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Isolde Kurz

Vanadis

Der Schicksalsweg einer Frau

Isolde Kurz

Vanadis

Der Schicksalsweg einer Frau

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-42-3

null-papier.de/541

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Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel. Va­na­dis das Kind

Zwei­tes Ka­pi­tel. Mär­zen­lüf­te

Drit­tes Ka­pi­tel. Auf der Fehl­hal­de

Vier­tes Ka­pi­tel. Schwes­ter Eu­ge­nie

Zwei­tes Buch

Ers­tes Ka­pi­tel. Iris Flo­ren­tia

Zwei­tes Ka­pi­tel. Wen­de

Drit­tes Ka­pi­tel. Das Recht der Dä­mo­nen

Vier­tes Ka­pi­tel. Die Op­fer­scha­le

Fünf­tes Ka­pi­tel. Pe­re­gri­na und Per­di­ta

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Das Le­bend­ge will ich prei­sen,
das nach Flam­men­tod sich seh­net.


Goe­the

Erstes Buch

Erstes Kapitel. Vanadis das Kind

Es war in der Zeit, wo die Frau­en noch lan­ge Haa­re und kur­z­en Ver­stand hat­ten und dem­ge­mäß in der Ver­samm­lung schwei­gen muss­ten, da­für aber von Kü­che und Al­ko­ven aus de­sto herz­haf­ter die Welt re­gier­ten. In je­nen dunklen Ta­gen, die noch gar nicht so fern sind, wie es heu­te schei­nen mag, wuchs auf ei­nem Her­ren­sitz, in nächs­ter Nähe ei­ner süd­deut­schen Kreis­stadt ein klei­nes Mäd­chen auf, das den Na­men Va­na­dis trug. Ihr Va­ter, der My­then­for­scher Hein­rich Folk­wang, hat­te ihr ge­gen den Wi­der­spruch der gan­zen Ver­wandt­schaft die­sen Na­men ge­ge­ben, der bei un­sern Alt­vor­dern so­viel wie Göt­tin oder »Dîs« der Wa­nen be­deu­te­te und ein Zu­na­me der Fre­ya war. Nur ein so ei­gen­bröt­le­ri­scher und son­der­ba­rer Herr wie die­ser Pro­fes­sor Folk­wang, sag­ten die Leu­te, konn­te sich dar­auf ver­stei­fen, ein Kind mit so fremd­ar­ti­gem Na­men ins Le­ben hin­aus­zu­schi­cken. Er war in der Tat ein steif­nacki­ger Ge­lehr­ter, von der Wa­ter­kant ge­bür­tig, der sich durch Schrif­ten und Vor­le­sun­gen mit den Häup­tern sei­ner Zunft ver­feh­det hat­te, wor­über ihm eine aus­sichts­rei­che aka­de­mi­sche Lauf­bahn in die Brü­che ging. Seit dem frü­hen Tod sei­ner ent­zücken­den jun­gen Frau litt er an zeit­wei­li­gen Ge­müts­stö­run­gen, die sich als Men­schen­scheu und Schwer­mut äu­ßer­ten. Da­rum war er, dem Drang nach Ein­sam­keit fol­gend, zu sei­nen Schwie­ger­el­tern, den van der Müh­lens, in das alte Her­ren­haus über­ge­sie­delt, den letz­ten Rest ei­nes ehe­mals um­fang- und er­trag­rei­chen Rit­ter­guts, das der jet­zi­ge Be­sit­zer, dem es durch Hei­rat zu­ge­fal­len war, we­gen Schul­den stück­wei­se ver­kauft und der aus ih­ren al­ten To­ren her­aus­drän­gen­den Stadt als Bau­grund über­las­sen hat­te. Das Haus be­saß schö­ne Ver­hält­nis­se und einen statt­li­chen Auf­gang, war aber äu­ßer­lich ein we­nig her­ab­ge­kom­men, weil die Mit­tel zur In­stand­hal­tung fehl­ten. Da­ge­gen be­wahr­te der Park, den ein al­ter Gärt­ner ver­sah, noch die Erin­ne­rung eins­ti­gen Glan­zes. Da stan­den herr­li­che Baum­grup­pen und stei­ner­ne Göt­ter­fi­gu­ren, die frei­lich ihre Glie­der nicht mehr alle bei­sam­men hat­ten, und de­ren schöns­te, eine Hebe, ne­ben ih­rem So­ckel im Gra­se lag, von Moo­sen über­klet­tert. Was aber die­sen Gar­ten von al­len an­de­ren Gär­ten un­ter­schied, war ein Bäch­lein mit fla­chen Bor­den, das fast in glei­cher Höhe mit dem Ra­sen hin­lief, das An­we­sen in zwei Hälf­ten schnitt, und das den wil­den Kna­ben des Hau­ses Folk­wang, so­lan­ge sie klein wa­ren, eine gern be­nütz­te Ge­le­gen­heit zum Hin­ein­fal­len gab. Ein Brück­lein über­spann­te es und führ­te in den Wald­grund hin­über, das Über­bleib­sel ei­nes be­deu­ten­den Fors­tes, den Herr van der Müh­len bei Geld­knapp­heit nach und nach hat­te schla­gen las­sen. Die­ser einst sehr le­bens­lus­ti­ge Herr kam in der Zeit, wo un­se­re Ge­schich­te be­ginnt – das war in den sech­zi­ger Jah­ren des vo­ri­gen Jahr­hun­derts –, nur noch sel­ten aus sei­nem Zim­mer im obe­ren Stock­werk her­un­ter und glitt als­dann wie sein ei­ge­nes Ge­s­penst durchs Haus. Er war schwach­sin­nig ge­wor­den und ver­gaß im­mer wie­der, dass die lär­men­de Ju­gend un­ten im Gar­ten sei­nes Blu­tes war, wie oft sei­ne noch sehr le­bens­vol­le Ge­mah­lin, die ge­lieb­te Schutz­göt­tin der Kin­der­schar, ihn an die­se Tat­sa­che er­in­ner­te. Nur die klei­ne Va­na­dis kann­te er als sei­ne En­ke­lin. Sie brach­te ihm zu­wei­len einen Strauß Blu­men aufs Zim­mer, wor­über er eine när­ri­sche Freu­de be­zeig­te. Sie war ein ei­ge­nes Ge­schöpf, die klei­ne Va­na­dis oder Vana, wie sie sich sel­ber nann­te. Um sich vor der Wild­heit der Kna­ben, die sie auf Schritt und Tritt be­dräng­ten, zu ret­ten, schuf sie sich eine ei­ge­ne ab­sei­ti­ge Welt. Wenn der Va­ter sei­nen Spa­zier­gang mach­te, schmug­gel­te sie sich in sein Zim­mer, um, was ihr von sei­nen Bü­chern dem Ti­tel oder den Ab­bil­dun­gen nach ver­lo­ckend war, vom Bord zu steh­len, denn sie hat­te viel frü­her als an­de­re Kin­der le­sen ge­lernt. Mit ih­rem Raub flüch­te­te sie un­ter die nie­der­hän­gen­den Zwei­ge ei­ner ge­wal­ti­gen Ze­der, die ihr fern­ab vom To­hu­wa­bo­hu der Brü­der ein häus­li­ches Ob­dach bot, und ver­schlang wahl­los, was sie er­gat­tert hat­te. Sie nann­te die­se Zuf­lucht »Schloss Tron­je« und den um­ge­ben­den Moos­grund mit Le­ber­blüm­chen und Stein­nel­ken den »Gar­ten Im­mer­schön«. Das Ge­le­se­ne er­zähl­te sie der großen Lum­pen­pup­pe, die sie über­all mit sich trug. Sie be­saß zwar Pup­pen in Men­ge, aber sie spiel­te mit kei­ner an­dern. Nur für die­se eine aus Werg und Zeuglap­pen war sie auf den ers­ten Blick er­glüht. Und doch konn­te man nichts Häss­li­che­res se­hen als die­se Pup­pe: Mund, Kinn und Nase wa­ren aus Stoff ge­zupft und ge­näht, die Au­gen be­stan­den aus fla­chen schwar­zen Per­len und fun­kel­ten mit­un­ter ganz schreck­haft, dass das klei­ne Ding ein dä­mo­ni­sches An­se­hen be­kam. Eine rote Müt­ze mach­te sie noch häss­li­cher. Über­dies war sie von den wil­den Grif­fen der Brü­der in der Mit­te ein­ge­knickt, so­dass sie, woll­te man sie frei hal­ten, vorn­über sank. Va­na­dis lieb­te sie ob die­ses Leib­scha­dens nur noch mehr, wie eine Mut­ter ihr kran­kes Kind vor al­len an­dern be­vor­zugt.

Was kommt der Wir­kung gleich, die ein den el­ter­li­chen Gar­ten durch­strö­men­des Was­ser auf die kind­li­che Fan­ta­sie aus­zuü­ben ver­mag! Es war ein be­weg­li­ches Ei­gen­tum in­mit­ten ei­nes un­be­weg­li­chen, es kam und ging ohne Un­ter­lass, war nicht zu hal­ten und war doch im­mer da. In­ner­halb und au­ßer­halb des van der Müh­len­schen Gu­tes hieß die­ses Wäs­ser­lein von je­her nur »der Bach«. Die klei­ne Va­na­dis gab ihm einen Na­men; nach sei­ner lei­sen, sin­gen­den Stim­me nann­te sie ihn das »Bäch­lein Li­ri­li«. Er gab ihr mit sei­nem ei­len­den Gang, der aus dem Un­be­kann­ten kam und ins Un­be­kann­te ging, die sehn­süch­ti­ge Ah­nung der Fer­ne. Wenn sie eine Blu­me hin­ein­warf, so lief sie ju­belnd mit, sah sie die­se dann in dem schma­len Durch­bruch der Mau­er, durch die das Bäch­lein hin­aus­ström­te, ver­schwin­den, so stand sie be­stürzt und trau­rig. Das Emp­fin­den des Unauf­halt­sa­men und Ver­gäng­li­chen war dann un­be­wusst über ihr. Das Bäch­lein Li­ri­li senk­te ihr den ers­ten Keim zu je­nem Fern­weh in die See­le, das im­mer die Hei­mat im Un­er­reich­ba­ren su­chen muss. Das tiefs­te und ge­heims­te Wunsch­ziel des Kin­des war die »Se­li­ge In­sel«. Sie lag ihr im Sinn, seit sie ein­mal ih­ren Va­ter hat­te ge­gen den äl­te­ren Bru­der äu­ßern hö­ren, die Al­ten hät­ten tief im Wes­ten, wo die Son­ne vom Ta­ges­lauf ras­tet, die In­seln der Se­li­gen ge­sucht. Wort und Vor­stel­lung lie­ßen sie nicht mehr los, und die dort ba­den­de Son­ne muss­te sie sich als et­was Leib­haf­tes, wenn auch Un­fass­ba­res, vor­stel­len. Dor­thin ging ihr Sin­nen; mit der Lieb­lings­pup­pe dort zu woh­nen, wo we­der die Un­ar­ten der schreck­li­chen Jun­gen noch Tan­te Fan­nys krei­schen­de Stim­me sie er­rei­chen konn­te, das war der Traum ih­res jun­gen Le­bens. Das Kind hat­te nicht wie an­de­re klei­ne Mäd­chen den Trieb, die Pup­pe im­mer neu zu klei­den, das wäre auch bei de­ren ei­gen­tüm­li­cher Be­schaf­fen­heit, der es an ei­ner fest ab­ge­grenz­ten Leib­lich­keit ge­brach, schwie­rig ge­we­sen. Da­ge­gen er­sann sie ihr im­mer­zu neue Na­men, geis­ti­ge Ge­wän­der, mit de­nen sie wech­sel­te. Denn das Na­men­ge­ben war ihre be­son­de­re Stär­ke, und die­se muss­ten ent­we­der hochro­man­tisch sein wie Fi­lo­me­ne oder Blan­che­fleur oder ganz und gar selt­sam und selbst­ge­bil­det: die tie­fe Zärt­lich­keit, wo­mit das Kind die­se Un­na­men sprach, gab ih­nen den see­li­schen Wohl­klang. Mit ih­rem ur­sprüng­li­chen Na­men aber hieß die­se Pup­pe Vana, wie die Her­rin selbst, de­ren zwei­tes Ich sie war. Der große Vor­zug, den sie nicht nur vor den an­de­ren Pup­pen, son­dern auch vor den le­ben­den Spiel­ka­me­ra­den ge­noss, er­reg­te die Ei­fer­sucht und den grim­mi­gen Hass der Brü­der. Die­se hat­ten sie »Lum­bell« be­n­amst und san­gen Spott­lie­der auf sie, und die be­stän­di­ge Jagd, die sie auf die Lum­bell mach­ten, war der haupt­säch­lichs­te An­lass für die Klei­ne, sich mit der Pup­pe auf das fes­te Schloss Tron­je zu ret­ten, wo­hin die wil­de Rot­te sich nicht leicht ver­lief.

Es war ein son­nig-küh­ler Tag zu An­fang März, um Schloss Tron­je her wuch­sen die ers­ten Veil­chen. Da saß die Klei­ne mit ih­rer Ge­lieb­ten in der Schloss­ke­me­na­te, das heißt in den hö­he­ren Zwei­gen der Ze­der, und trös­te­te sie über ein im Vor­über­ge­hen zu­ge­flo­ge­nes Spott­wort:

»Sie sind wie­der sehr un­ge­zo­gen ge­gen dich ge­we­sen. Die Jun­gen, siehst du, sind solch ein häss­li­ches Volk, Gott soll­te gar kei­ne er­schaf­fen. Gun­ther mei­ne ich nicht, der ist gut. Aber den an­dern muss man aus dem Weg blei­ben. Sie mei­nen: ein Mäd­chen muss sich al­les ge­fal­len las­sen, da­für ist es ein Mäd­chen. Nein, das wird uns jetzt zu viel. Mor­gen ge­hen wir ganz lei­se fort, dann sol­len sie uns su­chen. Wir rei­sen nach der Se­li­gen In­sel. Das ist die grüns­te, grüns­te Wie­se mit wun­der­vol­len Bäu­men mit­ten im Was­ser wie ein großer grü­ner Sma­ragd, der von den schöns­ten Dia­man­ten um­ge­ben ist. So wie Groß­mut­ters al­ler­schöns­ter Ring. Nie­mand darf dort woh­nen als wir bei­de. Da­mit kei­ne bö­sen Jun­gen da hin­kom­men kön­nen, brau­sen die Wel­len so hoch um die In­sel – o so hoch! –, kein Schiff kann lan­den. Uns trägt ein Al­ba­tros auf sei­nen Flü­geln hin­über. Weißt du, was das ist, ein Al­ba­tros? Das ist ein großer, großer Vo­gel mit ro­sen­ro­tem Schna­bel – hal­te dich fest, da­mit du nicht ins Meer fällst –, er fliegt schnel­ler als ir­gend­ein Vo­gel.« –

Vor dem Strö­men ih­rer Ein­bil­dung hat­te sie nicht be­merkt, dass es hin­ter ihr knack­te und dass die Mau­ern von Schloss Tron­je er­schli­chen wa­ren. Plötz­lich griff eine Hand über ihre Schul­ter und riss ihr die Pup­pe weg, und eine pol­tern­de Kna­ben­stim­me schrie in rau­em Tri­umph: »Wir ha­ben die Lum­bell!«

»Ro­de­rich, du Ben­gel!« rief das Kind auf­fah­rend.

Aber jetzt er­scholl es von al­len Sei­ten um ihr Ob­dach her: »Wir ha­ben sie! Wir ha­ben sie! Wir ha­ben die Lum­bell!« Es lief wie ein un­ge­woll­ter Ka­non rund um den Baum.

»Wir ger­ben ihr das Fell!« sang eine hel­le­re Kna­ben­stim­me da­zwi­schen. Das war ihr äl­te­rer Bru­der Gun­ther, der sei­ne dich­te­ri­sche Be­ga­bung gern in Knit­tel­rei­men leuch­ten ließ.

»Wir ha­ben sie! Wir ha­ben sie! Wir ger­ben ihr das Fell!« sang es im Ka­non mit.

Das Kind war vom Baum her­ab­ge­sprun­gen, ohne zu be­ach­ten, dass ihr ein Bü­schel Haa­re in den Zwei­gen hän­gen­blieb. Aber Ro­de­rich hat­te den Vor­sprung und rann­te mit sei­nem Raub über den Steg nach dem Hau­se zu, die Brü­der ju­belnd, Va­na­dis schrei­end hin­ter­her. Auf dem Vor­platz mach­te er halt und schwang die Pup­pe höh­nisch ge­gen sei­ne Ver­fol­ge­rin. Die­se stürz­te sich lei­den­schaft­lich auf den Räu­ber ih­res Klein­ods. Aber sie stieß ge­gen eine Mau­er, denn die gan­ze Rot­te stand ge­gen sie zu­sam­men.

»Lasst ihr die Pup­pe, sie ge­hört ihr!« wehr­te das Kin­der­mäd­chen, das ge­ra­de mit der zwei­jäh­ri­gen Esther im Hof spiel­te.

»Nein, sie ge­hört uns al­len!« rief es ihr ent­ge­gen.

»Die Lum­bell ist eine Hexe, sie muss bren­nen!« pol­ter­te die raue Stim­me von vor­hin wie­der.

»Sie ist eine Hexe!« stimm­ten die an­dern ein. »Sie ist uns auf dem Be­senstiel ins Haus ge­rit­ten!«

Letz­te­res hat­te sei­ne Rich­tig­keit. Die Lum­bell war eine Schöp­fung der er­fin­de­ri­schen Groß­mut­ter, Frau van der Müh­len, die im obers­ten Stock­werk wohn­te und die die­se Ge­burt ih­rer wit­zi­gen Lau­ne in der ver­flos­se­nen Wal­pur­gis­nacht, als drau­ßen der Früh­lings­sturm tob­te, spät noch am Abend auf dem Be­senstiel ins Kin­der­zim­mer ge­scho­ben hat­te, wo sie mit ra­sen­dem Freu­den­aus­bruch be­grüßt wor­den war. Va­na­dis aber hat­te mit dem Vor­recht ih­res Ge­schlechts die Pup­pe für sich al­lein in Be­schlag ge­nom­men und da­mit die Brü­der, wie die­se mein­ten, um ihre recht­mä­ßi­gen An­sprü­che ver­kürzt.

Jetzt stürz­te sie zu dem Bru­der, der ihr der liebs­te war: »Gun­ther, hilf du mir!« Aber der half nicht, der Hass der Brü­der auf die Lum­bell war zu groß ge­wor­den. Ro­de­rich war auf den moo­si­gen Stein ge­sprun­gen, der seit­lich im Hofe lag, und die Lum­bell im Arm schwin­gend, schrie er: »Erst wird ihr der Pro­zess ge­macht! Sie muss be­ken­nen, dass sie eine Hexe ist! He, Lum­bell, willst du ge­ste­hen, dass du bei Nacht zum Schorn­stein hin­aus­fährst?«

Die Lum­bell ge­stand nichts.

»Wir müs­sen sie mit Zan­gen zwi­cken, dann wird sie schon ge­ste­hen!« brüll­te der di­cke Bru­no und kam in wil­dem Ei­fer mit ei­ner Gar­ten­sche­re an­ge­rannt. Va­na­dis sprang da­zwi­schen und ent­wand ihm die Sche­re, wo­bei sie sel­ber an der Hand ver­letzt wur­de. Aber auf die zwei­te Fra­ge, ob sie eine Hexe sei, war die Lum­bell in der Mit­te ein­ge­knickt, was als ein Ja ge­deu­tet wur­de.

»Sie hat ge­stan­den, sie wird ver­brannt! Die Hexe wird ver­brannt!« – »Nein, vor­her die Was­ser­pro­be!« schrie Ro­de­rich, der sich im Quä­len der Lum­bell und ih­rer Her­rin nicht ge­nug­tun konn­te. »Kei­ne Was­ser­pro­be mehr, wenn sie ge­stan­den hat!« ent­schied Gun­ther, der als klei­ner Ge­lehr­ter, der er war, in den mit­tel­al­ter­li­chen Rechts­bräu­chen bes­ser Be­scheid wuss­te. – »Auf den Schei­ter­hau­fen!«

Der klei­ne schlan­ke En­zio, den sie das Häs­chen nann­ten, lief in die Kü­che nach ei­nem Feu­er­brand. Un­ter­des­sen hat­te Va­na­dis den Au­gen­blick er­se­hen, um dem schlimms­ten ih­rer Wi­der­sa­cher mit kat­zen­ar­ti­ger Ge­schwin­dig­keit an den Hals zu sprin­gen und ihn ins Ge­sicht zu bei­ßen, dass er un­will­kür­lich die Beu­te fah­ren­ließ. Die­se war in jam­mer­wür­di­gem Zu­stand, das Flachs­haar war ihr aus­ge­ris­sen, der gan­ze Leib ging in Stücke. Nichts­de­sto­we­ni­ger hielt das klei­ne Mäd­chen sie mit ver­zwei­fel­ter In­brunst ans Herz ge­presst.

Auf dem Stein flamm­te ein Rei­sig­feu­er, in das die Brü­der dür­res Holz und Fich­ten­na­deln war­fen, der Rauch stieg in die Höhe. Va­na­dis blick­te auf ihre Drän­ger mit Au­gen, als ob sie mor­den könn­te. Da ge­wahr­te sie ihr klei­nes Schwes­ter­lein, wie es, auf­ge­regt vom Lärm der Brü­der, auch sein Steck­lein her­zu­trug in so hei­li­gem Ei­fer wie je­nes alte Weib­lein sein ge­spar­tes Holz­scheit zum Schei­ter­hau­fen des Huß. Jetzt ging in dem Bu­sen der Be­dräng­ten et­was Merk­wür­di­ges vor – sei es, dass sie ihr Ge­lieb­tes­tes nicht von frem­den Hän­den ster­ben las­sen woll­te, da sie kei­ne Ret­tung sah, oder war es plötz­lich er­wach­te kind­li­che Grau­sam­keit –, sie hob die Arme, und mit ei­nem ein­zi­gen wil­den Schrei warf sie sel­ber die Lum­bell ins Feu­er. Bei­fall­s­to­ben be­grüß­te die Tat, die Kin­der fass­ten sich bei den Hän­den und führ­ten einen wil­den Tanz um ihr Op­fer auf, das als­bald von den Flam­men er­grif­fen war und mäch­tig rauch­te. Da­bei wie­der­hol­ten sie aus hei­ser wer­den­den Keh­len im­mer den glei­chen Sings­ang: »Wir ha­ben die Lum­bell!« – wor­ein Gun­ther wie­der et­was Ab­wechs­lung brach­te: »Die Hexe fährt zur Höll’!«

»Seht nur, was sie für gräu­li­che Au­gen macht!« schrie Ro­de­rich da­zwi­schen.

Die Per­len­au­gen der Hexe fun­kel­ten noch aus der Asche her­aus, in die sie ge­sun­ken wa­ren.

Wer am wil­des­ten sprang und am lau­tes­ten sang, aber in wort­lo­sen Ton­fol­gen, war Va­na­dis. Sie ras­te wie eine klei­ne Mä­na­de. Auf ein­mal riss sie sich aus dem Rin­gel­rei­hen los, die an­dern woll­ten sie hal­ten.

»Lasst mich! Ich hole den Don Alon­so!«

»Ja, den Alon­so! Her mit dem Don Alon­so!« brüll­te die mord­gie­ri­ge Meu­te.

Don Alon­so war das ein­zi­ge männ­li­che Mit­glied ih­res Pup­pen­staats und gleich­falls von den ge­schick­ten Hän­den der Groß­mut­ter ge­fer­tigt, aber mit ei­nem rich­ti­gen Pup­pen­kopf und -kör­per. Er war Ka­va­lier vom Wir­bel bis zum Zeh, in St­rümp­fen und Schnal­len­schu­hen, den Hut un­ter dem Arm und den De­gen an der Sei­te, ganz im Ge­gen­satz zu der Lum­bell ein al­ler­liebs­tes Männ­chen. Aber Va­na­dis mach­te sich nichts aus ihm, er ge­hör­te zu ei­nem Ge­schlecht, von dem ihr schon all­zu viel Un­lust und Her­ze­leid wi­der­fah­ren war. Sie warf ihn gleich­falls in die Glut, nach­dem sie ihm zu­vor noch mit grau­sa­mer Lust den Kopf an dem Stein zer­schla­gen hat­te. Das Kind kann­te sich selbst nicht mehr, sie hät­te jetzt im Zer­stö­rungs­rausch alle ihre klei­nen Hab­se­lig­kei­ten der Lum­bell nach­ge­wor­fen, wenn die Brü­der, die schnel­ler zur Be­sin­nung ka­men, ihr nicht am Ende ge­wehrt hät­ten.

Als das Feu­er aus­ge­brannt und die wil­de Schar ab­ge­zo­gen war, stand das klei­ne Mäd­chen noch im­mer bei dem Op­fer­stein und sah in den Aschen­hau­fen. Plötz­lich er­wach­te sie aus dem Tau­mel:

»Mei­ne Vana! Wo ist Vana?«

»När­rin, die bist du ja sel­ber«, hohn­lach­te Ro­de­rich, der al­lein zu­rück­kam.

»Die and­re mein’ ich, die Lum­bell! Mei­ne arme Lum­bell! Wo habt ihr sie?«

Das ging dem bö­sen Ro­de­rich über den Spott, er wur­de be­tre­ten.

»Hast sie doch selbst ver­brannt, du dum­mes Ding! Hier sind ja noch ihre Au­gen in der Asche.«

Da wein­te das Kind auf, wie es noch nie ge­weint hat­te, wein­te strom­wei­se un­ter schüt­teln­dem Schluch­zen und riss sich gan­ze Sträh­nen des blon­den Haa­res aus. In der Verzweif­lung woll­te sie gar ih­ren Kopf in dem rau­chen­den Aschen­rest be­gra­ben, dass die ent­setz­te Kin­der­frau sie ge­gen sich selbst be­schüt­zen muss­te und ihr Ur­feind er­schro­cken da­v­on­sch­lich.

Wort­los in einen Win­kel ge­kau­ert, ver­brach­te sie den Rest des Un­glücks­ta­ges, nach­dem ihr die ver­wun­de­te Hand von der Groß­mut­ter ver­bun­den wor­den war. Von da an woll­te sie mit kei­ner Pup­pe mehr spie­len; das grau­sa­me Ende der Lum­bell und ihre ei­ge­ne Be­tei­li­gung dar­an war ein großes und schwe­res Er­leb­nis, das als tra­gi­sches Rät­sel auf dem un­ters­ten Grun­de des Kin­der­ge­müts zu­rück­b­lieb.

*

Der Stern des Hau­ses war die alte Frau van der Müh­len. Mit ei­nem Man­ne ver­mählt, der ihr in­ner­lich im­mer fremd ge­blie­ben, hat­te sie bis in die vor­ge­rück­ten Jah­re her­auf Nei­gun­gen er­weckt, de­ren Erin­ne­rung sie be­glück­te und jung er­hielt. Und noch im­mer such­ten die Män­ner ger­ne ihre Ge­sell­schaft, sie fühl­ten un­ter dem Schlei­er, den das na­hen­de Al­ter ihr über­ge­wor­fen hat­te, das Ju­gend­feu­er und den Ju­gen­dreiz hin­durch, jetzt von dem Schmelz ei­ner ganz lei­sen Weh­mut ver­klärt. Sie hielt sich nicht an das Her­kom­men, das da­mals die äl­te­ren Frau­en zwang, auf ihre oft noch schö­nen Haa­re plum­pe Stoff­wüls­te oder un­för­mi­ge Hau­ben zu set­zen und ihre Ge­stalt in ei­ner trüb­se­li­gen, quä­ker­haf­ten Al­ter­stracht ver­schwin­den zu las­sen. Eben­so­we­nig such­te sie durch zu ju­gend­li­chen An­zug zu täu­schen, son­dern klei­de­te sich im­mer in ein hel­les, mit Schwarz ver­zier­tes Grau, das ihr gut zu Ge­sich­te stand, und nach ei­nem frei er­fun­de­nen Schnitt, der sie der Zeit ent­rück­te. Un­ter den wei­ten of­fe­nen Är­meln trug sie Som­mer und Win­ter duf­tig­wei­ße ge­stick­te Un­ter­är­mel, die im Ve­rein mit ei­nem eben­sol­chen Kra­gen sich äu­ßerst schmuck aus­nah­men, und auf dem leicht an­ge­grau­ten Haar eine Art Stuart­sch­nep­pe, die ih­ren Wuchs er­höh­te und ihr et­was Kö­nig­li­ches gab. Ihre Be­we­gun­gen wa­ren noch im­mer leicht und rasch, da­bei kann­te sie kei­ne Eile, son­dern tat al­les zur rech­ten Zeit und war im­mer fer­tig, sie pfleg­te von sich zu rüh­men, dass sie nie­mals auch nur eine Vier­tel­stun­de habe auf sich war­ten las­sen. Sie be­saß viel Mut­ter­witz und ström­te, wenn sie an­ge­regt wur­de, von gu­ten Ein­fäl­len nur so über. Da­bei ver­füg­te sie über aus­ge­brei­te­te, wenn auch lücken­haf­te Kennt­nis­se. Da die Frau­en ih­rer Zeit geis­ti­ge Gü­ter nur durch das Le­ben selbst, vor al­lem durch den Um­gang mit geist­vol­len Män­nern er­lan­gen konn­ten und hier­zu Weit­her­zig­keit in der Lie­be ein sehr gang­ba­rer Weg war, hat­te sie wie vie­le ih­rer be­gab­ten Zeit­ge­nos­sin­nen in jün­ge­ren Jah­ren stets einen Kreis von Ver­eh­rern um sich zu hal­ten ver­stan­den, die ihr Ge­sichts­feld er­wei­ter­ten: Män­ner der Li­te­ra­tur, der Po­li­tik oder der Wis­sen­schaft, un­ter de­nen je­weils ei­ner der Be­güns­tig­te war, aber ein je­der hof­fen konn­te, auch ein­mal an die Rei­he zu kom­men. Die Freun­de ih­rer Früh­zeit pfleg­ten lä­chelnd zu sa­gen: »Ihr ist viel ver­ge­ben, denn sie hat viel ge­liebt.« – Doch hat­te sie im gan­zen von bö­ser Nach­re­de nie viel zu lei­den ge­habt. Die Zeit, in der sie auf­wuchs, und die Klas­se, der sie an­ge­hör­te, hat­ten sich großer Nach­sicht in Sa­chen der Lie­be be­flis­sen, und ihr auf­rich­ti­ges, von je­der Miss­gunst frei­es Wohl­wol­len wie ihre hilf­rei­chen Hän­de mach­ten, dass ihr nie­mand böse sein konn­te. Die Nei­gun­gen, die sie er­weck­te und er­wi­der­te, hat­ten ihr Le­ben an­ge­nehm er­wärmt, aber nicht ver­sengt, noch mit Stür­men auf den Grund durch­rüt­telt.

War die Lie­be aus­ge­liebt, so mach­te sie die ge­we­se­nen Günst­lin­ge zu Freun­den, und lei­den­schafts­los, wie sie war, konn­ten auch ge­le­gent­li­che Ent­täu­schun­gen ihr kei­ne Bit­ter­keit be­rei­ten. Nur ein­mal war ihr ein Mann be­geg­net, für den sie fä­hig ge­we­sen wäre, sich selbst zu ver­lie­ren. Aber sei­ne Lie­be glitt ab auf ein jün­ge­res, ne­ben ihr er­blüh­tes Haupt. Sie dank­te dem Schick­sal, als die Ver­su­chung vor­über war. So klang ihr Le­ben in ei­nem frie­de­se­li­gen Abend­lied aus. Und doch hat­ten die letz­ten Jah­re ihr zwei tie­fe Wun­den ge­bracht: ihr ein­zi­ger Sohn war das Op­fer ei­nes Un­falls ge­wor­den, und ih­rer jüngs­ten Toch­ter, der ver­mähl­ten Folk­wang, hat­te die Ge­burt Esthers das Le­ben ge­kos­tet; von der äl­te­ren trenn­te sie seit lan­gem der Ozean. Aber sie hat­te sich dem Kum­mer nicht hin­ge­ge­ben, sie leb­te für das nach­wach­sen­de Ge­schlecht. Da­bei pfleg­te sie den schwach­sin­nig ge­wor­de­nen Gat­ten mit hel­den­haf­ter Selbst­ver­ständ­lich­keit und ließ sich nie­mals eine Un­ge­duld über sein kin­di­sches Ge­ha­be und sei­ne läs­ti­gen Ge­wohn­hei­ten an­mer­ken. Ihre Woh­nung mit der kost­ba­ren al­ten Ein­rich­tung glänz­te wie ein Re­li­qui­en­schrein, ob­gleich sie einen großen Teil der häus­li­chen Ar­beit selbst ver­rich­ten muss­te. Trotz­dem blie­ben ihre schö­nen Hän­de ganz weiß und ju­gend­lich und stets mit fun­keln­den Rin­gen ge­schmückt und fan­den noch die Zeit zu kunst­rei­chen Hand­ar­bei­ten für die künf­ti­ge Aus­stat­tung der En­ke­lin­nen und zu al­ler­lei lus­ti­gen Er­fin­dun­gen für die Kin­der­stu­be.

In die­sen Hän­den lag die Lei­tung der klei­nen Va­na­dis, denn Va­ter Folk­wang, der die Tage in sei­nem Stu­dier­zim­mer ver­brach­te und sei­ne alt­nor­di­schen For­schun­gen nie­der­schrieb, kam für Kin­der­er­zie­hung nicht in Be­tracht. Tan­te Fan­ny aber, sei­ne ver­wit­we­te Schwes­ter, die über die Ju­gend ge­setzt war, hat­te kein Ver­ständ­nis für das klei­ne Mäd­chen und so­mit auch kei­ne Macht über sie. Sie moch­te ihr ru­fen, so­lan­ge sie woll­te, Va­na­dis reg­te sich nicht, wäh­rend sie Flü­gel be­kam, so­bald die Groß­mut­ter einen Wunsch äu­ßer­te.

Für die­se Tan­te Fan­ny, Hein­rich Folk­wangs äl­te­re Schwes­ter, war es ein Un­glück, fünf bis sechs Jahr­zehn­te zu früh ge­bo­ren zu sein. Sie wäre ein glück­li­cher Mensch ge­wor­den, hät­ten ihr die Vor­ur­tei­le ih­rer Zeit er­laubt, zu stu­die­ren und einen ih­rem Selbst­stän­dig­keit­strieb und ih­rer An­la­ge ent­spre­chen­den männ­li­chen Be­ruf zu er­grei­fen. Al­lein für einen sol­chen Le­bens­gang ei­ner Frau war die Welt noch nicht reif, der blo­ße Hang da­nach mach­te sie schon in ih­ren Krei­sen an­stö­ßig. Da­her über­trug Fan­ny ihr geis­ti­ges Seh­nen und ih­ren geis­ti­gen Ehr­geiz auf den be­gab­ten Bru­der Hein­rich, den sie schon in Kin­der­schu­hen be­mut­tert hat­te. Als sich beim Tode ih­res Va­ters, des Ham­bur­ger Groß­kauf­manns Hein­rich Folk­wang sen., her­aus­stell­te, dass das Ver­mö­gen zum größ­ten Teil ei­nem Halb­bru­der aus zwei­ter Ehe ge­hör­te, ver­zich­te­te sie auf ihr Erbe, um ih­rem Pfleg­ling den Weg zu er­leich­tern. Dann wa­ren mehr­fa­che Ver­su­che, sich in frem­den Häu­sern eine Stel­lung zu schaf­fen, an ih­rer We­sens­art ge­schei­tert, bis sie sich zu­letzt ent­schloss, einen ehe­ma­li­gen An­ge­stell­ten der Fir­ma, der ihre ver­blüh­ten Rei­ze noch im­mer mit den Au­gen sei­ner Ju­gend sah, zu hei­ra­ten. Der Bund fiel zum Un­se­gen für bei­de aus, denn Fan­ny war nicht für die Ehe ge­schaf­fen und konn­te in die­sem Stand nicht glück­lich sein noch glück­lich ma­chen. Der Mann, den sie geis­tig un­ter sich sah, war ihr zur Last, sie gräm­te sich, dass sie in kei­ner hö­he­ren Welt mit ihm le­ben konn­te und dass ihr selbst die Mit­tel ge­fehlt hat­ten, sich eine über den weib­li­chen Durch­schnitt hin­aus­ge­hen­de Bil­dung zu ver­schaf­fen. Als ihr ver­göt­ter­ter Bru­der sei­ne Frau ver­lor, war sie schon seit Jah­ren Wit­we und kin­der­los; da­her schi­en es das rich­tigs­te, dass sie nun sei­nen Kin­dern wie vor­dem ihm sel­ber die Mut­ter er­setz­te. Es kann nicht ge­leug­net wer­den, dass der Pro­fes­sor, der al­les Zar­te und Lei­se lieb­te, ein we­nig er­schrak, als die Schwes­ter mit dem kno­chi­gen Glie­der­bau und der har­ten Stim­me vor der Tür stand und er­klär­te, dass sie zum Blei­ben ge­kom­men sei. Aber in sei­ner Hilf­lo­sig­keit konn­te er nicht nein sa­gen und muss­te ihr noch dank­bar sein, dass sie in die Lücke trat, sonst hät­te er nur die Wahl ge­habt, eine zwei­te Frau zu neh­men, wo­vor ihm grau­te, oder die Kin­der und sich selbst be­zahl­ten Hän­den an­zu­ver­trau­en. Es ging auch bes­ser, als er zu hof­fen ge­wagt hat­te, be­son­ders nach der Über­sied­lung. Fan­ny un­ter­zog sich ih­rem neu­en Amt mit Be­geis­te­rung, sie fühl­te es als Glück, in der Luft die­ses Hau­ses zu le­ben, und un­ter den vie­len Kna­ben war sie in ih­rem Ele­ment. Sie sorg­te für de­ren leib­li­ches Wohl, über­wach­te, als sie her­an­wuch­sen, ihre Schul­auf­ga­ben und hielt sie in Zucht, dass sie aufs Wort ge­horch­ten. Ihr Lieb­ling war Gun­ther, in dem sie ih­res Bru­ders Geis­tig­keit und leicht ver­letz­li­ches Ge­müts­le­ben wie­der­er­kann­te und der ihm auch äu­ßer­lich am meis­ten glich. Auf die­sen Kna­ben über­trug sie nun die Er­war­tun­gen, die der Va­ter, durch un­glück­li­che Ge­müts­an­la­gen ver­hin­dert, doch nicht völ­lig ver­wirk­licht hat­te. Der Nef­fe, der al­len sei­nen Al­ters­ge­nos­sen fast lä­cher­lich weit vor­aus war, soll­te ein­mal dem Na­men Folk­wang den Glanz ge­ben, den sie für ih­ren Bru­der um­sonst ge­träumt hat­te. Sie nahm so­gar die­sen Glanz vor­weg, in­dem sie Gun­thers Ruhm in der en­ge­ren und wei­te­ren Fa­mi­lie ver­brei­te­te, und einen Teil da­von schrieb sie sich sel­ber zu, weil sie ihm bei den Re­chen­auf­ga­ben half und sei­ne Vo­ka­beln und Ge­schicht­sta­bel­len mit ihm aus­wen­dig lern­te. Dass vom Ti­sche die­ses Rei­chen man­ches nahr­haf­te Bröck­lein für sie ab­fiel, be­glück­te sie und war ihr wie ein Er­satz für die nicht in Er­fül­lung ge­gan­ge­ne Hoff­nung auf einen in­ni­gen geis­ti­gen Ver­kehr mit sei­nem schweig­sa­men Va­ter.

Al­lein, Gott hat­te die arme Fan­ny in sei­nem Zorn zur Haus­frau ge­macht, in­dem er ihr zu­gleich al­len Sinn für Schön­heit und Reiz ei­ner frau­li­chen Häus­lich­keit ver­sag­te. Bei ih­rer Hoch­schät­zung der geis­ti­gen Gü­ter schi­en ihr jede über der Haus­wirt­schaft ver­brach­te Stun­de ein Raub an die­sen. Vor lau­ter Eile fand sie zu nichts die rich­ti­ge Zeit, des­halb war al­les, was sie tat, nur halb ge­tan. Im­mer im flat­tern­den Haus­kleid, das vorn aus­ein­an­der­flog und mit ei­ner Haar­na­del an Stel­le des feh­len­den Knop­fes zu­sam­men­ge­hal­ten war, peitsch­te sie den Haus­halt vor sich her, der durch ih­ren Ei­fer im­mer we­ni­ger ge­müt­lich wur­de. Denn sie lähm­te durch ihre Über­ge­schäf­tig­keit auch die Selbst­stän­dig­keit der Mäg­de, de­nen sie je­den Au­gen­blick die Ar­beit aus der Hand nahm, um sie selbst schnel­ler und schlech­ter zu ver­rich­ten. Auf die­se Wei­se hat­te sie das Haus­we­sen auf einen Punkt la­bi­len Gleich­ge­wichts ge­bracht, wo es ohne sie über­haupt nicht wei­ter­ging, so­dass ihr Tun, so un­zweck­mä­ßig es an sich war, nun­mehr doch als ganz un­ent­behr­lich er­schi­en; denn wenn sie fehl­te, stand gleich das gan­ze Ge­trie­be still. Fuhr sie dann wie­der dar­ein, so schrill­te und ras­sel­te die Ma­schi­ne, dass Pro­fes­sor Folk­wang sich auf sein Zim­mer flüch­te­te und sein Töch­ter­chen auf sei­nen Baum. Bis die gute Fee vom obe­ren Stock­werk her­un­ter­kam, mit ih­ren schön ge­pfleg­ten, ring­ge­schmück­ten Hän­den, und mit ein paar ge­schick­ten Grif­fen die Ord­nung wie­der­her­stell­te.

Noch ein an­de­res Auge wach­te über der Kind­heit des klei­nen Mäd­chens: das war ein Ju­gend­freund des Va­ters, Baron Sol­mar, der Va­na­dis aus der Tau­fe ge­ho­ben hat­te und bei groß und klein im Haus der Pate hieß oder auch schlecht­weg mit sei­nem Vor­na­men Egon ge­nannt wur­de, weil das sonst in die­sem Fall ge­bräuch­li­che Wort On­kel sei­nem emp­find­li­chen Ohr ein Greu­el war. Die Kin­der duz­ten ihn, aber es be­stand kei­ne Ge­fahr, dass bei die­ser Ver­trau­lich­keit je­mals ei­ner der wil­den Jun­gen die Ehr­er­bie­tung ver­letzt hät­te. Baron Sol­mar ver­brei­te­te eine Luft um sich, in der man sich ganz von selbst takt­voll und zu­rück­hal­tend be­trug, man konn­te gar nicht an­ders. Der ehe­ma­li­ge Di­plo­mat war zwar ein stil­ler Ge­lehr­ter ge­wor­den wie Hein­rich Folk­wang, doch sah er sehr vor­nehm aus und wur­de mit sei­nem schma­len bart­lo­sen Ge­sicht und dem sehr ge­pfleg­ten Äu­ßern, über das sein Kam­mer­die­ner Car­lo wach­te, von den Kin­dern für be­deu­tend jün­ger ge­hal­ten als ihr Va­ter. Er ging auf­recht und fe­dernd, eine Fol­ge ge­wis­sen­haf­ter täg­li­cher Kör­per­übun­gen, wäh­rend Pro­fes­sor Folk­wang, der seit dem Tode der blü­hen­den Gat­tin alle äu­ße­ren An­sprü­che auf­ge­ge­ben hat­te, sei­nen mit frü­hem Grau ge­spren­kel­ten Bart wach­sen ließ und mit sei­ner lan­gen schwan­ken Ge­stalt im Ge­hen vorn­über hing. Baron Sol­mar ver­brach­te all­jähr­lich ein paar Wo­chen im Folk­wang­schen Hau­se. Das war Hein­rich Folk­wangs bes­te Zeit, in der er aus sei­ner lan­gen, tie­fen Schweig­sam­keit her­austrat; denn mit dem weit ge­wan­der­ten Freun­de, der an sei­nen Stu­di­en teil­nahm und die nä­he­re Kennt­nis der Ört­lich­keit hin­zu­brach­te, konn­te er al­les, was ihn in­ner­lich be­schäf­tig­te, durch­spre­chen.

In die­sen Wo­chen leb­te auch die klei­ne Va­na­dis ein er­höh­tes Le­ben. Die Jun­gen wa­ren als­dann zahm und be­läs­tig­ten sie nicht, Fan­ny dämpf­te ihre Stim­me, durch das gan­ze Haus ging eine Wel­le von Freu­dig­keit und Er­he­bung. Das Kind wuss­te es im­mer so ein­zu­rich­ten, dass sie sich ins Zim­mer schmug­gel­te, wo Egon mit den Haus­ge­nos­sen und den von aus­wärts Ge­la­de­nen bei­sam­men saß. Dann streck­ten sich gleich alle Arme aus, um das zier­vol­le Ding mit den großen Au­gen und den schmieg­sa­men Glie­dern zu sich her­an­zu­zie­hen, und es be­durf­te al­ler Ge­schmei­dig­keit und Klug­heit des Kin­des, um sich an den an­dern vor­bei­zu­win­den, ohne sie zu krän­ken, bis sie den Stuhl er­reicht hat­te, wo Egon saß, und die Ärm­chen um sei­nen Hals le­gen konn­te. Er hob sie als­dann auf sei­nen Schoß, von wo sie be­frie­digt um sich sah, als habe sie einen Thron er­stie­gen. Der ver­herr­lich­te Freund hat­te nur eine an­fecht­ba­re Sei­te: dass er der Va­ter des schreck­li­chen Ro­de­rich war und die­sen ins Haus ge­bracht hat­te, da­mit er mit ih­ren Brü­dern ge­mein­sam die Schu­le be­such­te. Ro­de­rich war der ein­zi­ge, der Baron Sol­mars Er­schei­nen ohne Freu­de be­grüß­te; er brach­te sei­nem Er­zeu­ger eine scheue Zu­rück­hal­tung ent­ge­gen, hin­ter der ver­bor­ge­ne Wi­der­setz­lich­keit schlum­mer­te. Va­na­dis fand ihn ein­mal, wie er mit Koh­le auf die in­ne­re Wand ei­nes Schup­pens ein zer­fratz­tes Ge­cken­bild zeich­ne­te, das un­ter der Ver­zer­rung die vor­neh­me Ge­stalt und welt­män­ni­sche Hal­tung des Baron Sol­mar leicht er­ken­nen ließ. Die­ser Kna­be hat­te von der Na­tur einen un­för­mi­gen Kopf mit gro­ben und häss­li­chen Zü­gen emp­fan­gen und führ­te mit sei­ner dä­mo­ni­schen Koh­le, die ein frü­hes un­ge­wöhn­li­ches Ta­lent ver­riet, einen Ver­fol­gungs­krieg ge­gen al­les Schö­ne und An­mu­ti­ge. Die klei­ne Va­na­dis hat­te an je­nem Tage mit Zor­ne­strä­nen das Zerr­bild weg­ge­wischt und ge­droht, den Ur­he­ber zu ver­kla­gen, aber die­ser hat­te nur ge­lacht, er wuss­te wohl, dass sie dazu nicht fä­hig war.

Egon war stolz auf den Vor­zug, den er bei der Klei­nen seit ih­ren frü­he­s­ten Ta­gen ge­noss, und lieb­te sie mit An­be­tung. Da sie kein Nasch­werk woll­te, zer­brach er sich un­abläs­sig den Kopf, wo­mit er sie be­schen­ken konn­te. Ei­nen gan­zen Schrank voll Mär­chen- und Bil­der­bü­cher hat­te er ihr schon zu­sam­men­ge­kauft. Als er von dem tra­gi­schen Un­ter­gang der Lum­bell ver­nahm, mein­te er sei­ne Sa­che gutz­u­ma­chen, in­dem er dem Kin­de eine Aus­wahl der herr­lichs­ten Pup­pen von der Rei­se mit­brach­te. Aber er hat­te fehl­ge­grif­fen. Beim An­blick die­ser fremd­län­di­schen Kunst­ge­bil­de, an die sie kein Zug des Her­zens band, schluchz­te das Kind und lief mit stür­zen­den Trä­nen ins Freie, um un­ter der großen Ze­der im Gar­ten Im­mer­schön, den sie seit dem Un­glücks­tag nicht mehr be­tre­ten hat­te, ih­ren neu­er­wach­ten Schmerz um die Ver­lo­re­ne aus­zu­wei­nen.

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Egon stand am Fens­ter des großen Gast­zim­mers und sah dem klei­nen Mäd­chen zu, wie es auf der blü­hen­den Wie­se saß, als wäre sie eine da her­aus­ge­wach­se­ne Blu­me, und mit spit­zi­gen Fin­ger­chen und aus ei­ner Per­len­schach­tel in ih­rem Schoß klei­ne Rin­ge und lan­ge Ket­ten an­fer­tig­te. Mit den Rin­gen schmück­te sie die Ze­hen ih­rer nack­ten klei­nen Füße, und die Ket­ten wand sie um ihre Knö­chel. Durch das Ge­schenk der Per­len­schach­tel und eine Kin­der­aus­ga­be von Tau­send­und­ei­ner Nacht hat­te Egon sei­nen Miss­griff gut­ge­macht. Das Kind hat­te die Lum­bell ver­ges­sen und be­fand sich mit­ten in den Ara­bi­schen Näch­ten. Mit den be­weg­li­chen Füß­chen führ­te sie sich selbst ein gan­zes Schau­spiel auf. Den rech­ten hat­te sie rei­cher be­dacht, er war der Sul­tan, den lin­ken nann­te sie Sche­herazade. Und Sche­herazade knie­te bei dem Sul­tan und reich­te ihm Sor­bett in sil­ber­ner Scha­le und re­de­te, re­de­te im­mer­zu von Edel­stein­gär­ten, Zau­ber­pfer­den und Wun­der­lam­pen, denn so­lan­ge sie re­de­te, konn­te er sie nicht tö­ten. Der Mann aber am Fens­ter folg­te den Be­we­gun­gen des klei­nen Mäd­chens und dach­te: Es ist et­was ein­zi­ges um die­ses Kind. Wo sie er­scheint, wird ihr die Um­ge­bung zum Rah­men, aus dem man sie nicht weg­den­ken kann. Wie sie da in der Bo­den­fal­te sitzt, zwi­schen den ho­hen Grä­sern, ge­hört sie so na­tür­lich dazu wie die blü­hen­de Spi­räa über ih­rem Kopf. Und wie sie das Häl­schen biegt und mit dem in­ni­gen Ernst der Kind­heit die­se drol­li­gen, klei­nen Spiel­ka­me­ra­den schmückt, das ist ein­fach zum Ver­göt­tern. Ich muss weg­se­hen, dass ich nicht hin­un­ter­stür­ze und sie mit Küs­sen über­schüt­te. Das Kind macht mich zum Nar­ren. Ich lie­be sie nicht nur, ich bin ver­liebt in sie, mehr als je­mals in eine Frau, ihre herr­li­che Mut­ter nicht aus­ge­nom­men, es ist ein An­muts­reiz, wie ihn kei­ne Er­wach­se­ne mehr be­sit­zen kann.

Wäh­rend er sich vom Fens­ter zu­rück­zog, aus Furcht, das Kind könn­te ihn er­bli­cken und sich in sei­nen Heim­lich­kei­ten be­lauscht füh­len, wur­de das Schau­spiel, das die zwei klei­nen Füß­chen mit­ein­an­der auf­führ­ten, von ei­ner an­de­ren Sei­te un­ter­bro­chen. Auf der Nach­bar­mau­er tauch­te ein dunk­ler Kna­ben­kopf auf, und eine gut ge­ziel­te Nel­ke fiel mit­ten in die Ara­bi­schen Näch­te hin­ein.

»Va­na­dis, viens jou­er avec nous – Du wer­den sein Kutschèr, wir sein ’ferd.«

Ein zwei­ter hel­ler­er Kopf er­schi­en auf der Mau­er und wie­der­hol­te die Ein­la­dung.

Zwei klei­ne Fran­zo­sen aus Nan­cy weil­ten seit ei­ni­gen Wo­chen mit Mut­ter und Bon­ne in dem Nach­bar­haus, dem ers­te­re ent­stamm­te. Va­na­dis hat­te von der Groß­mut­ter die Er­laub­nis, mit ih­nen zu spie­len, und es war ein­ge­tre­ten, was die­se vor­aus­sah, dass die äu­ßerst sprach­be­gab­te Klei­ne im Zeit­raum we­ni­ger Wo­chen ganz von selbst den frem­den Gäs­ten so viel von ih­rer Spra­che ablern­te, dass sie sich na­tür­lich dar­in be­weg­te. Die­ses schi­en der Groß­mut­ter, die sel­ber nach dem da­ma­li­gen Brauch ad­li­ger Fa­mi­li­en noch eine ganz fran­zö­si­sche Er­zie­hung ge­nos­sen hat­te, das A und O al­ler fei­ne­ren Bil­dung zu sein. Da die Mit­tel ih­res Schwie­ger­soh­nes nicht zu ei­ner fran­zö­si­schen Er­zie­he­rin aus­reich­ten, wie sie sel­ber und wie ihre Toch­ter eine be­ses­sen hat­ten, kam ihr die­se Ge­le­gen­heit er­wünscht, dem fran­zö­si­schen Un­ter­richt, den sie der En­ke­lin er­teil­te, durch die frem­den Kin­der spie­lend nach­ge­hol­fen zu se­hen.

Und Va­na­dis spiel­te ger­ne mit den klei­nen Fran­zo­sen, die bes­ser an­ge­zo­gen wa­ren und da­her hüb­scher aus­sa­hen als ihre Brü­der, auch im­mer schön ge­kämmt und mit rein ge­wa­sche­nen Hän­den gin­gen, was man von die­sen nicht sa­gen konn­te. An­dré, der Äl­te­re, ein fei­nes kränk­li­ches Kind, war ihr stil­ler Ver­eh­rer; er brach­te ihr zu­wei­len Sü­ßig­kei­ten von sei­nem Nach­tisch her­über oder eine Blu­me aus dem wohl­ge­pfleg­ten Gar­ten sei­ner deut­schen Ver­wand­ten. Aber der Jün­ge­re, Gas­ton, er­reg­te die Be­wun­de­rung des klei­nen Mäd­chens durch sei­ne kat­zen­haf­te Ge­schick­lich­keit im Klet­tern und den Über­mut, wo­mit er auf den schon hoch­ge­führ­ten Bal­ken ei­nes Neu­baus hin und zu­rück lief. Sie war ein­mal zu­ge­gen ge­we­sen, wie das deut­sche Fräu­lein, das die Kna­ben be­hü­te­te, den Äl­te­ren in die Arme nahm und sag­te: »An­dré, du bist mein Lieb­ling!« – und wie sich da Gas­ton mit der Schul­ter da­zwi­schen­bohr­te: »Und ich – ich bin dein Bös­ling, Fräu­lein!« – wor­auf die­se ihn weg­schie­bend sag­te: »Ja­wohl, das bist du.« Dem schnell fas­sen­den Kin­de war es auf­ge­gan­gen, dass das Fräu­lein zu die­ser Zu­rück­set­zung wohl einen Grund ha­ben muss­te. Aber gleich­wohl ge­fiel ihr der flin­ke, mun­te­re Kna­be, des­sen Un­ar­ten mehr Ge­schick hat­ten als die ih­rer Brü­der, von Ro­de­rich ganz zu schwei­gen. Sie folg­te also der an sie er­gan­ge­nen Ein­la­dung.

Hin­ter dem Haus zwi­schen Fluss und Park­mau­er lief ein Wie­sen­streif, den ein schma­ler Fuß­weg längs des Ufers ein­fass­te. Es war ein Lieb­lings­spiel­platz der Nach­bars­kin­der und ihre Renn­bahn, wor­auf sie gern Wett­läu­fe oder Wa­gen­ren­nen ver­an­stal­te­ten. Dort war­te­ten An­dré und Gas­ton mit ei­nem vier­räd­ri­gen Hand­wä­gel­chen, sie nö­tig­ten das klei­ne Mäd­chen ein­zu­stei­gen und woll­ten ohne wei­te­res mit ihr da­von­ren­nen, aber die­se ge­bot Halt, weil sie nicht ohne Zaum­zeug len­ken kön­ne. Gas­ton lief weg und brach­te einen Strick, den Va­na­dis ih­ren bei­den Ros­sen in den Mund leg­te, wor­auf sie selbst die En­den er­griff und »Hü!« rief. Eine Peit­sche brauch­te sie nicht, es ging schnel­ler, als ihr lieb war. Die bei­den fass­ten die Deich­sel und rann­ten los. Das Bäch­lein Li­ri­li, das hier au­ßen un­ter ei­ner fla­chen Boh­len­brücke in den Fluss ging, war sonst die na­tür­li­che Gren­ze ih­rer Renn­bahn, in die­sem re­gen­lo­sen Som­mer aber war es aus­ge­trock­net, so ras­ten die zwei Pfer­de mit­ten durch den Gra­ben. Das Wä­gel­chen kipp­te um, das klei­ne Mäd­chen fiel her­aus, und die zweie lie­fen wei­ter, den ge­stürz­ten Wa­gen nach­schlep­pend, ohne zu be­mer­ken, dass die In­sas­sin fehl­te. Die­se er­hob sich hef­tig er­zürnt und hat­te nicht übel Lust zu wei­nen, doch der Stolz ver­hin­der­te es. End­lich merk­ten die bei­den, was ge­sche­hen war, und ka­men mit dem wie­der­auf­ge­rich­te­ten Wa­gen zu­rück­ge­rannt. An­dré blieb be­dau­ernd bei dem Kin­de ste­hen, aber Gas­ton schoss la­chend da­von, und Va­na­dis wand­te dem Trös­ter un­mu­tig den Rücken, als ob er an der Un­ge­zo­gen­heit des Bru­ders mit­schul­dig sei.

Das hin­der­te sie je­doch nicht, als Gas­ton ein paar Stun­den spä­ter zwi­schen dem Fach­werk des Neu­baus her­um­turn­te und sich von ihr be­wun­dern las­sen woll­te, in den Nach­bar­hof hin­über­zu­schlüp­fen und auf sei­ne Fra­ge, ob sie sich zu ihm her­auf­ge­traue, durch die Tat zu ant­wor­ten. Da lief die Klei­ne furcht­los mit dem si­che­ren Gleich­ge­wicht der Kind­heit auf dem obers­ten Bal­ken des schon ziem­lich hoch ge­die­he­nen Bau­es, bis sie von Ro­de­rich ge­se­hen wur­de. Der Schlim­me ging als­bald zu Tan­te Fan­ny, um Va­na­dis zu ver­klat­schen. Die­se gute, aber im­mer auf­ge­reg­te Frau kreisch­te laut, als sie das Kind in sol­cher Höhe sah, und schrie durch­drin­gend über die Gar­ten­mau­er hin­über: »Va­na­dis, du fällst!« Er­schro­cken blieb das Kind ste­hen, die eben noch si­che­ren Füß­chen stock­ten, sie konn­te nicht wei­ter. Doch fass­te sie sich noch zum Glück, er­reich­te den Eck­pfos­ten, an dem sie sich fest­hielt und von ei­nem Qu­er­bal­ken zum an­dern glei­ten ließ, bis sie den Bo­den wie­der un­ter den Fü­ßen hat­te. Tan­te Fan­ny, die den gan­zen Vor­gang mit Ge­schrei be­glei­te­te, schloss jetzt be­ru­higt das Fens­ter. Gas­ton kam la­chend auf dem Längs­bal­ken her­ab­ge­rit­ten:

»Bist du schwin­del­haft?«

»Nein«, ant­wor­te­te sie trot­zig, »aber es heißt schwind­lig.« (Die Kin­der wa­ren an­ge­hal­ten, ein­an­der ge­gen­sei­tig ihre Sprach­feh­ler zu be­rich­ti­gen.)

»Ich bin nie­mals schwind­lig«, be­merk­te der Kna­be. »Wa­rum sagt das Fräu­lein, dass ich ein Schwind­ler sei?«

Die Klei­ne blick­te ihn ver­wun­dert an: »Das weiß ich nicht.«

Plötz­lich be­gan­nen die Au­gen des Kna­ben zu fun­keln, sein gal­li­sches Blut war mit ei­ner ver­früh­ten Re­gung er­wacht, dass er auf sei­ne ah­nungs­lo­se Ge­spie­lin zu­schoss, sie blitz­schnell in eine Ecke trieb und mit hart zu­sto­ßen­den Fin­gern nach den klei­nen Brüst­chen grei­fen woll­te, die noch gar kei­ne wa­ren. Zu Tode er­schro­cken stieß das Kind gel­len­de Schreie aus und wehr­te sich mit Fuß­trit­ten ge­gen den An­grei­fer, bis das Fräu­lein her­zu­ge­stürzt kam und der Kna­be Reiß­aus nahm. Die Klei­ne hielt ihr zer­ris­se­nes Kleid­chen über der Brust zu­sam­men und schäm­te sich fast zu Tode: es war ihr ge­fühls­mä­ßig auf­ge­gan­gen, wenn ihr auch die Be­grif­fe da­für fehl­ten, dass et­was Frem­des, Un­rei­nes sie be­rührt hat­te, das von den Un­ar­ten ih­rer Brü­der und Ro­de­richs grund­ver­schie­den war. Sie woll­te auch dem Fräu­lein kei­ne Rede ste­hen, son­dern hat­te nur den Trieb, die Schmach von sich zu wa­schen, vor sich sel­ber wie­der rein zu sein. Ei­lig lief sie über die her­um­lie­gen­den Bal­ken nach dem Flus­se hin­ab, zog Kleid­chen und Hemd­chen bis zum Gür­tel her­un­ter und bog sich über die Bö­schung, um sich mit bei­den Hän­den ab­zu­spü­len. Aber sie ver­lor das Gleich­ge­wicht und stürz­te ins Was­ser. Der Fluss war nicht tief; ein Bau­er, der in der Nähe ar­bei­te­te, zog sie her­aus und trug sie trie­fend nach Hau­se. Sie hat­te et­was Was­ser ge­schluckt, war aber schon wie­der bei Be­sin­nung. Auf die er­schro­cke­nen Fra­gen der Um­ge­bung ant­wor­te­te sie nur, sie habe sich wa­schen wol­len. Sie wur­de zu Bett ge­bracht und mit war­men Tü­chern ge­rie­ben und war nun wie­der se­lig im Kin­der­land, denn das Häss­li­che war ab­ge­spült und den Strom hin­un­ter­ge­schwom­men. Die Groß­mut­ter saß bei ihr, er­zähl­te Ge­schich­ten und hielt ihre Hand, bis sie ein­sch­lief. Und nie er­fuhr ein Mensch, warum das Kind sich an je­nem Tage im Flus­se hat­te wa­schen wol­len.

Ein paar Tage spä­ter war die fran­zö­si­sche Fa­mi­lie ab­ge­reist. Das Dienst­mäd­chen aus dem Nach­bar­haus brach­te ein Brief­chen an Va­na­dis her­über. Es war mit großen un­glei­chen Buch­sta­ben äu­ßerst feh­ler­haft in zwei Spra­chen ge­schrie­ben und schloss:

»Chérie, ne m’oub­lie pas, je ne t’oub­lierai ja­mais.

Dein lie­ber un­ver­ge­ss­li­cher An­dré.«

Es war der ers­te Lie­bes­brief, den Va­na­dis emp­fing, und sie hü­te­te ihn ei­fer­süch­tig, doch ohne viel nach dem Ab­sen­der zu fra­gen. Von dem vor­mals be­wun­der­ten Gas­ton hör­te sie das Mäd­chen er­zäh­len, dass er al­les im Hau­se be­schmutzt und zer­bro­chen, die Tie­re ge­quält und sei­nen gut­her­zi­gen äl­te­ren Bru­der, der schwä­cher war, miss­han­delt habe, kurz, ein wah­rer klei­ner Teu­fel ge­we­sen sei.

*

Aus den klei­nen Kin­dern wur­den all­mäh­lich grö­ße­re, Gun­ther und Ro­de­rich be­such­ten schon das Gym­na­si­um, Va­na­dis blieb mit ih­rer Aus­bil­dung nach wie vor auf Mut­ter Na­tur, den vä­ter­li­chen Bü­cher­schrank und den Un­ter­richt der Groß­mut­ter an­ge­wie­sen, denn mit Mäd­chen­er­zie­hung be­fass­te sich die Ge­setz­ge­bung noch nicht: je we­ni­ger sie wuss­ten, für de­sto wert­vol­ler gal­ten sie. Und da Frau van der Müh­len sel­ber aus­schließ­lich von fran­zö­si­schen Bon­nen und Gou­ver­nan­ten un­ter­rich­tet wor­den war, wie es da­mals der deut­sche Adel für not­wen­dig er­ach­te­te, so konn­te sie auch der hör­be­gie­ri­gen En­ke­lin nicht mehr ge­ben, als was sie sel­ber emp­fan­gen hat­te. Das war kun­ter­bunt ge­nug und misch­te sich nun mit dem Kun­ter­bunt in dem Köpf­chen des Kin­des. So wuss­te die alte Dame zwar aufs ge­naues­te Be­scheid über die Eti­ket­te, die beim Le­ver der Ma­rie An­to­i­net­te ge­herrscht hat­te, konn­te auch vie­le pri­ckeln­de An­ek­do­ten von dem Hof des Ers­ten Na­po­le­on er­zäh­len, die sie zu Louis Phil­ipps Zeit als jun­ge Ge­sand­tin ei­nes klei­nen deut­schen Staa­tes in Pa­ris ge­hört hat­te, wuss­te aber um so we­ni­ger von ih­rem ei­ge­nen Va­ter­land; die­ses war zur Zeit ih­res Ler­nens für ihre Stan­des­ge­nos­sin­nen noch nicht ent­deckt ge­we­sen. Über die Geo­gra­fie von Deutsch­land be­saß sie ein fran­zö­si­sches Hand­buch, von ei­nem ge­wis­sen Abbé Gau­tier ver­fasst, aus dem sie sel­ber ehe­dem ihre Kennt­nis­se ge­schöpft hat­te. Da hieß es zum Bei­spiel bei Er­wäh­nung der Lü­ne­bur­ger Hei­de von den Hei­dschnu­cken: »Les Heyd­sch­nu­kes (ge­spro­chen Eds­nü­k), pe­ti­te po­pu­la­ti­on noi­re de la Vest­fa­lie.« In­fol­ge­des­sen hat­te Frau van der Müh­len un­ver­brüch­lich ge­glaubt, dass die Hei­dschnu­cken Men­schen wä­ren, so et­was Ähn­li­ches wie die Hei­du­cken oder die Seld­schu­ken. Erst durch ihre zur Schu­le ge­hen­den En­kel wur­de der Irr­tum auf­ge­klärt, und die Groß­mut­ter lach­te lus­tig mit, so­oft sie mit den Hei­dschnu­cken gen­eckt wur­de, denn sie woll­te nicht in Al­ters­weis­heit über der Ju­gend thro­nen. Va­na­dis je­doch, die sich ganz fest in die Vor­stel­lung von ei­ner merk­wür­di­gen schwar­zen Zwer­gen­ras­se in der Lü­ne­bur­ger Hei­de ein­ge­bis­sen hat­te, wi­der­sprach mit zor­ni­gen Trä­nen und woll­te das wim­meln­de Zwer­gen­volk, das sie sich mit Pfeil und Bo­gen, schwarz be­haart von Kopf zu Fuß dach­te, nicht fah­ren­las­sen. Unend­li­ches hat­te das Kind mit sei­nen frü­hen Jah­ren nach und nach im un­er­sätt­li­chen Le­se­hun­ger ver­schlun­gen. Es war ganz gleich, was in ihre Hän­de fiel, ob ein Schmö­ker oder ein Klas­si­ker, sie konn­te al­les ge­brau­chen: die Bü­cher füg­ten sich mit ei­nem höchst wun­der­ba­ren An­pas­sungs­ver­mö­gen ih­rer In­nen­welt ein, die im­mer so viel da­von auf­nahm, als ihr eine na­tür­li­che Nah­rung gab. Am schöns­ten war es, wenn sie aus den brü­der­li­chen Bü­cher­schät­zen Coo­pers In­dia­ner­ge­schich­ten ent­wen­den konn­te. Mit die­sen er­stieg sie ger­ne die höchs­ten Zin­nen von Tron­je und las und las. Dann dehn­ten sich die Prä­ri­en um sie, die Flüs­se der Neu­en Welt rausch­ten, flin­ke Ka­nus, von Rotäu­ten ge­steu­ert, schos­sen dar­über hin, wil­de Rei­ter auf schnel­len Ros­sen war­fen sich in die Flu­ten, um wei­ße Mäd­chen zu ret­ten; es war ein herr­li­ches Le­ben. War sie mit den In­dia­nern fer­tig, so be­gab sie sich in das äu­ßers­te Thu­le, um mit Asen und Thur­sen zu le­ben; das war fast eben­so schön. Es war ihr un­ver­ständ­lich, dass es Leu­te gab, die ein Buch an ei­ner be­stimm­ten Stel­le nie­der­leg­ten, um wie­der in ih­rer leib­li­chen Um­welt zu sein und des an­dern Tags an der­sel­ben Stel­le wei­ter­zu­le­sen. Sie gräm­te sich, wenn ihr die Nacht da­zwi­schen­kam. Ne­ben sich hielt sie stets einen Vor­rat von Tan­nen­zap­fen auf­ge­spei­chert zum Schutz ge­gen et­wai­ge An­grif­fe, aber es be­durf­te des­sen nicht mehr, nach dem Schick­sals­ta­ge der Lum­bell wur­de Tron­je kein zwei­tes Mal ge­stürmt. Selbst Ro­de­richs Tät­lich­kei­ten hat­ten auf­ge­hört; wenn sie jetzt noch an­ge­grif­fen wur­de, so war es von Sei­ten ih­res Gun­thers, der sie gern mit Knit­tel­ver­schen neck­te, worin er ihre Hel­den durch­he­chel­te. Sie blieb ihm je­doch nichts schul­dig, bei­de hat­ten eine Be­ga­bung für Spra­che und Reim, die durch das vie­le Le­sen ge­stärkt war, und wenn der Mut­wil­le über sie kam, setz­ten sie sich zu­sam­men auf ein Mäu­er­chen und be­war­fen sich mit Trutz­ver­schen.

Und nun rück­te ihr zehn­ter Ge­burts­tag her­an, der im Hau­se fest­lich be­gan­gen wer­den soll­te. Die Klei­ne sah ihm mit ei­ner tie­fen, fei­er­li­chen Be­we­gung ent­ge­gen. Nicht nur, weil jetzt der Zahl ih­rer Le­bens­jah­re die be­deu­tungs­vol­le Null an­ge­hängt wer­den soll­te, son­dern weil sie ei­nem ganz großen Er­leb­nis ent­ge­gen­ging: sie woll­te an die­sem Tage hei­ra­ten. – Hei­ra­ten? Ja­wohl, und wen an­ders als ih­ren Längst­ge­lieb­ten, Ein­zi­gen, den Herrn Egon von Sol­mar. Seit zwei Jah­ren war das fest be­stimmt. Er hat­te ei­nes Ta­ges in Ge­gen­wart der Gro­ßen zu ihr ge­sagt: »An dei­nem zehn­ten Ge­burts­tag hei­ra­te ich dich!« –und wie er­klä­rend hat­te er ge­gen die An­we­sen­den hin­zu­ge­fügt: »In In­di­en hei­ra­ten die Mäd­chen in noch frü­he­rem Al­ter.« Seit­dem hat­te sie mit Un­ge­duld den Tag er­sehnt, an dem sich ein so großer Wan­del voll­zie­hen soll­te. Schon am Vora­bend sah sie stil­le Vor­be­rei­tun­gen tref­fen wie für das Dop­pel­fest ei­ner Ge­burts- und Hoch­zeits­fei­er. Blu­men wur­den ge­schnit­ten und Krän­ze ge­wun­den. An­ne­ma­rie, die Kö­chin, buk einen Ku­chen von be­son­de­rer Fein­heit und trug ihn in der Frü­he mit zehn bren­nen­den Lich­tern vor ihr Bett. Die Groß­mut­ter brach­te ein blü­hen­des Myr­ten­stöck­chen, wie man sie Bräu­ten schenkt, und über dem Arm hing ihr das duf­ti­ge wei­ße Kleid­chen, an dem man sie seit Wo­chen hat­te sti­cken se­hen. Dann klin­gel­te die Post und brach­te Brief­lein und klei­ne Ge­burts­tags­ver­se von den Freun­den des Hau­ses, von den Freun­din­nen um­fang­rei­che Schach­teln mit vie­len schö­nen und er­wünsch­ten Sa­chen drin. Frau Fan­ny wun­der­te sich, dass Egon, der sonst im­mer mit der Ge­burts­tags­sen­dung der ers­te war, dies­mal nichts von sich hö­ren ließ.

»Ich den­ke, er wird uns über­ra­schen wol­len und zu Mit­tag sel­ber da­ste­hen«, mein­te die Groß­mut­ter.

Dies fuhr Fan­ny in die Glie­der, dass sie rasch in die Kü­che eil­te, da­selbst noch ein we­nig Un­ord­nung zu stif­ten. Va­na­dis aber lä­chel­te still in sich hin­ein: Er wird wohl in Per­son er­schei­nen, wenn er heu­te Hoch­zeit macht und sie wun­der­te sich, dass die an­dern nicht so­weit dach­ten.

Gun­ther hat­te einen gut­ge­fass­ten Ge­burts­tags­spruch aus­ge­dacht, den die klei­ne, jetzt sechs­jäh­ri­ge Esther, gleich­falls weiß ge­klei­det, mit ei­nem Strauß in der Hand auf­sa­gen muss­te, und er sel­ber über­reich­te dazu ein nied­li­ches, von sei­ner ei­ge­nen Bast­ler­hand ge­bun­de­nes Büch­lein, in das sie künf­tig ihre Trutz­ver­schen auf­zeich­nen woll­ten. Bru­no und En­zio blie­sen ge­wal­tig auf ih­ren Trom­pe­ten, um auch zur Fei­er des Ta­ges bei­zu­tra­gen, und Ro­de­rich zeig­te sei­ne Ach­tung vor der Her­rin des Fes­tes da­durch, dass er sich ab­seits hielt und sie den gan­zen Tag we­der är­ger­te noch quäl­te.

Am Mit­tag hielt ein Wa­gen vor der Tür, und wie er­war­tet stieg Baron Sol­mar her­aus. Er hielt in der einen Hand einen ho­hen, mit Sei­den­pa­pier ver­hüll­ten Blu­men­strauß, in der an­dern ein klei­nes Saf­fi­an­köf­fer­chen, was er bei­des vor­sich­tig ins Haus trug, wäh­rend Car­lo, sein flo­ren­ti­ni­scher Kam­mer­die­ner, mit den ziem­lich um­fang­rei­chen Kof­fern und Schach­teln nach­kam. Das Kind flog dem An­kömm­ling dies­mal nicht auf der Trep­pe ent­ge­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­