cover image

Isolde Kurz

Italienische Erzählungen

Isolde Kurz

Italienische Erzählungen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-33-1

null-papier.de/538

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Schus­ter und Schnei­der

Mit­tags­ge­spenst

Pen­sa

Die Glücks­num­mern

Er­reich­tes Ziel

Ein Rät­sel

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Schuster und Schneider

Paul An­der­sen war, wie so man­cher jun­ge Künst­ler vor ihm, auf ei­ner Stu­di­en­rei­se in Ita­li­en hän­gen ge­blie­ben und hat­te nie­mals wie­der den Rück­weg nach Deutsch­land ge­fun­den. Über sei­ne Aus­sich­ten gab er sich sel­ber kei­ner Täu­schung hin, er be­saß we­der Ver­mö­gen, noch die nö­ti­ge Pro­tek­ti­on, um sich auf dem frem­den Bo­den vor­wärts zu brin­gen, auch war sein Ta­lent und sein Selbst­ge­fühl von dem über­wäl­ti­gen­den An­blick der großen Al­ten all­mäh­lich so zu­sam­men­ge­drückt wor­den, dass er es kaum mehr wag­te, den Pin­sel in ei­ge­ner Sa­che ein­zut­au­chen, son­dern sich zu­meist auf das Ko­pie­ren al­ter Bil­der warf. An die­se Auf­ga­be wand­te er den gan­zen Ernst und Fleiß und die un­er­müd­li­che Treue sei­ner tief­grün­di­gen Na­tur und die Ei­gen­tüm­lich­kei­ten der al­ten Meis­ter wur­den ihm mit der Zeit so ge­läu­fig, dass für ein un­ge­üb­tes Auge sei­ne Ko­pi­en von den Ori­gi­na­len kaum zu un­ter­schei­den wa­ren. Dar­über ging frei­lich die ei­ge­ne schöp­fe­ri­sche Kraft zu Grun­de und sein In­ter­es­se be­schränk­te sich bald ganz auf das Aus­den­ken tech­ni­scher Kunst­fer­tig­kei­ten im Be­han­deln der Far­ben und Lein­wand, wo­durch er sei­nen Ar­bei­ten auch noch das Aus­se­hen des Al­ters gab und sie den Ur­bil­dern auf Haa­res­brei­te vollends an­nä­her­te.

Ob­gleich er nun so hoch über dem Tross der Ko­pis­ten stand, wie die al­ten Meis­ter über ihm, brach­te er sich doch nur küm­mer­lich fort, denn er wuss­te sich kei­ne Gel­tung zu ver­schaf­fen und fast alle sei­ne Be­stel­lun­gen gin­gen durch drit­te Hand, wo­bei die Hälf­te der Ein­nah­men un­ter­wegs blieb. Den­noch zog er die­ses trü­be schat­ten­haf­te Da­sein dem freund­li­chen aber spieß­bür­ger­li­chen Son­nen­schein sei­ner hei­mi­schen Ver­hält­nis­se bei wei­tem vor, und war ge­son­nen, in Flo­renz zu le­ben und zu ster­ben. Nie gönn­te er sich eine Ab­wechs­lung oder Zer­streu­ung, die Geld ge­kos­tet hät­te und die ängst­li­che Ge­wis­sen­haf­tig­keit, mit der er über sei­ne Aus­ga­ben wach­te, wur­de ihm im Lauf der Jah­re zur zwei­ten Na­tur. Das Erdarb­te brach­te er sei­ner Braut, ei­nem blon­den schüch­ter­nen Mäd­chen, das als Gou­ver­nan­te in ei­ner kin­der­rei­chen deut­schen Fa­bri­kan­ten-Fa­mi­lie auch nicht auf Ro­sen ge­bet­tet war. Die­se trug es mit dem ih­ri­gen auf eine Bank, wo sie sich von ei­nem Kom­mis, der ihr per­sön­lich be­kannt war, beim An­kauf der Pa­pie­re be­ra­ten ließ. Paul An­der­sen misch­te sich nie in die­ses Ge­schäft, er war bei al­ler Be­son­nen­heit ein we­nig Fan­tast und sah das Geld für eine dä­mo­ni­sche, dem Men­schen feind­se­li­ge Na­tur an, mit der er so we­nig wie mög­lich zu schaf­fen ha­ben moch­te, ja er fühl­te sich im­mer or­dent­lich er­leich­tert, wenn die klei­nen Sum­men, die er bei Sei­te le­gen konn­te, nicht mehr in sei­nen Hän­den wa­ren.

In der Via Ghi­bel­li­na be­wohn­te er hoch oben im drit­ten Stock­werk ei­nes al­ten Hau­ses zwei dürf­tig ein­ge­rich­te­te Zim­mer, de­ren ei­nes mit Bil­der­rah­men, Map­pen und Skiz­zen­bü­chern an­ge­füllt war und des­halb das Ate­lier hieß, ob­wohl er nicht dar­in mal­te. Eine zer­brö­ckeln­de stei­ner­ne Ter­ras­se, die an sei­nen Kor­ri­dor stieß und auf den so­ge­nann­ten »Gar­ten«, einen ge­pflas­ter­ten Hof mit meh­re­ren Bäu­men hin­un­ter­sah, wur­de ihm von der Wir­tin noch un­ent­gelt­lich zum Trock­nen sei­ner Bil­der über­las­sen.

Die­se Ter­ras­se war sei­ne ein­zi­ge Freu­de, denn er, dem al­les an­de­re fehl­schlug, hat­te eine glück­li­che Hand für Blu­men und schuf sich den trüb­se­li­gen Win­kel, den zu­vor nur Wasch­sei­le mit auf­ge­häng­ten Hem­den und zer­ris­se­nen St­rümp­fen zu schmücken pfleg­ten, in ein klei­nes Pa­ra­dies­gärt­lein um, in dem es das gan­ze Jahr hin­durch Früh­ling war. Aus Sä­me­rei­en und Setz­lin­gen zog er sei­ne Blu­men, die sich Kopf an Kopf in drei­fa­cher Ab­stu­fung die stei­ner­ne Bal­lus­tra­de hin­an­dräng­ten, wäh­rend dunkle Blatt­pflan­zen, de­ren ihm kei­ne je verd­arb, in die­sem Far­ben­kon­zert den Grund­bass spiel­ten. Der Duft sei­ner Ter­ras­se füll­te wett­ei­fernd mit dem Fir­nis­ge­ruch der Bil­der das gan­ze Haus. Je­den Abend schlepp­te er sel­ber einen großen Ei­mer Was­ser, der den Tag über im Hof ge­sonnt wer­den muss­te, sei­ne drei Trep­pen hin­auf, um die Blu­men zu be­gie­ßen, und wenn er sich auch in den hei­ßes­ten Mo­na­ten nicht ent­schlie­ßen konn­te, die Stadt zu ver­las­sen, so ge­sch­ah es eben­so sehr aus Rück­sicht auf sei­ne Blu­men, wie auf sein Bud­get.

Im Win­ter wur­de die Ter­ras­se durch große Glas­schei­ben, den ein­zi­gen Lu­xus, den Paul An­der­sen sich ge­stat­te­te, ge­schützt. Dor­thin zog er sich zu­rück, wenn die Tra­mon­ta­na das Haus rüt­tel­te und er zu spar­sam war, um ein­zu­hei­zen, und in den schwü­len Som­mer­näch­ten, wo die Zim­mer vor auf­ge­spei­cher­ter Ta­ges­hit­ze dampf­ten, saß er drau­ßen auf sei­ner Ter­ras­se beim Schein der Lam­pe le­send oder in ein­sa­mer Grü­belei.

Ab und zu aber wur­de dies stil­le, heim­li­che Blu­men­land der Schau­platz ei­ner lär­men­den Or­gie. Dies ge­sch­ah, wenn es dem Be­woh­ner des ers­ten Stock­werks, dem tol­len Baron Neu­brunn, ein­fiel, die ge­mein­sa­men Freun­de zu ei­ner Bow­le auf An­der­sens Ter­ras­se ein­zu­la­den. Dann wi­der­hall­te der schweig­sa­me Ho­fraum von deut­schen Stu­den­ten­lie­dern, ita­lie­ni­schen Ope­ret­ten­me­lo­di­en und ei­nem Ge­wirr la­chen­der, trun­ke­ner Stim­men, durch die Neu­brunns Bass wie ein Trom­pe­ten­tusch hin­durch­klang. Und Paul An­der­sens wei­ße, zärt­li­che Aza­leen, sei­ne stol­zen Mar­schall-Niel-Ro­sen und la­chen­den Chrysan­the­men wun­der­ten sich über die selt­sa­men Re­den, die in sol­cher Nacht an ih­ren Ohren vor­über­rausch­ten, noch mehr aber wun­der­ten sie sich über ih­ren Herrn, der auf­ge­löst von Wein­ge­nuss und Wohl­be­ha­gen un­ter den aus­ge­las­se­nen Gäs­ten saß und sei­nen gan­zen in­nern Men­schen in ei­nem Strom von Le­bens­lust ba­de­te. Nur dass er je­des Mal nach ei­ner sol­chen Ent­la­dung sich auf lan­ge Zeit um so hart­nä­cki­ger in sich selbst ver­biss, wo­für ihn sein Freund Neu­brunn, dem ein Tag wie der an­de­re im Ge­nuss ver­ging, einen Greis ohne Ver­gan­gen­heit schalt.

Die­ser Neu­brunn, ein miss­ra­te­ner Lit­te­rat und her­ab­ge­kom­me­ner Ad­li­ger, hat­te eine gan­ze Flucht schön­mö­blier­ter Zim­mer im ers­ten Stock inne, für die er seit Jah­ren den Miet­zins schul­dig war. Sein auf un­zäh­li­gen Men­su­ren zer­hack­tes Ge­sicht, das sich schon auf­zu­schwem­men be­gann, ver­riet nur noch durch den ed­len Kno­chen­bau, dass es einst auf der Uni­ver­si­tät dem »schö­nen Neu­brunn« ge­hört hat­te, aber sein ath­le­ti­scher Wuchs war trotz der lot­te­ri­gen Le­bens­wei­se ge­schmei­dig ge­blie­ben und die un­ver­wisch­ba­ren Kenn­zei­chen ed­ler Ras­se, die sei­ner gan­zen Er­schei­nung an­haf­te­ten, mach­ten ihn auf den ers­ten Blick sym­pa­thisch.

Von was er ei­gent­lich leb­te, war je­der­mann ein Ge­heim­nis, viel­leicht ihm sel­ber eben­falls. Vor lan­gen Jah­ren war er ein­mal von ei­ner großen Zei­tung als Be­richt­er­stat­ter zu ei­nem Kon­greß nach Ita­li­en ge­schickt wor­den und von da nicht wie­der heim­ge­kehrt. Zwar hat­te er wohl eine Zeit lang mit vie­lem Ge­schick den ver­schie­de­nen Re­dak­tio­nen, mit wel­chen er in Ver­bin­dung stand, Vor­schüs­se zu ent­lo­cken ge­wusst, da aber sei­ne ver­spro­che­nen Kor­re­spon­den­zen aus­blie­ben, so ver­sieg­te die­se Quel­le. Dann fand er Freun­de, die ihm für große, nie in die Wirk­lich­keit tre­ten­de Pro­jek­te Geld borg­ten, und mit­un­ter, wenn ihm das Was­ser wirk­lich an den Hals stieg, schrieb er ein ge­le­gent­li­ches Feuil­le­ton oder einen wit­zi­gen Rei­se­be­richt, der ihm glän­zend ho­no­riert wur­de, denn das Glück, das ab und zu mit ihm schmoll­te, kehr­te doch im­mer wie­der durch eine Sei­ten­tü­re zu ihm zu­rück. Für ge­wöhn­lich zog er es aber vor, sei­ne gu­ten Ein­fäl­le hin­ter dem Wein­glas zu ver­puf­fen, wo ihm nie ein dank­ba­res Pub­li­kum fehl­te. Ohne her­vor­ra­gen­de Ta­len­te be­saß er alle Ei­gen­schaf­ten ei­nes un­wi­der­steh­li­chen Ge­sell­schaf­ters, und da er sich nach der Schul­zeit wohl ge­hü­tet hat­te, sei­nen Kopf noch mit vie­len Kennt­nis­sen oder mit Lek­tü­re zu be­schwe­ren, so gab sein gut ge­schon­tes Ge­dächt­nis, so­bald er im Zuge war, al­les von sich, was seit den frühs­ten Jah­ren dar­in auf­ge­spei­chert lag: An­ek­do­ten, Stu­den­ten­wit­ze, den Mo­no­log aus »Man­fred«, den er schon auf dem Gym­na­si­um zu de­kla­mie­ren pfleg­te oder einen grie­chi­schen Chor­ge­sang und das al­les ent­quoll ihm zwar ohne An­knüp­fung und Zu­sam­men­hang, aber so leicht und spru­delnd, dass der Hö­rer den Born für un­er­schöpf­lich hal­ten muss­te. An­der­sen da­ge­gen, der al­les las, aber nichts be­hielt, und sei­nen Geist nie zur Hand hat­te, wenn er ihn eben brauch­te, lä­chel­te heim­lich oder är­ger­te sich auch wohl mit­un­ter über des Freun­des leicht er­wor­be­ne Tri­um­phe, konn­te aber sel­ber sei­nen Um­gang nicht miss­en. Karl Neu­brunn sei­ner­seits be­wies sei­ne Hochach­tung vor An­der­sen da­durch, dass er sich un­er­müd­lich von ihm Geld vor­stre­cken ließ, wel­ches er mit un­glaub­li­cher Ge­schwin­dig­keit ver­brauch­te und nie­mals heim­zahl­te. Frei­lich stand da­für auch sei­ne ei­ge­ne Kas­se Paul so gut wie al­len an­dern Freun­den zur Ver­fü­gung, wenn er ge­ra­de bei Geld war, aber der arme Ko­pist mach­te von die­ser Mög­lich­keit, die auch wohl­ha­ben­de Leu­te nicht ver­schmäh­ten, kei­nen Ge­brauch, und so spar­sam er sonst war, das an Neu­brunn ge­wen­de­te Geld reu­te ihn nie­mals. Es er­schi­en ihm nur als ein Teil der Na­tu­r­ord­nung, dass für einen Reb­stock, der nicht auf ei­ge­nen Fü­ßen ste­hen kann, ein Ulm­baum wächst, an den er sich lehnt, dass für einen See­krebs, der kein ei­ge­nes Haus zu bau­en ver­mag, die Schne­cke da ist, die ihm das ih­ri­ge über­lässt, und für einen Karl Neu­brunn, der nicht spa­ren kann, ein Paul An­der­sen, der ihm vor­schießt. Üb­ri­gens teil­ten sämt­li­che Freun­de mehr oder we­ni­ger die­se Auf­fas­sung, und selbst die Haus­frau, die an je­dem Ter­mi­ne rück­sichts­los ih­ren Zins ein­zog und den Nicht­zah­ler un­barm­her­zig auf die Stra­ße ge­setzt hät­te, be­wies ge­gen Karl Neu­brunn al­lein eine un­er­müd­li­che Lang­mut; sie nahm sei­ne Kom­pli­men­te an Zah­lungs­statt und be­dien­te ihn so auf­merk­sam, wie kei­nen an­dern ih­rer Mie­ter.

An ei­nem son­ni­gen Früh­som­mer­mor­gen war Paul An­der­sen er­sicht­lich mit dem lin­ken Fuß zu­erst aus dem Bet­te ge­stie­gen, denn es ging ihm an die­sem Tage al­les schief. Er hat­te schon eine Rahm­kan­ne der Haus­wir­tin zer­bro­chen und sein Tin­ten­fass über ein frisch­ge­bü­gel­tes Hemd aus­ge­gos­sen, als er die Ent­de­ckung mach­te, dass die Holz­ta­fel mit sei­nem ra­phae­li­schen Ju­li­us dem Zwei­ten in ih­rer gan­zen Län­ge zer­sprun­gen war. Er hat­te so­gar in der Nacht den Knall ge­hört, ohne sich Re­chen­schaft da­von zu ge­ben. Der Ju­li­us war eine sei­ner bes­ten Ar­bei­ten, Paul hat­te vol­le vier Wo­chen mit Zu­set­zung all sei­ner Kräf­te dar­an ge­malt und Es­sen und Trin­ken dar­über ver­ges­sen, denn das Bild war für einen rei­chen Lieb­ha­ber be­stimmt, einen der sel­te­nen wahr­haft Ver­stän­di­gen, der ihm wei­te­re Auf­trä­ge in Aus­sicht ge­stellt hat­te, und es muss­te mor­gen schon ab­ge­lie­fert wer­den.

Was nun be­gin­nen? Ein klaf­fen­der Riss lief senk­recht durch das gan­ze Bild und teil­te das päpst­li­che An­ge­sicht in zwei Hälf­ten, ein zwei­ter kür­ze­rer hat­te noch das lin­ke Auge ge­spal­ten. Die Ver­si­che­rung des Schrei­ners, dass die Sprün­ge durch Zu­sam­men­schrau­ben und un­ter­ge­setz­te Leis­ten zu hei­len sei­en, ge­währ­te ihm nur ge­rin­gen Trost, denn ab­ge­se­hen vom Zeit­ver­lust, war es kein be­ru­hi­gen­der Ge­dan­ke, die noch feuch­te Ma­le­rei un­ter Tisch­ler­hän­den auf der Ho­bel­bank zu wis­sen.

Ver­stimmt lehn­te er an ei­nem Fens­ter, das auf die düs­te­re Stra­ße hin­un­ter ging und gab sei­nen trüb­se­ligs­ten Ge­dan­ken Ge­hör. Er war von je­her ein Pech­vo­gel ge­we­sen. Seit zehn Jah­ren ar­bei­te­te er wie ein Last­tier, er gönn­te sich kei­ne freie Stun­de, kein Auss­pan­nen, kei­ne Er­ho­lung. Und ob­wohl es ihm ge­lun­gen war, sich einen ge­wis­sen Na­men zu ma­chen, kam er um kei­nen Schritt vor­wärts, ja in den letz­ten Jah­ren wa­ren so­gar sei­ne Ein­nah­men zu­rück­ge­gan­gen, denn zwei Win­ter lang hat­ten bös­ar­ti­ge Epi­de­mi­en in Flo­renz ge­wü­tet und die Frem­den, von de­nen sein Er­werb ab­hing, fern­ge­hal­ten.

Wenn er sich in sol­che Ge­dan­ken ver­bohr­te, so lief er Ge­fahr, in einen krank­haf­ten Klein­mut zu ver­fal­len, der sei­ne Tat­kraft lähm­te und ihn hal­be Tage lang wehr­los und ge­bro­chen aufs Kana­pee nie­der­streck­te, und er wuss­te dies. Um sich zu zer­streu­en trat er einen Au­gen­blick vor den Spie­gel, der et­was ge­neigt zwi­schen bei­den Fens­tern hing und ihm sei­ne Per­son in gan­zer Höhe zeig­te. Da über­rasch­te es ihn, wie ha­ger er ge­wor­den war und dass durch sein einst so schö­nes, brau­nes Haar schon da und dort die Kopf­haut schim­mer­te. Wo war sei­ne blü­hen­de Ju­gend­ge­stalt ge­blie­ben? Vor zehn Jah­ren – was für ein fri­scher, bild­hüb­scher Jun­ge hat­te ihn aus dem­sel­ben Spie­gel an­ge­se­hen! Ob Ly­dia wohl die Ver­än­de­rung be­merk­te, die mit ihm vor­ge­gan­gen war? Und sie selbst? – Hat­te nicht das lan­ge Har­ren und Ent­beh­ren auch ihr schon sei­nen un­aus­lösch­li­chen Stem­pel auf­ge­drückt? Ohne die treue Nei­gung zu ihm wäre sie schon längst die glück­li­che Gat­tin ei­nes an­dern, der sei­ne Zeit bes­ser zu nut­zen ge­wusst und ihr eine si­che­re Stel­lung bie­ten konn­te. Acht­zehn­jäh­rig hat­te sie sich mit ihm ver­lobt, nach­dem sie frisch in Flo­renz an­ge­kom­men war, um im Es­sel­in­schen Haus die War­tung des Erst­ge­bo­re­nen zu über­neh­men. Un­ter­des­sen wa­ren zehn Jah­re ver­gan­gen, zehn lan­ge Jah­re voll Müh­sal und Selbst­ver­leug­nung. Dem einen Spröß­ling wa­ren sechs an­de­re nach­ge­folgt, die alle von Ly­dia ge­wa­schen, ge­wi­ckelt und um­her­ge­tra­gen wor­den wa­ren, und noch im­mer saß das lie­be Mäd­chen wie eine arme See­le im Fe­ge­feu­er, und war­te­te, dass er sie er­lö­se.

Sie hat­ten sich vor­ge­nom­men, nicht eher zu hei­ra­ten, als bis sie ge­mein­sam einen Not­pfen­nig zu­rück­ge­legt hät­ten; zu­erst träum­ten sie von zwan­zig­tau­send Fran­ken, aber als sie sa­hen, wie schwer es hält, aus lau­ter klei­nen Schei­nen ein Tau­send­fran­ken­bil­let zu ma­chen, setz­ten sie die Sum­me auf die Hälf­te her­un­ter und nach zehn­jäh­ri­gem War­ten und Ar­bei­ten war das be­schei­de­ne Ziel noch nicht er­reicht. Hät­te er sie lie­ber gleich im ers­ten Ju­gend­leicht­sinn heim­ge­führt, dann wäre we­nigs­tens das Le­ben nicht so un­ge­lebt ver­flos­sen, sie hät­ten mit we­ni­gem Haus ge­hal­ten und sich ge­mein­sam nach der De­cke ge­streckt. Frei­lich, wenn er an den Es­sel­in­schen Kin­der­se­gen dach­te, pries er doch wie­der sei­ne Vor­sicht, die ihn vor ei­nem ähn­li­chen Ge­schick be­wahrt hat­te. Der ar­men ge­quäl­ten Ly­dia stand es we­nigs­tens je­den Tag frei, aus ih­rer Stel­le zu tre­ten, wäh­rend es aus dem Ehe­joch kein Ent­rin­nen mehr gab.

Schon halb ge­trös­tet schick­te er sich eben zum Aus­ge­hen an, als der Brief­bo­te klopf­te und ihm eine An­wei­sung auf hun­dert­fünf­zig Fran­ken über­brach­te, die Adres­sat per­sön­lich auf der Post in Empfang zu neh­men habe.

Paul An­der­sen stand wie im Traum. Eine Geld­sen­dung! Seit er dem El­tern­haus ent­wach­sen war, hat­te er kei­ne sol­che mehr er­hal­ten, denn sei­ne Bil­der wur­den ihm im­mer baar oder in Ra­ten durch den Händ­ler vor­aus­be­zahlt. Wer konn­te ihm Geld zu schi­cken ha­ben? Er dreh­te den gel­ben Wisch um und um, als kön­ne er ihm sein Ge­heim­nis ab­fra­gen, der aber ver­riet nichts wei­ter, als dass die Sen­dung aus Deutsch­land kam.

Mit sei­nem vol­len Her­zen eil­te An­der­sen zu Neu­brunn hin­un­ter, um ihm das un­er­hör­te Er­eig­nis mit­zu­tei­len.

Der stand noch im tiefs­ten Neg­ligé bei sei­ner Dou­che und rief ihm schon von wei­tem ent­ge­gen:

»Po­mo­na hat mich be­lei­digt! Sie muss Ab­bit­te tun oder ich wer­de das Haus ver­las­sen!«

»Po­mo­na« nann­te er die Haus­ver­mie­te­rin we­gen der rei­fen Fül­le ih­rer For­men, im ge­wöhn­li­chen Le­ben hieß sie Si­gno­ra Vir­gi­nia und war eine im­po­san­te Dame in den bes­ten Jah­ren.

Paul An­der­sen, im­mer ge­wohnt sein Ich hintan zu set­zen, frag­te teil­neh­mend was ge­sche­hen sei.

»Sie be­klagt sich, ich brin­ge schlech­te Ge­sell­schaft ins Haus. Mei­ne Car­lot­ta schlech­te Ge­sell­schaft! Der Teu­fel hole die fet­te, heuch­le­ri­sche Krö­te!« Und in­dem er eine gan­ze Sal­ve von we­nig­ge­wähl­ten Ti­tu­la­tu­ren über die un­glück­li­che Wir­tin er­goss, warf er in der Auf­re­gung sei­nen Wasch­ap­pa­rat durch­ein­an­der, zog die Schub­la­de her­aus und streu­te ih­ren In­halt auf den Bo­den, wo­bei er be­stän­dig wie­der­hol­te:

»Ich zie­he aus! Ich zie­he aus!«

Paul An­der­sen woll­te ihn be­ru­hi­gen, aber er kam nicht zu Wort. Wohl ein hal­b­es Dut­zend Mal hin­ter­ein­an­der und im­mer mit den glei­chen Wor­ten er­zähl­te ihm der Freund die Be­lei­di­gung, die ihm wi­der­fah­ren war, und er schloss je­des Mal:

»Ab­bit­te muss sie tun – auf den Kni­en oder ich will nicht mehr Karl Neu­brunn hei­ßen.«

Paul emp­fahl sich rasch, er wuss­te seit lan­ge, dass Neu­brunn, so­bald ihm eine ei­ge­ne An­ge­le­gen­heit quer ging, für nichts an­de­res mehr zu ha­ben war.

Er muss­te sein Glück al­lein tra­gen und auch al­lein den ihm läs­ti­gen Gang zur Post ma­chen, denn er hat­te heim­lich ge­hofft, Neu­brunn, dem die Geldan­wei­sun­gen ge­läu­fi­ger wa­ren, wür­de ihn be­glei­ten.

Zu­erst eil­te er aber zu sei­nem Tisch­ler, wo er das Bild, das er selbst zum Schutz mit Sei­den­pa­pier über­zo­gen hat­te, schon ge­leimt und in der Ho­bel­bank ein­ge­schraubt sah. So­dann, um das Geld nicht den gan­zen Tag in der Ta­sche her­um­zu­tra­gen, be­gab er sich voll fro­her Un­ru­he nach den Uf­fi­zi­en und pin­sel­te bis zum sin­ken­den Abend an ei­nem an­ge­fan­ge­nen Ti­zi­an.

Gera­de vor Schal­ter­schluss er­schi­en er auf der Post, um sich die Geld­sen­dung ein­hän­di­gen zu las­sen, und es be­durf­te noch vie­ler For­ma­li­tä­ten, bis ihm hun­dert­und­zwan­zig Mark in fun­keln­den fran­zö­si­schen Gold­stücken aus­be­zahlt wur­den. Ein kur­z­es Begleit­schrei­ben sag­te, dass die­ses Geld der fünf­te Teil von dem Ge­winn ei­nes Lot­te­rie­lo­ses sei, das An­der­sen ein­mal vor zehn und ei­nem hal­b­en Jah­re zu­sam­men mit meh­re­ren Freun­den ge­kauft hat­te. Das Los war ihm in den lan­gen Jah­ren völ­lig aus dem Ge­dächt­nis ent­schwun­den; er hat­te da­mals nur aus Ge­fäl­lig­keit sich an dem Kauf be­tei­ligt und nie ge­dacht, dass ein Pech­vo­gel wie er ein­mal wirk­lich in der Lot­te­rie ge­win­nen könn­te. Nun kam er sich mit dem vom Him­mel ge­fal­le­nen Gol­de auf ein­mal wie ein rei­cher Mann vor. Al­les Geld, was er ver­dien­te, hat­te im­mer im Voraus sei­ne Be­stim­mung, je­der Frank war ei­gent­lich schon aus­ge­ge­ben, ehe er ihn ein­nahm. Heu­te zum ers­ten Mal in sei­nem Le­ben, fiel ihm das Uner­war­te­te, der ab­so­lu­te Über­fluss auf den Kopf und in sei­nem Ju­bel be­schloss er, end­lich auch ein­mal leicht­sin­nig zu sein.

Aber al­les will ge­lernt sein, auch der Leicht­sinn. Paul An­der­sen stand lan­ge Zeit im Hof des Post­ge­bäu­des, sei­ne Gold­stücke fest in der ge­schlos­se­nen Hand hal­tend und über­leg­te, was er ei­gent­lich da­mit an­fan­gen woll­te. Für das täg­li­che Le­ben soll­ten sie nicht drauf ge­hen, sei­ne Be­dürf­nis­se wa­ren für die nächs­te Zu­kunft ge­deckt, aber eben­so­we­nig woll­te er sie auf Zin­sen an­le­gen. Sie soll­ten be­han­delt wer­den wie ein Göt­ter­ge­schenk, und et­was freu­di­ges, er­he­ben­des soll­te ihre Frucht sein. Aber was? Nun, da­für wird Ly­dia Rat wis­sen. Jetzt nur auf der Stel­le einen Wa­gen ge­nom­men und zu ihr hin­aus­ge­fah­ren! Zwar sie wohnt au­ßer­halb der »Bar­rie­ra« und das kos­tet die dop­pel­te Fahr­ta­xe, aber heu­te soll ein­mal gar nicht ge­rech­net wer­den. Und halt, noch et­was! Schon lang be­küm­mer­te es ihn, dass sei­ne Liebs­te kein An­ge­bin­de von ihm be­saß, au­ßer ei­nem schma­len gold­nen Reif­chen, dem An­den­ken sei­ner ver­stor­be­nen Mut­ter, das sie im­mer am Fin­ger trug. Jetzt woll­te er ihr einen schö­nen Ring mit wert­vol­lem Ju­wel oder bes­ser noch ein gol­de­nes Arm­band mit klei­nen Bril­lan­ten be­sät, wie er es jüngst an der Po­mo­na ge­se­hen hat­te, kau­fen. Vom Wert ei­nes sol­chen Ge­gen­stan­des hat­te er kei­ne Ah­nung, son­dern war über­zeugt, dass ihm im­mer noch Geld ge­nug üb­rig blei­ben wer­de, um sich und ihr einen ganz köst­li­chen, aus­ge­such­ten Tag zu be­rei­ten, so einen Tag, der ein Ge­dächt­nis­tag im Le­ben wird und auf Jah­re hin­aus sei­nen Son­nen­schein fest­hält.

Vor­sich­tig zähl­te er sein Geld noch ein­mal ab und ließ die Gold­mün­zen lang­sam, Stück für Stück in sei­ne Ho­sen­ta­sche glei­ten, nach­dem er zu­vor mit dem Fin­ger in jede Ecke ge­bohrt und sich über­zeugt hat­te, dass die Naht fest war.

Wenn nur die Ju­we­liers­lä­den noch of­fen sind – er muss jetzt ei­len, denn es fängt schon zu dun­keln an.

Aber die bei­den Drosch­ken­kut­scher, die in der Nähe sta­tio­nier­ten, wa­ren eben im Zank be­grif­fen und be­ach­te­ten sein Win­ken nicht. Da fuhr ge­ra­de der Om­ni­bus in die­ser Rich­tung ab und ei­nem Zug der Ge­wohn­heit fol­gend – Paul An­der­sen ver­si­cher­te spä­ter un­zäh­li­ge­ma­le, es sei nicht Spar­sam­keit, son­dern le­dig­lich Ge­wohn­heit ge­we­sen – sprang er in den Om­ni­bus. Es war ein Som­mer­wa­gen mit Steh­plät­zen, An­der­sen fand es zu heiß im In­nern und lehn­te sich zu­frie­den mit zu­sam­men­ge­leg­ten Ar­men an die Ram­pe.

Es dun­kel­te stär­ker, und in dem Zwie­licht, das alle Ge­gen­stän­de in sei­ne gleich­far­bi­ge Uni­form klei­de­te, über­kam ihn ein se­li­ges, weltent­rück­tes Träu­men.

Da er­klang es un­ter ihm durch das schwe­re Ras­seln des Wa­gens hin­durch wie ein klei­nes fei­nes Glöck­lein – tin – tin – tin. Paul An­der­sen horch­te, denn er war äu­ßerst fein­hö­rig, da klang es noch ein­mal auf dem Pflas­ter lau­ter und deut­li­cher – tin – tin – tin. Es ging so süß in sein Träu­men über, und er lä­chel­te als höre er die Stim­men se­li­ger Geis­ter. Halb un­be­wusst sag­te er vor sich hin:


»Das sind die Klei­nen
Von den Mei­nen –«

und dem Ver­se fol­gend, stell­te er sich vor, dass die­se Stim­men ihn zur frei­en Le­bens- und Ta­ten­lust auf­rie­fen. Er konn­te ja ei­gent­lich eben­so gut die kur­ze Le­bens­rei­se zu ei­ner fröh­li­chen Spa­zier­fahrt ma­chen wie Karl Neu­brunn, statt zu ei­ner sau­ren, be­schwer­li­chen Fuß­wan­de­rung. Er brauch­te nur ein we­nig Leicht­sinn zu ler­nen und nicht so viel nach dem kom­men­den Tag zu fra­gen. So gar schlecht war auch sei­ne Lage nicht, es kam nur auf die Auf­fas­sung an, und wenn Ly­dia däch­te wie er, so brauch­ten sie nicht län­ger je­des ein­sam sei­ner Wege zu ge­hen. Tin – tin – tin! Da klin­gelt es schon wie­der.


»Klin­gle nur, Glöck­lein, so klin­gelt das Glück,
Gol­de­ne Löck­lein –«

O Wun­der, nun fing er gar zu rei­men an, doch kam er nicht wei­ter, denn aber­mals klang die Glo­cke, aber dies­mal laut, fast krie­ge­risch. – Ja so, sie wa­ren jetzt in der Nähe des San Gior­gio, da türm­te sich der herr­li­che Ko­loß Or San Mi­che­le ge­ra­de hin­an in das noch hei­te­re Blau des Him­mels. Erst ges­tern hat­te noch Karl Neu­brunn über die Klein­lich­keit des Mu­ni­zi­pi­ums ge­wet­tert, dass es den schö­nen, jun­gen Kriegs­mann aus der Ni­sche, für die er ge­schaf­fen war, ent­fernt und eine elen­de Ko­pie an sei­ne Stel­le ge­setzt hat­te, um ihn zu scho­nen, wie sie sag­ten, als ob ein Kunst­werk ewig wäh­ren müs­se, als ob man von den kom­men­den Jahr­hun­der­ten nicht er­war­ten könn­te, dass sie neue Wer­ke schaf­fen! – und Paul An­der­sen hat­te ihm Recht ge­ge­ben, ob­wohl ein heim­li­cher Punkt ganz tief in sei­nem In­nern mit dem vor­sich­ti­gen Mu­ni­zi­pi­um sym­pa­thi­sier­te, denn jede Art von Ver­schwen­dung ging ihm nun ein für al­le­mal ge­gen die Na­tur.

Horch, das Glöck­lein! dies­mal klang es wie­der so rein und gol­den wie eine Mo­zart­sche Me­lo­die. Paul An­der­sen lieb­te den Mo­zart über al­les und hat­te selbst in jün­ge­ren Jah­ren Mo­zart­sche So­na­ten auf der Vio­li­ne ge­spielt. Er woll­te auch sei­ne Vio­li­ne wie­der her­vor­ho­len, es soll­te jetzt al­les an­ders wer­den, denn es war doch un­ver­zeih­lich, dass er im Rin­gen um das nack­te Da­sein so lan­ge all sei­nen Schmuck und hö­he­ren Ge­halt ver­nach­läs­sigt hat­te.

So­eben ras­sel­te der Om­ni­bus an den Ju­we­liers­lä­den der Via Cer­re­ta­ni vor­über, und die aus­ge­stell­ten Gold­wa­ren flim­mer­ten im Lam­pen­licht. Paul An­der­sen woll­te aus­stei­gen, aber ein selt­sa­mer Bann hielt ihn fest, eine Re­gung, das Geld noch et­was län­ger zu be­hal­ten, die schö­nen gol­de­nen We­sen noch nicht so schnell von ein­an­der zu tren­nen, Ly­dia soll­te sie noch alle bei­sam­men se­hen, den Ring konn­te er auch mor­gen kau­fen, es war ja oh­ne­hin schon so spät, wie leicht hät­te er da bei der Wahl hin­ter­gan­gen wer­den kön­nen.

Aber­mals ver­sank er in Träu­me­rei­en, aus de­nen ihn der Glock­en­ton auf­stör­te. Aber dies­mal läu­te­te es Sturm. Glück­li­cher Paul An­der­sen! Das Le­ben sel­ber läu­tet mit al­len sei­nen Glo­cken, mit gol­de­nen Glo­cken­zun­gen ruft es ihm: Komm! Eine Be­geis­te­rung er­fasst ihn, er springt aus dem Om­ni­bus und rennt eine gan­ze Stra­ßen­län­ge vor­an. An der Ecke biegt er links ein, er ist schon vor der Stadt, er braucht nur noch das Stück Wie­se zu durch­que­ren, so hat er den Fuß des Hü­gels er­reicht, an den sich die Es­sel­in­sche Vil­la lehnt. So spät am Abend hat er frei­lich sei­ne Ver­lob­te noch nie be­sucht, aber heu­te wirft er ein­mal alle klein­li­chen Rück­sich­ten über den Hau­fen.

So­bald er die Klin­gel ge­zo­gen hat­te, fuhr er in die Ta­sche, weil er gleich Ly­di­as Hän­de mit dem Gold fül­len und ihr die bes­te Ver­wen­dung des­sel­ben an­heim­stel­len woll­te. Sein Herz stand vor Schreck stil­le, das Geld war fort. Er durch­such­te die Ta­sche und zog sie her­aus, er wuss­te ja, dass sie kein Loch hat­te, wie soll­te denn das Geld hin­durch­ge­fal­len sein? Aber bei schär­fe­rem Hin­se­hen ent­deck­te er eine blö­de Stel­le, die in der Dia­go­na­le durch­ge­wetzt war und da hat­ten sie sich hin­aus­ge­scho­ben, die klei­nen scharf­kan­ti­gen Fün­fer vor­an – Paul er­in­ner­te sich wohl des ers­ten fei­nen Glo­cken­stimm­chens – dann die grö­ße­ren Zeh­ner und ih­nen nach die star­ken Zwan­zi­ger mit dem Sturm­ge­läut ih­rer Gold­glo­cken. Er hat­te sie ja alle ge­hört, wie sie Ab­schied von ihm nah­men, nur in sei­nem Tau­mel war ihm nicht klar ge­wor­den, wo­her der Klang kam.

Un­ge­säumt rann­te er zu­rück bis zu der Stel­le, wo er den Om­ni­bus ver­las­sen hat­te. Dort hat­te es zum letz­ten­mal und am stärks­ten ge­klin­gelt, aber der Weg war wie ab­ge­leckt, denn jetzt wa­ren schon die abend­li­chen Fe­ge­geis­ter am Werk, die mit den La­ter­nen am kur­z­en Stock kreuz und quer über die Stra­ße ren­nen, und je­den weg­ge­wor­fe­nen Ci­gar­ren­stum­mel, der noch ih­rer Be­ach­tung wert scheint, vom Pflas­ter auf­le­sen. Mit sin­ken­der Hoff­nung leg­te Paul An­der­sen lang­sam Schritt für Schritt den gan­zen Weg zu­rück, den er vor kur­z­em in wa­chen Glücksträu­men durch­mes­sen hat­te, er hielt sich an all den Stel­len auf, wo das gol­de­ne Glöck­lein ge­klin­gelt hat­te, aber um­sonst, sei­ne schö­nen fun­keln­den Gold­stücke wa­ren wie vom Erd­bo­den ver­schlun­gen, er fand ih­rer kei­nes wie­der.

Hät­te er nur we­nigs­tens den Ring schon ge­kauft, zum dau­ern­den Zeug­nis, dass der gol­de­ne Traum ein­mal Wirk­lich­keit ge­we­sen war! Ver­flucht die Kut­scher, die sich eben strei­ten muss­ten, als er in die Drosch­ke stei­gen woll­te! Ver­flucht der Zug der Ge­wohn­heit, – nicht der Spar­sam­keit – der ihn in den Om­ni­bus ge­trie­ben hat­te! Im Wa­gen wäre sein Gold we­nigs­tens nicht auf den Bo­den ge­rollt, er hät­te es viel­leicht zwi­schen den Pols­tern wie­der ge­fun­den. Ver­flucht vor al­lem sein Miss­ge­schick, das ihm nicht ei­ne glück­li­che Stun­de gönn­te!

Fins­ter grol­lend trat er den Heim­weg an, und in ge­rin­ger Ent­fer­nung von sei­nem Hau­se stieß er auf Neu­brunn, der eben nach ei­ner Wein­hand­lung ging, um Cham­pa­gner zu be­stel­len.

»Ich bin mit Po­mo­na aus­ge­söhnt«, er­zähl­te ihm die­ser, »sie hat klein bei­ge­ge­ben – das war ihr Glück. – Was willst du – wenn man sich schon so lan­ge kennt! – Wir sind jetzt wie­der gute Freun­de. Zur Fei­er der Ver­söh­nung gibt sie heu­te Abend ein Es­sen und ich spen­de den Cham­pa­gner, du wirst selbst­ver­ständ­lich auch er­war­tet. Ja, was ist dir denn? Du bist ja fahl wie Krei­de?«

Paul woll­te ihm im Wei­ter­ge­hen von sei­nem Miss­ge­schick er­zäh­len, aber Neu­brunn blieb ste­hen und lach­te un­bän­dig. Das war ja ein köst­li­ches Aben­teu­er, das durch sei­nen Hu­mor den Ver­lust des Gel­des reich­lich auf­wog. Die sin­gen­den Gold­vö­gel be­rei­te­ten ihm ein un­aus­sprech­li­ches Ver­gnü­gen, und er nann­te Paul An­der­sen den gu­ten Ge­ni­us der Gas­sen­ju­gend, das Horn des Über­flus­ses, den gol­de­nen Re­gen. Aber plötz­lich rief er:

»Teu­fel, das hab ich ganz ver­ges­sen! Oben ist dei­ne Braut und war­tet auf dich.«

An­der­sen er­schrak hef­tig, er ahn­te so­gleich ein Un­heil, denn nie noch hat­te das Mäd­chen im Lauf von zehn Jah­ren sei­ne Jung­ge­sel­len­woh­nung be­tre­ten; höchs­tens dass sie ihn bei au­ßer­ge­wöhn­li­chen An­läs­sen un­ten im Sa­lon der Haus­frau er­war­te­te.

»Was es auch sei, tragt es mit Phi­lo­so­phie«, mahn­te Neu­brunn, der plötz­lich ernst ge­wor­den war, er schi­en zu wis­sen, um was es sich han­del­te. – »Du weißt, dass im Le­ben nichts fest­steht, als das Ende.«

Oben auf der Ter­ras­se fand Paul sei­ne Ly­dia, die seit zwei Stun­den auf ihn ge­war­tet hat­te.

Sie stürz­te auf­schluch­zend an sei­ne Brust.

»Ly­dia, Ly­dia, was ist ge­sche­hen?«

»Du weißt noch nichts? Es weiß es schon seit ges­tern die gan­ze Stadt!«

Nun er­fuhr er, dass das Bank­haus, bei dem sei­ne und ihre Er­spar­nis­se nie­der­ge­legt wa­ren, die Zah­lun­gen ein­ge­stellt hat­te. Vor drei Ta­gen noch hat­te man dort eine Ein­zah­lung von ihr ganz ru­hig ein­kas­siert, und ges­tern, als sie durch ein Gerücht er­schreckt, ihre Pa­pie­re zu­rück­zie­hen woll­te, fand sie die Kas­se ge­schlos­sen. Heu­te aber rie­fen es schon die Zei­tungs­ver­käu­fer durch alle Gas­sen, dass Du­four und Sohn fal­lit sei­en.

Die­ser neue Schlag traf den ar­men Jun­gen mit sol­cher Ge­walt, dass er sich nie­der­set­zen muss­te! Er saß lan­ge schwei­gend, die Arme über die Stuhl­leh­ne zu­sam­men­ge­legt, bis es ihm ein­fiel, dass die Wir­tin sich dar­über auf­hal­ten könn­te, wenn er so lang mit dem jun­gen Mäd­chen im Dun­keln auf der Ter­ras­se blieb. Mecha­nisch er­hob er sich, um die Lam­pe an­zu­zün­den, und über die­ser Be­schäf­ti­gung ord­ne­ten sich sei­ne Ge­dan­ken. Er woll­te Ly­dia aus­ein­an­der­set­zen, dass ihre Pa­pie­re, die als ge­schlos­se­nes De­pot auf der Bank la­gen, nicht zu der Kon­kurs­mas­se ge­hör­ten, son­dern, so­bald die Sie­gel ge­löst wür­den, durch das Ge­richt zu­rück­ge­ge­ben wer­den müss­ten. Aber Ly­dia schüt­tel­te den Kopf und schluchz­te im­mer stär­ker: man wuss­te be­reits, dass un­ge­heu­re Un­ter­schla­gun­gen vor­la­gen, wel­che die hal­be Stadt rui­nier­ten, dass auch die De­pots ver­schwun­den wa­ren, und dass der Bank­di­rek­tor sich da­hin ge­flüch­tet hat­te, wo ihn das mensch­li­che Ge­setz nicht mehr er­reich­te.

Paul ver­stumm­te und wuss­te nichts mehr zu tun, als das Mäd­chen in die Arme zu fas­sen und mit ihr zu wei­nen. Den Kopf auf sei­ner Schul­ter und bei­de Arme her­ab­hän­gend, lehn­te sie an ihm, wie ein kran­kes, jun­ges Bäum­chen an sei­nem stüt­zen­den Pfahl und ihr er­schüt­tern­des Schluch­zen lös­te sich nach und nach in ru­hig rin­nen­de Trä­nen.

»O Paul, Paul, dass wir so un­glück­lich sein müs­sen«, klag­te sie lei­se.

»War es schon viel?« frag­te er nach ei­ner klei­nen Wei­le.

»Fast die gan­ze Sum­me, es fehl­te nur noch ein we­ni­ges, et­was über hun­dert Fran­ken zu run­den zehn­tau­send.«

So nahe war ih­nen das Glück ge­we­sen. Paul hat­te es wohl ge­wusst, ob­schon er nie dar­nach frag­te. Wie Schatz­grä­ber, die schon den em­por­stei­gen­den Kes­sel mit sei­nem blau­en Schein in der Erde flim­mern se­hen, hat­ten sie all die Zeit schwei­gend ge­stan­den, wie um durch kein vor­schnel­les Wort den Zau­ber zu bre­chen und jetzt war der Schatz doch ver­sun­ken, und es brauch­te viel­leicht aber­mals zehn Jah­re, bis sie wie­der so weit ka­men.

In dem großen Gar­ten jen­seits der Hof­mau­er, von dem man nur ei­ni­ge Baum­wip­fel sah, schlug jetzt eine Nach­ti­gall an und warf ein paar schmet­tern­de Rou­la­den in die lau­lich­te Abend­luft, in die An­der­sens Li­li­en und Oran­gen­blü­ten um die Wet­te ih­ren Duft er­gos­sen. Bei­de wur­den still und horch­ten. Wer, den nur ein Hauch von Poe­sie ge­streift hat, mag re­den, wenn ne­ben ihm die Nach­ti­gall singt! Die schmolz jetzt hin in Flö­ten­tö­nen, worin die Lie­be sel­ber ihre See­le aus­zu­strö­men schi­en, wie lan­ge gol­de­ne Trop­fen fiel es nie­der, plötz­lich un­ter­brach sie sich mit ei­nem hal­b­en Tril­ler, wie mit ei­nem Schrei und ihre Stim­me er­hob sich in ei­nem Wir­bel von Wohl­laut: ju­belnd, kla­gend, tri­um­phie­rend – ein Sturm des Ent­zückens, der sich auf­lös­te ins Unaus­sprech­li­che, ins Ele­ment.

Die bei­den wein­ten jetzt nicht mehr, sie tausch­ten lan­ge, lan­ge Küs­se. Sie ver­ga­ßen end­lich ihr Leid und emp­fan­den nur noch ei­nes die Nähe des an­dern.

Lan­ge hat­ten sie sich nicht mehr so ge­hal­ten. Sie wa­ren sich zwar in­nig zu­ge­tan, die­se bei­den Stief­kin­der des Glücks, aber das lan­ge War­ten und die stren­ge Übung der Kon­ve­ni­enz hat­te den ers­ten Schmelz der Lei­den­schaft ab­ge­streift. Jetzt aber fühl­ten sie sich um zehn Jah­re ver­jüngt, wie in den ers­ten Ta­gen ih­rer Lie­be. Ein Trotz kam über den Mann, es mit sei­nem Uns­tern auf­zu­neh­men, dem Schick­sal zu­wi­der den­noch glück­lich zu sein, aber da durch­fuhr ihn ein schreck­haf­ter Ge­dan­ke.

»Und Es­sel­ins? Wer­den sie dich nicht ver­mis­sen?«

Nein – man hat­te ihr den Abend frei­ge­ge­ben, um sich bei Freun­den in der Stadt aus­zu­wei­nen, weil sie heu­te doch zu nichts zu brau­chen war.

Nun klopf­te es laut an die Ter­ras­sen­tür und Karl Neu­brunn er­schi­en mit zwei Cham­pa­gner­fla­schen un­ter dem Arm.

»Habt ihr euch nun des Leids ge­sät­tigt und seid ihr im­stand, ein ver­nünf­ti­ges Wort zu hö­ren«, be­gann er. »So ver­nehmt: Po­mo­na rich­tet so­eben ih­ren Ri­sot­to an – sie hat Ri­ga­lia dar­ein ge­wiegt und ihn mit Cur­ry ge­würzt – und zwei Wil­den­ten dre­hen noch am Spieß. Was den ita­lie­ni­schen Salat be­trifft, so habe ich selbst sei­ne Zu­be­rei­tung über­wacht, und da­mit ist al­les ge­sagt. Vom Nach­tisch nen­ne ich nur Ein Wort: Gor­gon­zo­la. Frau Po­mo­na und ich bit­ten um das Er­schei­nen uns­rer Gäs­te. Ihr Ben­gel sitzt mit bei Ti­sche, also sind wir zu fün­fen. Fräu­lein Ly­dia hat uns zwar noch nicht zu­ge­sagt, aber ihre Zu­sa­ge wur­de als si­cher an­ge­nom­men. Po­mo­na setzt uns ih­ren Po­mi­no vor – Ver­zei­hung für das Wort­spiel – und den Cham­pa­gner trin­ken wir auf der Ter­ras­se. Ich muss­te ihn auf dei­ne Rech­nung schrei­ben las­sen, denn sie woll­ten mir nicht bor­gen. Aber du darfst nicht er­schre­cken, Paul, mor­gen wird er un­fehl­bar be­zahlt, ich er­war­te Geld.«

Paul lach­te, Ly­dia lach­te eben­falls und eil­te hin­ab, um der Wir­tin beim An­rich­ten be­hilf­lich zu sein.

Das Es­sen, das auf Po­mo­nas feins­tem Por­zel­lan ser­viert und mit ih­rem äl­tes­ten Wein be­gos­sen wur­de, brach­te eine sanft ge­ho­be­ne Stim­mung, die auf die bei­den Kum­mer­vol­len wie der ers­te mil­de Son­nen­blick nach schwe­rem Ha­gel­schlag wirk­te, sie sa­hen sich lei­se um, was ih­nen noch an Hoff­nun­gen ge­blie­ben sei. Karl Neu­brunn quoll über von Lau­ne und Lie­bens­wür­dig­keit, wie im­mer, wenn er in Ge­sell­schaft und bei gu­tem Wei­ne saß. Die Räu­me wur­den wei­ter, in de­nen er sich be­fand, man fühl­te sich mit ihm in frei­er Luft, es schi­en, als müs­se nun gleich rings­um al­les zu grü­nen und zu blü­hen be­gin­nen. Sei­ne Nach­ba­rin Ly­dia, de­ren ge­drück­tes Aus­se­hen ihn er­barm­te, über­häuf­te er mit den rit­ter­lichs­ten Auf­merk­sam­kei­ten, woll­te sie im­mer selbst be­die­nen und mach­te sie da­durch zum Mit­tel­punkt der Ge­sell­schaft. Die Haus­frau ging schnell auf die­sen Ton ein, in­dem sie recht als Ita­li­e­ne­rin da­mit an­fing, Ly­di­as kör­per­li­che Vor­zü­ge her­aus­zu­strei­chen, sie lob­te auch ihr schö­nes Ita­lie­nisch so­wie ihre Ge­schick­lich­keit in häus­li­chen Din­gen, und wun­der­te sich, dass man bei so großer Ju­gend schon so viel Rei­fe und Hal­tung be­sit­zen kön­ne.

Dem an­mu­ti­gen, ver­schüch­ter­ten Ge­schöpf ging das Herz auf, end­lich auch ein­mal et­was zu be­deu­ten. Sie war sehr hübsch und schi­en auf den ers­ten Blick noch ganz jung, aber ih­ren über­schlan­ken For­men fehl­te schon die Run­dung, und ihr Ge­sicht hat­te einen heim­lich lei­den­den Aus­druck, wie eine Rose, die seit meh­re­ren Ta­gen im Was­ser steht: sie be­wahrt noch ih­ren Duft und Far­ben­schmelz und ist schein­bar un­ver­än­dert, den­noch fühlt man ihr an, dass sie beim ers­ten Stoß zer­blät­tern kann.

Jetzt aber färb­te sich ihr blas­ses Ge­sicht mit ei­ner sanf­ten Röte, die ihr lieb­lich stand, und ihre schö­nen dun­keln Au­gen be­gan­nen zu glän­zen. Paul An­der­sen war glück­se­lig über den Er­folg der Ge­lieb­ten und es fiel all­ge­mein auf, dass die bei­den ein­an­der ähn­lich sa­hen; ohne die leuch­ten­den Bli­cke, die zwi­schen ih­nen hin- und her­gin­gen, hät­te man sie für Ge­schwis­ter hal­ten kön­nen.

Nur Karl Neu­brunns Un­art, im­mer deutsch zu re­den, ohne Rück­sicht auf die Wir­tin, verd­arb dem zart­füh­len­den An­der­sen die­sen schö­nen Abend ein we­nig. Er trat alle Au­gen­bli­cke dem Freund auf den Fuß und flüs­ter­te: »Sprich doch ita­lie­nisch« – aber die­ser ach­te­te nicht dar­auf, und Po­mo­na, ob­gleich sie kein Wort ver­stand, hing mit ge­spann­ter Auf­merk­sam­keit an Neu­brunns Mund und lach­te fröh­lich mit, wenn die an­dern lach­ten.

Vor al­lem war Neu­brunn be­müht, die gute Ly­dia über den Geld­ver­lust zu trös­ten, denn der mo­ra­li­sche Ge­winn, den sie aus die­sem Vor­komm­nis zie­hen wer­de, sei groß ge­nug, um sich mit dem Scha­den aus­zu­söh­nen.

»Es ist lei­der die na­tür­li­che Fol­ge des un­be­dach­ten Geld­an­le­gens«, sag­te er, »man soll­te die­ser häss­li­chen Ver­su­chung im­mer wi­der­ste­hen, das ist nur gut für Men­schen, die einen an­ge­bo­re­nen Be­ruf zum Reich­wer­den ha­ben. Ich sel­ber hat­te auch ein­mal eine ka­pi­ta­lis­ti­sche An­wand­lung, aber eine in­ne­re Stim­me trieb mich, mein ein­ge­zahl­tes Geld schon des an­dern Tags von der Bank zu­rück­zu­ho­len und da­mit auf Rei­sen zu ge­hen, denn nur das Geld, das man auf­braucht, ist wahr­haft si­cher an­ge­legt.«

Po­mo­na schi­en hier et­was ver­stan­den zu ha­ben, sie nick­te mit dem Kopf und schal­te­te den Spruch ein: »Uomo al­le­gro, Dio l’a­juta.«

Neu­brunn be­glück­wünsch­te sie eif­rig zu die­sem Fund, und hat­te dies­mal so­gar die Ge­fäl­lig­keit, ihr sei­ne Wor­te zu ver­doll­met­schen.

»Es liegt die tau­send­jäh­ri­ge Weis­heit ei­nes sin­nen­fro­hen Volks in die­sem Sprich­wort«, sag­te er.

»Der trüb­sin­ni­ge Ger­ma­ne hat ein an­de­res er­fun­den, das so un­ge­fähr das Ge­gen­teil aus­drückt: ›Wenn es dem Esel zu wohl wird, so geht er aufs Glatteis tan­zen‹.«

»Ach«, fuhr er mit ei­nem Blick auf Paul An­der­sen fort, »es gibt man­chen Esel, dem es nie­mals wohl wird, und der doch die Bei­ne bricht; das, mei­ne Freun­de, ist der tra­gi­sche Wi­der­sinn der Din­ge! Ich hof­fe«, setz­te er schnell hin­zu, »dass in die­sem auf­ge­klär­ten Krei­se kein Vor­ur­teil ge­gen den ed­len Vier­füß­ler be­steht und so­mit mei­ne Wor­te nie­mand ver­let­zen kön­nen.«

»Nicht im Ge­rings­ten«, ant­wor­te­te An­der­sen. »Ich war von je der trau­ri­ge Esel mit den hän­gen­den Ohren, der das Glatteis mei­det und auf si­che­rer Chaus­see zu Scha­den kommt.«

Karl Neu­brunn er­wi­der­te wohl­wol­lend:

»Es ist eine dei­ner bes­ten Ei­gen­schaf­ten, dass du dich dei­ner Tu­gend nicht über­hebst, son­dern so­gar hin und wie­der so er­leuch­tet bist, sie für eine Lücke dei­nes We­sens zu er­ken­nen. Auch hast du die Ent­schul­di­gung des schwäch­li­chen Bei­spiels, weil in dei­ner Hei­mat alle Men­schen Tu­gend­bol­de sind. Da­rum: ego te ab­sol­vo.«

»Und nun«, fuhr er fort, »da wir bei die­sem The­ma sind, bit­te ich um Er­laub­nis, den an­we­sen­den Freun­den mei­ne Le­bens­an­schau­ung aus­ein­an­der­zu­set­zen. Für mich zer­fällt die Mensch­heit seit lan­ge in zwei Haupt­gat­tun­gen: Die Schus­ter und die Schnei­der.«

An­der­sen und Ly­dia starr­ten ihn ver­wun­dert an und Po­mo­na bat um eine Über­set­zung, was den Spre­cher nun be­wog, halb deutsch und halb ita­lie­nisch fort­zu­fah­ren.

»Ja, die breit­spu­ri­gen, weit­her­zi­gen, sin­nen­fro­hen, die Tem­pe­ra­ments­men­schen, die Schus­ter­menschen und die fein­spu­ri­gen, spit­zi­gen Schnei­der, die klu­gen, oft su­per­klu­gen, spe­ku­lie­ren­den, weit aus­spä­hen­den, rech­nen­den, auch sich ver­rech­nen­den, aber eben so oft ge­win­nen­den Schnei­der. Die­se bei­den Na­tu­ren füh­ren seit Be­ginn der Welt einen großen, wech­sel­vol­len, nie aus­ge­foch­te­nen Krieg, in dem das Glück hin­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­ei­ne­­­­­­­­­­­­­­­­­