Petra Ivanov

Escape

Petra Ivanov

Roman

Appenzeller Verlag

Für Jonathan

1

wasser

Ich bin 17 Jahre alt, verlobt und in schätzungsweise fünf Minuten tot. Über den Tod habe ich nie viel nachgedacht, jedenfalls nicht über meinen eigenen. Auch jetzt wundere ich mich vor allem darüber, dass ich die Sonne sehen kann. Vom Ufer aus gleicht der Zürichsee einer Wanne Cola ohne Kohlensäure. Irgendwie habe ich erwartet, dass es unter Wasser dunkel wäre. Aber das stimmt nicht. Helle Lichtstreifen greifen nach mir. Ich versuche, sie zu packen, obwohl ich weiss, dass ich keinen Halt finde.

Ich habe keine Angst. Noch nicht. Auch meine Wut ist weg, sie hat sich buchstäblich in Wasser aufgelöst. Die Leere ist mir fremd. Denn seit ich Nicole kenne, fühle ich mich wie ein Reifen mit zu viel Luft.

Eigentlich schon vorher.

Seit ich in der Schweiz lebe.

Aber Nicole hat alles ins Rollen gebracht.

Druck lasse ich beim Basketball spielen oder beim Zocken ab. Wenn ich mit 280 Sachen über die Landstrasse auf dem Bildschirm rase, führen meine Daumen automatisch die richtigen Bewegungen aus. Ich weiss genau, wie ich die Polizei abhängen muss. Meine Gegner streife ich beim Überholen, damit sie die Kontrolle über ihre Wagen verlieren und sich überschlagen. Chris begreift nicht, warum ich die Rennen so ernst nehme. Er glaubt, es gehe

mir ums Gewinnen. Okay, das ist auch nicht schlecht. Aber wirklich süchtig bin ich nach diesem matten Gefühl danach. Das ist der Moment, in dem ich mich nach hinten auf die Matratze fallen lasse, die Arme über dem Kopf, und die Gewissheit habe, alles richtig gemacht zu haben. Chris kann das gar nicht verstehen. Er ist zu locker. Er hat einfach keine Ansprüche an sich. Ärger meidet er, weil es ihm zu anstrengend ist, nicht, weil er etwas im Leben erreichen will. Was aber nicht heisst, dass er nie Mist baut. Schliesslich haben wir uns auf der Jugendanwaltschaft kennengelernt. Chris ist mein bester Freund.

Ich habe Ansprüche. Vor allem an mich. Und trotzdem habe ich gewaltigen Ärger. Ich ziehe Scheisse an wie ein Bildschirm Staub.

2

der anfang vom ende

«Nicole, das ist Leo, mein …», begann Julie.

«Leotrim!», unterbrach ich sie. Ich mochte es nicht, wenn meine Schwester unsere Namen abänderte, damit sie schweizerischer klangen. Wenn sie sich «Julie» statt «Gjyle» nennen wollte, war das ihre Sache. Aber ich bestand auf «Leotrim».

Julie seufzte theatralisch. «Leotrim», wiederholte sie, wobei sie die letzte Silbe besonders betonte. «Mein Bruder.»

Ich lehnte gegen einen Baum und versuchte, locker zu wirken. Eine beachtliche Leistung, wenn da plötzlich ein Mädchen in einem engen, verschwitzten T-Shirt vor einem steht. Die Abendsonne schien direkt auf ihre Brüste. Ich konnte nicht wegschauen. Sie waren nicht besonders gross, aber genau das gefiel mir. Grosse Brüste waren mir unheimlich. Ich stellte mir immer vor, wie ich zwischen ihnen erstickte. In diesem Punkt war Chris genau umgekehrt. Wir sprachen zwar nie darüber, aber als ich seinen Laptop neu aufsetzte, fand ich einen Ordner mit Pornobildern. Die Frauen darauf wären fast vornüber gekippt. Ich war mir sicher, dass die meisten Busen nicht echt waren. Aber so etwas ist Chris egal.

Als es mir endlich gelang, meinen Blick von Nicoles Brüsten zu lösen, blieb er am BH-Träger hängen, der unter ihrem T-Shirt hervorgerutscht war. Rasch sah ich auf die

Uhr. Zum Glück rappte in diesem Moment mein Handy. Auf Chris war immer Verlass. Für so was hatte er einen sechsten Sinn.

Ich verabredete mich mit ihm in der Stadt und lief auf die Bushaltestelle zu. Mein Vater hatte mich hergeschickt, um Julie und ihre Kollegin nach Hause zu begleiten. Sie waren für einen Schulvortrag ins Tösstal gefahren, wo sie eine Recyclingfirma besuchten. Als Julies grosser Bruder war es meine Aufgabe, sie zu beschützen.

«Wir hätten auch ohne ihn den Bus nehmen können», hörte ich Nicole flüstern.

Ich rammte die Fäuste in meine Jeanstaschen. Dauernd mussten wir uns rechtfertigen. Julie störte das nicht. Geduldig erklärte sie, warum Vater sie nicht unbegleitet ins Tösstal fahren liess. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Nicole. Irgendetwas an ihr war anders als an den Mädchen, die ich kannte. Jetzt, wo sie die Arme vor der Brust verschränkte, nahm ich endlich ihr Gesicht wahr. Ihre Nase war schmal und lang, wie alles an ihr. Fast alles. Ich verdrängte den Gedanken an ihre Brüste. Das blonde Haar hatte sie mit einer Art Gummi zusammengebunden, so dass man ihren Hals besser sah. Auch dieser war schmal und lang. Ich stellte mir vor, wie sich die Haut anfühlte, und mein Herz begann zu rasen.

Julie erzählte von der Recyclingfirma, doch ich hörte nur halb zu. Mir war heiss. Im Bus setzte ich mich ans Fenster und versuchte, an etwas anderes zu denken. Ich rief mir die Hausaufgaben in Erinnerung, die ich auf morgen erledigen musste, aber mein Herzschlag verlangsamte sich nicht. Ein BMW 4er Cabrio überholte den Bus, und plötzlich wusste ich, woran mich Nicole erinnerte. An einen Jaguar. Nicht irgendeinen, sondern einen XJ. Ein XJ hat einfach Klasse. Und absolut geile Leichtmetallfelgen.

Genau da hätte ich es merken müssen.

Ich kannte keinen einzigen Albaner, der einen Jaguar fuhr.

«Leotrim», hörte ich Mutters Stimme. «Vater ist da.»

Rasch schaltete ich auf eine Nachrichtensendung um. Julie lächelte zaghaft. Ihre Augen waren rot. Aus der Küche roch es nach gebratenem Fleisch. Obwohl ich seit dem Mittag nichts gegessen hatte, meldete sich mein Hunger nicht. Immer wieder durchlebte ich die Szene am Bahnhof.

Nachdem wir in Zürich angekommen waren, war ich auf den Treffpunkt zugesteuert, wo mir Chris eine CD fürs Midnight Basketball geben wollte. Ich hätte Julie und Nicole zuerst nach Hause bringen können, doch Chris wartete schon über eine halbe Stunde. Seit einem Jahr war ich Basketball-Coach im Sihlfeld, in letzter Zeit lief es echt gut. Einige neue Spieler hatten sich uns angeschlossen, weil der Sound besser war als in den anderen Stadtquartieren. Chris verstand was von Musik, auch wenn er nicht begriff, warum jemand dazu dribbeln wollte.

«Meine Tasche!», hatte Julie plötzlich geschrien. Sie ruderte mit den Armen, stolperte und fiel hin. Hinter ihr rannte ein Typ davon, Julies Tasche in der Hand. Ich stürmte hinterher. Ich hatte den Dieb schon fast eingeholt, als er sich mitten in den Feierabendverkehr stürzte. Dass die Ampel auf Rot stand, kümmerte ihn nicht. Ohne zu zögern, folgte ich ihm. Auf einmal hörte ich Bremsen kreischen und stürmisches Läuten. Ich prallte gegen die Seite eines Trams und musste die Beschimpfungen des Fahrers über mich ergehen lassen. Der Dieb verschwand in der Bahnhofshalle. Das alles wäre ja noch nicht so schlimm gewesen. Doch als ich aufsah, starrte ich mitten in das entsetzte Gesicht von Nicole.

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie mir gefolgt war. Sie schien nicht einmal ausser Atem zu sein. Ich kam mir vor wie der grösste Idiot.

Julie riss mich aus den unangenehmen Erinnerungen. «Glaubst du, sie finden den Dieb?»

Manchmal ist sie echt naiv. Ich zuckte mit den Schultern und legte die Füsse auf den Tisch.

«Alle meine Unterlagen sind in der Tasche», jammerte Julie. «Für den Vortrag.»

Ich kannte keinen Menschen, ausser meiner Schwester, der verlorenem Schulmaterial nachtrauerte. Dabei weiss sie vermutlich auswendig, was in den Unterlagen steht.

Mit einem schweren Seufzer kehrte sie in die Küche zurück. Kurz darauf hörte ich Vaters Schritte auf der Treppe. Ich stählte mich innerlich gegen die Standpauke, die mir bevorstand, weil ich nicht gut genug auf Julie aufgepasst hatte.

Die Haustür ging auf, und ich hörte, wie Mutter auf Deutsch «Kommen Sie» sagte. Vater hatte einen Gast mitgebracht. Vor Fremden würde er mir nicht die Kappe waschen.

«Ich muss gleich wieder gehen», antwortete eine bekannte Stimme.

Mit 280 Sachen über eine Rennstrecke zu rasen, ist einfach geil. Taucht aber ein Hindernis auf, hast du fast keine Chance. Deine Augen sehen es, deine Daumen reagieren, doch du kannst meistens nicht mehr ausweichen.

Als Mutter die Wohnzimmertür aufstiess, biss ich die Zähne zusammen und wartete auf den Knall.

Nicole hatte geduscht. Sie sah nicht mehr verschwitzt aus, sondern wie poliert. Aus Angst, mein Blick könnte wieder an ihrem Busen festkleben, schaute ich weg. Der Nachrichtensprecher im Fernseher bewegte die Lippen, doch ich verstand kein Wort. Julie brachte Getränke und verschwand wieder in der Küche. Mein Herz klopfte wie ein defekter Auspuff. Ich war mir sicher, dass Nicole es hören konnte.

«Was schaust du?», fragte sie.

Konnte sie Gedanken lesen? Meine Ohren glühten, bis mir klar wurde, dass sie auf den Fernseher deutete.

«Wahlen», murmelte ich.

«Wo?»

Eigentlich bin ich nicht schwer von Begriff, aber ich glaube, in dem Moment hätte ich nicht einmal eins und eins zusammenzählen können. Ich riskierte einen Blick zur Seite und sah, wie Nicole Stirne runzelnd den Nachrichtensprecher musterte. Plötzlich verstand ich.

«In Kosova.»

«Seid ihr … Shipis?», stiess sie hervor.

Die Art, wie sie es sagte, jagte meinen Puls noch weiter in die Höhe. Es klang wie ein Schimpfwort. Genau so gut hätte sie fragen können, ob wir Messerstecher seien.

Eigentlich bin ich ziemlich schlagfertig. Doch bis ich auf Deutsch die richtigen Worte fand, war es zu spät. Julie rief uns zum Essen. Natürlich war auch für Nicole gedeckt. Das gehörte sich einfach. Ich sah ihr an, dass sie nicht mitessen wollte, aber gegen Julie und Mutter hatte sie keine Chance, auch nicht, als sie sagte, sie habe keinen Hunger.

Kerzengerade setzte sie sich auf die Stuhlkante. Ein Jaguar mit laufendem Motor. Damit sie gleich losfahren konnte, wenn die Ampel auf Grün wechselte. Vermutlich fürchtete sie, der Stuhl sei schmutzig. Ich fragte mich, wie Julie sie dazu gebracht hatte, mit ihr in die Recyclingfirma zu gehen.

«Wie war die Führung?», fragte Vater.

Vaters Deutsch ist perfekt. Er weigerte sich, Schweizerdeutsch zu lernen, weil er lieber eine Sprache gut spricht als zwei Sprachen schlecht. Zu Hause war er Lehrer gewesen. Das merkt man.

Ich beschloss, die Sache mit dem Dieb hinter mich zu bringen.

Schweigend hörte Vater zu. Als ich die Geschichte zu Ende erzählt hatte, herrschte Stille.

«Wir haben Anzeige erstattet», fügte ich hinzu.

«Bei der Polizei?», fragte er.

«Ja.»

Vater mag Bullen nicht. Das war schon zu Hause so. Lange habe ich das nicht verstanden. Es passte einfach nicht zu ihm. Ordnung ist ihm wichtig. Wenn wir gegen die Regeln verstossen, greift er sofort durch. Erst als Mutter uns erklärt hatte, wie die Spezialpolizei in Kosova die Bevölkerung terrorisiert hatte – zumindest uns Albaner –, war mir ein Licht aufgegangen. Als ich klein war, wurde Vater mitten in der Nacht verhaftet. Fäuste polterten gegen die Tür, mehrere Polizisten stürmten ins Haus. Ich roch Rauch, hörte meine Mutter weinen. Zuerst dachte ich, unser Haus stehe in Flammen. Aber es war nur Vaters Wagen, der brannte. Später erfuhr ich, dass die Polizei ihn angezündet hatte.

Mehrere Wochen wussten wir nicht, was mit Vater passiert war. Eines Morgens stand er vor der Tür. Seltsam war, dass er sie nicht sofort öffnete. Ich beobachtete ihn vom Hühnerstall aus. Er griff zweimal nach der Türklinke, zog die Hand aber jedes Mal wieder zurück. Erst beim dritten Versuch stiess er die Tür auf. Schwerfällig trat er über die Schwelle, als koste es ihn Überwindung. Er hat nie darüber gesprochen, was er erlebt hatte, aber sein Körper war mit blauen Flecken übersät. Jahre später begriff ich, dass er geschlagen worden war. Die Vorstellung, jemand könnte Vater schlagen, war so ungeheuerlich, dass ich immer nach anderen Erklärungen gesucht hatte.

Langsam nickte Vater. Plötzlich hatte ich einen Bärenhunger. Mutter füllte meinen Teller mit Reis und Fleisch, Julie begann, vom Recyclingbetrieb zu erzählen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Nicole. Dafür, dass sie keinen Hunger hatte, verschlang sie eine ganze Menge.

Nach dem Essen verschwand Nicole mit Julie im Zimmer. Ich holte meine Matheaufgaben hervor und setzte mich zu Vater ins Wohnzimmer. Mutter brachte uns Kaffee und kümmerte sich um den Abwasch. Mathe macht mir keine Mühe. Mir gefällt es, dass Zahlen in jeder Sprache gleich funktionieren. Seit ich rechnen kann, habe ich an diesem Tisch Matheaufgaben gelöst und dabei dem Rascheln von Vaters Zeitung gelauscht.

An diesem Abend ergaben die Zahlen jedoch keinen Sinn. Kaum nahm ich einen Anlauf, eine Aufgabe zu lösen, soff mein Motor ab. Aus Julies Zimmer hörte ich Gekicher und Geplapper. Worüber quatschen Mädchen die ganze Zeit? Keine Sekunde war es still. Unruhig rutschte ich auf dem Sofa hin und her. Nicht einmal Vaters strenger Blick half mir, mich zu konzentrieren.

Als Julies Tür endlich aufging, hatte ich erst die Hälfte der Aufgaben gelöst. Während Julie Nicole mit einer Salve von Küsschen eindeckte, sah Vater von seiner Zeitung auf.

Nein!

Ich beugte mich tief übers Mathebuch.

«Leotrim, bitte begleite unseren Gast nach Hause», befahl Vater auf Albanisch.

Genau das hatte ich befürchtet. Widerwillig stand ich auf.

Nicole verabschiedete sich von meinen Eltern und verliess die Wohnung. Ich schlich ihr nach wie ein unfreiwilliger Schatten.

Draussen blieb sie stehen. «Folgst du mir?»

«Ich bringe dich nach Hause.»

«Was? Ich finde den Weg alleine.»

Ich wusste nicht einmal, wo sie wohnte. Vermutlich irgendwo am Zürichberg, wo die Villen der Bonzen standen. Keine Ahnung. Aber warum war sie dann in Julies Klasse?

«Ich brauche keine Begleitung!»

Halt endlich die Klappe, dachte ich.

«Leo!»

«Leotrim», zischte ich.

«Leotrim», wiederholte sie schnöde, «ich will nicht, dass du mich nach Hause bringst.»

Glaubte sie etwa, ich hätte Bock darauf, Babysitter zu spielen?

«Du solltest nicht alleine unterwegs sein», presste ich hervor.

«Wie bitte?»

Jetzt hatte sie wieder diesen Blick drauf. Sie hob ihr Kinn so hoch, dass ich nur noch ihre Nasenlöcher sah. Eingebildete Kuh.

«Ich brauche niemanden, der mich beschützt!», meinte sie. «Ich komme ganz gut alleine zurecht.»

«Mann, du hast gesehen, was Gjyle heute passiert ist!»

«Du warst ihr keine grosse Hilfe.»

Ich fluchte leise. Diese Zicke konnte mich mal. Aber sie setzte noch einen drauf.

«Du wärst fast vom Tram überfahren worden», spottete sie.

Ich ballte die Hände zu Fäusten und zählte langsam bis zehn. Meine Wut verschwand so zwar nicht, aber ich machte wenigstens nichts, was ich später bereute.

Nicole hingegen hatte keine Skrupel. «Wir sind hier in der Schweiz, nicht im Balkan», sagte sie mit so viel Verachtung, dass ich zusammenzuckte. «Bei uns haben Frauen Rechte. Wenn dir das nicht passt, geh dorthin zurück, wo du hingehörst.»

Dann lief sie davon.

Die Gelegenheit, mich zu rächen, bot sich bereits am nächsten Abend. Ich hatte einen beschissenen Tag in der Berufsschule gehabt. Nicoles Spruch verfolgte mich, ich war ziemlich dünnhäutig. Als sich der Deutschlehrer über meinen Aufsatz beschwerte, vergass ich, bis zehn zu zählen. Was glaubte er, warum ich eine Informatiklehre machte? Wohl kaum, weil mir Deutsch besonders lag. Leider dachte ich es nicht nur, sondern sagte es laut. Daraufhin drohte er, sich mit meinem Lehrmeister in Verbindung zu setzen, wenn ich meine Worte in Zukunft nicht vorsichtiger wählte.

Zu Hause schleuderte ich meine Schulsachen ins Zimmer und setzte mich an meinen Laptop. Ich hatte Chris versprochen, ihm eine CD mit albanischen Songs zusammenzustellen. Chris war der einzige Schweizer, den ich kannte, der albanische Musik hörte. Eigentlich war er gar kein richtiger Schweizer. Sein Vater war Indianer, oder zumindest Halbindianer. Bis ich Chris kennenlernte, wusste ich gar nicht, dass es heute noch Indianer gibt. Sie trugen keinen Federschmuck, sondern ganz normale Klamotten. Seine Haut war auch nicht rot, sondern hellbraun. Aber sein Haar war schwarz wie gebrauchtes Motorenöl, manchmal flocht er es zu einem richtigen Zopf. Er sprach sogar irgendso eine Indianersprache, die klang, als sei er erkältet.

Ich hatte bereits die Hälfte der Songs heruntergeladen, als es an der Tür klingelte. Mutter öffnete. Kaum hörte ich Nicoles Stimme, stand ich unter Strom. Kurz darauf trat sie ins Wohnzimmer. Sie musste mich nur ansehen, schon fühlte ich mich als Versager. Sie stand nicht einmal so wie normale Mädchen. Viel zu gerade, als hätte sie einen Ölmessstab verschluckt.

Mutter forderte mich auf, mich um Nicole zu kümmern, bis Julie käme. Widerwillig holte ich aus der Küche ein Glas Cola. Vermutlich trank sie nur Cola light oder zero, aber das war mir egal.

«Schöne Musik», sagte sie.

Na klar. Wer’s glaubt.

«Wie heisst der Sänger?», fuhr sie fort.

Mutter beobachtete mich von der Tür aus.

«Sinan Hoxha», presste ich hervor.

«CD?»

«YouTube.»

Endlich hielt sie die Klappe. Doch da mischte sich Mutter ein. Es brauchte viel, bis sie mich zurechtwies. Dafür war Vater zuständig. Aber jetzt erinnerte sie mich daran, dass Nicole ein Gast war, und bat mich, sie anständig zu

behandeln. Das ist das Problem, wenn man zu Hause eine andere Sprache spricht. Die Eltern können einem sagen, was man zu tun hat, obwohl Besuch da ist.

Ich drehte den Laptop, damit Nicole den Bildschirm sehen konnte, und erklärte, dass ich eine CD zusammenstellte. Plötzlich kam mir eine Idee. Wenn sie mich schon für einen Idioten hielt, könnte ich die Show genau so gut durchziehen.

«Irgendetwas klappt mit dieser Datei nicht», jammerte ich wie ein Schwachkopf. «Verstehst du etwas von Computern?»

Sie zuckte mit den Schultern.

Ich schob ihr die Maus hin.

«In welchem Laufwerk befindet sich die CD?», fragte sie unsicher.

«Keine Ahnung.»

Ich lehnte mich zurück und beobachtete, wie sie unbeholfen herumklickte. Offensichtlich hatte sie keinen blassen Schimmer. Wer sah jetzt wie ein Idiot aus?

Leider kam Julie, bevor sich Nicole komplett lächerlich machte. Sofort sprang Nicole auf.

«Und was ist mit der CD?», rief ich mit gespielter Verzweiflung, als sie auf Julies Zimmer zusteuerte.

«Welche CD?», fragte Julie.

«Nicole wollte mir helfen, eine CD zu brennen.»

Julie verdrehte die Augen. Ich hörte nicht, was sie sagte, aber bevor sie die Tür zustiess, sah ich Nicole mit offenem Mund dastehen.

3

schwimmversuche

Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, und plötzlich ist es dunkel im Wasser. Mit den Beinen strample ich, als hätte ich mich in meiner Bettdecke verfangen. Es gelingt mir sogar, die Wasseroberfläche mit einer Hand zu durchbrechen, aber schon zieht es mich wieder nach unten. Meine Turnschuhe wiegen fast so schwer wie die Erkenntnis, dass ich ein totaler Versager bin.

Ich kann nicht einmal schwimmen. Lächerlich, oder? Im Schwimmunterricht habe ich mich immer an die Trennseile geklammert. Das Peinlichste am Ganzen ist: «Trim» heisst auf Albanisch «mutig». Ich heisse also «Leo, der Mutige». Zum Glück war ich der einzige Albaner im Schwimmunterricht gewesen, so dass niemand die Ironie bemerkte. Früher war ich stolz auf meinen Namen gewesen, in letzter Zeit fügte ich das «trim» nur noch aus Gewohnheit an.

Nicht nur beim Schwimmen fehlt mir der Mut. Hätte ich mich für das eingesetzt, was mir wichtig ist, würde ich jetzt nicht wie ein Vollidiot im Wasser zappeln. Doch ich war zu feige. Wenn mir etwas nicht passte, brummte ich nur vor mich hin, machte aber schliesslich, was von mir verlangt wurde. Manchmal gibt es jedoch Situationen, in denen man es keinem recht machen kann. Wenn man dann nicht auf sich selbst hört, läuft es schief.

So rasch, wie die Sonne verschwunden ist, kommt sie wieder hinter der Wolke hervor. Ich sehe, dass ich gar nicht so tief unter Wasser bin, wie ich dachte. Einen kurzen Moment stelle ich mir vor, ich könnte die Augen schliessen und wieder an Land erwachen, so wie im Game «Need for Speed». Mit meiner Karre bin ich schon oft ins Wasser gerast, in der virtuellen Welt ist das überhaupt kein Problem. Nach dem Reboot steht der Wagen einfach wieder auf der Strasse.

Und dann? Hätte ich nun den Mut, ehrlich zu sein? Oder würde ich weiterhin das tun, was von mir verlangt wurde? In der Schule haben sie uns immer gesagt, ein Game hätte mit der realen Welt wenig zu tun. Das sehe ich gar nicht so. In beiden Welten geht es nur darum, möglichst viele Credits zu sammeln, um weiterzukommen. Dazu musst du Schwierigkeiten überwinden, Geschicklichkeit beweisen und Feinde ausschalten.

Meinem Gegner ist das soeben gelungen. Mir bleiben noch etwa drei Minuten, bis ich das Bewusstsein verliere. Wenigstens das habe ich im Schwimmunterricht gelernt.

4

midnight basketball

Als Coach gehörten auch die Vorbereitungen fürs Midnight Basketball zu meinen Aufgaben. Jeden Samstagabend schloss ich die Turnhalle im Sihlfeld auf, setzte mit den andern Leitern die Musikanlage in Betrieb, reihte Bänke auf und holte Bälle aus dem Geräteraum. Die Arbeit machte mir Spass. Meist konnten wir nicht widerstehen und warfen bereits einige Körbe, bevor es losging. Die leere Turnhalle war wie ein Versprechen. Die Basketbälle lagen erwartungsvoll an der Seitenlinie, der Geruch nach abgestandenem Schweiss erinnerte an hitzige Zweikämpfe.

An diesem Abend nahm ich keinen Ball in die Hand. Ich machte mir auch keine Gedanken darüber, wie ich die Teams einteilen würde, obwohl mich das noch vor Kurzem ziemlich beschäftigt hatte. Einige Typen hatten Sheila beleidigt, ein Mädchen aus der neunten Klasse. Daraufhin schwor ihr Bruder Rache. Zwar kam er nie ins Midnight, aber sein bester Freund Darko machte regelmässig mit. Bei jeder Gelegenheit provozierte er Jamal und Steve. Aber die hatten natürlich auch ihre Freunde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die ganze Sache hochging. Deshalb war es wichtig, wer mit wem zusammen spielte.

Coach zu sein war nicht einfach. Aber daran dachte ich jetzt nicht.

Denn Julie hatte Nicole mitgebracht.

Sie trug nicht nur ein enges T-Shirt, sondern erst noch eines ohne Ärmel. Ich begann schon zu schwitzen, bevor ich mich überhaupt bewegte. Auch die andern Coaches starrten immer in ihre Richtung. Nur Chris, der die Musikanlage untersuchte, liess sie kalt. Zumindest tat er so.

Ich fragte mich, warum Nicole Trainerhosen trug. Hatte sie etwa vor mitzuspielen? Obwohl im Midnight eigentlich der Sport im Mittelpunkt stand, schauten die meisten Mädchen nur zu, vermutlich, um ihre Fingernägel zu schonen. Manchmal ging mir das Gekicher an der Seitenlinie ganz schön auf die Nerven.

Um halb elf war die Halle voll. Ich teilte Darko und Jamal ins gleiche Team ein und hoffte, dass ihnen ein gutes Zusammenspiel wichtiger sei, als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Chris drehte die Lautstärke auf, bis der Beat die Aufschläge der Bälle übertönte. Der Sound war so geil, dass ich Nicole für kurze Zeit vergass.

Bis ich sie spielen sah.

Sie glitt zwischen den Jungs hindurch wie ein Raubtier. Ein Jaguar eben. Den Ball führte sie eng am Körper, damit ihn ihr niemand wegschnappen konnte. Ihr Ballgefühl war so gut, dass sie nicht einmal nach unten zu sehen brauchte. Vor dem Korb gab sie Gas und sprang in die Höhe, als hätte jemand an einem Controller «jump» gedrückt. Offenbar traf sie auch, denn ich hörte begeisterte Rufe. Ich sah den Wurf nicht, denn als sie sich streckte, rutschte ihr T-Shirt nach oben.

Neben mir hörte ich einen leisen Pfiff. Steve grinste wie eine betrunkene Comicfigur. Die Wut, die in mir hochkam, überraschte mich selbst. Hätte sich Darko nicht genau in diesem Moment bedrohlich vor Jamal aufgebaut, hätte ich Steve gepackt, Coach hin oder her.

Ich stürzte mich zwischen Jamal und Darko, der mehr als einen Kopf grösser ist als ich. Beruhigend redete ich auf die beiden ein. Die Worte galten eher mir selbst, doch

Darko liess seine Faust sinken. Er folgte mir in die Garderobe, wo ich versuchte, zwischen ihm und Jamal zu vermitteln. Wir einigten uns darauf, dass in der Turnhalle Waffenstillstand herrschte.

Als ich in die Halle zurückkehrte, war Nicole vom Spielfeld verschwunden. Ich entdeckte sie neben einem Kaminfegerlehrling, mit dem sie sich bestens zu unterhalten schien.

Willst du einen Motor lahmlegen, so mischst du dem Benzin am besten Zucker bei. Der Motor wird zu stottern beginnen und dann widerstandslos verstummen. Das Auto wird garantiert nirgendwohin mehr fahren.

Genau das passierte mir.

Ich kannte den Kaminfeger nur flüchtig. Er war 1.90 Meter gross und besass einen Führerschein. Seine Wohnung musste er vermutlich seitwärts betreten, weil seine Schultern so breit waren. Zum Vergleich: Ich messe gerade mal 1.74 Meter und könnte mich durch einen Auspuff hindurchquetschen, wenn es nötig wäre. Ich bin zwar sportlich; aber egal, wie hart ich trainiere, breiter werde ich nicht.

Nicoles Gesicht glühte. Hoffentlich vom Basketball und nicht wegen des Kaminfegers, obwohl mir das eigentlich egal sein konnte. War es aber nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass sie ganz normal mit dem Kaminfeger sprach. Mit normal meine ich, dass sie dabei nicht das Kinn in die Höhe reckte wie eine arrogante Zicke. Mit mir sprach sie nie so.

«Ich will nach Hause», sagte Julie neben mir.

«Nach Hause?» Ich sah auf die Uhr. «Es ist erst halb zwölf.»

«Darf ich alleine gehen?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Bitte.» Julies Unterlippe begann zu zittern.

«Julie? Was hast du denn?» Auf dem Weg in die Turnhalle war sie fast hüpfend neben mir hergegangen. Pausenlos

hatte sie alles Mögliche geplappert. Traurig erlebte ich sie so selten, dass es mir jetzt richtig einfuhr.

«Nichts, ich will einfach gehen.»

«Ich muss bis Mitternacht bleiben, das weisst du.»

«Kannst du nicht eine Ausnahme machen?»

Könnte ich schon, aber dann sähe es aus, als würde ich mich vor dem Aufräumen drücken. Bevor ich sie fragen konnte, ob ihr jemand etwas angetan hatte, rannte sie davon. Zum Glück wusste ich, dass sie keinen Blödsinn machen würde, wie etwa alleine nach Hause zu gehen. Auf Julie konnte man sich verlassen. Ob ich Nicole bitten sollte, nach ihr zu sehen?

Sie quatschte immer noch mit dem Kaminfeger. Ich knallte einen Ball gegen die Wand.

Die letzte halbe Stunde kroch im ersten Gang vorbei. Als Chris endlich die Musik ausschaltete, fegte ich die verbliebenen Spieler vom Spielfeld. Julie tauchte wieder auf und begann, Bälle einzusammeln. Auch Nicole half mit, doch meine Schwester wich ihr aus.

Vor der Halle verabschiedete ich mich von den anderen Coaches.

«Also, dann mach ich mich auch auf den Weg», sagte Nicole.

«Alleine?» Wo war der Kaminfeger, wenn man ihn brauchte?

«Klar.»

«Ich begleite dich.»

Der erwartete Protest blieb aus. Nicole interessierte sich mehr für Julie. Offensichtlich wusste sie auch nicht, was mit meiner Schwester los war. Ob sie überhaupt noch Freundinnen waren? Manchmal änderte sich das über Nacht. Aus Mädchen wurde ich einfach nicht schlau.

Ich hatte keine Ahnung, wo Nicole wohnte. Eigentlich wäre es logischer, zuerst Julie nach Hause zu bringen, aber ich brachte den Mund nicht auf.

Zu meiner Überraschung ging Nicole in Richtung

Hardbrücke. Als sie zehn Minuten später vor einer Bruchbude stehen blieb, glaubte ich, sie wolle mich verarschen. Aber sie schloss die Tür auf, murmelte etwas, das wie «Tschüss» klang, und verschwand im Haus.

Zu Hause schloss sich Julie sofort in ihrem Zimmer ein. Ich ging in die Küche. Mutter stellte Samstagnacht immer eine Mahlzeit bereit, weil ich vor dem Basketball nur wenig ass. Ich häufte Frikadellen und Kartoffeln auf meinen Teller und verschlang sie stehend.

Der Spalt unter Julies Tür war dunkel. Es sah nicht aus, als käme sie noch einmal heraus. Ich ass ihre Portion ebenfalls auf. Während ich mir die Zähne putzte, zappte ich durch das TV-Programm.

Normalerweise bin ich nach dem Basketball erledigt. Ich lösche das Licht und schlafe sofort ein. In jener Nacht lief ein ganz anderer Film ab, als ich im Bett war. Kaum schloss ich die Augen, sah ich Nicole: beim Dribbeln, beim Werfen, beim Rennen, beim Passen. Mein Herz schlug immer schneller. Ich sagte mir, dass das nichts mit Nicole zu tun habe. Ich hätte auf jedes Mädchen im engen Turnleibchen so reagiert. Nur stimmte das nicht. Nicht jedes Mädchen bewegte sich so sicher wie ein Junge und sah dabei so … so kurvig aus. Bei der Vorstellung wurde mir fast ein wenig schwindlig. Zum Glück lag ich schon.

Am nächsten Tag kündigte Mutter Besuch von meinem Onkel und seiner Familie an. Julie musste in der Küche helfen, ihre Laune war noch genau so mies wie am Vorabend. Ich verbrachte den ganzen Nachmittag im Internet, obwohl ich eigentlich einen Aufsatz hätte schreiben müssen. Mir kam einfach nichts zum Thema «Gesundheit am Arbeitsplatz» in den Sinn. Ich wollte mich im Netz inspirieren lassen, aber meine Finger tippten automatisch «Nicole Ritzi» ein.

Ich fand mehrere Fotos von ihr. Jedenfalls hatte das

Mädchen auf den Bildern das gleiche Gesicht. Aber sonst stimmte nichts. Diese Nicole wohnte in einem schicken Haus mit Seesicht. Sie sass auf einem Ledersofa, total gestylt. Auf einem anderen Bild war sie in einem Segelboot, klatschnass und braungebrannt. Ich kopierte das Foto mit schweissnassen Händen.

Unter dem Vorwand, hungrig zu sein, betrat ich die Küche. Julie schnitt Zwiebeln. Hatte sie deshalb Tränen in den Augen?

Während ich nach einem Teller Kekse griff, fragte ich beiläufig: «Sag mal, ist Nicole schon lange in deiner Klasse?»

Mutter stellte die Kekse weg.

«Julie?», bohrte ich.

Sie sah nicht auf. «Nein.»

Unglaublich, da hat man das grösste Plappermaul als Schwester, und will man einmal etwas wissen, macht sie ein Geheimnis draus.

«Sondern?», fragte ich.

«Sondern was?»

«Seit wann geht sie mit dir zur Schule?»

«Ist doch egal!»

«Nun sag schon!»

«Seit August, zufrieden?»

«Und vorher?»

«War sie auf dem Gymnasium.» Julie liess das Messer fallen und rannte aus der Küche.

Verdattert sah ich ihr nach. Mutter hob das Messer auf und drückte es mir in die Hand. Was sollte ich damit? Sie zeigte auf die Zwiebeln. Erwartete sie etwa, dass ich weitermachte? Was war heute nur mit allen los?

«Warum fragst du nach Nicole?», wollte Mutter wissen.

Ich zuckte mit den Schultern.

«Deine Mutter hat dich etwas gefragt!», sagte Vater plötzlich in der Tür.

«Ich bin nur neugierig», antwortete ich rasch.

Vater hatte wieder seinen Blick drauf. Genau wie ich war er nicht besonders gross. Über seiner Hose zeichnete sich sein Bauch immer deutlicher ab. Aber wenn er so dastand, ganz ruhig, und mich mit seinen Augen fixierte, fühlte ich mich wie festgenagelt.

Er befahl mir, Getränke aus dem Keller zu holen. Erleichtert legte ich das Messer hin und verschwand aus der Küche. Ich warf einen Blick zu Julies Tür. Sie war zu.

Ich blieb länger als nötig im Keller. Die Luft war angenehm kühl, und als ich die Flaschen bereitstellte, dachte ich daran, wie ich als Kind Fussballbilder hinter den Harassen versteckt hatte. Wie alle Jungs meiner Klasse hatte mich während der Weltmeisterschaft das Fussballfieber gepackt. Auf dem Pausenplatz wurden Paninibilder getauscht; wer keine hatte, war ein Niemand. Doch so sehr ich darum bettelte, Vater kaufte mir keine. Er war enttäuscht über meine schlechten Schulnoten und hielt eine Belohnung für unangemessen.

Eines Morgens wickelte ich mein Pausenbrot aus und entdeckte drei Panini-Päckchen. Mutter hat nie ein Wort darüber verloren, aber jedes Mal, wenn Fussballbilder erwähnt wurden, wandte sie sich ab.

Stimmen erfüllten das Treppenhaus, und ich packte rasch die Flaschen. Zwei Stufen aufs Mal nehmend erreichte ich unsere Wohnung gleichzeitig mit meinem Onkel und seiner Familie. Julie stand wieder in der Küche, im Wohnzimmer hatte Vater den Tisch ausgezogen, damit er Platz für zehn Personen bot. Während ich Stühle holte, wurde über die Wahlen zu Hause diskutiert.

Ich hörte nur halb zu. Zwar nickte ich an den richtigen Stellen, doch in Gedanken durchlebte ich den gestrigen Abend. Als es an der Tür klingelte, war ich gerade bei Nicoles Treffer angekommen.

«Nicole?», stiess Julie aus.

Ich reagierte wie ein Autofahrer, der das Gaspedal mit der Bremse verwechselt. Zuerst raste mein Herz einfach los, dann hörte es auf zu schlagen, dann donnerte es wieder davon.

«Entschuldige, ich wollte nicht stören», sagte Nicole. «Ich gehe gleich wieder. Ich wollte nur etwas vorbeibringen.»

Da ich angestrengt aus dem Fenster starrte, sah ich nicht, was sie in den Händen hielt. Tuschelnd verschwanden Julie und Nicole im Zimmer.

Das Gespräch über die Wahlen war verstummt. Vater betrachtete mich schweigend.

«Leotrim! Darf ich eine Runde Autorennen fahren?», fragte mein achtjähriger Cousin.

«Klar!», antwortete ich befreit. Zusammen gingen wir in mein Zimmer.

Viel zu schnell stand das Essen auf dem Tisch. Julie kam Arm in Arm mit Nicole aus dem Zimmer, als wären sie immer beste Freundinnen gewesen. Unvorstellbar, dass meine Schwester noch vor einer halben Stunde dreingeschaut hatte, als passten ihr ihre Lieblingsklamotten nicht mehr.

Natürlich war auch für Nicole gedeckt. Diesmal protestierte sie nicht. Sie wirkte entspannter als beim letzten Essen. Ihr blondes Haar trug sie offen, so dass es ihre Schultern berührte. Was hätte ich dafür gegeben, mit einer dieser Haarsträhnen zu tauschen! Das Bild von ihr auf dem Segelboot tauchte vor mir auf: ihre gebräunte Haut, die in der Sonne trocknete, ihr flacher Bauch, auf dem ihre Hand lag. Ein Bein hatte sie angewinkelt, das andere ausgestreckt. Ich schob einen Berg Kartoffelstock in den Mund, um nicht laut zu stöhnen.

«Ich zweifle nicht daran, dass Gjyle die Prüfung bestehen wird», sagte Vater. «Sie ist eine hervorragende Schülerin.»

«Leotrim, machst du die Prüfung ein drittes Mal?», fragte mein Onkel.

Es passierte wieder: Zucker im Benzin. Bei jedem Familientreffen war die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium

Thema. Der Kartoffelstock schmeckte auf einmal wie Pappe. Ich schüttelte den Kopf.

«Warum nicht? Willst du nicht, dass aus dir etwas wird?»

«Leotrim macht eine Lehre, das ist gut», sagte Mutter auf Deutsch.

Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als einfach «Escape» zu drücken und das Programm vorzeitig zu beenden.

«Das Gymnasium ist besser», beharrte mein Onkel.

Na toll. Aber als sein Skype keinen Ton von sich gab, wer hat ihm die Audiotreiber aktualisiert? Und wer half ihm, als er vom Explorer auf Firefox umstieg und auf dem Desktop keine Verknüpfung mit der Website herstellen konnte? Sogar seine Software-Altlasten hatte ich ihm von der Festplatte geschafft.

«Hauptsache, er macht keine Dummheiten», sagte Vater bedeutungsvoll.

Bitte nicht, flehte ich innerlich. Nicht jetzt, nicht vor Nicole.

Als ich zum zweiten Mal durch die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium gefallen war, fühlte ich mich so Scheisse, dass ich Vaters Taxi klaute. Ich weiss nicht, was ich mir dabei dachte. In mir kochte es, ich wollte einfach weg. Ich hatte genug vom ganzen Terror. Monatelang hatte ich gebüffelt, nur um durchzurasseln. Dass es knapp gewesen war, konnte mir egal sein. Entweder man war drin oder eben nicht.

Meine Spritztour endete auf dem Polizeiposten.

«Informatiker-Lehrstellen sind total begehrt», wehrte sich Julie für mich. «Und Leo hatte es viel schwerer als ein Schweizer, eine zu finden. Obwohl er beim Test als Zweitbester abschnitt!»

Ich wagte es, den Kopf zu heben und sah, dass Nicoles Blick auf mich gerichtet war. Bevor jemand Julie widersprechen konnte, zeigte Nicole auf die Teigtaschen.

«Was ist das?», fragte sie.

«Wir nennen sie Manti», erklärte Mutter. «Sie sind mit Hackfleisch gefüllt. Gjyle hat sie gemacht. Schmecken sie Ihnen?»

In meinem Kopf herrschte Chaos. Hatte Nicole mich absichtlich gerettet? Oder fragte sie zufällig gerade in diesem Moment nach den Manti?

5

liebe

Hier unten klingt alles gedämpft. Vielleicht können Geräusche ebenfalls nicht schwimmen und meiden deshalb das Wasser. Das hätte ich auch tun sollen.

Genauso hätte ich damals merken müssen, was mit mir los war. Aber es machte überhaupt keinen Sinn. Wie kann man sich in jemanden verknallen, den man gar nicht mag? Zu meiner Entlastung muss ich sagen, dass ich in Sachen Liebe wenig Erfahrung hatte. Eigentlich gar keine. Nicht, dass mich Mädchen kalt liessen. Aber das ewige Gekicher hielt mich davon ab, mich ihnen zu nähern. Ich hatte immer das Gefühl, mein Hosenladen stehe offen oder ich hätte Ketchup im Gesicht.

Chris sagt, einzeln seien Mädchen ganz in Ordnung. Aber sie sind ja nie alleine. Sogar aufs Klo gehen sie mindestens zu zweit. Keine Ahnung, warum. Julie kann ich nicht fragen, sie rollt nur die Augen.

Genau das tat Vater bei mir. Was er sah, gefiel ihm nicht.

Warum strample ich eigentlich noch? Schlimmer als das Leben kann der Tod nicht sein. Ich bin kein Emo, aber ich weiss, wann ich verloren habe.