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Unveränderte eBook-Ausgabe
Copyright © 2017 Seifert Verlag

1. Auflage (Hardcover) 2011

ISBN: 978-3-902924-49-0
ISBN des Hardcovers: 978-3-902406-77-4

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Als ich mich selbst zu lieben begann,
habe ich verstanden, dass ich immer und
bei jeder Gelegenheit,
zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin
und dass alles, was geschieht, richtig ist –
von da an konnte ich ruhig sein.
Heute weiß ich: Das nennt man Vertrauen.

Kapitel 1

Genau vor einem Jahr hatten wir unsere Siebensachen gepackt und die Heimat verlassen. Der riesige Container war zum Bersten voll mit unserem Hausrat. Ich hatte gerade noch ein Klavier besorgt und den letzten freien Platz damit belegt, bevor das stählerne Paket die Reise über Antwerpen zum Zielhafen nach Tanga in Tansania antrat. Unsere Fahrräder, die Kreissäge, Werkzeuge, kleinere Möbel, Betten, Matratzen und der übliche Hausrat, nicht zu vergessen 12 Flaschen steirischen Kürbiskernöls und meine Saxophone – mit all diesen Dingen und einer gehörigen Portion Enthusiasmus waren wir ausgezogen, um in der neuen Heimat ein neues Leben zu beginnen.

Es war während unserer Abenteuerreise zu Pferd durch Afrika gewesen2, irgendwo im sambischen Urwald, als Esther das erste Mal den Vorschlag zum Auswandern gemacht hatte. Für sie war es immer ein Herzenswunsch gewesen, einmal auf einem anderen Kontinent zu leben, und offensichtlich hatte sie ihre Entscheidung bereits gefällt. Sie war so fasziniert von dem Gedanken, dass sie immer wieder versuchte, mich zu beeinflussen, genauso wie sie mich letztendlich zu diesem 5000 Kilometer langen Ritt überredet hatte. Da alle bisherigen Ideen Esthers immer gut gewesen waren, hatte ich mich nach anfänglichem Zögern schließlich doch durchgerungen, mich damit auseinanderzusetzen. Für Esther lagen die Argumente klar auf der Hand. Als Schauspielerin und Sängerin hatte sie nach ihrem letzten Engagement in Berlin kein neues in Aussicht. Sie hatte genug davon, immer wieder Auditions zu besuchen, um über eine bestimmte Zeit an irgendeinem Ort Theater zu spielen, ohne Aussicht, diesen Kreislauf durchbrechen zu können. Sie war felsenfest davon überzeugt, diesen Schritt zu wagen, während ich hin und her überlegte und meine Entscheidung so lange hinauszögerte, bis wir Udo trafen …

Neun Monate waren wir bereits unterwegs gewesen, um den afrikanischen Kontinent von Südafrika bis Kenia im Sattel zu bereisen. Probleme mit aufdringlichen Menschenmassen und die Hitze hatten uns so zugesetzt, dass Esther mit den Nerven am Ende war und ich 20 Kilogramm an Körpergewicht verloren hatte. Aber auch unsere fantastischen Reittiere hatten nach den aufreibenden letzten Kilometern dringend Erholung nötig.
Mit letzter Kraft hatten wir uns nach Karatu geschleppt, einem kleinen Ort am Fuße des Ngorongoro-Kraters, nur noch 200 Kilometer von unserem Ziel entfernt.

Unsere Hoffnungen waren nicht enttäuscht worden. So wie der Reiseführer uns verraten hatte, begann ab hier das touristisch erschlossene Gebiet Tansanias. Safarihotels, die europäischem Standard entsprachen, wurden angepriesen, und wir hofften, auf einer dieser Lodges unterzukommen.

Gleich der erste Kontakt, den Esther herstellte, führte zu Udo, den Besitzer der Plantation-Lodge. Spontan lud uns dieser zu sich ein. Eine Woche verköstigten uns er und seine Frau Renate kostenlos in ihrer Nobelherberge. Welch ein Luxus! Sie kümmerten sich rührend um uns, obwohl die Hauptsaison bereits begonnen hatte und das Haus ausgebucht war. Die überschwängliche Gastfreundschaft war Balsam für unsere strapazierten Nerven, nachdem wir einige Tage zuvor, nur knapp 50 Kilometer entfernt, fast gesteinigt und in ein tansanisches Gefängnis gesteckt worden waren. Wir fühlten uns wie im siebten Himmel, berichteten über unsere Reise, aber auch über die Pläne, eventuell in Afrika sesshaft zu werden. Dass die Begegnung mit dem sympathischen Ehepaar der Grundstein für eine Freundschaft und schließlich der Beginn einer Nachbarschaft werden sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen.

Bevor wir am zweiten Tag im neuen Jahr mit unseren Pferden die letzte Etappe unseres Abenteuers in Angriff nahmen, sprach Udo eine Einladung aus: »Wenn ihr in Kenia seid, eure Reise zu Ende ist und noch Zeit bleibt, müsst ihr uns unbedingt besuchen und berichten. Ich organisiere für euch eine Safari in die Serengeti. Dann könnt ihr euch von den Strapazen eurer Reise so richtig erholen.«

»Das machen wir sicher, nochmals vielen Dank für alles«, hatte Esther geantwortet, angetan von der Herzlichkeit unserer Gastgeber, dann waren wir weitergezogen. Die letzten 200 Kilometer lagen vor uns. »Der Ritt des Jahrhunderts« – unter diesem Titel sollten später Medien über unsere außergewöhnliche Reise berichten, ging allmählich zu Ende. Das Ziel war zum Greifen nahe, und nach drei Wochen hatten wir es tatsächlich geschafft.

Es blieben noch weitere drei Wochen, bevor ich meinen Platz als Musiker im Orchestergraben in Wien wieder einnehmen musste. Genug Zeit, Udos Einladung wahrzunehmen und zu unseren reizenden Gastgebern nach Tansania zurückzukehren.

Es gab ein herzliches Wiedersehen mit dem smarten Lodgebesitzer und seiner Frau. Udo hatte nicht zu viel versprochen. Wie verabredet, spendierte er eine unvergessliche Fotosafari in die Serengeti.

Abends in der Lodge ließen wir unsere Eindrücke Revue passieren, und dann wurde bis in die frühen Morgenstunden diskutiert – über unseren Ritt, unsere Pläne und über Gott und die Welt.

Ursprünglich hatten wir vorgehabt, einen kleinen Tourismusbetrieb in Botswana zu eröffnen, irgendwo im fruchtbaren Norden, nahe den atemberaubenden Victoriafällen. Die Frage der Finanzierung war allerdings bei weitem nicht geklärt. Udo erkannte unsere Unschlüssigkeit und meinte beiläufig: »Warum versucht ihr es nicht hier in unserer Gegend. Der Tourismus boomt, vermutlich habe ich sogar etwas für euch!«

Bei unserem letzten Besuch hatten wir unsere Veränderungswünsche erwähnt, und so wie es schien, hatte Udo während unserer Abwesenheit darüber nachgedacht. Er erzählte uns von der Kifaru-Lodge, einem kleinen Hotelbetrieb nur zwei Kilometer entfernt, den er vor einigen Jahren noch selbst geleitet hatte. Nachdem er den Herbergsbetrieb aufgebaut, nachfolgende Pächter ihn jedoch wieder heruntergewirtschaftet hatten, waren die Besitzer derzeit auf der Suche nach geeigneten Nachfolgern.

»Ich weiß noch nichts Konkretes, aber da ich die Besitzer sehr gut kenne, könnte ich versuchen, einiges in Erfahrung zu bringen«, meinte er mit einem verschmitzten Lächeln.

Sofort begannen meine Augen zu leuchten, und der Mund wurde mir wässrig, allein bei dem Gedanken daran, Gäste kulinarisch verwöhnen zu dürfen – bislang war mir dieses Vergnügen nur im privaten Bereich vergönnt gewesen. Im Geiste kochte ich bereits leckere viergängige Menüs und verfasste abwechslungsreiche Speisekarten. »Wir könnten mit dem Geld, das wir durch die Lodge einnehmen, in Pferde und Ställe investieren«, begann ich großspurig zu planen und trug in meinen Gedanken schon die Chefkochmütze. Udo pflichtete mir bei: »Die Idee ist genial, großartig! In unserer Gegend gibt es so etwas nicht. Es wäre hier sicher ein neuer Impuls für den Safaritourismus.«

Esther war aufgrund der Vorkommnisse skeptisch. Warum auch sollten wir uns ausgerechnet in einer Gegend niederlassen, in der wir einige Wochen zuvor beinahe unser Leben verloren hätten. Aber Udo winkte ab, denn in Karatu sei alles anders: »Mit den Zuständen im Süden Tansanias haben wir hier nichts zu tun.«

Esther erbat sich Bedenkzeit. Mich jedoch hatte Udo mit seiner sprühenden, beinahe kindlichen Begeisterung sofort angesteckt.

Der 53-jährige, grauhaarige Lodgebetreiber war trotz seiner langjährigen Erfahrungen, die er gemeinsam mit seiner Frau Renate erst in Nigeria und dann in Tansania gemacht hatte, kein bisschen müde. Er erzählte munter über ihre Rückschläge, und wie sie es dann wieder geschafft hatten, schwere Zeiten zu meistern. Seit einigen Jahren aber waren die Schwierigkeiten überwunden, die Lodge warf Gewinn ab, und man hatte sich neue Ziele, wie die Errichtung einer eigenen Jagd, gesetzt. Udos und Renates Leben schien perfekt zu sein, geschäftlich wie privat.

Udos Optimismus verscheuchte in mir auch die letzten Bedenken bezüglich Auswanderung, und Esther fühlte sich dadurch bald ebenso in Hochstimmung versetzt. Plötzlich gab es doch einen neuen Anfang, wir konnten gemeinsam wieder Pläne schmieden, ein gemeinsames Ziel verfolgen. So lenkte sie schließlich ein. Die Weichen für ein neues Abenteuer waren gestellt.

»Ich mache euch einen Vorschlag …«, sagte Udo und fügte nach einer Gedankenpause hinzu: »Einer meiner Freunde ist gerade dabei, südlich von Daressalam ein Hotel zu errichten. Ich sage ihm, dass ihr kommt, und in der Zwischenzeit versuche ich, in Erfahrung zu bringen, was es mit der Kifaru-Lodge auf sich hat. Ein paar Tage müsst ihr euch allerdings gedulden, aber das wird euch nicht schwerfallen, denn dort findet ihr den wunderschönsten Strand der Welt vor.

Mit dem Bus reisten wir am nächsten Tag in das 1000 Kilometer entfernte Daressalam zu Udos Freund Wolfgang. Die Fahrt verging wie im Flug, diskutierten wir doch so intensiv über die Möglichkeiten, die uns plötzlich offenstanden, dass die zehn Stunden im Nu vorüber waren.

Auch diesmal hatte Udo nicht zu viel versprochen. Als wir auf Wolfgangs Anwesen eintrafen, lernten wir wieder eine neue Seite Tansanias kennen. Ein endloser, mit Palmen besetzter, blütenweißer Sandstrand breitete sich vor uns aus, und der Indische Ozean, der tiefblau den wolkenlosen, ungeheuren Himmel spiegelte, raubte uns fast den Atem.

Udos Freunde waren auch Wolfgangs Freunde, und so wurden wir liebenswürdig aufgenommen. Als seine Privatgäste genossen wir außerdem den Luxus, den schönsten Strand der Welt mit keiner Menschenseele teilen zu müssen.

Es vergingen drei ausgesprochen erholsame Tage, die wir dazu nutzten, ein Konzept zu erstellen, für den Fall, dass ein Treffen mit den Besitzern der Kifaru-Lodge zustande kommen würde. Dann riss uns ein Anruf Udos aus unserer Strandstimmung: »Kommando retour«, meldete er sich, »ich habe mit Dr. Platt, einem der Besitzer der Kifaru-Lodge gesprochen. Er würde euch gerne kennenlernen. Ich habe ein Treffen für morgen arrangiert.«

Tags darauf brachte Wolfgang uns zur Busstation, und wieder hieß es, 1000 Kilometer zurückzulegen, vorbei am mächtigen Kilimanjaro, nach Arusha und weiter nach Karatu. Am gleichen Abend saßen Dr. Platt, seine Frau Hilde, Ilse und Raimar, die Manager der angeschlossenen Kaffeefarm, und wir zusammen beim Dinner im Restaurant der Kifaru-Lodge. Udo selbst war nicht dabei, da er und Dr. Platt bzw. Hilde angeblich nicht im besten Einvernehmen standen.

Ein vorsichtiges Abtasten begann, bald aber kam man zum Kern der Sache. Der pensionierte Apotheker und promovierte Historiker im Fachgebiet Deutsch-Ostafrika war von der Begeisterung, die wir ausstrahlten, angetan. Ilse und Raimar, die Manager der Kaffeefarm, waren vorübergehend mit der Führung des gemütlichen Safarihotels betraut. Dr. Platt erwähnte, dass Raimar ihn darum gebeten hatte, ihn wieder von der Doppelbelastung zu entbinden, damit er sich intensiver um die Farm kümmern konnte, und Raimar selbst gab ihm eifrig recht.

Schließlich verkündete Dr. Platt, dass wir zu einem weiteren Treffen, zur Klärung von Detailfragen und zur Unterzeichnung eines Vorvertrages ins Norddeutsche Husum kommen sollten. Dabei würden wir auch seinen dänischen Partner Christian Jensen kennenlernen.

Um es mit des Doktors Familiennamen auszudrücken – wir waren platt. Wie einfach das alles war!

Gab es einen Haken an der Sache? Wir grübelten, hinterfragten, konnten aber nichts Negatives finden. Alles klang plausibel und ausgesprochen vielversprechend.

Als wir angekommen waren, war es bereits stockdunkel gewesen. Von der Lodge hatten wir daher kaum etwas gesehen. Umso gespannter waren wir auf den Rundgang, der am nächsten Morgen bei Tageslicht stattfinden sollte. Man hatte uns in der luxuriösen Honeymoon-Suite untergebracht, wo wir vor Aufregung nicht einschlafen konnten. Vielleicht lag es auch an der Höhe, denn wir befanden uns immerhin 1800 Meter über dem Meeresspiegel. Udo hatte schon im Vorfeld von der besonderen Lage geschwärmt, und er hatte betont, dass es wegen der Höhenlage keine Malaria gab.

Unsere Erwartungen wurden jedoch bei weitem übertroffen. Das Haupthaus diente ursprünglich als Gästehaus der Farm, wurde später aber, während Udos Zeit als Pächter und Teilhaber, zur Lodge umfunktioniert. Vier nette Doppelzimmer mit WC und Dusche, eine Lobby mit Bar und zwei voneinander getrennte Speiseräume im alten kolonialen Landhausstil befanden sich darin, außerdem Küche und Vorratskammer.

Mein Augenmerk richtete ich natürlich sofort auf die Küche und erkannte auch gleich, dass hier einige Modernisierungen vorgenommen werden mussten. Aber die Grundausstattung schien ganz okay zu sein. Von der Lobby aus gelangte man direkt auf die gemütliche Terrasse. Das Panorama, das sich mir dort bot, verschlug mir die Sprache. Ich stand in einem parkähnlichen, gepflegten Garten mit blühenden Sträuchern, farbenfrohen, exotischen Blumen, und der süßliche Duft, den die in malvenfarbener Blüte stehenden Jacarandabäume verströmten, stieg mir in die Nase. Bunte Vögel zwitscherten ihr Morgenlied. Ich schlenderte ein Stück über den weichen, taufeuchten Rasenteppich, dann schweifte mein Blick über die Kaffeesträucher ins Tal, und in weiter Ferne konnte ich die schneebedeckte Kuppe des Kilimanjaro erkennen. Esther und Dr. Platt befanden sich einige Schritte entfernt. Meine Frau und ich tauschten immer wieder Blicke und gaben einander ohne viel Worte zu verstehen, wie wundervoll es hier war. Hinter einigen Guavenbäumen und Bananenpflanzen, an denen unreife grüne Rispen hingen, versteckten sich der Swimmingpool und dahinter ein eingezäunter Tennisplatz.

Weiter ging es mit der Besichtigung der beiden Gäste­bungalows unweit des Haupthauses, in denen sich weitere fünf gepflegte Zimmer und die bereits erprobte Honeymoon-Suite befanden. In einem anderen Gebäude, das in einem etwas verwilderten, aber umso verträumteren Garten lag, waren die Unterkünfte der 20 Angestellten untergebracht. Aus einer der Türen trat gerade Elfrieda, die Hausdame der Lodge. Wir kannten sie schon vom Vorabend, da sie das Dinner serviert und in ihrem bunten, afrikanischen Wickelkleid dem Abend eine exotische Note verliehen hatte. Sie reichte uns die Hand, grüßte freundlich aber entschuldigte sich sofort wieder, da die Arbeit rief. Jenseits der Personalquartiere stießen wir auf Dr. Platts bescheidenes Sommerhäuschen, wie er zu sagen pflegte, das allerdings eher einer herrschaftlichen Villa glich und sich, im gleichen Landhausstil wie das Lodgegebäude erbaut, hervorragend in die exotische Umgebung einfügte. Nur ein, höchstens zwei Mal im Jahr bewohnte das Apothekerehepaar diesen feudalen Herrensitz mit grünem Wellblechdach. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Unmittelbar an der Rückseite des Hotelgeländes begann schon der Urwald, den man tunlichst nicht alleine betreten sollte, wie Dr. Platt uns warnte, da es hier von Büffeln und Elefanten nur so wimmelte.

Platt wusste, wovon er sprach. Vor einigen Jahren hatte ein Elefantenbulle einen Wachmann getötet, weil dieser ihm im Dunkeln zu nahe gekommen war. Auch Hyänen und Leoparden trieben sich seiner Erzählung nach regelmäßig auf dem Gelände herum. Wenn Platt mit seiner Schilderung Eindruck schinden wollte, dann hatte er ins Schwarze getroffen. Mir wurde ganz schwummelig bei dem Gedanken, dass dieses unergründliche Paradies bald schon unser Refugium, der Mittelpunkt unseres neuen Lebens, auf dem schwarzen Kontinent werden sollte. Und »bald« hieß: in genau drei Monaten. Diese Bedingung Dr. Platts mussten wir akzeptieren, da Mitte Juni die Hauptsaison begann und das Haus, nach Raimars Angaben, für diese Zeit bereits sehr gut gebucht war.

Bei unserem anschließenden Treffen mit Udo schwärmten wir in höchsten Tönen von dem, was wir gesehen hatten. Udo gratulierte, und wir stießen auf eine gute nachbarschaftliche Zusammenarbeit an. Esther und ich konnten es gar nicht fassen, wie freundlich uns alle hier begegneten. Es schien fast so, als hätte man nur auf uns gewartet – Udo und Renate mit ihrer überschwänglichen Gastfreundlichkeit, der sympathische Dr. Platt, der uns seine Lodge förmlich aufdrängte, sein Manager Raimar, der so froh war, endlich entlastet zu sein. Es mutete wie ein Wink des Schicksals an, und dieses winkte nicht nur mit dem Zaunpfahl, es wedelte gleich mit dem ganzen Zaun. Der neue Weg in eine gemeinsame Zukunft hatte einen Namen erhalten! Kifaru-Lodge.

Die Kifaru-Lodge befindet sich auf dem Gelände des Shangri-la Estates, einer Kaffeefarm, die zur Zeit der Deutschen Kolonialherrschaft im ehemaligen Gebiet Deutsch-Ostafrikas lag. Die nicht gerade ruhmreiche Geschichte der deutschen Kolonialherrschaft – damit unterscheidet sie sich kaum von der anderer Kolonialmächte – ist in unserem Bewusstsein kaum mehr, für manche vielleicht gar nicht vorhanden. Umso erstaunlicher ist es, wie sehr die Spuren bis heute – hundert Jahre danach – immer noch bestehen.

Die Geschichte Deutsch-Ostafrikas ist auch die Geschichte von Shangri-la und der Kifaru-Lodge.

In der Zeit von 1885 bis 1918 umfasste das Gebiet Deutsch-Ostafrika, in seiner größten Ausdehnung, die Länder Tanganjika (Tansania ohne Sansibar), Burundi und Ruanda. Es war mit rund 7,75 Millionen Einwohnern (davon 4.000 Deutsche, hauptsächlich Militärs) die bevölkerungsreichste Kolonie des Deutschen Reiches, und mit 995.000 qkm ungefähr doppelt so groß wie das Deutsche Reich. Währung war die Deutsch-Ostafrikanische Rupie. Der höchste Berg und gleichzeitig einzige aktive Vulkan Deutschlands war der 5.895 Meter hohe Kilimanjaro, der Kaiser-Wilhelm-Spitze genannt wurde. Von 1885–1890 befand sich der Verwaltungssitz in Bagamoyo, ab 1890 in Daressalam. Oberhaupt war 1885–1888 Kaiser Wilhelm I., 1888 Kaiser Friedrich III., der nach nur 99 Tagen Regentschaft an einem Krebsleiden starb, und Kaiser Wilhelm II., ein Verfechter der Deutschen Kolonialpolitik, bis zum Verlust der Kolonie 1918.

Im Zuge der allgemeinen Kolonisation durch die europäischen Großmächte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war auch das Deutsche Reich bemüht, Kolonialpolitik zu betreiben und seinen Einfluss außerhalb Europas zu vergrößern. Neben einigen anderen Schauplätzen geschah dies auch im Osten Afrikas.

Die treibende Kraft bei der Kolonialisierung Ost-Afrikas war der Pastorensohn Dr. Carl Peters, welcher in der von ihm gegründeten privaten »Gesellschaft für deutsche Kolonisation, DOAG,« von Kaiser Wilhelm I. die Aufgabe erhielt, Gebiete in Afrika in Besitz zu nehmen.

Häuptlinge oder Sultane unter Alkoholeinfluss dazu zu bewegen, ihre Kreuze unter die in Deutsch verfassten Schutzverträge zu setzen, war Peters Erfolgsrezept. Mit dieser Methode gelang es ihm, binnen kürzester Zeit große Territorien unter die Verwaltung der DOAG zu bringen. Die Regierung von Sansibar (Sultanat unter Britischem Einfluss) richtete eine Protestnote an Kaiser Wilhelm und verstärkte ihre Truppen auf dem Festland. Reichskanzler Bismarck entsandte, trotz großer Bedenken, daraufhin ein Marinegeschwader nach Sansibar und zwang den Sultan so zur Anerkennung der DOAG-Erwerbungen.

1891 wurde Peters zum Reichskommissar für das Gebiet am Kilimanjaro ernannt, wo er eine Schreckensherrschaft errichtete, die ihm sogar im entfernten Deutschland den Namen »Hänge-Peter« einbrachte. Er wurde angesichts gegen ihn erhobener Vorwürfe wegen seiner Brutalität 1897 unehrenhaft entlassen, später aber von Adolf Hitler rehabilitiert, der ihm rückwirkend eine Rente zubilligte.

Hans Ulrich Wehler3 schrieb über ihn: »Es gibt vielleicht kein vernichtenderes Urteil über die deutsche Kolonialbewegung bis 1945, als dass sie einen erfolgsarmen, gerichtsnotorisch kriminellen Psychopathen wie Peters als eine ihrer Leitfiguren verehrt.«

Obwohl nach dem 2. Weltkrieg viele Straßennamen umbenannt worden waren, kann man heute noch in Kiel, Lüneburg, Bad Hersfeld oder Ludwigsburg durch die Carl Peters Straße spazieren.

Auf Carl Peters folgte Hermann von Wissmann, der die Kaiserliche Schutztruppe Deutsch-Ostafrika gründete, um die Aufstände, die Peters Besitzansprüche hervorgerufen hatten, niederzuschlagen. Hartnäckigsten Widerstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft leisteten die Hehe (Wahehe), eine Ethnie Tansanias. Dem Offizier und Afrikaforscher Hermann von Wissmann gelang es, mit seiner Schutztruppe, bestehend aus Söldnern von Somali, Zulu und Sudanesen, die Hehe und indigene Gesellschaften des Kilimandscharo, u. a. die Chagga und Maasai, zu unterwerfen und den »Araber­aufstand«4 niederzuschlagen. Den Kopf des Hehe-Führers Mkwawa ließ Wissmann als Siegestrophäe nach Deutschland schicken. Eroberte Ortschaften ließ er plündern, wobei sich mehr als einmal afrikanische Söldner mit deutschen Seeleuten um die Beute stritten. Danach wurden die Dörfer und Städte in Brand gesteckt, die umliegenden Felder verwüstet. Damit gebührt Wissmann der zweifelhafte Ruhm, als Erster in einem von Deutschen geführten Kolonialkrieg die Taktik der »Verbrannten Erde« angewandt zu haben. Hermann von Wissmann wurde geadelt, zum Major befördert und vier Jahre später zum Gouverneur für Deutsch-Ostafrika berufen. Unter seiner Leitung wurde die Hüttensteuer eingeführt. Er hatte sich erhofft, auf diese Weise eine profitable und dauerhafte Einnahmequelle für das Gouvernement zu erwirtschaften, um so die Kolonie zu entwickeln und ihre Wirtschaft auf eine rentable Grundlage stellen zu können. Wer den Steuerbetrag nicht in bar oder natura entrichten konnte, sollte ihn durch Heranziehung zur Lohnarbeit im Dienste des weißen Mannes erbringen. Wer sich dem widersetzte, wurde in Ketten gelegt, ihm wurde das Vieh weggenommen und die Hütte verbrannt.5

Die zunehmende Bedrückung der Bevölkerung durch die eingeführten Steuern waren im Juli 1904 mit ein Grund für den Ausbruch des Maji-Maji-Krieges, der bis zu 300.000 Todesopfer forderte, davon 15 bis 23 Europäer und 345 schwarze Askaris auf deutscher Seite. Der Führer der Afrikaner, der anerkannte Heiler und Prophet Kinjikitile Ngwale, verkündete seinen Kriegern, dass der Ausgang dieses Kampfes siegreich sein werde, vorausgesetzt, sie ließen sich mit der ihm von Kolelo gegebenen Maji-Dawa6 besprengen. Dann seien sie gegen die Wirkung der deutschen Waffen gefeit: »Wie Wassertropfen werden die Kugeln aus den Gewehren und Maschinengewehren der deutschen Kolonialtruppen an den eingefetteten Körpern der askari ya mungo (Gotteskrieger) abprallen.«7 Diesen Aufstand, bei dem Adolf Graf von Götzen, Gouverneur und Befehlshaber der deutschen Truppen mit moderner Kriegsausrüstung tausende Menschen abschlachtete, Hütten und Nahrungsvorräte plünderte und in der Folge eine einjährige Hungersnot hervorrief, die mehr als 150 000 Opfer forderte, sollte Major Hermann von Wissmann allerdings nicht mehr erleben. Er starb 1905.

Wissmann wird heute noch in manchen Kreisen als größter Afrikaner Deutschlands, Begründer des Wildschutzes in Afrika und Wegbereiter für die Abschaffung des Sklavenhandels bezeichnet. Unzählige Straßennamen, aber auch akademische und studentische Verbindungen tragen Hermann Wissmanns Namen. Zum 100. Todestag von H. Wissmann fand 2005 in Weißenbach/Stmk. (Wissmann hatte sich, bevor er bei einem Jagdunfall ums Leben kam, in der Gemeinde im Ennstal niedergelassen) eine große Gedenkfeier statt.8

Die Tragödie um den Maji-Maji-Aufstand, die in unserem Geschichtsbewusstsein nicht aufscheint, ist fester Bestandteil im Unterricht an tansanischen Schulen.

Nach den großen Aufständen in Deutsch-Ostafrika setzte auch in Berlin ein Nachdenken über die Fehler in der bisherigen Eingeborenenpolitik ein, und man erkannte, dass eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine positive Fortentwicklung der Schutzgebiete die Rückgewinnung des Vertrauens der Afrikaner durch stärkere Berücksichtigung ihrer Belange war. Mit Hilfe von Staatsanleihen wurde mit dem Ausbau der Infrastruktur der Kolonien begonnen, das Eisenbahn- und Straßennetz wurde erheblich erweitert, Städte und Marktzentren entstanden. Dies alles trug zu einer Verbesserung der Vermarktungsmöglichkeiten für die traditionellen Feldprodukte der afrikanischen Bauern bei. Das Steueraufkommen erhöhte sich, sodass die Kolonialverwaltung mit der Rückzahlung der Staatsanleihen beginnen konnte. Der Verwaltungsapparat der Schutzgebiete wurde erheblich vergrößert, das Gesundheits- und Schulwesen ausgebaut. Zu dieser Zeit wurden große Landstriche gerodet und von deutschen Farmern oder Investmentgruppen landwirtschaftliche Betriebe errichtet. Eine deutsch-dänische Gruppe investierte am Ngorongoro, dessen fruchtbare Vulkan­erde sich hervorragend zum Anbau von Kaffee, Weizen und Mais eignete.

Dann allerdings brach der erste Weltkrieg aus. Die deutschen Schutztruppen unter der Führung von Oberst Paul von Lettow-Vorbeck9 konnten sich vier Jahre lang mit einer Form des Guerillakriegs gegen die gegnerischen Truppen behaupten, dann aber wurde die Kolonie von britischen und belgischen Verbänden erobert und anschließend unter den Siegern aufgeteilt.10 Die Farmer wurden enteignet, alle Deutschen mussten das Land verlassen.

Die berühmte dänische Schriftstellerin Karen Blixen (»Jenseits von Afrika«) hatte kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf einem Schiff den deutschen Oberstleutnant Paul von Lettow-Vorbeck, den Kommandeur der kaiserlichen Schutztruppe Deutsch-Ostafrikas, kennengelernt. Es handelte sich um jenen Offizier Paul von Lettow-Vorbeck, der unter Generalleutnant Lothar von Trotha gedient hatte und an der Niederschlagung des Aufstandes und am Völkermord (mehr als 100.000 Tote) der Herero11 zwischen 1904 und 1908 beteiligt gewesen war. Karen Blixen schrieb damals an ihre Mutter: » Du müsstest einmal hören, wie sie hier über Lettow sprechen. Wie vom größten Genie dieser Zeit. Es ist wirklich interessant, ihn kenngelernt zu haben …« Lettow-Vorbeck war in Mombasa Blixens Trauzeuge, was zum Verdacht der britischen Siedler beitrug, Karen Blixen sei deutschfreundlich.

Paul Lettow-Vorbeck starb 1964 im Alter von 94 Jahren in Hamburg. In der Begräbnisrede lobte der Deutsche Verteidigungsminister und spätere Präsident des Deutschen Bundestages Kai Udo von Hassel12, General Lettow-Vorbeck habe das Gesetz der Menschlichkeit und des Rechtes eingehalten, er sei »Leitbild für die junge Generation …«

Nach Paul von Lettow-Vorbeck, der bis zu seinem Tode das südafrikanische Apartheidsystem begrüßte und der in seinem Buch »Afrika, wie ich es wiedersah« eine Rechtfertigung der Kolonialherrschaft verfasst hatte, sind in Deutschland unzählige Straßen benannt.

Ab dem Jahr 1921 erhielt Großbritannien vom Völkerbund13 das Mandat Tanganjika zu verwalten. Die alten Farmen, so auch das Shangri-la-Estate, befanden sich im Besitz englischer Farmer. Der Name für Shangri-la wurde dem Lama-Kloster im Himalaja, aus dem 1933 erschienenen James-Hilton-Weltbestseller »Lost Horizon« entnommen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Tanganjika Treuhandgebiet der neu gegründeten Vereinten Nationen (UN). England regulierte jedoch weiterhin Verwaltung, Infrastruktur und Bildungswesen.

Der später als »Mutter der Maasai« bekannt gewordenen Farmerin und Großwild-Jägerin Margarete Trappe aus Schlesien war es gelungen, die englische Staatsbürgerschaft zu bekommen, wodurch sie, als einzige Deutsche, ihre Farm »Momella« weiter betreiben konnte. Die bewegende Geschichte der Familie Trappe wurde 2006 verfilmt.14

Am 9. Dezember 1961 erhielt Tanganjika die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich. Tanganjika (Tan) und Sansibar (San) verbanden sich und gründeten am 26. April 1964 unter Julius Nyerere die Vereinigte Republik Tansania.

Seit der Unabhängigkeit Tansanias haben auch wieder vermehrt deutsche Investoren versucht, im ehemaligen Kolonialgebiet geschäftlich Fuß zu fassen, und – zum Teil auch aus nostalgischen Gründen – alte Besitztümer zurückgekauft.

Die in den 1920–30er Jahren im Kratergebiet bis hin zum Oldeani entstandenen Kaffeefarmen befinden sich heute im Besitz internationaler Gesellschaften, die hochwertigen Arabica-Kaffee produzieren. In unmittelbarer Nachbarschaft östlich von Shangri-la liegt die Ngila Farm (deutsch) und anschließend die Gibbs Farm (englisch), die, nachdem 1962 die Serengeti zum Nationalpark erklärt worden war, die ersten Gästehäuser errichtete und damit Vorreiter für eine touristische Entwicklung im Ngorongorogebiet war.

Als ich mich selbst zu lieben begann,
konnte ich erkennen, dass emotionaler Schmerz und Leid
nur Warnungen für mich sind, gegen meine eigene Wahrheit zu leben.
Heute weiß ich: Das nennt man Authentisch-Sein.

Kapitel 2

Was die Erfüllung von Träumen anging, hatten wir uns mittlerweile zu Profis entwickelt. Die endgültige Entscheidung schnell zu treffen kam uns wie gerufen. So blieb uns eine Auseinandersetzung mit dem Alltag, der uns früher oder später eingeholt hätte, erspart. Der erste Schritt für eine neue Zukunft war getan, aber wie sollten wir innerhalb von nur drei Monaten den riesigen Berg an Erledigungen schaffen? Dazu benötigten wir einen Plan und Arbeitsteilung. Wir kamen überein, dass Esther die Firmengründung und alles, was damit zusammenhing, übernehmen und ich die Auflösung und den Umzug erledigen würde. Später sollte der Aufgabenbereich so geregelt sein, dass die Organisation der Zimmer, Buchungen usw. Esthers Resort, Küche und Einkauf wiederum meine Angelegenheit sein sollte.

Zunächst stand allerdings die Heimreise auf dem Programm. Und da wir ohnehin über Arusha fahren mussten, nutzten wir die Gelegenheit, die ersten Schritte der Firmengründung in Angriff zu nehmen. Selbstverständlich war es Udo, der uns seinen Wagen lieh, um dorthin zu gelangen. In einem noblen Vorort Arushas kamen wir das erste Mal mit dem aufstrebenden, businessorientierten Tansania in Berührung. Eine stattliche, voll klimatisierte Villa inklusive ausladender Einfahrt war der Firmensitz des Anwalts, dessen Vermittlung, wie konnte es anders sein, wir ebenfalls Udo zu verdanken hatten. In dunklem Nadelstreif, gestärktem, hellblauem Hemd, dezenter Krawatte und mit der in Gold gefassten Brille wirkte der jugendliche Anwalt, wie Anwälte überall auf der Welt wirken. In der offenen Garage hatte ich den obligatorischen dunkelblauen Oberklasseschlitten Made in Germany erblickt, der auf Tansanias Straßen völlig deplatziert wirken musste, aber das Bild des weltmännischen Rechtsanwaltes komplettierte. Für ihn war es Routine, Firmengründungen weißer Investoren durchzuführen. »Stonehouse ­Horse Tours Company Limited« – die Zusammensetzung unserer beiden abgekürzten Familiennamen in Englisch – war der klingende Firmenname, den wir kreiert hatten. Er freue sich, dass wir unser »Know-how« für die Entwicklung seines Landes einbrächten. Ausländische Investoren wären immer herzlich willkommen, betonte der Rechtsanwalt. Unglaublich, plötzlich sind wir Investoren, dachte ich ehrfürchtig, als ich, an dem gediegenen Mahagonitisch sitzend, aus englischen Porzellantassen Kaffee schlürfte. Der gute Mann hielt uns offensichtlich für bewährte Unternehmer. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, denn von Hotelmanagement hatte ich so viel Ahnung wie der Herr Anwalt vom Saxophonspiel. Von der Bareinlage in die Gesellschaft mit beschränkter Haftung und dem Anwaltshonorar mochte ich gar nicht reden. Diese Mittel musste ich erst noch akquirieren. Das bedeutete, dass meine Abfindung vom Theater dafür herhalten musste. Da gab es noch eine ganze Menge an Stolpersteinen, die zu überwinden waren, aber irgendwie würden wir es schaffen. Wir glaubten an uns, an unseren Plan und an die Zukunft. Der Anwalt versprach, alles Nötige einzuleiten, damit wir drei Monate später unsere Arbeit beginnen konnten.

Wir traten also mit den herrlichsten Zukunftsvisionen die Heimreise an, um die Auswanderung vorzubereiten. Alle ursprünglichen Pläne, eine Diashow über unseren Ritt durch Afrika zu produzieren, die Erlebnisse in Buchform herauszubringen und die dazu erforderliche Medienarbeit zu betreiben, waren genauso hinfällig geworden wie der Wunsch nach einer Erholungspause. Unsere Aktivitäten hatten mittlerweile Eigendynamik entwickelt. In Afrika arbeitete der Anwalt an den Formalitäten für die Firmengründung und Dr. Platt bereitete in Deutschland den Pachtvertrag vor. Unser Projekt war nicht mehr zu stoppen. Nach ­Österreich kehrten wir bloß zurück, um die notwendigen Schritte einzuleiten, unsere Seelen waren in Afrika geblieben.

Mein erster und zugleich schwierigster Gang war der ins Theater. Der Pförtner am Bühneneingang grüßte mich in gewohnter Manier, als hätte ich erst vorgestern meine letzte Vorstellung gespielt. Dabei war ich genau vor einem Jahr zum letzten Mal bei ihm vorbeigekommen. Gerade für einen Pförtner fand ich diese Leistung äußerst mäßig, aber ich verzieh ihm, da zumindest sein Langzeitgedächtnis zu funktionieren schien und er sich kurz vor dem Ruhestand befand, den er innerlich offensichtlich schon angetreten hatte. In der Kantine traf ich dann meine zukünftigen Ex-Kollegen. Einige freuten sich, dass ich den Ritt durch Afrika gesund überstanden hatte, und erkundigten sich eifrig, wie es mir ergangen war. Manche brannten darauf, umfangreiche Schilderungen zu hören, andere begnügten sich mit scherzhaften Bemerkungen. Ich konnte es ihnen nicht verübeln, denn unsere Erlebnisse überstiegen ihre Vorstellungskraft. Der Generalmusikdirektor gesellte sich an meinen Tisch, überschüttete mich sofort mit den Plänen des Orchesters und eröffnete mir, dass er mich bereits für die nächsten Konzerte eingeteilt hatte. Ich schnappte nach Luft. Immer noch trug ich das afrikanische Zeitgefühl in mir. In Österreich gehen die Uhren etwas schneller als in Afrika, und ich spürte, wie das alte Leben in mein Bewusstsein drängte und dort versuchte, meine Zukunftspläne zu durchkreuzen. Aufgrund der vielen Details, die mich plötzlich wie ein Maschinengewehrfeuer trafen, machte sich in mir Verwirrung breit. Ich setzte mich zur Wehr und unterbrach des ­Maestros gut gemeinte Worte: »Entschuldige bitte …, ich fürchte, du kannst mit meiner Mitwirkung nicht rechnen, ich werde auswandern. Wir haben vor, in Tansania ein neues Leben zu beginnen. Ich will meine musikalische Laufbahn an den Nagel hängen und bitte dich deshalb, meine Kündigung anzunehmen!«

Sehr kurz hielt er inne, nur um die Schilderung seiner Konzertpläne mit unverminderter Intensität fortzusetzen. Erst nach geraumer Zeit wurden ihm meine Worte bewusst. Er verstummte und machte ein Gesicht, aus dem ich unschwer ablesen konnte, wie absurd er meinen Kündigungsgrund fand. Ich konterte mit gleichem Blick, denn mir kam sein Vorschlag, ein Konzert zu spielen, nicht minder grotesk vor.

»Hm, …, das ist schade, … wirklich schade, dann müssen wir wohl deiner bisherigen Vertretung einen Vertrag anbieten«, fand er seine Sprache wieder. In diesem Augenblick erkannte ich, wie groß mein Schritt tatsächlich war. Das, was mich ausmachte, was mein bisheriges Leben bestimmt hatte, war die Musik. Hatte ich mit nur wenigen Worten all das hinter mir gelassen und meine Vergangenheit ausgelöscht? »Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören«, heißt es. Dass ich meinen Beruf als Musiker vielleicht nie wieder ausführen würde, erfüllte mich mit leiser Traurigkeit, andererseits blickte ich gespannt auf die neuen Aufgaben. Ich schüttelte meine Wehmut ab, ich hatte schon genug Töne gespielt, es war Zeit, auch etwas anderes kennenzulernen. Endlich hatten wir die Chance, gemeinsam etwas aufzubauen. Esther und ich gegen den Rest der Welt! Afrika, wir kommen!

So verabschiedete ich mich vom Orchester der »Vereinigten Bühnen Wien« nach 16-jähriger Mitgliedschaft. Ein bisschen wunderte ich mich über mich selbst, wie leicht mir all diese Dinge fielen.

Esther schrieb unterdessen an den tansanischen Anwalt E-Mails und überwies die Einlage zur Gründung der GmbH, nachdem die Abfindung auf meinem Konto verbucht war. Eine Spedition wurde beauftragt und der Container bestellt. Auch diese Kosten, rund 7.000 Euro für die Verschiffung unseres Hausrates, beglich ich aus meiner Abfindung, die schneller dahinschmolz als Eis in der prallen Sonne. Wir machten wahrlich Nägel mit Köpfen, obwohl der Vertrag mit den Besitzern der Kifaru-Lodge noch nicht unter Dach und Fach war. Aber da sich das Räderwerk nun mal in Bewegung gesetzt hatte, war es nicht mehr aufzuhalten.

Endlich war alles soweit klar, und wir machten uns auf den Weg nach Husum, um mit Dr. Platt die Details des Pachtvertrages zu regeln. Als wir die Schwelle seines Hauses betraten, fanden wir uns auf einem Fleckchen Afrika mitten in Deutschland wieder. Wohin unser Blick auch fiel, jedes Eckchen war mit Kunsthandwerk ausgefüllt. Um nicht auf die auf dem Wohnzimmerboden ausgelegten Zebra- und Leopardenfelle zu trampeln, bewegten wir uns teilweise hüpfend vorwärts, wie bei einer Gebirgsbachüberquerung, bei der man, um das Schuhwerk trocken zu halten, von einem herausragenden Stein zum anderen hopst. Ich hatte den Eindruck, als würden die ausgestopften Großwildköpfe, die mit ihren Glasaugen von den Wänden auf uns herabblickten, streng darüber wachen, dass diese Felle nicht mit europäischen Straßenschuhen betreten wurden. Und wir wollten unbedingt einen guten Eindruck hinterlassen. Besonders bei Hilde, der Ehefrau Dr. Platts, denn von ihrem Gutdünken hing es laut Udo ab, wie ihr Mann entscheiden würde.

Esther konzentrierte sich also auf den Doktor, während ich Hilde im Visier behielt. Dr. Platts Partner Christian Jensen war mit seiner Frau aus Dänemark angereist. Das Paar, etwa so alt wie wir, befand sich schon im Wohnzimmer, als wir ankamen. Was Christian Jensen betraf, machten wir uns weniger Sorgen, denn er war ein Freund Udos, und dieser hatte bei ihm bereits ein gutes Wort für uns eingelegt. Wir überließen nichts dem Zufall, um unsere zukünftigen Pachtherren zu beeindrucken. Und wir hatten Erfolg damit. Unser Konzept stieß bei allen auf Wohlgefallen. Verbesserungen in puncto Küche, die Errichtung eines neuen Restaurants, die Installation von Internet und die Einführung von Reitmöglichkeiten fanden großen Anklang. Udos Rat befolgend, versuchte ich bei Hilde, allerdings sehr dezent, mit dem »Wiener Schmäh« zu punkten. Esther hatte es immer sehr amüsiert, wenn ich im Supermarkt die älteren Damen an der Kassa damit umgarnte, und sie es sich dann nicht nehmen ließen, mir ein oder sogar zwei Gratissackerln15 mitzugeben. Dieses »Wiener Einschmeicheln«, in angemessener Dosierung und ohne anbiedernd zu erscheinen, ging auch an Hilde nicht spurlos vorüber. Nachdem ich ihren Heringsalat (wirklich exzellent) und ihre handbemalten Fliesen (die Heringe waren besser) entsprechend gelobt hatte, war sie meinem Charme erlegen. Ob das ausschlaggebend für den Zuschlag war, konnte ich nicht beurteilen, aber letztendlich endete unser Besuch mit der Unterzeichnung des Vorvertrages. Ein wichtiger Schritt war wieder getan.

Esther flog wenig später nach Tansania voraus, um die nötigen Vorbereitungen für die Übernahme der Lodge zu treffen und sich mit der Bürokratie dieses Landes vertraut zu machen. Ihre Suaheli-Kenntnisse waren mittlerweile beeindruckend, und Englisch sprach sie ohnehin fließend.

Mir blieben nur knappe zwei Monate Zeit, all die Dinge, die ich aufgelistet hatte, zu erledigen. Einen Käufer für unseren Bauernhof zu finden war allerdings nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Meine Hoffnungen, das Haus in kürzester Zeit veräußern zu können, zerstreuten sich rasch. Es gab zwar Besichtigungen, aber besonders entscheidungsfreudig waren die potenziellen Käufer nicht. So entschied ich mich im letzten Moment für eine spezielle Form des Verkaufs – des Mietkaufes. Dies hatte den Vorteil, dass die Eigenmittel für den Käufer sehr gering waren und nur eine monatliche Miete fällig wurde, die dann als Anzahlung für den Kauf nach zehn Jahren angerechnet wurde. Ich überließ alles dem Immobilienmakler und hoffte darauf, dass er alles unter Dach und Fach hatte, bevor ich das Land verließ. Diese Art des Verkaufs sollte für uns den Vorteil bringen, frei von finanziellen Belastungen zu sein, und wenn doch etwas schief gehen sollte, konnten wir unser Haus immer noch unser Eigen nennen. Der Nachteil war allerdings, dass wir die Pläne für ein neues Restaurant in Afrika auf unbestimmte Zeit verschieben mussten. Allein mit dem Rest meiner Abfindungssumme waren wir hart am Limit, und wir konnten nur darauf hoffen, sofort Gewinn zu machen, um die allernötigsten Investitionen durchführen zu können.

Jeden Tag informierte ich Esther per E-Mail über meine Fortschritte, und sie berichtete darüber, wie es ihr erging. Dazu musste sie jedes Mal das »Bytes«, das Café von Chris und Sandy im vier Kilometer entfernten Karatu aufsuchen. Auch diese beiden sympathischen Engländer waren Freunde Udos. Sie betrieben eine Tankstelle, ein Restaurant und das einzige Internetcafé weit und breit. Das Lokal war Treffpunkt weißer Ansässiger, einheimischer Geschäftsleute und Touristen, die, verstaubt von ihren Safari-Destinationen, Erfrischung suchten und von hier aus ihre Erlebnisberichte in alle Welt schickten.

Esther beklagte sich unaufhörlich, wie langsam alles voranging. Die Ausstellung der Papiere für die Auslöse des Containers könnte Wochen, vielleicht sogar Monate dauern, meinte sie, ebenso die Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis. Udo und Renate standen ihr beratend zur Seite, und die gute Seele Elfrieda nahm ihr viel Arbeit ab und schulte sie auch gründlich ein.

Wir hatten uns auf Wunsch von Dr. Platt und Christian Jensen verpflichtet, das bestehende Personal zu übernehmen. Dazu gehörten 20 Angestellte – Köche, Kellner, Gärtner, Zimmermädchen, Wäscherinnen und Elfrieda, die als Hausdame und Vertrauensperson Dr. Platts den Betrieb am Laufen hielt. Dr. Platt hatte uns seine Hausdame besonders ans Herz gelegt und geradezu schwärmerisch empfohlen. Sie sei auch bei den Safarigästen ausgesprochen beliebt. Dr. Platt, der nur ein oder zwei Mal im Jahr in Tansania nach dem Rechten sehen konnte, war als oberster Chef offenbar überglücklich, dass er in Elfrieda eine Einheimische gefunden hatte, die seinen Betrieb führen konnte. Aber neue Pächter würden frischen Wind bringen, hatte er gemeint. Elfrieda wiederum war bisher dem aus dem Schwabenland stammenden Raimar unterstellt gewesen, der als Farmmanager für die Kaffeefarm verantwortlich war, aber gleichzeitig auch die Oberaufsicht über die Lodge innehatte. Auch Raimar und Ilse zeigten sich Esther gegenüber sehr zuvorkommend, und Raimar schaute sogar oft bei der Lodge vorbei, um ihr seine Hilfe anzubieten.

Ich konnte es kaum erwarten, zu Esther zu reisen und gemeinsam mit ihr ans Werk zu gehen. Aber ich musste noch meinen laufenden Vertrag erfüllen und einige Vorstellungen des Musicals »Elisabeth« spielen. Ein Gastspielauftritt in Passau mit einer konzertanten Aufführung von »Jesus Christ Superstar« stand ebenfalls auf dem Programm. Das würde mein letztes Konzert sein, mein allerletztes.

Jede schwere Prüfung, jeder Kummer
Sinken in den goldnen Kelch voll Wein.
Stör nicht meinen Traum, denn ich seh´ die Antwort
Bis zum Morgen wird das Leben sorglos sein!
Immer schon wollt ich Apostel werden,
Und ich fühlte, wer das wagt, gewinnt,
Denn die Bücher, die wir dann schreiben,
Werden leben noch, wenn wir schon lange nicht mehr sind.

(Jesus):
Bleibt von euch keiner wach mit mir?
Petrus? Jakob? Johannes?
Will niemand bei mir sein?
Petrus? Jakob? Johannes? …

damit verklang mein letzter Ton. Meine Karriere als Musiker war beendet. Mit meinen Freunden und Kollegen feierte ich Abschied, versprach, Kontakt zu halten, und wusste zugleich genau, dass durch das Eintauchen in eine völlig andere Welt ein neuer Abschnitt beginnen und die Zeit allmählich alle Bande auflösen würde. Loslassen kostet weniger Kraft als Festhalten, und dennoch ist es schwerer. Meine engste Freundin Lisa begrüßte mit mir nach dem Fest noch das Morgengrauen, und in feucht-fröhlicher Stimmung wünschten wir einander adieu.

Einige Tage später traf der Tieflader ein. Mit Leichtigkeit wurde der vollbepackte Container aufgeladen, auf dessen Wand ich noch im letzten Moment mit rotem Lack in großen Lettern TANGA aufgesprüht hatte, um ganz sicher zu gehen, dass er auch wirklich im richtigen Hafen landete.

Die Zelte waren also abgebrochen. Zurück blieben Eltern, Kinder, Freunde, Kollegen und Erinnerungen. »Gib mir eure Adresse, wir kommen euch bestimmt besuchen«, war einer der häufigsten Sätze, die ich vor meiner Abreise zu hören bekam, »ich würde mich wirklich freuen«, eine der häufigsten Antworten. Mit unseren drei erwachsenen Kindern hatten wir allerdings schon einen fixen Reisetermin vereinbart. Sie wollten Weihnachten unbedingt bei uns verbringen. Auch meine Eltern versprachen: »Irgendwann werden wir schon kommen.« Ich kannte sie und wusste, was »irgendwann« zu bedeuten hatte. Sie waren zwar ausgesprochen rüstig, aber doch schon um die siebzig, und meine Mutter deutete vorsichtig an, dass es für sie wegen ihrer Diabetes schwierig sein würde. Mein Vater konnte seine Sorge nicht verhehlen und versuchte bis zum Schluss, mich von meinem Plan abzubringen: »Afrika ist so gefährlich! Die wilden Tiere, die giftigen Schlangen!« Meine Eltern konnten meinen Drang nach Freiheit nicht nachvollziehen. Meine Ankündigung, dass ich sie zwei oder drei Mal im Jahr besuchen würde, war zwar tröstlich für sie, aber in Feierlaune verfielen sie trotzdem nicht. Vor meiner Abreise hatte ich Papa noch einen Schnellkursus im Umgang mit E-Mails und Skype verpasst, damit wenigstens diese Art der Kommunikation stattfinden und wir einander auf dem Laufenden halten konnten.