Dorabella wütend: »Warum wolltest du plötzlich gehen?«

»Schau doch mal auf die Uhr! Sie werden sich wundern, wo wir bleiben. Vergiß nicht, wir wollten gerade aufbrechen, als er kam.«

»Na und?« Wir schwiegen. Dann setzte sie hinzu: »Er hat überhaupt nichts von einem Wiedersehen erwähnt.«

»Warum sollte er?«

»Ich dachte, er würde was vorschlagen.«

»Ach, Dorabella«, sagte ich. »Es war eine Zufallsbekanntschaft. ›Schiffe, die sich nachts begegnen.‹ Er ist nur stehengeblieben, weil er uns englisch sprechen hörte.«

»Meinst du, das war alles?« Sie lächelte geheimnisvoll.

Am nächsten Tag hatte sich das Wetter geändert, und es roch eindeutig nach Herbst. Kurt und Edward hatten einen Ausflug in eines der Bergdörfer geplant und erwarteten, daß wir uns ihnen anschließen würden, Dorabella teilte ihnen jedoch mit, sie müsse unbedingt etwas einkaufen. Ich wußte natürlich sofort, was die Uhr geschlagen hatte. Sie wollte nach Waldenburg gehen und in der Hoffnung, der junge Mann käme vorbei, vor dem Café sitzen bleiben. Selbstverständlich würde ich sie begleiten.

Wir schauten Edward und Kurt hinterher, verbummelten den Vormittag und machten uns nach dem Mittagessen auf den Weg ins Städtchen.

Dort kaufen wir ein paar Souvenirs und kamen schließlich zum Café. Der Kellner begrüßte uns wie immer lächelnd, und wir nahmen Platz – Dorabella erwartungsvoll, und ich amüsiert. Was stellte sie sich eigentlich vor, dachte ich spöttisch. Was sollte aus so einer Zufallsbekanntschaft entstehen?

Wir flachsten herum, aber Dorabella blieb wachsam. Sie hatte sich so gesetzt, daß sie die Straße überblicken konnte, und je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurde sie.

Ein Einspänner fuhr vorbei. Dann kamen ein paar Reiter – zwei junge Mädchen mit ihrem Reitlehrer. Ein Lieferwagen hielt an, und ein junger Mann, der mir irgendwie bekannt vorkam, stieg aus und gab im Café etwas ab.

Ich beobachtete, wie er einen großen Karton schleppte und im Laden verschwand. Nach einer Weile kam er mit einem Paket wieder heraus. Dann unterhielt sich der Kellner mit ihm.

Plötzlich wußte ich, wer es war.

»Schau mal, Dorabella«, sagte ich. »Siehst du, wer das ist? Elses Freund!«

Ihre Gedanken waren weit weg. Irritiert sah sie mich an.

»Was?«

»Der junge Mann, der eben etwas abgeliefert hat – das ist Elses Freund! Du weißt doch, wir haben ihn vom Fenster aus beobachtet. Ihr Liebhaber! Neulich haben wir gesehen, wie sie sich umarmten!«

»Ach ja ... ich erinnere mich.« Dorabella schien nicht sonderlich interessiert.

Er junge Mann stand jetzt am Lieferwagen und rief: »Bis morgen also – wir sehen uns dann.«

»Sie müssen befreundet sein«, sagte ich. »Er und der Kellner. Sie treffen sich morgen.«

»Und wenn schon«, erwiderte Dorabella verdrießlich.

»Ich find' es nur interessant, das ist alles.«

Dorabella nickte mißmutig auf die Straße.

»Wir können nicht den ganzen Nachmittag hier rumsitzen«, sagte ich.

Widerstrebend stimmte sie mir zu.

Aber ich wußte, daß sie furchtbar enttäuscht war und konnte sie, wie so oft, gut verstehen.

Wir schlenderten in Richtung der Straße, die zur Burg hinaufführte. Es wehte ein sanfter, kühler Wind. Die Luft war dunstig.

»Ich möchte noch nicht ins Haus«, sagte Dorabella. »Lieber würde ich noch ein bißchen spazierengehen.«

»Gut, gehen wir – aber nicht lang.«

»Im Wald«, sagte sie.

Wir bogen vom Weg ab und streiften an den Bäumen vorbei. Ich wollte sie trösten, wie immer, wenn sie enttäuscht war. Wie damals, als ihr Teddy eines seiner Schuhknopfaugen verloren hatte, oder als der Kopf einer ihrer Lieblingspuppen zerbrach. Ich war die einzige, die sie trösten konnte, denn ich verstand sie besser als alle anderen.

Gerne hätte ich sie richtig aufgemuntert. Es war doch ganz absurd, wollte ich ihr sagen. Wie konnte es so wichtig sein, jemanden wiederzusehen, mit dem sie nur ein paar Worte gewechselt hatte? Lächerlich. Aber so war Dorabella eben. Sie entwickelte starke Gefühle, die zwar nicht in die Tiefe gingen und auch nicht lange anhielten, aber für den jeweiligen Augenblick nahmen sie völlig von ihr Besitz.

Wir gingen nie tief in den Wald hinein, denn davor hatte man uns gewarnt. Die Straße, die von der Stadt zur Burg führte, ging mitten durch den Forst, und die Tannen ragten an den Straßenrändern hoch hinauf, standen aber nicht allzu dicht. Kurt hatte uns tiefer in den Wald geführt, uns jedoch geraten, immer so nah an der Straße zu bleiben, daß wir sie sehen könnten.

Schließlich setzten wir uns auf einen Baumstamm. Ich versuchte, von anderen Dingen zu reden, aber Dorabella war nicht bei der Sache. Ich kannte diese Stimmung. Zum Glück hielt sie nie lange an. Ihre Launen verflogen immer schnell. Diesmal war sie eben enttäuscht, so wenig Verehrer gefunden zu haben. Helmut war zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, als daß er ihr die Aufmerksamkeit hätte schenken können, die sie sich erhoffte. Und wahrscheinlich fand sie ihn auch nicht attraktiv genug. Aber dieser Dermot Tregarland aus Cornwall wäre genau der Richtige gewesen. Wie durch ein Wunder war er zum Schluß der Ferien aufgetaucht – und wieder verschwunden. Arme Dorabella!

Ich sagte, es wäre kühl geworden und wir sollten uns auf den Heimweg machen.

Dorabella war derselben Meinung, und so kehrten wir um. Plötzlich erschrak ich zutiefst. Wir hatten nicht bemerkt, wie dick der Nebel geworden war. Oft genug hatte man uns gewarnt, wie schnell er sich ausbreiten würde. Nichts sah mehr aus wie vorher.

»Los, schnell«, sagte ich. »Machen wir, daß wir hier rauskommen.««