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Isolde Kurz

Im Zeichen des Steinbocks

Aphorismen

Isolde Kurz

Im Zeichen des Steinbocks

Aphorismen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-30-0

null-papier.de/537

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Inhaltsverzeichnis

Im Zei­chen des Stein­bocks

All­ge­mei­nes vom Men­schen­da­sein

Mann und Weib

Aus der Welt des Her­zens

Vom Kin­de

Ethik und Rhyth­mus

Ge­heim­nis­se

Von der Spra­che

Aus Völ­ker­see­len

Vom Ge­ni­us

Poe­sie

Kunst und Künst­ler

Un­ter Men­schen

Al­ler­lei Hei­li­ge

Aus der Zeit

Dan­ke

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Im Zeichen des Steinbocks


Ein Flo­cken­sturm, als ging’ die Welt zu Ende,
Die lan­ge Nacht der Win­ter­son­nen­wen­de!
Und mor­gen tritt durchs win­ter­li­che Haus
Des Stein­bocks die ver­jüng­te Sonn’ her­aus.
Al­teil’­ges Juel­fest, Ur­vä­ter­won­ne,
Des Lichts Tri­um­ph­tag, die Ge­burt der Son­ne,
Dich ehr’ ich zwie­fach, al­ter Wei­he­brauch:
Der Son­ne Wie­gen­fest ist mei­nes auch.

Ja, ich be­trat die Welt beim Son­nen­sie­ge,
Und un­term Stein­bock stand auch mei­ne Wie­ge,
Zum Sinn­bild nahm ich ihn, zum Wap­pen­tier,
Sein ho­hes Zei­chen, was be­deu­tet’s mir?

In reins­ter Luft, am Ran­de der Mo­rä­nen,
Hoch über Fer­nen, die sich end­los deh­nen,
Der Gott­heit nä­her ist des Stein­bocks Welt,
Den Ad­lern und den Ster­nen zu­ge­sellt,
Ver­traut dem Ab­grund und der Wet­ter­wol­ke,
Ein Mär­chen fast dem tal­ge­bor­nen Vol­ke,
Der Ber­ge Kö­nig, tau­send­fach be­droht,
Lebt er – und Nie­de­run­gen sind sein Tod.

So weist er auf­wärts: wer in sei­nem Zei­chen
Ge­bo­ren ist, der wag’ es, ihm zu glei­chen,
Ihn muss die weg­los raue Höhe lo­cken,
Nicht vor dem Stur­ze ban­gend darf er sto­cken,
Auf Gip­feln ist sein Reich und sei­ne Ruh’,
Er muss den ewi­gen Ein­sam­kei­ten zu.
Denn nur in öden, star­ren, un­frucht­ba­ren,
Kann er als Son­nen­held sich of­fen­ba­ren,
Auf heil’­ger Höh’ die Juel­feu­er zün­den,
Das Licht, das neu ge­bo­ren ward, ver­kün­den.

Und huld­reich ist die Son­ne sein ge­denk,
Wie Kö­nigs­kin­der, die mit Fest­ge­schenk
Die Mit­ge­bor­nen ih­res Ta­ges eh­ren,
Sie aber gibt, was Fürs­ten nicht be­sche­ren:
Das Haupt zu je­der Licht­ge­burt be­reit,
Mit Träu­men, wah­rer als die Wirk­lich­keit,
Den leich­ten Fuß, der rasch zum Gip­fel trägt,
Die Hand, die wie zum Spiel den Dra­chen schlägt.

Mit sol­cher Ga­ben lust­voll stren­gem Zwan­ge
Schickt ih­ren Strei­ter sie zum Sie­ges­gan­ge.
Und tau­send­fäl­tig strahlt er Glanz zu­rück,
Dass wer ihn sieht, er­kennt, er sah das Glück.
Und wo er wan­delt, grü­nen Len­zes­flu­ren,
Und wo er schied, da lässt er Son­nen­spu­ren,
Ihm weicht die Fins­ter­nis, und nur im Grab
Er­lischt die Glut, die al­len Wär­me gab.
Die Dich­ter, die Pro­phe­ten und Er­fin­der,
Die Licht­ge­bor­nen all, die Son­nen­kin­der,
Des Stein­bocks ho­hes Zei­chen schwin­gen sie,
Ein Juel­fest der Geis­ter brin­gen sie.

Zum Dienst der Son­ne kam auch ich. Doch weh’,
Ein schwe­rer Ne­bel liegt, wo­hin ich seh’,
Es dringt kein Strahl hin­ab zu je­nen Grün­den,
Wo Irr­wisch­flam­men sich am Sumpf ent­zün­den,
Wo un­term Alp die Welt sich stöh­nend quält,
Und eins dem an­dern schwe­ren Traum er­zählt.
Wie Kran­ke schlei­chen sie mit mü­dem Bli­cke,
Der schleppt ein Kreuz und je­ner eine Krücke,
Die Ju­gend träumt, sie geh’ im wei­ßen Haa­re,
Der Lenz sei krank, die Lie­be auf der Bah­re,
Ein je­der zit­tert um sein Er­den­heil,
Und je­der kürzt dem an­dern sei­nen Teil,
Die Muse kam und schloss das letz­te Fens­ter,
Und sprach mit ir­rem Ton: Hier sind Ge­s­pens­ter.
In Win­kel kroch sie, wo die Frat­zen lau­ern,
Und trieb das Nacht­ge­züch­te von den Mau­ern,
Des Alp­drucks Wahn, das ängst­li­che Ge­grü­bel
Ver­ge­ss’­ner Fre­vel und ver­erb­ter Übel,
Dass Hoff­nung selbst vor ih­rem Blick ver­steint,
Und je­des Haus das Haus des Atreus scheint.

O Mensch­heit hobst du je­den Schatz der Er­den,
Um är­mer nur und är­mer stets zu wer­den?
Wardst du so groß, ver­tratst die Kin­der­schuh’,
Und dei­ne Kin­der­se­lig­keit dazu?
Was kannst du nicht? Dein rol­len­der Pla­net
Ist kaum noch Schran­ke, die dir wi­der­steht.
Den Raum be­zwingst du, raubst der Zeit die Beu­te,
Der Blitz, einst Bote Zeus’, dir dient er heu­te,
Ringst mit dem Vo­gel um sein luf­tig Reich,
Ein Schritt noch, und du bist den Göt­tern gleich.
Und doch voll Gram an dei­nes Ta­ges Rüs­te
Blickst du nach der ver­lass’­nen Ju­gend­küs­te,
Wo du noch spiel­test und die Fan­ta­sie
Dir ihre far­bi­gen Bil­der­bü­cher lieh!

O, über alle Lan­de möcht ich’s ru­fen:
Kehrt heim zu uns­rer Lichtal­tä­re Stu­fen!
Ein Traum war al­les, wol­let nur ge­ne­sen,
Noch ist die Erde, was sie je ge­we­sen.
Noch kehrt der Lenz und sei­ne tau­send Trie­be,
Noch glänzt die Freu­de und noch lebt die Lie­be.
Kommt nur aus eu­rer Märk­te Drang und Ja­gen,
Heraus, wo stil­le, grü­ne Tem­pel ra­gen,
Hört ein­mal wie­der aus des Mär­chens Mun­de,
Dem sü­ßen, un­be­red­ten, ewi­ge Kun­de,
Nur ein­mal seht von frei­en Ber­ges­höh’n
Die jun­ge Son­ne sieg­reich auf­er­steh’n,
Werft hin­ter euch die Angst, ver­ge­sst des Neids,
Nennt euch der Son­ne Kin­der, und ihr sei­d’s!

Um­sonst, sie hö­ren nicht. Noch im­mer wal­ten
Des ab­ge­storb­nen Jah­res Spuk­ge­stal­ten.
Der Son­nen­held, noch ist er nicht er­stan­den,
Der sei­ne Brü­der reißt aus Win­ters Ban­den.
Noch tiefer muss das Dun­kel uns um­stri­cken,
Der lan­ge Frost die letz­ten Blü­ten kni­cken,
Ein Abend bang wie Wel­ten­abend kom­men,
Ein Brand, wie auf dem Ida­feld ent­glom­men,
Bis eine Win­ter­sonn­wend rau und kalt
Gleich die­ser bringt des Ret­ters Licht­ge­stalt.

O Heil dir, Göt­ter­sohn, von Kraft ent­zün­det,
Komm, wie die Sage dich vor­aus­ver­kün­det,
Wie Wali, Wo­t­ans jüngs­ter Ruh­mess­pross,
Schwing du ein­näch­tig schon dein Siegs­ge­schoss,
Die Hand nicht wa­sche, sollst das Haar nicht schlich­ten,
Eh du’s voll­bracht, dein Ret­ten, Rä­chen, Rich­ten.
Das Wort, das kei­ner weiß, du wirst es sa­gen,
Sieg­va­ters Wort aus grau­en Göt­ter­ta­gen,
Dem to­ten Bal­der einst ins Ohr ge­raunt.
Dann hebt die Erde sich vom Grab und staunt,
Denn Wun­der sind ge­scheh’n: wo Glet­scher starr­ten,
Er­grünt ein Feld, er­blüht ein Ro­sen­gar­ten,
Die Strö­me bre­chen aus kris­tall­nen Sär­gen,
Und hei­li­ge Feu­er glühn von al­len Ber­gen,
Aus Näh und Fer­ne ziehn ge­schmück­te Gäs­te
Zu ei­nem Ju­bel- und Ver­mäh­lungs­fes­te:
Es wird Na­tur, die dun­kel­äu­gi­ge Braut,
Dem Geist, des Lich­tes ho­hem Sohn, ge­traut.
Dann wird das Le­ben won­nig sein, es wer­den
Ver­jüng­te Göt­ter hei­misch gehn auf Er­den,
Be­glückt wer dann mit ih­nen wohnt und wer
Zum großen Fes­te kam der Wie­der­kehr!

Doch weil das Heil noch fern der kran­ken Welt,
Und weil mein Licht nur mei­nen Pfad er­hellt,
Will ich von ih­ren Fes­ten fern und Feh­den
Mich mit der Zu­kunft ein­sam un­ter­re­den.
In äther­leich­te Luft, zum Al­pen­firn
Trägt mich der Geist, ich fühl’ um mei­ne Stirn
Das We­hen schon der un­ge­bor­nen Tage,
Mein Sein leg’ ich ge­trost auf ihre Wage,
Und leb’ ein Stünd­chen, wo die Zu­kunft webt,
In­des die längs­te Nacht vor­über­schwebt,
Bis mir der Son­ne neu­ge­bor­ne Pracht
Aus Win­deln fri­schen Schnees ent­ge­gen­lacht.

Wohl­auf! Der Stein­bock tritt die Herr­schaft an,
So stei­ge, See­le, mit der Son­nen­bahn!

*

Allgemeines vom Menschendasein

Die Welt ist ein Spie­gel, worin ein je­der nur die ei­ge­ne See­le sieht.

*

Re­det mir nicht vom Zu­fall der Ge­burt! Ist denn die Ge­burt ein Zu­fall? Sie ist das Er­geb­nis der lei­den­schaft­lichs­ten Wahl durch vie­le Jahr­hun­der­te, und im­mer auch ein ent­spre­chen­des Er­geb­nis.

*

Ah­nen­kult und Ah­nen­stolz ha­ben ih­ren tie­fen Sinn. Es ist nicht gleich­gül­tig, aus wel­chem Blut wir stam­men, denn un­se­re Vor­fah­ren ge­hen im­mer lei­se mit uns durchs Le­ben und fär­ben, uns sel­ber un­be­wusst, all un­ser Tun.

*

In den großen Schick­sals­stun­den scha­ren sie sich als un­sicht­ba­re Leib­wa­che um uns, wir füh­len ihre ge­mein­sa­men Kräf­te, die uns durch­drin­gen, ohne zu wis­sen, wo­her die­se Kräf­te uns ge­kom­men sind.

*

Jede mensch­li­che Na­tur ist ein Wi­der­spruch, aus zwei ver­schie­de­nen, häu­fig ge­gen­sätz­li­chen Na­tu­ren zu­sam­men­ge­fügt. Zieht man noch die Ah­nen­rei­he hin­ein, die sich auf­wärts ins Unend­li­che ver­liert, so er­kennt man, dass schon die gan­ze Mensch­heit zur Her­stel­lung des Ein­zel­nen ver­wen­det wor­den ist, wie sich sein Ich ab­wärts ins Unend­li­che spal­ten und sich am Ende wie­der über die gan­ze Mensch­heit ver­tei­len muss, denn Bluts­ver­wand­te sind wir alle. Wo soll­te da Ein­heit des Cha­rak­ters noch her­kom­men? Die gab es im Al­ter­tum, wo die Le­bens­be­din­gun­gen ähn­li­cher und wo die Völ­ker we­ni­ger ge­mischt wa­ren oder das Ge­misch­te gleich­mä­ßi­ger as­si­mi­liert.

*

Die Ab­hän­gig­keit von der Um­ge­bung ist nur un­be­dingt wahr für den ge­mei­nen Men­schen. Un­ser »Mi­lieu« sind nicht die Spieß­bür­ger, die in ei­ner Stadt mit uns le­ben, son­dern der geis­ti­ge Bo­den, aus dem wir un­se­re Nah­rung zie­hen. Die großen Men­schen al­ler Zei­ten, mit de­nen wir von klein auf ver­keh­ren, die sin­d’s.

*

Auf­ga­be der ver­fei­ner­ten Selbst­sucht: so­viel Schmerz wie mög­lich aus der Welt schaf­fen, al­les Le­ben­de in sei­nen Ego­is­mus ein­schlie­ßen. Wer Glück zer­stört, wer die Last des Jam­mers auf der Erde ver­mehrt, der darf nicht hof­fen, dass der Luft­druck über sei­nem ei­ge­nen Haupt ge­rin­ger wer­de.

*

Wahr­haft großes Emp­fin­den zeigt sich nicht dar­in, dass man sich aus­schließ­lich mit großen Din­gen be­schäf­tigt, son­dern dass man auch das Kleins­te dem Gro­ßen an­zu­glie­dern weiß.

*

Das Gros der Men­schen ist nur in der Ju­gend ge­nieß­bar, nach fünf­und­zwan­zig hört bei den meis­ten die Ent­wick­lung auf, und sie be­gin­nen zu schrump­fen. Des­halb se­hen sie auf ihre Ju­gend zu­rück, als auf eine Zeit hö­he­rer Fä­hig­kei­ten, ein ge­schwun­de­nes Pa­ra­dies. Bei dem be­gab­ten Men­schen steht der Fluss des Wer­dens nie­mals stil­le, und er emp­fin­det sein Ich nicht an­ders, als in der Ju­gend, da­her ihm der Flug der Zeit nicht zum Be­wusst­sein kommt.

*

Die meis­ten Men­schen sind wie schlecht kon­stru­ier­te Lam­pen, jene bil­li­ge Fa­brik­wa­re, die gleich trü­be bren­nen, so­bald das Öl ein we­nig ge­sun­ken ist. Da­ge­gen gibt es ei­ni­ge we­ni­ge vom Schöp­fer so vor­treff­lich aus­ge­ar­bei­te­te Mecha­nis­men, dass sie durch nichts ver­dor­ben wer­den kön­nen und das glei­che Licht ver­brei­ten, bis der letz­te Trop­fen Öl ver­zehrt, ja bis die letz­te Feuch­tig­keit aus dem Doch­te ge­so­gen ist. Sol­che Men­schen sind Got­tes Hand­ar­beit.

*

Das In­di­vi­du­um will sich ein­mal ma­ni­fes­tie­ren, ehe es in den Schoß der All­ge­mein­heit zu­rück­kehrt. Bleibt ihm gar kein Mit­tel, sich aus­zu­zeich­nen, so schreibt der All­tags­mensch we­nigs­tens sei­nen Na­men mit ei­ner ge­schmack­lo­sen Be­mer­kung ins Frem­den­buch, da­mit die Nach­fol­gen­den wis­sen, dass er auch da­ge­we­sen.

*

Geist­lo­se Men­schen kön­nen nicht freu­dig sein, die Ma­te­rie las­tet mit zu schwe­rem Druck auf ih­nen.

*

Auf tö­rich­te Wün­sche war­tet zu­wei­len eine grau­sa­me Stra­fe: ihre Er­fül­lung.

*

Der ge­fähr­lichs­te Sturz ist der von ei­nem Luft­schloss her­un­ter. Stark ist, wer sich da­von wie­der er­ho­len kann. Die meis­ten krie­chen mit zer­schmet­ter­ten Glie­dern noch eine Stre­cke wei­ter, bis sie elend lie­gen blei­ben.

*

Das Le­ben ist ein fort­ge­setz­ter, un­frei­wil­li­ger Tausch­han­del. Wir glau­ben un­ser liebs­tes Gut auf im­mer fest­zu­hal­ten, und schon lan­det, von uns un­be­ach­tet, das Schiff, das es uns ent­füh­ren wird. Und wäh­rend wir ihm hoff­nungs­los nach­star­ren, taucht am fer­nen Ho­ri­zont ein Se­gel auf, das den Er­satz bringt.

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Es kommt ein Au­gen­blick, wo auch der Glück­lichs­te voll­kom­men al­lein ist, denn das letz­te Wort auf Er­den hat je­der mit dem ei­ge­nen Kör­per zu re­den.

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Nichts cha­rak­te­ri­siert den Men­schen mehr, als das, wo­für er nie­mals Zeit fin­det.

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Je­der edle Mensch muss vor­her alt wer­den, ehe er jung wird.

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Über­le­gung kann Schur­ken ma­chen, un­be­dach­tes Han­deln macht sie nie. Da­rum flie­gen den im­pul­si­ven Na­tu­ren alle Her­zen ent­ge­gen.

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Den Ehr­gei­zi­gen soll man nicht schel­ten. Der Er­folg kann den Men­schen in­ner­lich wei­ter ma­chen. Ver­kann­tes Ver­dienst fällt oft auf eine plum­pe Schmei­che­lei her­ein, die das ver­wöhn­te Glücks­kind ver­ach­tet.

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Ein häss­li­ches Mäd­chen wird durch ein Kom­pli­ment ver­führt, das an ei­ner ge­fei­er­ten Schön­heit un­be­ach­tet nie­der­glei­tet.

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Es ist nicht zu ver­wun­dern, dass be­schränk­te Men­schen so ei­gen­sin­nig sind. Wem das Den­ken große Mühe macht, der weiß wohl, warum er das ein­mal Auf­ge­nom­me­ne so lan­ge wie mög­lich fest­hält, statt sich gleich ei­ner neu­en Mühe zu un­ter­zie­hen.

*

Ei­tel­keit macht ge­ziert und un­ru­hig, Selbst­ge­fühl gibt Na­tür­lich­keit und Si­cher­heit.

*

Dem ober­fläch­li­chen Welt­kind ist ein biss­chen Ei­tel­keit nicht schäd­lich, es ist eben auch nur ober­fläch­lich ei­tel; ei­tel auf klei­ne Ta­len­te oder äu­ße­re Vor­zü­ge. Aber wehe, wenn die Ei­tel­keit sich der ernst­haf­ten, pe­dan­ti­schen Na­tu­ren be­mäch­tigt. Die neh­men es mit der Ei­tel­keit sel­ber ernst­haft und be­zie­hen sie auf die ernst­haf­ten Din­ge, wie Cha­rak­ter, Kennt­nis­se usw. Des­halb steht kei­ne Ei­tel­keit in so üb­lem Ge­ruch, wie Ge­lehr­te­nei­tel­keit.

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Die Zeit wird nicht nach der Län­ge, son­dern nach der Tie­fe ge­mes­sen.

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Zei­ten, in de­nen wir nichts er­le­ben, sind end­los, wie ein lan­ger, wei­ßer, schat­ten­lo­ser Weg, wor­auf man kei­ner le­ben­den See­le be­geg­net.

*

Wer je­den Au­gen­blick mit tie­fem Ge­hal­te er­fül­len kann, hat sei­ne Le­bens­span­ne zur Unend­lich­keit er­wei­tert.

*

Weil die Zeit kei­ne ab­so­lu­te, nur eine re­la­ti­ve Län­ge hat, des­halb ist je­des star­ke Emp­fin­den ewig, auch wenn es nur einen Tag ge­dau­ert hät­te.

*

Es ist kein Mensch zu be­nei­den, er ste­he so hoch und fest er wol­le. Der un­auf­halt­sa­me Pla­net schwingt sich um die Son­ne und ver­nich­tet durch sei­nen blo­ßen Um­lauf al­les Er­den­glück.

*

Wi­der­spruch des Le­bens.

Man hüte sich, die mensch­li­chen Ge­schi­cke nach Re­geln und Ana­lo­gi­en zu be­rech­nen. Je­der Fall ist der ers­te und der letz­te sei­ner Art, denn nichts wie­der­holt sich je­mals ganz auf Er­den. Gera­de die Er­fül­lun­gen, die die All­tags­weis­heit am si­chers­ten vor­her­sagt, tref­fen nie­mals ein. Im Au­gen­blick der Ent­schei­dung ist das gan­ze Spiel ver­scho­ben: der Mu­ti­ge wird feig, der Ego­ist be­geht eine groß­mü­ti­ge Hand­lung, und von al­lem Er­war­te­ten ge­schieht das völ­li­ge Ge­gen­teil.

*

Das Le­ben führt uns ewig ad ab­sur­dum, und die­ser ewi­ge Wi­der­spruch ist es ge­ra­de, was das Le­ben so in­ter­essant macht.

*

Die ein­zi­gen Men­schen, die ein völ­lig ru­hi­ges Ge­wis­sen ha­ben, sind die großen Ver­bre­cher.

*

Moral und Psy­cho­lo­gie.

Wie viel freu­di­ger leb­te sich’s un­ter den Men­schen, wenn un­se­re sitt­li­che Über­le­gen­heit über den Nächs­ten nicht wäre, das Rich­ten nach idea­len For­de­run­gen, die in ih­rer Ge­samt­heit nir­gends auf Er­den er­füllt wer­den.

Die­ses mo­ra­li­sche Bes­ser­wis­sen, die­ses »er soll­te«, »er müss­te« des einen vom an­dern kann einen Men­schen mit psy­cho­lo­gi­schen Tas­t­or­ga­nen in die Verzweif­lung und von da in die Ein­sam­keit trei­ben. Wo ist denn der Sterb­li­che, der im­mer han­delt, wie er soll­te und müss­te? Der heu­te die­se Wor­te braucht, wird mor­gen sel­ber durch sie ge­rich­tet. Höchs­tens für Kin­der oder für Ma­tro­sen, die auf ei­nem Schiff bei­sam­men le­ben, ist die Pf­licht eine so ein­fa­che, grad­li­ni­ge Sa­che. Un­se­re Ver­hält­nis­se zu­sam­men mit un­se­ren An­la­gen bil­den ein so un­end­lich kom­pli­zier­tes Ge­we­be, dass in hun­dert Fäl­len neun­zig­mal dem »ich soll­te« ein »ich kann nicht« ge­gen­über­steht.

Wenn sich nun we­nigs­tens die mo­ra­li­sche Su­per­klug­heit auf den ein­zel­nen Fall be­schränk­te! Aber wie we­ni­ge kön­nen dem An­reiz wi­der­ste­hen, von da so­fort einen Rück­schluss auf den gan­zen Cha­rak­ter zu zie­hen, und dann ist der Spruch der sum­ma­ri­schen Jus­tiz fer­tig. Wie groß, wie selbst­ge­recht, wie un­an­tast­bar ist der Herr Je­der­mann, so lang er das Ge­setz im Mun­de führt. Wie hoch blickt er von den Schnee­gip­feln der idea­len For­de­run­gen auf den ar­men Teu­fel, der sie nicht er­fül­len konn­te, nie­der. Aber bit­te, Ver­ehr­tes­ter, stei­gen Sie ein­mal von Ih­rer ab­strak­ten Höhe in die Ebe­ne des Le­bens her­un­ter und mes­sen Sie hier Ihren Wuchs mit dem sei­ni­gen. Das darf ich na­tür­lich nicht laut sa­gen, des­halb de­cke ich mich in sol­chen Fäl­len durch eine klas­si­sche Au­to­ri­tät und er­wi­de­re mit Ham­let: »Gib je­dem, was er ver­dient, so ist kei­ner vor Prü­geln si­cher.«

Die Mensch­heit hat wohl­weis­lich ein hö­he­res ethi­sches Ide­al auf­ge­stellt, als sie ver­wirk­li­chen kann. Nach star­rem Rechtss­pruch ist der Mensch in je­dem Au­gen­blick an sich schon ver­damm­lich, weil er


»In der Mensch­heit trau­ri­gen Blö­ße
Steht vor des Ge­set­zes Grö­ße«,

je­nes un­ge­schrie­be­nen Ge­set­zes, das je­der in der Brust trägt, des­sen Er­fül­lung er aber zu­meist – von den an­dern er­war­tet.

*

Es ist der Grund­wi­der­spruch der mensch­li­chen Na­tur, die wah­re »Erb­sün­de«, die­ser klaf­fen­de Riss zwi­schen dem, was der Mensch vom Men­schen for­dert, und dem, was er sel­ber leis­ten kann. So gibt es ja nur in der Geo­me­trie, aber nir­gends in der Na­tur eine völ­lig ge­ra­de Li­nie. Und nur in der Arith­me­tik ge­hen die Rech­nun­gen rich­tig auf, im Le­ben bleibt im­mer ein un­lös­ba­rer Rest zu­rück. Der Dich­ter kennt die­sen Rest – er ist sein ei­gens­tes Ge­biet –, der Psy­cho­lo­ge, der Er­zie­her kennt ihn, aber die große Men­ge de­rer, die sich den­ken­de Men­schen nen­nen, weiß nichts von ihm und schreit im­mer aufs neue, wo er ihr ent­ge­gen­tritt.

*

Nun ist zum Un­glück auch un­ser geis­ti­ges Auge so ein­ge­rich­tet, dass wir die Kon­tu­ren der Din­ge viel schär­fer wahr­neh­men, als sie in Wirk­lich­keit sind. Wir se­hen einen di­cken, schwar­zen Strich, wo in Wahr­heit Licht und Schat­ten viel zar­ter in­ein­an­der­flie­ßen.

*

Wir sind alle mehr oder min­der un­duld­sam ge­gen Las­ter, die nicht in un­se­rem ei­ge­nen Tem­pe­ra­ment lie­gen. Und das ist ganz na­tür­lich. Wem der Wein nicht schmeckt, wie soll der den Trun­ke­nen be­grei­fen? Da­ge­gen zeugt es von nied­ri­ger Ge­sin­nung, wenn ei­ner be­son­de­res Är­ger­nis an sol­chen Sün­den nimmt, die ihn gleich­falls rei­zen wür­den, zu de­nen ihm aber die Ge­le­gen­heit fehlt.

*

Die tu­gend­haf­te Frau, die sich mit ih­rer Tu­gend lang­weilt, aber nicht den Mut zum Leicht­sinn fin­det, die ist es, die den ers­ten Stein auf die ge­fal­le­ne Schwes­ter wirft. Aber hier ver­las­sen wir schon das Ge­biet der falschen Moral und kom­men in das des ge­mei­nen Nei­des.

Wie man­ches Mal habe ich ge­wünscht, die ju­we­len­strah­len­de Welt­da­me möch­te sich mit mei­nen Au­gen se­hen, wenn sie, durch ein ein­zi­ges Wort ver­wan­delt, plötz­lich mit dem Was­ser­kü­bel auf dem Kopf als Li­schen am Brun­nen vor mir stand.

*

Un er­ro­re, sagt der le­bens­wei­se Ita­lie­ner, wo der har­te, ab­strak­te Ger­ma­ne gleich von Schuld, Über­tre­tung, Bruch des Ge­set­zes spricht. Rich­tig, denn die meis­ten Ver­ge­hun­gen sind Irr­tü­mer – die Ate.

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Ab und zu be­geg­net man Men­schen, die ihre Grund­sät­ze nicht nur auf die an­dern, son­dern auch auf sich sel­ber an­wen­den und de­ren Le­ben dar­um in ei­ner schnur­ge­ra­den Li­nie ver­läuft. Die­se ge­nie­ßen denn auch einen so großen mo­ra­li­schen Kre­dit, dass sie in­ner­halb ih­res Krei­ses die Rich­ter und Ra­ter in al­len Ge­wis­sens­fra­gen spie­len. Aber ge­ra­de sie sind dazu am we­nigs­ten be­ru­fen, denn sieht man sie nä­her an, so sind es recht­schaf­fe­ne, spieß­bür­ger­li­che Leu­te, in de­ren Adern das Blut so lang­sam fließt und de­ren geis­ti­ger wie auch ge­sell­schaft­li­cher Ho­ri­zont so eng ist, dass sie das Le­ben ganz zum Re­chenexem­pel ge­macht und mit Prin­zi­pi­en wie mit Wi­ckel­bän­dern um­schnürt ha­ben. Das im­po­niert dem Uner­fah­re­nen, dem Au­to­ri­täts­be­dürf­ti­gen, der die Ge­dan­ken an­de­rer zum Den­ken braucht. Aber wie schnell ver­sa­gen die­se Ora­kel vor den Kon­flik­ten ei­ner be­dräng­ten See­le. Wie soll­te auch der Phi­lis­ter, der nichts er­fah­ren hat und nie die Gren­zen des Men­sch­li­chen ab­ge­tas­tet, mit sei­ner Buch­weis­heit und Buch­mo­ral in die Ab­grün­de des Le­bens leuch­ten? Die Brav­heit und Un­be­schol­ten­heit tun es nicht, und al­les Er­lern­te steht hilf­los dem Le­ben ge­gen­über. Wer den Ge­wis­sen ein Füh­rer sein will, der muss sel­ber mit En­geln und Dä­mo­nen ge­haust ha­ben und Verant­wor­tun­gen ge­tra­gen, aus de­nen die Er­kennt­nis fließt. So ei­nem Re­naissancemönch, der sich aus wil­den Aben­teu­ern in die Stil­le der Zel­le zu­rück­ge­zo­gen hat­te, um nach­zu­den­ken, ei­nem sol­chen moch­te sichs gut beich­ten. Wes­sen Tu­gend aber von der ne­ga­ti­ven Art ist, der hat höchs­tens Licht ge­nug, um sei­nen ei­ge­nen Weg zu fin­den.

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Wer aus den mo­ra­li­schen For­de­run­gen die letz­ten strengs­ten Kon­se­quen­zen zie­hen will, dem bleibt nichts üb­rig, als in eine men­schen­lee­re Wüs­te zu flie­hen. Und wenn er sich be­sinnt, so wird er viel­leicht auch dort er­ken­nen müs­sen, dass im­mer noch ei­ner zu viel da ist.

In die­ser schreck­li­chen Enge hat die Na­tur uns zwei Si­cher­heits­ven­ti­le ge­ge­ben: die Nach­sicht, die nichts ist, als die an­ge­wand­te Ge­rech­tig­keit im Ge­gen­satz zur ab­strak­ten, und den Hu­mor.

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Der Durch­schnitts­mensch sieht von sei­nem Ge­gen­über im­mer nur die eine, ihm je­weils zu­ge­kehr­te Sei­te. Er kann sich in den Os­zil­la­tio­nen des Ta­ges kein kla­res und un­ver­rück­tes Bild der an­de­ren er­hal­ten. So ent­steht das be­stän­di­ge Auf und Ab in der Be­ur­tei­lung der Cha­rak­tere, das wech­seln­de Über­schät­zen und Ver­wer­fen, das den un­be­fan­ge­nen Zuschau­er mit­un­ter fast see­krank macht.

Die se­he­risch an­ge­leg­ten Na­tu­ren tra­gen das Gan­ze ei­nes Men­schen als fes­tes Bild mit Licht und Schat­ten in sich her­um, das durch die wech­seln­den Er­fah­run­gen nur lei­se mo­di­fi­ziert, nicht häupt­lings um­ge­stürzt wer­den kann. Wi­der­sprü­che er­stau­nen sie nicht, denn sie wis­sen, dass die­se zum Gan­zen ei­ner In­di­vi­dua­li­tät ge­hö­ren. Sie ken­nen kei­nen sitt­li­chen Ei­fer, und die rich­ter­li­che Weis­heit der an­dern ist ih­nen ein Greu­el; mehr noch als ihr Ge­müt, em­pört sie ih­ren In­tel­lekt. Das bringt sie in be­stän­di­gen Ge­gen­satz zu ih­rer Um­ge­bung, der sol­che Ob­jek­ti­vi­tät nicht sel­ten als Käl­te oder mo­ra­li­sche In­dif­fe­renz er­scheint. Ge­wiss ist ein Haupt­grund, wes­halb so oft die Dich­ter und Se­her sich in spä­te­ren Jah­ren ganz vom Ver­kehr der Men­schen zu­rück­zie­hen und ihr Le­ben in selbst­ge­wähl­ter Ein­sam­keit be­schlie­ßen: die blin­den Ur­tei­le der Schnell­fer­ti­gen nicht mehr hö­ren zu müs­sen.

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Ar­tig auch ge­gen sich selbst.

Wenn man sei­ne Män­gel nicht hät­scheln soll, so hat man doch auch nicht nö­tig, sie mit Keu­len aus­zu­trei­ben. Man be­hand­le sein Ich wie einen er­prob­ten Freund, an dem man ge­le­gent­lich gern einen Feh­ler ab­stel­len möch­te. Man su­che sich selbst durch freund­li­chen Zu­spruch, al­len­falls durch ein biss­chen Schmei­che­lei, zum Bes­se­ren zu be­re­den. Man sage sich zum Bei­spiel in ei­nem Mo­ment der Ver­zagt­heit:

»Komm! Ich ken­ne dich ja sonst als brav, hast schon man­ches Mal gut be­stan­den, wirst mir doch dies­mal kei­ne Schan­de ma­chen.«

Das Ge­lobt­wer­den für eine Ei­gen­schaft, die man nicht hat, wird häu­fig zum Sporn, sich die­se Ei­gen­schaft zu er­wer­ben, und der wahr­haft Klu­ge muss auch ver­ste­hen, sich sel­ber zu über­lis­ten.

Das ab­strak­te Moral­pre­di­gen da­ge­gen ist beim ei­ge­nen Ich so wir­kungs­los, wie beim frem­den.

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Der Dank ein Übel.

Dank soll man we­der ge­ben noch for­dern. Er wür­digt bei­de Tei­le her­ab. Durch einen Dienst, den man mir er­weist, darf ich in nichts ge­hin­dert sein, sonst ver­wan­delt sich die Wohl­tat in eine Übel­tat, und nur aus die­ser Ge­sin­nung her­aus darf ich an­de­ren et­was Gu­tes er­wei­sen. Wenn ihr mich nicht liebt für das, was ich bin, – für das, was ich tue, sollt ihr mich nicht lie­ben müs­sen, denn so hal­te ich’s auch mit euch.

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Wer sich zur Dank­bar­keit ver­pflich­ten lässt, der trägt eine Ket­te, ge­gen die er sich frü­her oder spä­ter em­pö­ren muss, denn alle Lie­be will Frei­heit und Freu­dig­keit. Eine Wohl­tat, sei sie noch so groß, ist durch in­ne­re Ab­hän­gig­keit zu teu­er be­zahlt. Wer sie in die­ser Ab­sicht er­weist, macht ein Ge­schäft, bei dem er den Freund über­vor­teilt, und bleibt da­bei doch der Be­tro­ge­ne. Um ge­recht und lie­be­voll zu blei­ben, habe man den Mut, un­dank­bar zu sein.

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Das Dan­ken ist ei­gens er­fun­den, um die Last der Dank­bar­keit auf­zu­he­ben. Es ist eine Hand­lung, die sich mit ei­ner an­de­ren Hand­lung schein­bar ins Gleich­ge­wicht setzt, was ein blo­ßes Ge­fühl nicht könn­te. Sie macht den­je­ni­gen, der sie voll­zo­gen hat, wie­der zu ei­nem frei­en Men­schen.

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Macht der Über­zeu­gung.

Nichts auf Er­den ist so un­wi­der­steh­lich wie Über­zeu­gung, die aus tiefs­ter See­le kommt. Sie ist der Strom, der alle Däm­me bricht und alle Was­ser mit sich reißt. Sie un­ter­wirft sich so­gar die Welt der Sin­ne. Eine häss­li­che Frau kann durch den fel­sen­fes­ten Glau­ben, schön zu sein, ihre Um­ge­bung so be­ein­flus­sen, dass die­se nicht mehr wagt, sie häss­lich zu se­hen. Ja, die­ser Glau­be braucht nicht ein­­­­­­­­­­­