cover image

Isolde Kurz

Von dazumal

Erzählungen

Isolde Kurz

Von dazumal

Erzählungen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-45-4

null-papier.de/542

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Es und ich.

Nach­bars Wer­ner

Das Ver­mächt­nis der Tan­te Su­san­ne.

Wer­ters Grab.

Der Rei­se­sack.

Der Ak­ti­en­gar­ten.

Die Rei­se nach Tripstrill.

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Es und ich.

Es gibt eine Gott­heit, die von Al­len ge­sucht wird, und die im­mer un­er­kannt über die Erde geht. Sie ist von un­be­greif­lich flüch­ti­ger Sub­stanz, und ihr We­sen zeigt sich nur im im­mer­wäh­ren­den Ver­ste­ckens­spie­len und sich Ver­klei­den; ihre wah­re Ge­stalt hat kein Sterb­li­cher je­mals ge­se­hen. Men­schen und Völ­ker setzt sie in Be­we­gung und ras­tet nie­mals. – Da sie kei­nen si­che­ren Na­men hat, habe ich sie Es ge­nannt.

Man hal­te es nicht für An­ma­ßung, dass ich Es und mich in ei­nem Atem nen­ne, denn wir bei­de ge­hö­ren un­zer­trenn­lich zu­sam­men. Habe ich doch Es nie an­ders als in Ver­bin­dung mit mir ge­kannt und kann mir gar nicht vor­stel­len, wie Es aus­se­hen wür­de, wenn ich nicht wäre. Hin­wie­der­um exis­tie­re ich nur in Be­zie­hung auf Es, und wenn ich von mei­nen Er­leb­nis­sen re­den will, kann ich nicht an­ders sa­gen als: Es und ich.

Ich er­in­ne­re mich ganz ge­nau: mein ers­ter Be­griff, als ich den­ken lern­te, und, noch ehe ich den­ken konn­te, mei­ne ers­te Vor­stel­lung war Es. Nie­mand hat­te mir je da­von ge­sagt, aber ich wuss­te, dass Es vor­han­den ist, ich hat­te die­se Kennt­nis aus dem Mut­ter­lei­be mit­ge­bracht.

Im­mer, wo es recht merk­wür­dig und ge­heim­nis­voll aus­sah, da such­te ich Es. Wenn ir­gend­wo ein ro­tes Lämp­chen brann­te, blieb ich ste­hen, um auf Es zu war­ten. Hin­ter dem Zelt­tuch wan­dern­der Zi­geu­ner saß Es ger­ne, doch woll­te man mir nie er­lau­ben, das Tuch zu lüp­fen.

Zum ers­ten Mal er­kann­te ich Es leib­haft in der Ge­stalt ei­nes Koch­löf­fels. Den hat­te ich ganz neu aus der Kü­che ent­wen­det und in ei­nem Nes­sel­busch ver­steckt, denn ich woll­te für mich und den Bru­der ein Häu­schen un­ter der Erde bau­en, zu dem die Gro­ßen kei­nen Zu­tritt ha­ben soll­ten. Um es ein­zu­rich­ten brauch­te ich ver­schie­de­ne Din­ge, vor al­lem den be­wuss­ten Koch­löf­fel. Zu­wei­len zog ich ihn heim­lich aus dem Ver­steck her­vor und schwelg­te in sei­nem An­blick. Es war ein Zau­ber­stab, denn so­bald ich ihn in Hän­den hielt, war das Häu­schen schon fer­tig mit vie­len nied­li­chen blitz­blan­ken Sä­chel­chen drin; es hat­te ein Dach aus Erde, über dem der Nes­sel­busch wuchs, und eine ganz klei­ne Kü­che, in der ich für mich und den Bru­der koch­te. Ei­nes Ta­ges aber fand mich die Kö­chin bei mei­nem Schatz, er­grimmt ent­riss sie mir den Löf­fel, nach dem sie lan­ge ge­sucht hat­te, und au­gen­blick­lich ver­sank das Häu­schen mit al­lem was drin war in den Bo­den. Spä­ter wur­de mir zwar auf Be­fehl der Mut­ter der Löf­fel zu­rück­ge­ge­ben, aber jetzt war er nur noch ein Stück Holz, und ich konn­te das wun­der­ba­re Häu­schen nie­mals wie­der auf­bau­en.

Ich kann mich nicht mehr an all die ver­mie­de­nen Ge­stal­ten er­in­nern, in de­nen Es da­nach mir wie­der er­schi­en. In ver­schnür­ten und ver­sie­gel­ten Schach­teln, die der Post­bo­te brach­te, war sein Lieb­lings­auf­ent­halt, aber re­gel­mä­ßig beim Öff­nen ent­flog es.

Bei Nacht war Es mir meis­tens ganz nahe. Ich lag in mei­nem Bett­chen, auf dem Tisch brann­te ein Nacht­licht, und die Gro­ßen spra­chen mit ge­dämpf­ter Stim­me. Da­bei wur­de mir selt­sam ah­nungs­voll zu Mut, und nun be­gann das Licht­lein zu fla­ckern und gab im Aus­ge­hen ein pras­seln­des Geräusch von sich, das die Wär­te­rin »sprat­zeln« nann­te. Die­ses »Sprat­zeln« war wie ein Si­gnal, ich wuss­te: jetzt geht so­gleich die Türe auf, und her­ein kommt Es. Doch im Au­gen­blick, wo das ge­sch­ah, war ich auch schon ein­ge­schla­fen, des­halb konn­te ich Es nie­mals von An­ge­sicht se­hen. Aber noch jetzt, wenn es mir ge­le­gent­lich bei­kommt, ein Nacht­licht bren­nen zu las­sen, und ich wa­che in tiefer Nacht an dem Ge­sprat­zel auf, so ist mir’s, als sei jetzt Es so­eben durchs Zim­mer ge­gan­gen.

Un­ter dem Weih­nachts­bau­me habe ich Es wohl des öf­te­ren leib­haft sit­zen se­hen, aber wäh­rend die Lich­ter ab­brann­ten, schlich es still hin­aus. Da­ge­gen wohn­te es in der Wo­che vor Weih­nach­ten stän­dig im Hau­se, nur durf­te man es als­dann nicht se­hen. Es stak in ab­ge­schlos­se­nen Schub­la­den, aus de­nen zu­wei­len ein End­chen Gold­fa­den oder ein Fet­zen bun­ten Sei­den­zeugs her­aus­hing, man ahn­te sei­ne Nähe hin­ter der Schrank­tür, wo beim Auf- und Zu­ma­chen Gold und Sil­ber­f­lit­ter knis­ter­ten, aber woll­te man Es durch einen Tür­spalt oder ein Schlüs­sel­loch be­lau­schen, so wur­de man von den Gro­ßen är­ger­lich weg­ge­sto­ßen.

Ge­duld, dach­te ich, spä­ter, wenn ich groß bin, wird Es be­stän­dig um mich sein. Dies war eine un­um­stöß­li­che Ge­wiss­heit; wie Es aus­se­hen soll­te, frag­te ich mich nicht, aber kom­men muss­te Es.

Ein äu­ße­rer Um­stand gab der Vor­stel­lung mit der Zeit eine be­stimm­te­re Rich­tung. Ein Freund der Fa­mi­lie, der in Smyr­na wohn­te, schick­te all­jähr­lich um die­sel­be Zeit ein Kist­chen voll ge­trock­ne­ter Fei­gen nebst ei­ni­gen Fläsch­chen Ro­sen­öl, die mit Gold­buch­sta­ben be­malt wa­ren. In die­sem Kist­chen zwar wohn­te Es nie­mals, wir wuss­ten zu ge­nau im Voraus, was es ent­hielt und so­gar wie es ver­packt war. Aber das Kist­chen er­reg­te ent­zücken­de Bil­der von dem Land, das sol­che Herr­lich­kei­ten her­vor­brach­te. Und wenn Es fort­an dar­auf be­stand, sich nicht zu zei­gen, so trös­te­te ich mich, es müs­se wohl jen­seits ei­nes wei­ten Mee­res in Smyr­na sein.

Welch ein selt­sa­mes Ge­sicht ma­chen doch zu­wei­len die Buch­sta­ben, wenn sie zu ei­nem Na­men zu­sam­men­tre­ten. Es ist als sehe man durch eine un­end­li­che Tie­fe in das in­ners­te We­sen der Din­ge hin­ein. Ich neh­me es kei­nem übel, wenn er sich in den wohl­klin­gen­den Na­men ei­nes Mäd­chens ver­liebt.

Ähn­lich er­ging es mir mit Smyr­na, und aus tiefer, an­däch­ti­ger Be­wun­de­rung ver­mied ich es, den Na­men zu nen­nen. Aber jen­seits un­se­res Flus­ses lag eine Ort­schaft, wel­che Sir­nau hieß – ich habe sie, ne­ben­bei ge­sagt, nie­mals ge­se­hen. – Um Smyr­na nicht zu pro­fa­nie­ren, re­de­te ich, wo ich nur konn­te, von Sir­nau. Den Wald­strei­fen zwi­schen je­ner Ort­schaft und dem Fluss nann­te man das Sir­nau­er Wäld­chen. Im Som­mer führ­ten un­se­re Wär­te­rin­nen uns zu­wei­len dort hin­über. Der Fluss rann an die­ser Stel­le ganz seicht über sil­ber­hel­le Kie­sel, die Mäd­chen brauch­ten nur ihre Rö­cke zu schür­zen, um hin­durch zu wa­ten, uns Klei­nen zog man ein­fach die Klei­der aus. Die­sen Wald­bo­den be­trat ich nie ohne ent­zück­ten Schau­er, als ob es ein hei­li­ger Grund wäre, denn ei­ni­ge Ähn­lich­keit, dach­te ich, müs­se Sir­nau doch mit Smyr­na ha­ben. Ein­mal zeig­te man mir dort ein Eich­hörn­chen, das an ei­ner Ei­chel knap­per­te, und als­bald be­völ­ker­te mei­ne Fan­ta­sie ganz Smyr­na mit Eich­hörn­chen, die auf schlan­ken glä­ser­nen Tür­men sa­ßen und Fei­gen her­un­ter­war­fen, kla­re Flüs­se, die nach Ro­sen­öl duf­te­ten, ran­nen da­ne­ben, und dies war Es.

Die Stre­cke bis ins zehn­te Jahr war un­end­lich; als ich ein­mal die be­rühm­te Null er­reicht hat­te, kam die gan­ze Sa­che ins Rol­len. Ich lach­te jetzt über Smyr­na und die Eich­hörn­chen, wie ich schon frü­her über den Koch­löf­fel ge­lacht hat­te. Ich wuss­te jetzt, Es ist über­all, es kommt nur dar­auf an, Es zu fin­den, und dazu braucht es den flüch­tigs­ten al­ler Ren­ner.

Ach, ich habe man­ches ra­sche Roß be­stie­gen, bin bei Tage und auch bei Nacht in Ebe­nen und Wald­schluch­ten her­um­ge­streift, aber Es habe ich nie­mals er­jagt. Es war im­mer auf der Flucht vor mir und wuss­te sich so zu ver­ste­cken, dass ich auch nicht ein­mal den Saum sei­nes Ge­wan­des fas­sen konn­te. Und wenn Es mir je­mals über den Weg lief, so trug es Klei­der, in de­nen ich es nicht er­kann­te.

Und doch gab es in der klei­nen Stadt, wo ich zu Hau­se war, eine Räum­lich­keit, in der es gern ver­weil­te. Der Weg da­hin führ­te über einen hoch­ge­le­ge­nen, mit Bäu­men be­setz­ten Platz, des­sen eine Sei­te ein lang ge­streck­tes mas­si­ves Stein­ge­bäu­de ein­nahm. Dort stieg man drei Stu­fen zu ei­ner brei­ten Haus­tür hin­auf und im In­nern zur rech­ten Hand zwei höl­zer­ne Stu­fen hin­un­ter, dann fand man sich vor ei­nem nie­de­ren Pfört­chen. An zwei Aben­den der Wo­che tön­ten hin­ter die­ser Pfor­te son­der­ba­re wim­mern­de und ju­beln­de Lau­te, sie ka­men vom Stim­men der Vio­li­nen her, die Kna­ben und Mäd­chen zur Tanz­stun­de rie­fen. Mit wel­chen Ah­nungs­schau­ern folg­te ich zwölf­jäh­rig dem Lock­ruf der Gei­gen, wenn sie rie­fen: Es ist da! Es ist da! – Und Es war wirk­lich da, der grob­ge­tünch­te Saal mit den ro­hen Holz­bän­ken war ganz von sei­ner Ge­gen­wart aus­ge­füllt. Es tanz­te auch mit, aber in so un­be­greif­lich ver­schlun­ge­nen Fi­gu­ren, dass ich sei­nen An­blick nie­mals er­ha­schen konn­te. Es duck­te sich in Ecken und heim­li­che Win­kel, schlang sich an den höl­zer­nen Säu­len vor­über und woll­te mei­nem Auge nie­mals Stand hal­ten. Ob es den An­dern, die dort tanz­ten, je­mals sei­nen An­blick ge­gönnt hat, habe ich nicht er­fah­ren.

Am un­glück­lichs­ten war ich an den Sonn­ta­gen, denn ich glaub­te lan­ge, dies sei die Zeit, wo Es sich am liebs­ten bli­cken las­se, weil ich sah, dass auch An­de­re dar­auf war­te­ten. Da­rum zog ich mich je­des Mal fest­lich an, um Es wür­dig zu emp­fan­gen, aber aus­ge­hen moch­te ich nicht, ich wuss­te schon, Es mischt sich nicht gern un­ter die Sonn­tags­men­ge, und wenn Es mich fin­den woll­te, konn­te es ja eben so gut in mei­ne Woh­nung kom­men. Aber ich saß viel am Fens­ter, da­mit Es we­nigs­tens den Weg nicht ver­feh­le. Sol­che Sonn­ta­ge hat­ten zehn­mal so viel Stun­den wie ein an­de­rer Tag. Da sah ich dann abends die Leu­te nach Hau­se kom­men, sie mach­ten sich breit und ta­ten alle, als hät­ten sie Es ge­se­hen. Und ich mein­te, alle Men­schen trü­gen ein ho­hes, un­be­greif­li­ches Glück nach Hau­se, und ich al­lein sei leer aus­ge­gan­gen. Frag­te ich aber, was sie er­lebt hät­ten, so ant­wor­te­ten sie, sie hät­ten Käse ge­ges­sen und Bier ge­trun­ken und wä­ren sehr ver­gnügt ge­we­sen.

Ver­gnügt! Wie habe ich von je­her die­ses Wort ge­hasst. Wo Es nicht ist, wie kann die See­le da Ge­nü­ge fin­den. Und wo Es wirk­lich wäre, wel­ches Wort wäre hoch und tief ge­nug, um ihr Ent­zücken aus­zu­spre­chen.

An son­ni­gen Os­ter- und Pfingst­mor­gen, wenn die Glo­cken zu­sam­men­läu­ten, kann ich mich des War­tens auf Es bis zum heu­ti­gen Tag nicht völ­lig ent­schla­gen.

Wun­der­li­ches Ding, die­ses Es! Ein­mal war es gar in ein klei­nes Kreuz­chen aus Berg­kry­stall ein­ge­zo­gen, nach dem ich eine Zeit lang hef­ti­ges Ver­lan­gen trug. Dort muss es ihm so­gar sehr wohl ge­we­sen sein, denn es wohn­te ge­rau­me Zeit in dem Kreuz­chen. Frei­lich war es kein ge­wöhn­li­ches Schmuck­stück, son­dern stell­te in mei­ner Ein­bil­dung zu­gleich das Süd­li­che Kreuz vor, das mir, seit­dem ich im Kos­mos ge­le­sen hat­te, wie das Bild ei­nes Ge­lieb­ten in der See­le glüh­te. Das Kreuz­chen wur­de mein, aber wäh­rend es an mei­nem Hal­se hing, oder in der Scha­tul­le lag, ging lang­sam eine son­der­ba­re Ver­än­de­rung mit ihm vor. Es schwand näm­lich im­mer mehr, nicht an Um­fang, son­dern an Rea­li­tät, ich hielt es oft be­trübt und zwei­felnd in der Hand und be­griff nicht, wo es ei­gent­lich hin­kam. Man konn­te es noch se­hen und tas­ten, aber es war am Ende so gut wie nicht mehr vor­han­den.

Von je­ner Zeit an ver­stand ich das Mär­chen vom Teu­fels­gol­de: Die ma­te­ri­el­len Gü­ter sind über­haupt kei­ne rea­len, sie ver­schwin­den, so bald man sie be­sitzt – nur Es, das wech­sel­vol­le, un­be­greif­li­che bleibt im­mer we­sen­haft und gleich ver­lan­gens­wert.

Wie viel Ent­täu­schun­gen, Zorn und Kum­mer hat Es mir noch fer­ner­hin auf mei­nem Le­bens­weg be­rei­tet! Ich will nicht von sei­ner Tücke re­den, dass es sich bis­wei­len in ein mensch­li­ches Ge­sicht ver­steck­te und mit kei­ner Ge­walt von da zu ver­trei­ben war, bis es ei­nes Ta­ges von sel­ber wie­der aus­zog, – ich wuss­te nicht wie und warum, nur dass der Mensch plötz­lich aus­sah wie Je­der­mann. Das Selt­sams­te und Un­heim­lichs­te war, dass Es Men­schen und Din­gen den Raum ver­sperr­te. Die Din­ge, die sich für real aus­ga­ben, wa­ren ei­gent­lich gar nicht, und die Men­schen, die be­ach­tet sein woll­ten, wa­ren eben­so­we­nig; sie hat­ten wie Schat­ten nur zwei Di­men­sio­nen. Es mit sei­ner über­mäch­ti­gen Sub­stanz stand im­mer zwi­schen mir und ih­nen und ließ sie nicht zur We­sen­heit durch­drin­gen. Da­für ta­ten sie mir aus Ra­che man­chen Tort, und ich war au­ßer stand, mich ge­gen sie zu weh­ren, denn ich glaub­te im stil­len doch nicht an ihre Rea­li­tät. Ich glaub­te nur an Es, das Unaus­sprech­li­che, mir bei der Ge­burt Ver­hei­ße­ne, das je­der Sonn­tags­mor­gen aufs neue ver­sprach.

Ich sah end­lich ein, dass ich Es in mei­nem Va­ter­land nie­mals fin­den wür­de, und wan­der­te aus nach Sü­den. In wei­ßen Mar­mor­pa­läs­ten und tief­grü­nen Hai­nen un­ter der Son­ne von Flo­renz muss­te Es mei­ner Mei­nung nach zu Hau­se sein. – Aber in Flo­renz war Es erst recht nicht – wie könn­te es auch da sein, wo al­les schon ver­gan­gen ist – Es ist ja das Nie­da­ge­we­se­ne, das ewig Künf­ti­ge. Ich fand nicht ein­mal die wei­ßen Pa­läs­te, von de­nen ich ge­träumt hat­te, sie wa­ren alle vom Al­ter ge­schwärzt und hat­ten die Far­be des Ge­steins und Erd­bo­dens, aus dem sie her­aus­wuch­sen. Aber wä­ren sie auch weiß ge­we­sen und ganz so wie ich sie ge­dacht hat­te, – Es hät­te eben­so we­nig in ih­nen ge­haust.

Nun stan­den alle mei­ne Ge­dan­ken nach dem Mee­re. Auf dem Meer ist das Unend­li­che, auf dem Meer ist Es! – Ach, das Meer war gleich­falls ganz an­ders, als ich ge­dacht hat­te. Es war nur ein klei­ner Aus­schnitt des Unend­li­chen mit Was­ser und Him­mel und vie­len Se­geln, die alle sehn­lich et­was zu su­chen schie­nen – und da­hin­ter war der Blick ver­sperrt. – Nein, auf dem Mee­re war Es wie­der nicht, wo war Es denn?

Eine wei­ße Lee­re, eine glü­hen­de Stil­le um­gab mich, in der ich nicht ein­mal mehr wün­schen konn­te. Es war mir gänz­lich ent­schwun­den und wohn­te am ferns­ten Ho­ri­zont. Da sag­te einst ein al­ter Schif­fer, der mich aus dem Golf von Spe­zia ins of­fe­ne Meer hin­aus­ru­der­te: Wenn wir im­mer so wei­ter­füh­ren, wür­den wir in Afri­ka lan­den.

In die­sem Au­gen­blick flog Es vor­aus und ließ sich jen­seits des Mee­res in Afri­ka nie­der. So oft ich von nun an ein Schiff in je­ner Rich­tung se­geln sah, war’s als zöge mich’s an un­sicht­ba­rem Ban­de nach je­ner fer­nen afri­ka­ni­schen Küs­te mit dem wei­ßen blen­den­den Son­nen­schein und den stil­len war­men Näch­ten, wo das Süd­li­che Kreuz, mei­ne Ju­gend­lie­be, am Him­mel steht. Aber ich sah ein, dass Es mich doch nur aufs Neue zum bes­ten hat­te und dass un­ter dem Süd­li­chen Kreuz sei­nes Blei­bens so we­nig sein wür­de wie un­ter den Gestir­nen der nörd­li­chen He­mi­sphä­re. Es war­te­te nur, dass ich mich in Be­we­gung setz­te, um vor mir her­zu­zie­hen wie der Ho­ri­zont, ich hät­te ihm nach- und nach­zie­hen kön­nen rund um die Erde und end­lich am al­ten Fleck wie­der an­kom­men – ich wäre ihm doch nicht um einen Fuß­breit nä­her ge­rückt. So blieb nichts üb­rig als sich end­lich in der Welt ein­zu­rich­ten, als ob Es gar nicht vor­han­den wäre.

Aber Es dul­det nicht, dass man sich auf die Dau­er sei­ner ent­schla­ge. Es be­darf mei­ner wie ich sei­ner be­darf, es kommt zu mir, wenn ich nicht mehr zu ihm kom­me, es muss mich ne­cken, denn mich ne­cken ist sein Da­sein. Ich las­se es an mich her­an­kom­men und sein Spiel mit mir trei­ben, und weiß doch, dass es mit mir spielt. So spielt ein Er­wach­se­nes mit ei­nem Kin­de, das es zu täu­schen glaubt, aber das Kind ist klü­ger als der Er­wach­se­ne denkt; es tut nur mit, weil es ge­fäl­lig ist, und weil das Spiel ihm sel­ber Freu­de macht.

Nun schlen­de­re ich wei­ter ohne Hast und fra­ge je­den Be­geg­nen­den, wie Es für ihn aus­se­he und wo er Es am liebs­ten su­che. Vie­le ver­ste­hen mich nicht, denn für die Mas­se der Men­schen ist Es von Amts­we­gen in fes­te Form ge­bracht; wozu also da­nach su­chen! Sie ho­len es am Sonn­tag mor­gen aus dem Schrank und wan­dern da­mit zur Kir­che, und Abends wenn sie Bier ge­trun­ken ha­ben, wer­den sie be­geis­tert und sin­gen die »Wacht am Rhein«. Aber Sol­che, die mich ver­ste­hen, sind um die Ant­wort nicht ver­le­gen. Der Lie­ben­de bringt mir das Bild­nis sei­ner Ge­lieb­ten – ich sehe dann ein Paar la­chen­der Au­gen und blit­zen­der Zäh­ne, aber sein Es ist für mich nicht wahr­nehm­bar – der Bu­reau­krat denkt an einen Or­den, der jun­ge Dich­ter sieht Es hin­ter dem Thea­ter­vor­hang, für den Back­fisch trägt es Sä­bel und Spo­ren, der Po­li­ti­ker zeigt mir sein Uto­pi­en, aber war nicht – zu sei­ner Zeit – mein höl­zer­ner Löf­fel eben so viel wert?

Und doch ver­spot­tet ei­ner die Träu­me des an­dern. Der nüch­ter­ne Ge­schäfts­mann lacht über den Idea­lis­ten, der ei­nem Hirn­ge­spinst von Kunst, Lie­be oder Va­ter­land nach­jagt, er wird un­ter sei­nen Zah­len grau und ahnt nicht, welch ein hirn­ver­brann­ter Fan­tast er sel­ber ist. Wenn er mit sei­nen Voll­blut­pfer­den vor­über­fährt, blickt ihm frei­lich der nai­ve Fuß­gän­ger nach und meint Es in al­ler Herr­lich­keit ne­ben ihm auf den straf­fen Pols­tern sit­zen zu se­hen. Doch der Herr der Equi­pa­ge weiß, dass Es nicht ne­ben ihm sitzt, weil der Platz ganz leer ist, er muss so­gar wis­sen, dass er selbst im Lee­ren hin­s­aust, denn Pfer­de und Wa­gen sind bloß für das Auge des Fuß­gän­gers vor­han­den. Nur tut er nicht der­glei­chen, son­dern lehnt kühl und vor­nehm zu­rück, um we­nigs­tens in dem Neid der Ein­falt so et­was wie eine dürf­ti­ge Ent­schä­di­gung zu fin­den.

Nein, Es ist nicht in den Din­gen, Es ist im­mer au­ßer­halb. Ist Es dar­um eine Chi­mä­re? Kei­nes­wegs, nur die Din­ge sind Chi­mä­ren.

Es bleibt stets das Glei­che, aber wo es er­scheint, da ist es im­mer neu. Die Wand­lun­gen Wisch­nu’s sind nichts ge­gen die sei­ni­gen. Für den Säug­ling kriecht es in eine ble­cher­ne Ras­sel, ei­nem Na­po­le­on geht es in blen­den­dem Glanz auf den rus­si­schen Eis­fel­dern auf, und doch wird es nie we­der grö­ßer noch klei­ner.

So wer­de ich Es denn nie­mals mit Au­gen se­hen, mit Hän­den grei­fen! Wohnt es viel­leicht in je­nen un­end­li­chen, dem stärks­ten Fern­glas un­durch­dring­li­chen Räu­men hin­ter der Milch­stra­ße?

Nein, es wohnt auch dort nicht, sei­ne Woh­nung ist über­all und nir­gends. Es ist wie der Un­sicht­ba­re, von dem Hiob sagt: »Er geht vor mir über, ehe ich ihn ge­wahr wer­de und ver­wan­delt sich, ehe ich ihn er­ken­ne.« Wer Es an­fasst, dem ist es schon ent­schwun­den. Glau­be kei­ner, sein Nach­bar sei glück­li­cher als er und habe Es ge­bun­den, Es treibt mit Je­dem das glei­che Spiel, kei­ner kommt ihm um Haa­res­brei­te nä­her als der an­de­re.

Ich habe be­haup­ten hö­ren, es gebe Men­schen, die nie auf Es ge­war­tet hät­ten, die gar nichts wüss­ten von sei­nem Da­sein. Mir sind sol­che Pä­scherähs nie­mals vor­ge­kom­men. Al­len, die ich ken­ne, auch den Ärms­ten im Geis­te, ist Es ein­mal in ir­gend ei­ner Ge­stalt er­schie­nen.

Wenn der Mensch auf­ge­hört hat, an Es zu glau­ben, so hat er auf­ge­hört zu le­ben.

Ich glau­be noch an Es – Es ist so­gar das Ein­zi­ge, wor­an ich glau­be, aber ich gehe ihm nicht mehr nach. Ich weiß, es ist im­mer da, wo ich nicht bin: gehe ich durch die Ebe­ne, so nimmt Es sei­nen Weg über die Hü­gel. Wenn ich ein­mal ge­stor­ben bin, so wird Es ge­wiss kom­men und auf mei­ner Aschenur­ne sit­zen, und das wird ein schö­ner Au­gen­blick sein; nur scha­de, dass als­dann nie­mand mehr da ist, ihn zu ge­nie­ßen.

Nachbars Werner

Mei­ne ers­te Lie­be, so er­zähl­te mir mei­ne Freun­din Ada, war un­ser Nach­bars­sohn Wer­ner Horst. Ich ver­ehr­te in ihm, ohne mir da­von Re­chen­schaft zu ge­ben, mein männ­li­ches Ide­al, denn ich stand da­mals zwi­schen dem fünf­ten und sechs­ten Jah­re, be­fand mich also in ei­nem Le­bensal­ter, wo man die Lie­be bis­wei­len schon nach der Emp­fin­dung, aber nicht dem Na­men nach kennt.

Ich hat­te schon von Wer­ner re­den hö­ren, be­vor wir ein­an­der be­geg­ne­ten, denn mei­ne Fa­mi­lie wohn­te erst seit Kur­zem in der Stadt, und die be­son­de­re Art, wie die Er­wach­se­nen von ihm spra­chen, be­schäf­tig­te mei­ne Ein­bil­dung.

Mein Va­ter pfleg­te näm­lich zu sa­gen: »Der Wer­ner ist ein Jun­ge, aus dem ein­mal et­was wer­den kann, aber ich will nicht, dass mei­ne Kin­der mit ihm um­ge­hen.«

Und mei­nem Bru­der Erich, der die glei­che La­tein­klas­se be­such­te wie Wer­ner, war es ver­bo­ten, den Heim­weg aus der Schu­le in sei­ner Ge­sell­schaft zu ma­chen.

Ganz deut­lich er­in­ne­re ich mich, wie Wer­ner das ers­te Mal zu uns kam. Sein Va­ter hat­te ihn mit ei­nem Auf­trag an den mei­ni­gen ge­schickt. Sei­ne freie Mie­ne, die glän­zen­den Au­gen, mit de­nen er den Gro­ßen so fest ins Ge­sicht sah, und dass er zwei Jah­re äl­ter war als ich, das Al­les flö­ßte mir eine mit Scheu ge­misch­te Be­wun­de­rung ein. Und als er wie­der ge­gan­gen war und mei­ne Mut­ter ge­gen den Va­ter be­merk­te: »Es ist doch jam­mer­scha­de um den Wer­ner –« da weiß ich noch ganz ge­nau, dass mir das Herz un­ru­hig zu klop­fen be­gann.

Nach­dem der Va­ter das Zim­mer ver­las­sen hat­te, nahm ich all’ mei­nen Mut zu­sam­men und frag­te:

»Was hat denn der Wer­ner ge­tan, dass Du sagst: ›Scha­de?‹«

»O, et­was sehr Häss­li­ches«, war die Ant­wort, »das klei­ne Mäd­chen bes­ser gar nicht wis­sen soll­ten: der Wer­ner ist ein Lüg­ner

Und sie er­zähl­te mir, dass Wer­ner’s Va­ter Al­les auf­ge­bo­ten habe, um den Jun­gen von die­sem wid­ri­gen Las­ter zu hei­len, aber kein Mit­tel woll­te fruch­ten. Un­zäh­li­ge Prü­gel habe er an ihm ab­ge­schla­gen, ihn Tage lang im Kel­ler ein­ge­sperrt, es sei Al­les um­sonst ge­we­sen. Das Lü­gen sei so mit Wer­ner’s Na­tur ver­wach­sen, dass er es nicht las­sen kön­ne. Über­haupt sei er ein Tu­nicht­gut und ein Heim­tücker, was man ihm bei sei­ner of­fe­nen Mie­ne gar nicht an­se­hen wür­de. Er hal­te sich im­mer nur einen Freund un­ter sei­nen Ka­me­ra­den, aus dem ma­che er dann, was er wol­le, set­ze ihm die größ­ten Al­bern­hei­ten in den Kopf und ver­lei­te ihn zu schlech­ten, un­ge­zo­ge­nen Strei­chen, bis er ihn ei­nes Ta­ges ste­hen las­se und sich wie­der einen an­de­ren su­che. Wer­ner Hor­st’s Freund­schaf­ten dau­er­ten nie län­ger als ein paar Wo­chen, aber in die­sen paar Wo­chen ma­che er auch die bravs­ten zu ganz un­ge­hor­sa­men und ver­dreh­ten Jun­gen. Des­halb hät­ten an­de­re El­tern dar­auf zu ach­ten, dass er von ih­ren Kin­dern fern blei­be.

Ich ging an die­sem Tage ganz tief­sin­nig um­her. – Wie kann man nur lü­gen, dach­te ich bei mir selbst. – Pfui, das muss et­was sehr Schmut­zi­ges sein! – Denn ich war ein klei­ner Tu­gend­bold und sehr stolz auf mei­ne von den El­tern oft ge­rühm­te Wahr­heits­lie­be, an der gar nichts Ver­dienst­li­ches war, da ich als zärt­lich ge­heg­tes Haus­kind nie­mals in die Ver­su­chung ge­riet, mir mit ei­ner Lüge zu hel­fen.

Da­her nahm ich mir vor, den Wer­ner gründ­lich zu ver­ach­ten, ihn auch nicht an­zu­se­hen, wenn er mir auf der Stra­ße be­geg­nen wür­de. Aber heim­lich muss­te ich im­mer an den Mis­se­tä­ter den­ken. Mei­ne Fan­ta­sie irr­te be­stän­dig um sei­ne mir doch nicht recht klar ge­wor­de­nen Ver­ge­hun­gen und die Stra­fen, die er da­für zu ver­bü­ßen hat­te, her­um. Sei­ne Be­harr­lich­keit im Bö­sen im­po­nier­te mir eben so sehr, wie ich sie ver­damm­te, und so oft ich mir sein schö­nes, frei­es Ge­sicht vor­stell­te, wur­de ich trau­rig.

Wenn mein Bru­der ge­le­gent­lich in mei­ner Ge­gen­wart sag­te: »Der Wer­ner Horst ist der Bes­te in der gan­zen Klas­se« – so wur­de ich rot, ohne zu wis­sen, warum. Und als ich ihn ei­nes Ta­ges sa­gen hör­te: »Heut’ hat der Wer­ner Prü­gel be­kom­men, weil er wie­der ge­lo­gen hat« – wein­te ich im Stil­len. Fort­an flocht ich all­abend­lich in mein Nacht­ge­bet die Bit­te ein:

»Und, lie­ber Gott, ma­che vor Al­lem, dass der Wer­ner nicht mehr lügt.«

Wer­ner’s Va­ter war der Rec­tor und Kir­chenäl­tes­te Horst, des­sen Haus dicht an das uns­ri­ge stieß. Da drü­ben fie­len zu­wei­len Sze­nen vor, über die man bei uns nur flüs­ternd sprach, denn mei­ne sanf­te, im­mer gü­ti­ge Mut­ter, die ich viel zu kurz be­ses­sen habe, woll­te nicht, dass wir Kin­der von häss­li­chen und trau­ri­gen Din­gen er­füh­ren; sie ver­heim­lich­te uns so­gar ih­ren ei­ge­nen lei­den­den Zu­stand, um uns den Son­nen­schein der Kind­heit so lan­ge wie mög­lich un­ge­trübt zu er­hal­ten. Aber durch des Rec­tors Dienst­magd Rike, die sich bei un­se­rer Chris­ti­ne das Herz zu er­leich­tern pfleg­te, war man von Al­lem un­ter­rich­tet. Der Alte ge­hör­te zu den Stil­len im Lan­de und war der Schre­cken der Schul­kin­der, de­nen er das Chris­tent­hum mit dem Stock ein­bläu­te. Nur über sei­nen Wer­ner hat­te er kei­ne Ge­walt. Die­ser drück­te sich, so oft er Ge­le­gen­heit fand, um die häus­li­chen An­dachts­übun­gen und lief am Sonn­tag in den Wäl­dern um­her. Wenn er dann zum Mit­ta­ges­sen nach Hau­se kam, er­war­te­te ihn re­gel­mä­ßig eine Prü­gel­sup­pe, wor­auf er für den Rest des Ta­ges aber­mals zu ver­schwin­den pfleg­te, um am Abend mit ei­ner neu­en Tracht Prü­gel be­grüßt zu wer­den. Doch war ihm das Um­her­strei­fen eben­so we­nig aus­zu­trei­ben wie das Lü­gen. Ein­mal – aber dies er­zähl­te mir Chris­ti­ne nur mit ge­dämpf­ter Stim­me und in­dem sie sich ängst­lich um­sah, ob Nie­mand zu­hö­re – war er so­gar mit ei­ner Zi­geu­ner- oder Kun­strei­ter­ban­de fort­ge­zo­gen, man wuss­te nicht wo­hin, und erst nach meh­re­ren Ta­gen war der Va­ter sei­ner wie­der hab­haft ge­wor­den.

Ich weiß nicht, ob Wer­ner ahn­te, wie sehr sei­ne Nach­ba­rin mit ihm be­schäf­tigt war. Je­den­falls nahm er sei­ner­seits von mei­nem Da­sein in schmei­chel­haf­ter Wei­se No­tiz, wäh­rend es sonst bräuch­lich war, dass die Mäd­chen von den Jun­gen über die Ach­sel an­ge­se­hen wur­den.

Bei ei­ner fest­li­chen Ge­le­gen­heit ent­spann sich zur Schan­de mei­ner Grund­sät­ze un­se­re Freund­schaft.

Die große Früh­jahrs­mes­se führ­te all­jähr­lich wan­dern­de Cu­rio­si­tä­ten, wie Schieß­bu­den, Me­na­ge­ri­en und der­glei­chen nach un­se­rer Stadt. Dies­mal war auf der großen Fest­wie­se vor den Tho­ren ne­ben an­de­ren Herr­lich­kei­ten ein Car­rous­sel auf­ge­schla­gen, das den gan­zen Tag nicht leer wur­de und die Her­zen der Ju­gend mit Be­geis­te­rung er­füll­te. Ich hat­te nie zu­vor ein Car­rous­sel ge­se­hen, und das quiek­sen­de, krei­sen­de Ding mit sei­nen Pferd­chen und Wä­gel­chen und dem flat­tern­den Wim­pel auf dem Zelt­dach er­reg­te mein glü­hends­tes Ver­lan­gen. Die Mut­ter schenk­te mir ein paar Kreu­zer, zog mir ein wei­ßes Kleid mit rosa Bän­dern an und schick­te mich am Sonn­tag mit Chris­ti­ne auf die Fest­wie­se.

Ei­nen Sonn­tag wie die­sen habe ich nicht wie­der er­lebt. Die Wie­se war so grün, dass man nichts Grü­ne­res se­hen konn­te; die Son­ne schi­en hell, und die Wei­ße des lei­ne­nen Zelt­da­ches, wor­auf die bun­ten Fähn­chen weh­ten, biss ei­nem fast in die Au­gen. Aber das Al­ler­schöns­te war die Mu­sik, die den Rund­gang des Car­rous­sels be­glei­te­te; die Töne der Sphä­ren­har­mo­nie kön­nen ei­nem ver­ste­hen­den Ohre nicht be­se­li­gen­der klin­gen als mir das Ge­schril­le je­ner Jahr­markt­s­or­gel, in das sich das Äch­zen der dre­hen­den Mecha­nik misch­te. Noch heu­te kann ich kein Car­rous­sel her­um­ge­hen se­hen, ohne eine Wei­le ste­hen zu blei­ben, und die Töne, die mein Ohr zer­rei­ßen, we­cken ein fer­nes, himm­li­sches Echo in mei­ner Erin­ne­rung. Doch ließ sich der won­ne­vol­le Tag zu­erst für mich be­denk­lich an. Chris­ti­ne woll­te mich in ei­nes der grün la­ckier­ten Kütsch­chen he­ben, wo­ge­gen ich mich sträub­te, denn ich ver­lang­te sehn­lich nach ei­nem Pferd. Die bäu­men­den Vier­füß­ler aber wa­ren alle von den Jun­gen be­setzt, die es als einen Ein­griff in ihre Vor­rech­te be­trach­te­ten, dass auch ein Mäd­chen in den Sat­tel stei­gen woll­te, und mich über­all zu­rück dräng­ten. Es war eine all­ge­mei­ne Ver­schwö­rung, mich nicht an­kom­men zu las­sen, und un­zäh­li­ge Male muss­te ich das Car­rous­sel ohne mich ab­ge­hen se­hen. Ich war ganz trost­los vor Schmerz und Scham, dass man mich nir­gends dul­den woll­te, und es fehl­te nicht mehr viel, so wäre ich wei­nend nach Hau­se ge­lau­fen. Als das Car­rous­sel wie­der ein­mal still hielt, sah ich einen herr­li­chen Rap­pen mit rund ge­bo­ge­nem Hals und we­hen­der, höl­ze­ner Mäh­ne mir ge­ra­de ge­gen­über. Ich stürz­te dar­auf zu, griff nach dem Steig­bü­gel, wur­de aber al­so­bald wie­der ge­packt und zu­rück ge­zerrt. Dies­mal war es mein ei­ge­ner Bru­der, der mich weg­zu­rei­ßen such­te, doch ich hielt den Bü­gel fest, und ein ge­walt­sa­mes Rin­gen ent­stand.

»Schäm’ Dich doch, Ada«, keuch­te er ganz au­ßer sich – »die Mäd­chen ge­hö­ren nicht aufs Pferd, die Mäd­chen ge­hö­ren in die Kut­schen.«

Nicht dass er das Pferd für sich ge­wollt hät­te, aber als Mus­ter­kna­be, der er war, konn­te er es nicht er­tra­gen, sei­ne Schwes­ter eine Aus­nah­me ma­chen zu se­hen. – Ich war zwar die Jün­ge­re, aber kei­nes­wegs er­heb­lich schwä­cher und wehr­te mich wie eine Lö­win. Die Um­ste­hen­den lach­ten, der Auf­wär­ter sag­te be­gü­ti­gend: »Was macht ihr, Kin­der, es ist Platz für Alle! Auf­ge­stie­gen! Jetzt fah­ren wir ab.«

Er hat­te gut re­den, mein Bru­der hielt mich an mei­nen lan­gen, ge­lock­ten Haa­ren fest. Mit ei­nem ver­zwei­fel­ten Ruck mach­te ich mich end­lich los und ließ ihm mein rosa Band nebst ei­nem Schopf Haa­re in den Hän­den. Aber als ich mich um­sah, war mein Platz von ei­nem Drit­ten ge­nom­men, und ich er­kann­te Wer­ner Horst, der eine Hand auf den Bü­gel des Rap­pen ge­legt hat­te. Mein Bru­der schnitt mir eine scha­den­fro­he Frat­ze und hieß Wer­ner rasch auf den Rap­pen stei­gen.

»Wa­rum denn?« sag­te die­ser ru­hig, in­dem er den Platz frei gab. – »Dei­ne Schwes­ter war ja vor­her da.«

»Aber die Mäd­chen ge­hö­ren in die Kut­schen«, ant­wor­te­te mein Bru­der, in­dem er mit dem Fuß stampf­te.

»Dumm­heit«, sag­te Wer­ner, wäh­rend ich schon tri­um­phie­rend im Sat­tel saß.

Mei­nem Bru­der blieb nichts üb­rig, als sich im Ge­wühl da­von zu schlei­chen, nach­dem er noch die Faust ge­gen mich ge­ballt hat­te. Wer­ner sprang auf das freie Gäul­chen ne­ben dem mei­ni­gen, die Mu­sik setz­te ein, und fort ging es, als flö­ge man ins Him­mel­reich.

Wer­ner nick­te ver­gnügt zu mir her­über und sag­te:

»Du bist doch nicht so lang­wei­lig wie die an­dern Mäd­chen.«

Ich saß strack im Sat­tel, hielt mit ei­ner Hand die Ei­sen­stan­ge, durch die mein Pferd an dem Gerüs­te be­fes­tigt war, und fühl­te mich hoch er­ha­ben über die zah­men Lämm­chen in ih­ren blau­en und rosa Kleid­chen, die rings­um fein ar­tig zu Vier und Vier in den Kut­schen un­ter­ge­bracht wa­ren. Stolz und glück­lich blick­te ich zu Wer­ner hin­über, der mir auf ein­mal als ein ganz An­de­rer er­schi­en. Ich hat­te alle Mis­se­ta­ten, de­ren er an­ge­klagt war, ver­ges­sen und sah in ihm mei­nen Ret­ter und Hel­den, denn es war mir auf­ge­gan­gen, dass er sich nur ein­ge­mischt hat­te, um den be­strit­te­nen Platz für mich zu be­set­zen.

»Wa­rum sol­len die Pfer­de nicht auch für die Mäd­chen sein?« frag­te ich, um aus sei­nem Mun­de die Be­stä­ti­gung mei­ner Rech­te zu ver­neh­men.

»Die Pfer­de sind für Alle, die rei­ten kön­nen«, lach­te er.

Also ich konn­te rei­ten! Der Wer­ner hat­te es ge­sagt, und der muss­te es ja wis­sen. Ich hob mich noch stol­zer im Sat­tel und fühl­te mich so si­cher in mei­nem Ama­zonen­t­hum, dass ich die Stan­ge los ließ und mich auf mei­nem Pferd­chen frei schwe­bend er­hielt. Die Mu­sik gröhlte, die Kin­der schri­en und san­gen, die Mecha­nik stöhn­te, und wir dreh­ten uns in wir­beln­der Eile. Eine Ver­zückung hat­te mich er­fasst; mir war’s, als läge die Erde tief un­ter uns, und wir saus­ten zu­sam­men furcht­los und se­lig durch die blau­en Lüf­te. Auf ein­mal stand das Car­rous­sel stil­le, die Mu­sik schwieg, und ein Mann ging her­um und sam­mel­te Geld ein. Auch ich reich­te ihm ein Geld­stück und woll­te be­trübt her­un­ter glei­ten. Aber Wer­ner sag­te: »So bleib doch sit­zen!« – und ein neu­er Wol­ken­ritt be­gann, so be­rau­schend und so kurz wie der ers­te. Noch meh­re­re Male blie­ben wir bei­de sit­zen, bis all’ un­ser Geld ver­rit­ten war, und es war im­mer noch viel, viel zu kurz ge­we­sen. Zö­gernd stie­gen wir end­lich her­un­ter. Das Dienst­mäd­chen war mit ei­nem Sol­da­ten, der sie wäh­rend des­sen an­ge­spro­chen hat­te, ver­schwun­den. Ich be­fand mich ganz al­lein in dem Ge­wühl – al­lein mit Wer­ner Horst. In mei­nem Freu­den­rausch fühl­te ich mich ihm so nahe, als wäre er mein Bru­der, nur ein bes­se­rer, lie­be­vol­ler­er Bru­der, denn er zeig­te mir kei­ne Missach­tung da­für, dass ich ein Mäd­chen war.

Wir trie­ben uns eine Zeit lang zu­sam­men auf der Fest­wie­se zwi­schen den be­setz­ten Ti­schen und Bän­ken her­um, stan­den vor dem mit wil­den Sze­nen be­mal­ten Vor­hang ei­ner Tier­bu­de, be­trach­te­ten voll In­ter­es­se das La­ger ei­ner brau­nen Zi­geu­ner­ban­de, die im Frei­en koch­te, und fühl­ten uns in dem Ge­drän­ge un­be­ob­ach­tet und se­lig. End­lich, als wir al­les wohl be­schaut hat­ten, sag­te Wer­ner:

»Jetzt geh’ ich in die Stadt Was­ta, willst Du mit?«

Ob ich woll­te! Ich hat­te zwar kei­ne Ah­nung, wo die Stadt Was­ta lag, noch was wir dort soll­ten, aber der fremd­ar­ti­ge Name hat­te es mir au­gen­blick­lich an­ge­tan. Wer­ner lief vor­an, ich ihm nach, so schnell ich konn­te, über Grä­ben, an ei­ner He­cke ent­lang, dann quer durch einen Obst­gar­ten, wel­chen ein Bach durch­schnitt, der über­sprun­gen wer­den muss­te, und end­lich schlüpf­ten wir durch ein Pfört­chen in un­se­rer al­ten Stadt­mau­er, von der da­mals noch ein Stück er­hal­ten war. Auf dem Wege mach­te Wer­ner mehr­mals Halt, um mich Atem schöp­fen zu las­sen und mir die Ge­schich­te der Stadt Was­ta zu er­zäh­len, die vor lan­ger, lan­ger Zeit un­ter die Erde ver­sun­ken war und nur ein­mal in tau­send Jah­ren – und ge­ra­de heut’ – an die Ober­flä­che stieg. Dann führ­te er mich wei­ter eine be­bau­te An­hö­he hin­auf und eine eben sol­che hin­un­ter, bis sich ein wei­tes Rund vor uns auf­tat, das ganz mit al­ters­grau­en Häu­schen über­deckt war. Vie­le Gäss­chen durch­schnit­ten es die Kreuz und Que­re, und in der Mit­te lief eine brei­te­re, ge­ra­de Gas­se hin­durch. Ei­gent­lich war es nicht mehr und nicht we­ni­ger als un­ser al­ter Markt­platz, wor­auf die Jahr­markts­bu­den stan­den, die heu­te als am Sonn­tag ge­schlos­sen wa­ren. Und ei­gent­lich wuss­te ich dies auch; aber als Wer­ner mir sag­te, wir be­fän­den uns in Was­ta, der ver­sun­ke­nen Stadt, wur­de mir doch ganz wun­der­lich, und ich glaub­te ihm Al­les. Die Bu­den wa­ren aus grau­em, vom Re­gen zer­fres­se­nen Lat­ten­werk her­ge­stellt und sa­hen zum Teil wirk­lich aus, als hät­ten sie tau­send Jah­re un­ter der Erde ge­le­gen, weil die Krä­mer, die all­jähr­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­