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Isolde Kurz

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Isolde Kurz

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
1. Auflage, ISBN 978-3-962812-51-5

null-papier.de/544

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Inhaltsverzeichnis

Bio­gra­fie

Aus mei­nem Ju­gend­land

Wid­mung

Vor­wort

Le­bens­mor­gen

Tan­te Ber­ta und die Schwa­ben­strei­che

Um­zug nach Kirch­heim

Das alte Tü­bin­gen

Die Hei­den­kin­der

Ein Flucht­ver­such

Von Ihr. Nach­klän­ge des tol­len Jah­res. Das rote Al­bum.

1866

Die Ge­burt der Tra­gö­die

Vor­früh­ling

Ein No­tel­fer. Rus­si­sche Freun­de

Ein fran­zö­si­scher Re­vo­lu­tio­när. Ju­gen­dese­lei­en

1870

Rigi Re­gi­na

Be­such in Frank­reich

Be­dräng­nis­se

Der Brand und die Flam­me. Hat der Mann ein See­len­le­ben?

Der 10. Ok­to­ber

Wie­der bei den Grie­chen

Un­zeit­ge­mä­ßes und was es für Fol­gen hat­te

Mün­chen

Letz­te Tage in der Hei­mat

Der De­spot

Die Nacht im Tep­pich­saal

Wid­mung

Der Wan­de­rer

Die Mär von der schö­nen Ga­lia­na

Wie die Flo­ren­ti­ner Pisa be­hü­te­ten

Die Ver­damm­ten

Die Dame von For­li

Das bren­nen­de Herz

Die Pil­ger­fahrt nach dem Un­er­reich­li­chen

Ers­tes Ka­pi­tel – Ster­nen­stun­de

Zwei­tes Ka­pi­tel – Mut­ter­recht

Drit­tes Ka­pi­tel – Kin­des­see­le und Über­welt

Vier­tes Ka­pi­tel – Das Gestirn des Va­ters

Fünf­tes Ka­pi­tel – Noch ein­mal die Ju­gend­stadt

Sechs­tes Ka­pi­tel – Flo­renz

Sieb­tes Ka­pi­tel – Der Weg

Ach­tes Ka­pi­tel – Un­ser Tho­le

Neun­tes Ka­pi­tel – Die Vil­la mit dem Gra­nat­baum

Zehn­tes Ka­pi­tel – Durch­bruch

Elf­tes Ka­pi­tel – Wie Was­ser von Klip­pe zu Klip­pe ge­wor­fen

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Le­bens­mit­te

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Wir be­grün­den ein Welt­bad

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Son­nen­wen­de

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Das Ver­glim­men

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel – Vor­bo­ten

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel – Im Welt­brand

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel – Den Du nicht ver­läs­sest

Die Stadt des Le­bens

Lo­ren­zo il Ma­g­ni­fi­co

Der me­di­ce­i­sche Mu­sen­hof

La Bel­la Si­mo­net­ta

Der Bru­tus der Me­di­ce­er

Bian­ca Cap­pel­lo

Die Stun­de des Un­sicht­ba­ren

Die vom Ber­ge Lat­mos

Fa­tum?

Der Iet­ta­to­re – Eine ver­ges­se­ne Ge­schich­te

Das Bild­nis der Un­be­kann­ten

Der alte Schrank

Fluch­gold

Flo­ren­ti­ner No­vel­len

Die Hu­ma­nis­ten

Die Ver­mäh­lung der To­ten

Der hei­li­ge Se­bas­ti­an

Flo­ren­ti­ni­sche Erin­ne­run­gen

Wid­mung

Die stil­le Kö­ni­gin

Agli Al­lo­ri

Ed­gar Kurz – Ein Le­bens­bild

Al­fred Kurz – Nach­ruf

Adolf Hil­de­brand – Zu sei­nem sech­zigs­ten Ge­burts­ta­ge

In den Mar­mor­ber­gen – I. Car­ra­ra

In den Mar­mor­ber­gen – II. Ser­ra­vez­za.

Eine Toch­ter Oc­ta­vio Pic­co­lo­mi­ni’s

Erd­be­be­nerin­ne­run­gen

Blü­ten­ta­ge in Flo­renz

Her­mann Kurz

Wid­mung

Vor­wort

Ein­lei­tung

Des Dich­ters Ju­gend­jah­re

Nach­le­se aus den Ge­dich­ten der Maul­bron­ner Zeit

Das blaue Ge­nie

Ers­te Schaf­fen­spe­ri­ode

Be­zie­hun­gen zu Mö­ri­ke

Der Dich­ter­kreis um Alex­an­der von Würt­tem­berg

Schwarz-rot-gold

Das Brun­now­sche Haus

Hei­rat

In der Fro­ne der Frei­heit

Neue Schaf­fen­spe­ri­ode

Un­se­re Kin­der­stu­be

Ober­ess­lin­gen

Der Fremd­ling

Treue

Letz­te Le­bens­jah­re.

Im Zei­chen des Stein­bocks

Im Zei­chen des Stein­bocks

All­ge­mei­nes vom Men­schen­da­sein

Mann und Weib

Aus der Welt des Her­zens

Vom Kin­de

Ethik und Rhyth­mus

Ge­heim­nis­se

Von der Spra­che

Aus Völ­ker­see­len

Vom Ge­ni­us

Poe­sie

Kunst und Künst­ler

Un­ter Men­schen

Al­ler­lei Hei­li­ge

Aus der Zeit

Ita­lie­ni­sche Er­zäh­lun­gen

Schus­ter und Schnei­der

Mit­tags­ge­spenst

Pen­sa

Die Glücks­num­mern

Er­reich­tes Ziel

Ein Rät­sel

Näch­te von Fon­di

Wid­mung

Frau­en, Rit­ter, Waf­fen und Amu­ren

Die flie­hen­de Nym­phe

Fun­di, mei Cala­mi­tas!

Phan­tasi­en und Mär­chen

Ha­schisch.

Der ge­borg­te Hei­li­gen­schein.

Ster­nen­mär­chen.

Die gol­de­nen Träu­me.

Kö­nig Filz.

Vom Leucht­kä­fer, der kein Mensch wer­den woll­te.

Va­na­dis

Ers­tes Buch

Zwei­tes Buch

Von da­zu­mal

Es und ich.

Nach­bars Wer­ner

Das Ver­mächt­nis der Tan­te Su­san­ne.

Wer­ters Grab.

Der Rei­se­sack.

Der Ak­ti­en­gar­ten.

Die Rei­se nach Tripstrill.

Wan­der­ta­ge in Hel­las

Wid­mung

Triest – Pi­raeus

Athen

Ägi­na und Sala­mis

Eleu­sis

Me­nid­hi-Achar­nä

Kap Su­ni­on

Die Ar­go­lis

Ko­rinth und der Isth­mus

Del­phi

Nach Olym­pia

Ein ar­ka­di­scher Früh­lings­tag

Be­such in The­ben

Chal­kis

Letz­te Tage in Athen

Ar­nold Böck­lin

Aus Ga­ri­bal­dis Me­moi­ren

Der Ak­ti­en­gar­ten

Das Haus des Atreus

Die Lie­ben­den und der Narr

Ein son­der­ba­rer Hei­li­ger

Mei­ne Mut­ter

Sin­gen­de Flam­me

»Le temps que je re­gret­te …«

Kin­der­land

Des Kin­des Ta­ge­werk

Das Mai­en­fest

Früh­lings­lied

Mäd­chen­lie­be

Um dich

Ge­heim­nis

Ru­he­los

Drei Jah­re lang …

Die Nicht-Ge­we­se­nen

Weg­war­te

Be­dräng­nis

Das Lämp­chen

Schau’, die tie­fen Tä­ler …

Deut­sche Ge­s­pens­ter

Wie die Ju­gend liebt

Phi­lis­ter

Bahn­wär­ters Töch­ter­lein

Das Bet­tel­kind

Das bist du

Hel­din, als wir dich hat­ten

Ed­gar

Nun bin ich stark …

O dass die Lie­be ster­ben kann

Nein …

Jetzt heißt es still und heim­lich …

Ab­sa­ge

Im star­ren Guß …

Die ers­te Nacht

Der Tod

Auf dei­ne Gruft

Ein Schat­ten du …

Pie­ta

Fina­le (1933)

Im Ver­glim­men

Die Wege, die wir tau­send­mal ge­gan­gen

Der Berg­stei­ger

Bald

Pur­pur­ne Aben­drö­te

Letz­te Fahrt

Sol­leo­ne

Un­se­re Car­lot­ta

In­dex

Dan­ke

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Biografie

Isol­de Ma­ria Kla­ra Kurz (21.12.1853–06.04.1944) war eine deut­sche Schrift­stel­le­rin und Über­set­ze­rin.

Ihr Va­ter Her­mann war eben­falls Schrift­stel­ler und Über­set­zer. Sie wuchs in ei­nem li­be­ra­len und an Kunst und Li­te­ra­tur in­ter­es­sier­ten Haus­halt auf. Schon früh wur­de sie mit den Schrif­ten der klas­si­schen An­ti­ke be­kannt und ar­bei­te­te in jun­gen Jah­ren als Über­set­ze­rin. Sie war eine selbst­stän­di­ge Frau, die ih­ren ei­ge­nen Le­bens­un­ter­halt ver­dien­te, was da­mals noch nicht üb­lich war. 1913 wur­de Kurz als ers­te Frau zum Ehren­dok­tor der Uni­ver­si­tät Tü­bin­gen er­nannt.

An­fang der 1890er Jah­re er­rang sie ers­te li­te­ra­ri­sche Er­fol­ge mit der »Flo­ren­ti­ner No­vel­le« und den »Ita­lie­ni­schen Er­zäh­lun­gen«. Es folg­ten wei­te­re Ge­dicht- und Er­zähl­bän­de, Auf­sät­ze in Ma­ga­zi­nen (»Die Gar­ten­lau­be«) und aber auch bio­gra­fi­sche Ar­bei­ten.

Ihre Rol­le im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus schwank­te zwi­schen in­tel­lek­tu­el­ler, aber nicht ge­äu­ßer­ter Ab­nei­gung und ei­nem un­kri­ti­schen Ar­ran­ge­ment.

Aus meinem Jugendland

Widmung


Dem Le­bens­freund
und Teil­ha­ber mei­ner Ju­gen­derin­ne­run­gen
Ernst von Mohl

Vorwort

Die vor­lie­gen­den Blät­ter dan­ken ihr Ent­ste­hen zu­nächst ei­ner An­re­gung der »Neu­en Frei­en Pres­se«, die einen großen Teil da­von zu­erst in Ein­zel­feuil­le­tons ver­öf­fent­licht hat. Erst die freund­li­che Auf­nah­me, die sie in Le­ser­krei­sen fan­den, ver­an­lass­te die Ab­fas­sung des gan­zen Bu­ches. Die­ses bil­det ge­wis­ser­ma­ßen eine Fort­set­zung und Er­gän­zung der Le­bens­ge­schich­te mei­nes Va­ters1 und die Über­lei­tung zu den Flo­ren­ti­ni­schen Erin­ne­run­gen,2 in de­nen ich die Cha­rak­ter­bil­der mei­ner ver­stor­be­nen Brü­der ein­zeln ge­zeich­net habe. Da ich bei Nie­der­schrift der ge­nann­ten Bü­cher nicht dar­an dach­te, auch ein­mal die ei­ge­ne Ent­wick­lung zu er­zäh­len, sind in bei­den ge­le­gent­lich Din­ge vor­weg­ge­nom­men, die hier mit grö­ße­rer Aus­führ­lich­keit be­han­delt sein woll­ten. Die Art des Ent­ste­hens die­ser Auf­zeich­nun­gen be­ding­te ihre Ein­tei­lung in ge­schlos­se­ne Ka­pi­tel, die nicht streng chro­no­lo­gisch, son­dern nach der in­ne­ren Ord­nung ge­glie­dert sind. Doch bin ich hier­in nur dem Ge­setz des Ge­dächt­nis­ses ge­folgt, das gleich­falls die Er­eig­nis­se nicht am lan­gen Fa­den auf­rei­ht, son­dern das Zu­sam­men­ge­hö­ri­ge, auch wenn es zeit­lich ge­trennt ist, an­ein­an­der­knüpft.

Na­tür­lich kann das Bild, das ich von mei­ner da­ma­li­gen Um­welt gebe, kein voll­stän­di­ges sein. Es ha­ben wert­vol­le Men­schen mei­nen Ju­gend­weg ge­kreuzt, de­ren hier kei­ne oder nur flüch­ti­ge Er­wäh­nung ge­schieht, weil ich sonst von der vor­ge­setz­ten Rich­tung zu weit ab­ge­lenkt wür­de. Die Wahl der ein­ge­führ­ten Per­so­nen be­stimmt sich ein­zig nach ih­rem Ein­fluss auf mei­nen Wer­de­gang. Und ein sol­cher Ein­fluss hängt ja weit we­ni­ger von der wirk­li­chen Be­deu­tung ei­ner Per­sön­lich­keit ab als von dem Zeit­punkt, wo un­se­re Le­bens­we­ge sich schnei­den.

Auch wun­de­re man sich nicht, wenn man in mei­nen Erin­ne­run­gen Größ­tes und Kleins­tes, Völ­ker­ge­schi­cke und Ju­gen­dese­lei­en, große Män­ner und klei­ne Mäd­chen bunt bei­sam­men fin­det. In mei­nem Ju­gend­gar­ten wuch­sen alle Ge­wäch­se Got­tes, große und klei­ne, ein­hei­mi­sche und frem­de, wild durch­ein­an­der. Da gab es him­mel­stre­ben­de Ze­dern, wun­der­sa­me Orchi­de­en, sel­te­ne Ro­sen­ar­ten, da­ne­ben lus­ti­ge Bau­ern­blu­men und al­ler­hand blü­hen­des Un­kraut. Ich pflücke mit vol­len Hän­den, was ich noch er­raf­fen kann. Frei­lich muss­te ich man­che lo­cken­de Blu­me nach­träg­lich wie­der aus dem Strauß wer­fen, weil mir die Rück­sicht auf Le­ben­de oder Ver­stor­be­ne Zu­rück­hal­tung auf­er­legt. Und was die großen Män­ner be­trifft, so neh­men sie die Nähe der klei­nen Mäd­chen nicht übel; ja sie hät­ten, als sie leb­ten, die Welt ohne die­se Nähe um vie­les we­ni­ger an­zie­hend ge­fun­den.

Vi­el­leicht er­scheint es man­chem als eine Ver­mes­sen­heit, dass ich über­haupt in­mit­ten des Welt­krie­ges von den Freu­den und Lei­den mei­ner ei­ge­nen Ju­gend er­zäh­le. Zu mei­ner Recht­fer­ti­gung die­ne die Er­wä­gung, dass die große Sint­flut, aus der sich all­mäh­lich eine neue Welt em­por­zu­rin­gen be­ginnt, in Bäl­de vollends die letz­ten Spu­ren je­ner idyl­li­schen Tage mit ih­ren Rei­zen und ih­ren un­er­träg­li­chen Hem­mun­gen hin­weg­ge­fegt ha­ben wird. Dann mag ein neu­es Ge­schlecht sich durch die ver­schö­nern­de Zei­ten­fer­ne hin­durch viel­leicht an ih­rem An­blick be­ha­gen. Auch spie­geln sich ja in je­dem Men­schen­le­ben im­mer un­zäh­li­ge an­de­re, in de­nen die glei­chen An­sät­ze ent­hal­ten sind und die nicht un­gern im frem­den Ge­sicht das ei­ge­ne wie­der­er­ken­nen.

Buoch i. R., im Som­mer 1918

Isol­de Kurz


  1. Her­mann Kurz. Ein Bei­trag zu sei­ner Le­bens­ge­schich­te. Mün­chen 1906, bei Ge­org Mül­ler. Jetzt Stutt­gart, Deut­sche Ver­lags-An­stalt.  <<<

  2. Flo­ren­ti­ni­sche Erin­ne­run­gen. Mün­chen 1910, bei Ge­org Mül­ler. 2. Aufl. Jetzt Stutt­gart, Deut­sche Ver­lags-An­stalt.  <<<

Lebensmorgen

Es hat einen tie­fen Reiz für das geis­ti­ge Ich, sei­nen ei­ge­nen An­fän­gen nach­zu­spü­ren. Wann und wie ist von die­sem Be­wusst­sein, das spä­ter die gan­ze Welt des Sei­en­den, des Ge­we­se­nen und gar noch des Künf­ti­gen um­span­nen möch­te, der ers­te Fun­ke auf­ge­däm­mert? Die täg­li­che Um­ge­bung, in die wir hin­ein­ge­bo­ren wur­den, lässt kaum einen be­wuss­ten Ein­druck zu­rück, sie ist uns das Selbst­ver­ständ­li­che ge­we­sen, auch sind es nicht Per­so­nen, son­dern Din­ge, die uns zu­erst die Vor­stel­lung der Au­ßen­welt als mit uns im Ge­gen­satz be­find­lich ge­ben.

Am An­fang mei­ner Erin­ne­run­gen steht ein Rad. Die­se frü­he­s­te Ge­dächt­niss­pur hat sich mir in mei­nem acht­zehn­ten Le­bens­mo­nat ein­ge­gra­ben. Es war ein mit grü­nem Schlamm be­han­ge­nes, ver­wit­ter­tes Mühl­rad, das sich in ei­nem ei­len­den Schwarz­wald­bach dreh­te. Ich hielt es für den großen Garn­has­pel un­se­rer Jo­se­phi­ne, wor­aus ich schlie­ßen muss, dass mir die­ser schon eine ganz ge­läu­fi­ge Vor­stel­lung war, aber wann ich sei­ner be­wusst wur­de, weiß ich nicht. Das Rad war also nicht das ers­te, ich müss­te viel­leicht sa­gen: im An­fang war der Has­pel; al­lein nun stut­ze ich wie der Dok­tor Faust bei der Bi­bel­über­set­zung: ich kann den Has­pel so hoch un­mög­lich schät­zen. Es müs­sen noch an­de­re Er­kennt­nis­se in Men­ge vor und mit dem Has­pel ge­we­sen sein, je­doch sie sind auf ewig un­ter die Schwel­le mei­nes Be­wusst­seins hin­ab­ge­taucht, und das Mühl­rad steht als ers­ter si­che­rer Mei­len­stein auf mei­ner Le­bens­stra­ße. Ich zap­pel­te also vom Arm des Kin­der­mäd­chens her­un­ter, um den ver­meint­li­chen Has­pel aus dem Was­ser zu lan­gen – die Grö­ßen­ver­hält­nis­se wa­ren mir noch nicht auf­ge­gan­gen – und ich setz­te durch die­se Ab­sicht das Mäd­chen in be­rech­tig­tes Er­stau­nen, denn sie trug mich schleu­nig hin­weg, wo­bei ich mei­ne Miss­bil­li­gung durch Schrei­en und Tre­ten aufs leb­haf­tes­te äu­ßer­te. Die­ses Mäd­chen hieß Jus­ti­ne, sie war bei der gleich­na­mi­gen Hel­din des Weih­nachts­fun­des, den mein Va­ter um jene Zeit schrieb, Pate ge­stan­den, und der Auf­tritt spiel­te auf ei­ner moos­be­wach­se­nen Stein­brücke in dem klei­nen Schwarz­wald­bad Lie­ben­zell, die ich bei ei­nem vor we­ni­gen Jah­ren dort ab­ge­stat­te­ten Be­such auf der Stel­le wie­der er­kann­te.

Die­sel­be Jus­ti­ne, die, bei­läu­fig ge­sagt, erst vier­zehn Jah­re alt war, mir aber als eine sehr ehr­wür­di­ge Per­sön­lich­keit er­schi­en, trug mich ein­mal in eine Schmie­de, wo ru­ßi­ge Män­ner tief in­nen um lo­dern­des Feu­er han­tier­ten. Ich sah sie mit un­be­schreib­li­chem Ent­set­zen und hielt sie für Teu­fel. Wie aber kam der Teu­fel, von dem ich nie ge­hört hat­te, in mei­ne Vor­stel­lung? Ich weiß es nicht und kann nur an­neh­men, dass der Teu­fel zu den an­ge­bo­re­nen Be­grif­fen ge­hört. Ich schrie und sträub­te mich ge­wal­tig, als es in die­se Höl­le ging, und als gar ei­ner der Schwar­zen – es war, wie ich spä­ter er­fuhr, der Va­ter des Mäd­chens – sich mir ver­bind­lich nä­hern woll­te, ließ ich je­nes im gan­zen Ort be­kann­te Ge­schrei er­tö­nen, wor­an mich der Nacht­wäch­ter stra­ßen­weit zu er­ken­nen pfleg­te, dass das Mäd­chen ei­ligst mit mir das Wei­te such­te. Ich konn­te mich üb­ri­gens da­mals schon ganz gut ver­ständ­lich ma­chen, denn ich sprach, wie man mir er­zähl­te, schon im ers­ten Le­bens­jahr zu­sam­men­hän­gend. Mein um elf Mo­na­te äl­te­res, sonst sehr be­gab­tes Brü­der­chen Ed­gar lern­te es erst an mei­nem Bei­spiel. Aber wahr­schein­lich hät­te er es eben­so früh wie ich ge­konnt und ließ sich nur durch ir­gend­ein in­ne­res Hemm­nis die Zun­ge bin­den, denn er war ein wun­der­li­ches, äu­ßerst schwie­rig ver­an­lag­tes klei­nes Men­schen­kind, dem mei­ne grö­ße­re Un­be­fan­gen­heit eben­so nütz­lich war wie mir sein schon ent­wi­ckel­te­rer Ver­stand.

Mein nächs­ter blei­ben­der Ein­druck war ein frisch­ge­fal­le­ner Schnee in den Stra­ßen von Stutt­gart, den ich mit in­ni­ger Freu­de für Streu­zu­cker an­sah. Dann aber kam eine Stun­de un­ver­ge­ss­li­chen Jam­mers. Un­se­re Jo­se­phi­ne, das ge­lieb­te Erb­stück aus dem groß­vä­ter­li­chen Hau­se, hat­te mich im Wä­gel­chen auf den Schloss­platz ge­führt und war un­ter der so­ge­nann­ten Ehren­säu­le, die auf ei­nem, wie mir schi­en, him­mel­ho­hen Un­ter­bau eine Grup­pe von Stein­fi­gu­ren trägt, mit mir an­ge­fah­ren. In ei­ner die­ser Ge­stal­ten glaub­te ich un­se­re Mut­ter zu er­ken­nen und rief sie er­schro­cken an her­ab­zu­kom­men. Da sie sich nicht reg­te, schrie ich im­mer ängst­li­cher und fle­hen­der mein »Ma­ma­le, komm lun­ter«. Die­ses star­re, stei­ner­ne Da­ste­hen flö­ßte mir eine ban­ge Furcht, ein wach­sen­des Grau­en ein, ich be­gann zu ah­nen, dass es ein Ent­rückt­sein ge­ben kön­ne, wo kein Ruf die ge­lieb­te See­le mehr er­reicht. In mei­nen Jam­mer misch­te sich noch ein dunkles Schuld­ge­fühl, als ob die­ses Un­glück die Stra­fe für ir­gend­ei­ne von mir be­gan­ge­ne Un­bot­mä­ßig­keit wäre, ich brach in ein fürch­ter­li­ches Weh­ge­schrei aus und blieb für alle Trös­tun­gen taub, wäh­rend man mich schrei­end die gan­ze Kö­nigs­tra­ße ent­lang nach Hau­se führ­te, wo erst der le­ben­di­ge An­blick der für ver­lo­ren Be­wein­ten mir den Frie­den wie­der­gab.

Und dann sehe ich in eben die­ser Kö­nigs­tra­ße eine brau­ne ein­flü­ge­li­ge Ei­chen­tür mit mes­sin­ge­ner Klin­ke, die so nied­rig stand, dass ich sie mit ei­ni­ger Mühe ge­ra­de er­rei­chen und auf­drücken konn­te. Sie führ­te in einen Bäcker­la­den, den wir Kin­der täg­lich auf un­se­rem Spa­zier­gang mit Jo­se­phi­ne be­such­ten. Dort durf­te je­des von uns sich ein schmack­haf­tes Back­werk, eine so­ge­nann­te »See­le«, sel­ber vom Tisch lan­gen. Ei­nes Ta­ges kam Ed­gar mit sei­ner Wahl nicht zu­stan­de. Wel­che See­le man ihm an­bot, es war im­mer nicht die rech­te. Er wur­de dar­über sehr schwer­mü­tig und er­klär­te im­mer­zu: ’s Her­ze­le will was und ’s Her­ze­le kriegt nix. Als Jo­se­phi­ne nach vie­len ver­geb­li­chen Ver­su­chen, ihn zu be­frie­di­gen, end­lich mit uns den La­den ver­ließ, ver­wan­del­te sich sein Gram in lau­ten Jam­mer, und wäh­rend wir an­de­ren freu­dig un­se­re See­len ver­zehr­ten, er­fuhr es die gan­ze Kö­nigs­tra­ße hin­ab je­der Vor­über­ge­hen­de, dass das Her­ze­le et­was woll­te und nichts be­kam. Da­heim er­goss sich der Ent­täu­schungs­schmerz in einen Strom von Trä­nen, bis Jo­se­phi­ne ih­ren Lieb­ling still bei­sei­te nahm und ihm die heim­lich ein­ge­steck­te See­le reich­te. Er ver­zehr­te sie be­frie­digt und sag­te dann: ’s Her­ze­le will noch mehr.

In mein drit­tes Le­bens­jahr fällt die ers­te Be­kannt­schaft mit dem Dich­ter Lud­wig Pfau, der als po­li­ti­scher Flücht­ling in Pa­ris leb­te und nun zu heim­li­chem Be­su­che nach Stutt­gart ge­kom­men war. Es ver­kehr­ten zwar vie­le Freun­de in mei­nem El­tern­hau­se, aber sie alle tau­chen in mei­nem Ge­dächt­nis erst viel spä­ter auf. Aus je­ner frü­hen Stutt­gar­ter Zeit bli­cken mich nur Lud­wig Pfaus vor­ste­hen­de blaue Au­gen aus ei­nem röt­lich um­rahm­ten Ge­sicht stra­fend an. Das ging so zu: Pfau hielt sich acht Tage in un­se­rem Hau­se ver­bor­gen und pfleg­te wäh­rend der Ar­beits­stun­den mei­nes Va­ters bei mei­ner Mut­ter zu sit­zen, mit de­ren An­schau­un­gen er sich be­son­ders gut ver­stand. Mich konn­te er nicht aus­ste­hen, und die­se Ge­sin­nung war ge­gen­sei­tig, denn wir wa­ren ein­an­der im Wege. Ich war durch­aus nicht ge­wohnt, dass die Mama, die ich sonst nur mit den Brü­dern zu tei­len hat­te, sich so viel und an­dau­ernd mit ei­ner frem­den Per­son be­schäf­tig­te. Wenn die bei­den also po­li­ti­sie­rend in dem großen Be­suchs­zim­mer auf und ab gin­gen, dräng­te ich mich ge­walt­sam zwi­schen die müt­ter­li­chen Knie, dass ihr der Schritt ge­sperrt wur­de, und der Gast är­ger­te sich hef­tig, ohne dass er bei der ab­göt­ti­schen Lie­be, die mei­ne Mut­ter für ihre Klei­nen hat­te, es wa­gen durf­te, mich vor die Tür zu set­zen. Er woll­te sich da­her in Güte mit mir ei­ni­gen, und nach­dem er sich ei­nes Ta­ges doch zu ei­nem Aus­gang ent­schlos­sen hat­te, brach­te er eine Tüte voll Zucker­werk mit, dem er den mir noch un­be­kann­ten Na­men Bon­bons gab. Die­ses un­schö­ne Wort für einen so schö­nen Ge­gen­stand miss­fiel mir sehr: in dem na­sa­len O und in der Ver­dop­pe­lung der Sil­be fühl­te ich dun­kel et­was Gro­blüs­ter­nes und Un­wür­di­ges. Wie mich ein neu­es Wort, das mei­nen Ohren schön oder ge­heim­nis­voll klang, in einen stil­len Rausch ver­set­zen konn­te, auch wenn ich sei­nen Sinn gar nicht ver­stand, ja dann erst recht, so­dass ich da­mit um­her­ging wie mit dem schöns­ten Ge­schenk, so gab es an­de­re, die mir einen Wi­der­wil­len ein­flö­ßten und die ich ein­fach nicht in den Mund nahm. Ich wur­de nun auf den brei­ten höl­zer­nen Tritt ge­setzt, der das hal­be Zim­mer aus­füll­te, und un­ter dem Be­ding, mich für eine Wei­le ru­hig zu ver­hal­ten, er­hielt ich ein run­des bern­stein­far­bi­ges Zucker­chen, das ich als­bald in Ar­beit nahm. Aber es rutsch­te mir glatt den Hals hin­un­ter, mich um den Ge­nuss be­trü­gend. So­gleich brach ich den Frie­den, in­dem ich wie Queck­sil­ber auf­fuhr und mich mi­au­end zwi­schen die Knie der Mut­ter klemm­te, in der Hoff­nung, eine Ent­schä­di­gung zu er­lan­gen. For­dern moch­te ich sie nicht, weil ich nicht wuss­te, wie das Ding be­n­am­sen, da mir das wi­der­wär­ti­ge Wort, das ich ganz leicht hät­te aus­spre­chen kön­nen, nicht von der Zun­ge woll­te. Ich ant­wor­te­te also auf die er­schreck­te Fra­ge, was mir ge­sche­hen sei, nur, ich hät­te »das Ding« ver­schluckt. Was für ein Ding? frag­te sie, schon an al­len Glie­dern zit­ternd, denn sie dach­te an ir­gend­ei­nen spit­zi­gen oder gar gif­ti­gen Ge­gen­stand. Das Ding! Das Ding! rief ich ge­ängs­tigt, dass man mich nicht ver­stand, und nun erst recht ent­schlos­sen, das ver­haß­te Wort kei­nen­falls aus­zu­spre­chen. Mama war schon aus der Tür ge­stürzt, um den Arzt zu ru­fen, aber der Gast hat­te die Geis­tes­ge­gen­wart, mich bes­ser ins Ver­hör zu neh­men: Wie sah denn das Ding aus? – Es war rund und gelb und ganz süß, sag­te ich schnell, er­leich­tert, dass ich nun end­lich den Weg sah, mich ver­ständ­lich zu ma­chen. Du dum­mes Kind, das war ja dein Bon­bon, konn­test du das nicht gleich sa­gen? hieß es nun. Mama wur­de zu­rück­ge­ru­fen, die mich ju­belnd als eine Ge­ret­te­te in die Arme schloss, ich er­hielt ein zwei­tes Bon­bon, das ich trotz dem wid­ri­gen Na­men ver­gnügt in Empfang nahm, und das Zwie­ge­spräch konn­te end­lich sei­nen Fort­gang neh­men. Aber die­sen Zwi­schen­fall hat mir Pfau nie ver­ges­sen. Er ver­si­cher­te mir spä­ter oft, ich sei das un­aus­steh­lichs­te Kind ge­we­sen, was ich ihm von sei­nem Stand­punkt aus ger­ne zu­ge­ben will.

Früh­zei­tig schlich sich auch die Nacht­sei­te des Le­bens in mei­ne In­nen­welt. Die Miss­ge­stal­ten des Struw­wel­pe­ters ar­bei­te­ten zum Nach­teil mei­nes See­len­frie­dens in mei­ner Fan­ta­sie, die ge­nö­tigt war, im Traum noch mehr sol­cher Un­ge­heu­er zu er­zeu­gen. Eins der schreck­lichs­ten war der Hä­kel­mann, eine Ge­stalt, die mich jah­re­lang ver­folg­te. Er war lang und ma­ger mit gras­grü­nem Frack und ro­ten Bein­klei­dern und fuhr blitz­schnell durch alle Zim­mer, in­dem er mit ei­nem lan­gen Ha­ken die Kin­der, die sich vor ihm ver­kro­chen, un­ter den Ti­schen und Bet­ten her­vor­zu­hä­keln such­te. Wann er er­schi­en, brach­te er das gan­ze Haus um den Schlaf, so furcht­bar war mein Angst­ge­schrei. Wie bei Nacht vor dem Hä­kel­mann, so fürch­te­te ich mich wa­chend vor der Licht­putz­sche­re, die da­mals noch im Ge­brau­che war. Ich hat­te näm­lich auf ei­nem Bil­der­bo­gen eine sol­che ge­se­hen, die ein klei­nes Mäd­chen ein­schnapp­te, und glaub­te mich seit­dem zum glei­chen Schick­sal be­stimmt. Wenn es däm­mer­te und die Ker­zen an­ge­zün­det wur­den, so blin­zel­te ich im­mer mit tie­fem Miss­trau­en nach der mes­sin­ge­nen Putz­sche­re, und so oft sie in Tä­tig­keit trat, fürch­te­te ich, in dem gäh­nen­den schwar­zen Ra­chen ver­schwin­den zu müs­sen, denn so früh­reif ich in al­lem an­de­ren war, die Grö­ßen­ver­hält­nis­se wa­ren mir noch im­mer nicht auf­ge­gan­gen. Des­glei­chen gab es im Hau­se einen Bil­der­ka­len­der mit ei­ner Ka­ri­ka­tur, aus der ich schreck­li­che Ängs­te sog: das wa­ren die Krän­ze­les­frau­en. Mit groß­ge­blum­ten Klei­dern im Bie­der­mei­er­stil, Kaf­fee­kan­nen und Tas­sen in der Hand, sa­ßen sie um einen run­den Tisch; sie hat­ten grau­si­ge Dra­chen­köp­fe auf lan­gen, schlan­gen­ar­ti­gen Häl­sen und auf den Köp­fen große ni­cken­de Hau­ben, und sie neig­ten die­se un­heim­li­chen Köp­fe gei­fernd und schnat­ternd ge­gen­ein­an­der. Ein län­ge­res Ge­dicht mit Auf­zäh­lung ih­rer Un­ta­ten war bei­ge­ge­ben, wo­von je­der Vers mit dem Kehr­reim schloss: Hü­tet euch vor den Krän­ze­les­frau­en. Ich nahm mir na­tür­lich vor, mich vor die­sen Un­ge­tü­men zu hü­ten, doch hat mir das im Le­ben we­nig ge­nutzt, denn als ich ih­nen spä­ter leib­haf­tig be­geg­ne­te, da hat­ten sie lei­der kei­ne Dra­chen­köp­fe noch Schlan­gen­hälse, wor­an ich sie zu er­ken­nen ver­mocht hät­te; sie schnat­ter­ten mir auch nicht ent­ge­gen, son­dern küss­ten mich auf bei­de Wan­gen, und erst wenn ich den Rücken ge­dreht hat­te, spritz­ten sie ihr Gift. Da wuss­te ich nun, wes­halb sie mir in den frü­he­s­ten Kin­der­jah­ren den töd­li­chen Ab­scheu ein­ge­flö­ßt hat­ten.

Mei­ne ers­te Be­kannt­schaft mit den Krän­ze­les­frau­en fällt üb­ri­gens schon nicht mehr in mei­ne il­li­te­ra­te Zeit, denn ich er­in­ne­re mich, be­sag­tes Ge­dicht zu wie­der­hol­ten Ma­len selbst ge­le­sen zu ha­ben. Al­ler­dings hat­te ich die­se Kunst schon im drit­ten Jahr, dem äl­te­ren Bru­der zur Ge­sell­schaft, un­ter müt­ter­li­cher Lei­tung zu er­ler­nen be­gon­nen. Auch in die klas­si­sche Li­te­ra­tur wur­de ich be­reits ein­ge­führt, denn Mama ließ mich als ers­tes das Uh­land­sche Ge­dicht vom Wir­te wun­der­mild schrei­ben und aus­wen­dig her­sa­gen; und et­was spä­ter, es mag zwi­schen mei­nem vier­ten und fünf­ten Le­bens­jahr ge­we­sen sein, las sie mir Schil­ler­sche Bal­la­den vor, die mich sehr ent­zück­ten, mit Aus­nah­me der Bürg­schaft, die ich als einen unz­ar­ten An­griff auf mei­ne Trä­nen­drü­sen emp­fand und ver­stimmt ab­glei­ten ließ. Der schein­ba­re Kalt­sinn em­pör­te mein ra­sches Müt­ter­lein, sie schalt mich einen Eis­klotz und hielt mir zur Rüge vor, dass mein von mir sehr be­wun­der­ter Bru­der Ed­gar beim Vor­le­sen in Trä­nen zer­flos­sen sei. Aber es half nichts, ich konn­te über die Bürg­schaft nicht wei­nen, und es war ge­ra­de die früh­rei­fe Emp­fäng­lich­keit, die mich ge­gen das grö­be­re Pa­thos stör­risch mach­te. Die Bürg­schaft ist auch zeit­le­bens für mich auf dem In­dex ge­blie­ben, ein Be­weis für die voll­kom­me­ne Un­ver­än­der­lich­keit un­se­rer an­ge­bo­re­nen In­nen­welt.

Hier zie­he ich einen Sie­ben­mei­len­schuh an und stap­fe ohne wei­te­res in un­se­re Obe­reß­lin­ger Tage hin­über. Da ich aber alle äu­ße­re Sze­ne­rie so­wie die Fül­le der teils rüh­ren­den, teils wun­der­li­chen Käu­ze, die un­se­re Kin­der­stu­be um­ga­ben, schon in mei­ner Her­mann-Kurz-Bio­gra­fie aus­führ­lich ge­schil­dert habe, wer­de ich auch hier fort­fah­ren, nur von den in­ne­ren Er­leb­nis­sen zu re­den, an de­nen das klei­ne Men­sch­lein all­mäh­lich zum Men­schen ward.

Das nächs­te, was sich mir ein­ge­prägt hat, war eine ers­te Lie­be – o dass sie ewig grü­nend blie­be! Aber sie nahm lei­der ein Ende mit Schre­cken. Ich war jetzt fünf Jah­re alt, und er hieß Dr. Adolf Bac­meis­ter. Er trug einen brau­nen Voll­bart nebst Bril­le und war Prä­zep­tor. Dass er ne­ben­bei auch ein Poet und ein fei­ner Er­for­scher sprach­li­cher Al­ter­tü­mer war, wuss­te ich da­mals noch nicht. Wenn er ins Haus kam, galt sei­ne ers­te Fra­ge dem klei­nen Fräu­lein, ich wur­de dann al­lein aus der gan­zen Kin­der­schar her­aus­ge­ru­fen, da­mit er mir Ge­schich­ten er­zäh­len und mit mir spie­len konn­te. Er be­teu­er­te, mich un­end­lich zu lie­ben und warb eif­rig um mei­ne Ge­gen­lie­be, die ich ihm nicht ver­sag­te. Auch hör­te ich es nicht un­gern, dass er mich sein Bräut­chen nann­te. Nur küs­sen durf­te er mich nicht, weil der Bart kratz­te. Durch kei­ne Bit­te noch Ver­spre­chung, auch nicht durch el­ter­li­ches Zu­re­den, ja nicht ein­mal durch Ge­walt war es ihm je ge­lun­gen, einen Kuss von mir zu er­lan­gen. Aber die Ei­fer­sucht brach­te es ei­nes Ta­ges da­hin. Ich hat­te mir nie vor­ge­stellt, dass eine an­de­re sich zwi­schen mich und mei­nen Freund schie­ben könn­te, den ich für mein aus­schließ­li­ches, un­ver­äu­ßer­li­ches Be­sitz­tum hielt. Da­her fuhr es mir wie ein Strahl in die Glie­der, als ich ei­nes Ta­ges aus den Re­den der El­tern, die ihn sehr hoch hiel­ten, ent­nahm, dass sie da­mit um­gin­gen, ihn mit der Toch­ter ei­nes na­hen Freun­des zu ver­hei­ra­ten. An die­se Ge­fahr hat­te ich nie ge­dacht, denn das lie­bens­wür­di­ge Mäd­chen, das etwa sieb­zehn alt sein moch­te, er­schi­en mir wie eine Ma­tro­ne. Ich be­griff mei­ne Mut­ter nicht, die um ei­ner Frem­den wil­len ihre ei­ge­ne Toch­ter be­nach­tei­lig­te. Als mein Ver­eh­rer wie­der­kam, ließ ich mich auf den Schoß neh­men und trotz dem größ­ten in­ne­ren Wi­der­stre­ben von den bär­ti­gen Lip­pen küs­sen. Wir wa­ren eben al­lein im Zim­mer ne­ben dem ge­deck­ten Mit­tags­tisch. Da sag­te das Un­ge­heu­er: Weißt du auch, warum ich dich so lieb habe? Weil du ein so zar­tes fes­tes wei­ßes Fleisch hast; das schmeckt fein zu fran­zö­si­schem Senf. So klei­ne Mäd­chen esse ich am al­ler­liebs­ten. Da­bei blin­zel­te er nach ei­nem lan­gen Mes­ser, das ne­ben dem Senf­topf lag, und ich ent­wich mit ei­nem gräss­li­chen Schrei. Da in die­sem Au­gen­blick die El­tern her­ein­ka­men, ver­kroch ich mich be­bend un­ter dem Kana­pee. Nach ei­ni­ger Zeit wur­de mein Ver­schwin­den be­merkt, und man rief nach mir, aber ich hielt mich ganz still. Trä­nen lie­fen mir über das Ge­sicht, und alle Pul­se klopf­ten. Das Un­tier! Die ge­mei­ne See­le! Da­rum hat­te er mir ge­schmei­chelt und mich an­ge­lockt. Ich sah auf ein­mal in sei­nem Ge­sicht die gan­ze Scheu­sä­lig­keit des Kan­ni­ba­len. Furcht hat­te ich kei­ne, denn dass mein gu­ter Papa ihm nicht ge­stat­ten wür­de, sei­ne Lecker­haf­tig­keit zu be­frie­di­gen, war mir klar. Zorn, Hass, Ver­ach­tung und die Be­schä­mung ver­ra­te­ner Lie­be ar­bei­te­ten in dem klei­nen Seel­chen. Der Oger saß in­zwi­schen ru­hig es­send und plau­dernd am Tisch, ohne Ah­nung von des Kin­des grim­mi­gem Schmerz, denn er hielt mich für viel zu ver­stän­dig, um den gro­ben Spaß zu glau­ben. Er reis­te ab und hat die Käl­te, mit der ich ihn spä­ter bei sei­nen sel­te­nen Be­su­chen emp­fing, ge­wiss nicht auf Rech­nung sei­nes Kan­ni­ba­len­tums ge­setzt. Mir sel­ber ist es rät­sel­haft, wie ne­ben mei­ner über­schnel­len geis­ti­gen Ent­wick­lung so viel kind­li­cher Schwach­sinn fort­be­ste­hen konn­te. Aber ich nahm mir die­se Er­fah­rung zur Leh­re, dass man mit Kin­dern im Spa­ßen nicht zu weit ge­hen darf, auch wenn man sie für klu­ge Kin­der hält. Und selt­sam, es blieb et­was von je­nem Ein­druck hän­gen; ich konn­te auch, als ich her­an­wuchs und mein ehe­ma­li­ger Freund mir man­cher­lei lie­bens­wür­di­ge Auf­merk­sam­keit er­wies, kein herz­li­ches Ge­fühl mehr für die­sen Ge­gen­stand mei­ner ers­ten Lie­be er­schwin­gen, so ge­walt­sam hat­te ich ihn aus mei­ner See­le ge­ris­sen.

Ob­gleich das biss­chen Ler­nen in Ge­sell­schaft des Bru­ders mü­he­los und mit Rie­sen­schrit­ten vor sich ging – Le­sen, Recht­schrei­ben, das Ein­mal­eins, die My­tho­lo­gie, die An­fän­ge der Ge­schich­te glit­ten uns wie von sel­ber zu –, so wur­de ich doch in Be­zug auf die Leicht­gläu­big­keit noch lan­ge nicht ge­schei­ter. Was man mir sag­te, nahm ich ohne wei­te­res für wahr und schmück­te es noch durch die Ein­bil­dung aus. Im Käm­mer­chen un­se­rer Jo­se­phi­ne be­fan­den sich drei un­ge­brauch­te kauf­män­ni­sche Rech­nungs­bü­cher von ei­nem Um­fang, der mir, an mei­ner ei­ge­nen Grö­ße ge­mes­sen, rie­sen­haft er­schi­en. Auf ei­nes die­ser Bü­cher rich­te­ten wir zwei äl­te­ren Kin­der un­ser Be­gehr, um es mit den Er­zeug­nis­sen un­se­rer Zei­chen­kunst zu fül­len. Fina, die Gute, wi­der­stand lan­ge, end­lich über­ließ sie uns ei­nes, und als es voll­ge­schmiert war, auch das zwei­te. Wir zeich­ne­ten un­ser selbs­t­er­fun­de­nes Mär­chen vom Sch­nuf­fel­tier und Buf­fel­tier hin­ein, von dem wir je­den Tag ein neu­es Be­geb­nis er­san­nen. Fina sah uns zu, aber im­mer von Zeit zu Zeit seufz­te sie: Ach, was wird Herr Sch. sa­gen, der mir die­se Bü­cher zum Auf­he­ben ge­ge­ben hat! (Herr Sch. war ein Ju­gend­be­kann­ter Ma­mas, des­sen Na­men wir oft ge­hört hat­ten.) Ge­wiss wird er ein­mal kom­men und nach den Bü­chern fra­gen. Und wenn er sie in die­sem Zu­stand fin­det, dann setzt er mir den Kopf zwi­schen die Ohren.

Die­se Re­den ängs­tig­ten mich un­aus­sprech­lich. Ich hielt das Kopf-zwi­schen-die-Ohren-Set­zen für eine grau­si­ge Mar­ter, und es war fürch­ter­lich, dass un­se­rer treu­en Pfle­ge­rin die­se Ge­fahr um un­se­ret­wil­len droh­te. Gleich­wohl half ich auch das nächs­te Buch be­schmie­ren, aber im­mer dach­te ich an den ge­fürch­te­ten Herrn Sch. und ob er nicht kom­me. An ei­nem Spät­nach­mit­tag trat ein ele­gant ge­klei­de­ter Herr in senf­gel­bem Über­zie­her in un­ser Haus und frag­te nach Mama. Au­gen­blick­lich durch­zuck­te es mich: Das ist er! Und er war es in der Tat, wie ich aus Jo­se­phi­nens Be­grü­ßung er­sah. Sie wies ihn die Trep­pe hin­auf und kehr­te hel­den­haft in ihre Kü­che zu­rück, ge­fasst, wie mir schi­en, das äu­ßers­te zu lei­den. Ich wäre am liebs­ten jam­mernd in den Gar­ten ent­wi­chen, aber ein ka­te­go­ri­scher Im­pe­ra­tiv zwang mich, wie­wohl an al­len Glie­dern schlot­ternd, dem Furcht­ba­ren die Trep­pe hin­auf nach­zu­schlei­chen, ob ich nichts zur Ret­tung un­se­rer Ge­lieb­ten zu un­ter­neh­men ver­möch­te. Was ich nun am Schlüs­sel­loch sah und hör­te, war so merk­wür­dig, dass ich auf ein­mal alle Angst ver­gaß und nur Au­gen und Ohren auf­sperr­te. Der frem­de Herr saß ganz ver­trau­lich ne­ben mei­ner Mut­ter und hat­te eine An­zahl mes­sin­ge­ner und zin­ner­ner Röh­ren auf dem ge­schlif­fe­nen So­fa­tisch aus­ge­brei­tet, das zer­leg­te Mo­dell ei­ner Er­fin­dung, durch die er je­den Krieg sieg­reich, aber un­blu­tig be­en­den zu kön­nen ver­mein­te. Es war, wenn mei­ne Mut­ter, von der ich die­se Er­klä­rung habe, ihn rich­tig ver­stand, ein Ge­schütz, durch das gan­ze Hee­re mit­tels ab­ge­schos­se­ner fei­ner Ket­ten um­spannt und wehr­los ge­macht wer­den soll­ten, und der fan­ta­sie­vol­le Er­fin­der hat­te die Ab­sicht, da­mit nach Pa­ris zu rei­sen und das Mo­dell an Na­po­le­on III. zu ver­kau­fen. Mei­ne sonst so geist­vol­le Mut­ter ver­stand von Mecha­nik nicht viel mehr als ihr Töch­ter­lein am Schlüs­sel­loch und war fast eben­so leicht­gläu­big. – Was, an den Ty­ran­nen? hör­te ich sie ent­rüs­tet sa­gen. Du soll­test dich schä­men, der Re­ak­ti­on zu die­nen. Ich hof­fe, dass du dich an­ders be­sinnst und mit dem Mo­dell nach Ita­li­en zu Ga­ri­bal­di fährst, da­mit er es zum Heil der Frei­heit ver­wen­de.

Der Be­su­cher pack­te sei­ne Röh­ren zu­sam­men und ant­wor­te­te, er wer­de jetzt, wie ge­plant, nach Pa­ris rei­sen und sein Ge­heim­nis um zwei Mil­lio­nen dem Fran­zo­sen­kai­ser ver­kau­fen, weil er das Geld brau­che. Her­nach aber wol­le er je­nen um den Vor­teil brin­gen, in­dem er ein zwei­tes Mo­dell Ga­ri­bal­di un­ent­gelt­lich zur Ver­fü­gung stel­le. Er ging auch in die Kü­che und sprach ver­trau­lich mit Jo­se­phi­ne, und als er fort war, über­zeug­te ich mich, dass ihr Kopf auf dem al­ten Fle­cke stand. Ich wag­te end­lich we­gen der Bü­cher zu for­schen, da ge­stand sie, mich nur gen­eckt zu ha­ben. Die Bü­cher wa­ren ihr Ei­gen­tum, über das sie frei ver­fü­gen konn­te. Der Herr, des­sen sinn­rei­che Ein­fäl­le üb­ri­gens be­kannt wa­ren, hat­te ein­mal mit sei­ner Frau als Gast bei mei­ner da­mals noch un­ver­hei­ra­te­ten Mut­ter ge­wohnt, und da er eben nicht bei Kas­se war, Jo­se­phi­ne jene un­be­nutz­ten Bü­cher statt ei­nes an­de­ren Ent­gelts für ihre Diens­te hin­ter­las­sen.

Die vie­len bei Tage aus­ge­stan­de­nen Ängs­te, die ich meist aus un­über­leg­ten Re­den der Er­wach­se­nen schöpf­te – auch die Furcht, ei­nes mei­ner Lie­ben zu ver­lie­ren, ge­hör­te dazu, ob­wohl ich vom Tode noch nichts wuss­te –, kehr­ten bei Nacht in aben­teu­er­li­chen Ver­mum­mun­gen wie­der und mach­ten mir oft ge­nug den Schlaf zu ei­ner ganz be­denk­li­chen An­ge­le­gen­heit. Das ging bis zu Sin­ne­stäu­schun­gen im ver­meint­lich wa­chen Zu­stand. So sah ich ei­nes Nachts im Mond­schein ganz deut­lich mei­ne Mut­ter im lan­gen wei­ßen Hemd vom La­ger stei­gen, sich ne­ben mei­nem Bett­chen einen Strumpf knüp­fen, und als ich er­war­te­te, dass sie sich jetzt über mich beu­gen wer­de, laut­los hin­ter den Ofen glei­ten. Als sie gar nicht zu­rück­kom­men woll­te, kroch ich nach län­ge­rem War­ten ängst­lich aus dem Bett und sah den Raum hin­ter dem Ofen leer. Eine schreck­li­che Un­ru­he be­fiel mich, aber als ich nun vor ihr La­ger schlich, lag sie in fes­tem Schla­fe. Eine sol­che kind­li­che Hal­lu­zi­na­ti­on hät­te viel­leicht im Mit­tel­al­ter ge­nügt, eine un­glück­li­che Frau der Hexe­rei und der Schorn­stein­fahrt zu über­füh­ren.

Aber die­sen Kin­der­lei­den, von de­nen die Er­wach­se­nen nichts zu ah­nen pfle­gen, hielt eine un­er­mess­li­che Kin­der­se­lig­keit die Wage. Sol­che Fest- und Won­ne­ta­ge wie un­se­re Ge­burts­ta­ge konn­te das spä­te­re Le­ben aus all sei­nem Reich­tum nicht mehr her­vor­brin­gen. Der fei­er­lichs­te war der mei­ni­ge, der Tho­mas­tag; da er in die Weih­nachts­wo­che fiel, wur­de an die­sem Abend der Baum an­ge­zün­det und die Be­sche­rung ge­hal­ten. Schon vie­le Tage vor­her han­tier­te un­se­re Jo­se­phi­ne mit köst­li­chen sü­ßen Tei­gen und stach mit den hoch­ehr­wür­di­gen al­ten Mo­deln, die ich im­mer ir­gend­wie mit un­se­ren alt­ger­ma­ni­schen Göt­tern in Zu­sam­men­hang brin­gen muss­te – viel­leicht hat­te un­ser Va­ter ein­mal die Be­mer­kung ge­macht, dass die »Sprin­ger­lein« Wodans Roß be­deu­ten –, das herr­lichs­te Back­werk aus. Es wur­de in über­schweng­li­chen Men­gen her­ge­stellt und mit den Freun­des­häu­sern korb­wei­se als Ge­schenk ge­tauscht. Mama saß mit be­freun­de­ten Da­men und »do­ckel­te« heim­lich, d. h. sie näh­te aus bun­ten Sei­den­lap­pen die schöns­ten Pup­pen­klei­der. Im­mer hing da und dort ein gol­de­ner Fa­den, der die­se feen­haf­te Tä­tig­keit ver­riet. Die üb­ri­gen Lap­pen hü­te­te ich in ei­ner Papp­schach­tel, sie wa­ren mir als Stoff zu künf­ti­ger Ge­stal­tung fast noch wer­ter als die fer­ti­gen Kleid­chen. Die Gro­ßen be­grif­fen nicht, warum die­se Schach­tel jede Nacht an mei­nem Bett ste­hen muss­te, aber ich wuss­te recht wohl, was ich tat, denn wer hät­te sie sonst ge­ret­tet, falls des Nachts ein Brand aus­brach? Ich hat­te schon den Griff ein­ge­übt, wo­mit ich sie fas­sen woll­te, wäh­rend ich im an­de­ren Arm die Pup­pen hielt, um durch die Flam­men zu sprin­gen. Man sage noch, dass klei­ne Kin­der kei­ne Voraus­sicht hät­ten! – Wenn dann nach ei­ner herz­klop­fen­den Er­war­tung end­lich die Tür des Weih­nachts­zim­mers auf­ging und der Duft und Glanz des mit gol­de­nen Nüs­sen be­han­ge­nen Baums uns ent­ge­gen­ström­te, dann war mit dem ers­ten se­li­gen Au­fat­men auch der Hö­he­punkt des Glückes über­schrit­ten. So herr­lich Pup­pen­stu­be, Kü­che, Kauf­la­den mit ih­rem In­halt wa­ren, der Ge­dan­ke, dass auch die­ser Abend un­auf­halt­sam zu Ende ge­hen muss­te wie je­der an­de­re, mach­te den Be­sitz im vor­aus zu­nich­te. Das Schöns­te an dem Fest war je­des Mal der letz­te Au­gen­blick der Er­war­tung.

An den Ge­burts­ta­gen der Brü­der wur­den im­mer alle Ge­schwis­ter mit­be­schenkt. Man er­wach­te früh bei noch ge­schlos­se­nen Lä­den voll Hoff­nung und Un­ge­duld, stell­te sich aber schla­fend und blin­zel­te nur nach den Din­gen, die da kom­men soll­ten, wäh­rend müt­ter­li­che Hän­de ganz lei­se vor je­des Kin­der­bett ein Tisch­chen rück­ten. Da stan­den dann im Mor­gen­licht be­zau­bern­de Din­ge, wie Far­ben­schach­teln, bun­te Blei­stif­te, gold­ge­rän­der­te Tas­sen, für mich eine Glas­schach­tel mit gol­de­nen, sil­ber­nen und far­bi­gen Per­len zum Sti­cken und An­rei­hen, und was mich im­mer am höchs­ten be­glück­te: ein blü­hen­des Ro­sen­stöck­chen mit vie­len Knos­pen, das ich sel­ber pfle­gen durf­te. Vor dem Ge­burts­tags­kind aber brann­ten die Jah­res­ker­zen über dem Ku­chen. – Wenn ich mei­ne se­li­gen Obe­reß­lin­ger Erin­ne­run­gen ge­gen die Brie­fe mei­ner Mut­ter aus je­ner für sie so schwe­ren und düs­te­ren Zeit hal­te, so kann ich erst ganz die Grö­ße die­ser un­end­li­chen Lie­be er­mes­sen, die den Him­mel über un­se­ren jun­gen Häup­tern so rein und blau er­hielt. Obe­reß­lin­gen war die Sand­bank, auf die po­li­ti­sche Ver­fe­mung und li­te­ra­ri­sches Nicht­ver­stan­den­sein mei­nen Va­ter ge­wor­fen hat­ten. Sein Ge­ni­us büß­te dort in der Enge des Da­seins und der Ein­tö­nig­keit der Land­schaft, die da­bei nichts Groß­ar­ti­ges hat­te, die Schwung­kraft ein. Aber das Kind sah an­ders. Ihm war die blo­ße Berüh­rung des un­ge­pflas­ter­ten Erd­bo­dens und sei­ne grü­ne Nähe Glückes ge­nug, der Hopf­sche Gar­ten, wo man Sta­chel- und Jo­han­nis­bee­ren pflücken und der Hen­ne ins Nest gu­cken durf­te, das Pa­ra­dies. Ein un­ge­wöhn­lich ent­wi­ckel­tes Ge­ruchs­ver­mö­gen mach­te mir auch all die hun­dert Kräut­lein im Gra­se zu lau­ter klei­nen Per­sön­lich­kei­ten, mit de­nen ich in Be­zie­hung trat.

Ed­gar und ich hiel­ten in der Kin­der­schar am engs­ten zu­sam­men, weil wir zu­erst vor al­len an­de­ren da­ge­we­sen wa­ren und uns eine ge­mein­sa­me Welt er­baut hat­ten. Dass ich aber auch noch als Sechs­jäh­ri­ge am liebs­ten mit ihm von ei­nem Tel­ler aß und in ei­nem Bett­chen schlief, wo­bei wir bis zum Ein­schla­fen zu­sam­men Ver­se ver­fer­tig­ten, weiß ich nicht mehr aus ei­ge­ner Erin­ne­rung, son­dern aus Brie­fen der Mut­ter. Und dass an die­sen Ver­sen, wie sie schrieb, nichts Gu­tes war als die Leich­tig­keit des Reims, ist nicht zu ver­wun­dern. Un­se­ren Spie­len hat­ten sich bald zwei an­de­re Brü­der, Al­fred und Er­win, ge­sellt, ohne dass sich mir der Zeit­punkt ih­res ers­ten Er­schei­nens ein­ge­prägt hät­te. Mit Be­wusst­sein er­leb­te ich nur die Ge­burt des Jüngs­ten, der im Jah­re 1860 zur Welt kam und nach Ma­mas Lieb­lings­hel­den Ga­ri­bal­di ge­nannt wur­de. Im Fa­mi­li­en­krei­se hieß er nie an­ders als Bal­de. Ich brach­te ihm zu­nächst kei­ne große Be­geis­te­rung ent­ge­gen, denn ich hat­te aus un­vor­sich­ti­gen Re­den Er­wach­se­ner ent­nom­men, dass sei­ne be­vor­ste­hen­de An­kunft eine un­lieb­sa­me Über­ra­schung war, und das mach­te mich zu­nächst ein we­nig zu­rück­hal­tend. Dass ich, statt wie bis­her die wil­den Spie­le der Brü­der im som­mer­li­chen Gar­ten zu tei­len, jetzt Nach­mit­tage­lang sit­zen und sei­nen Schlaf hü­ten soll­te, stimm­te mich auch nicht fro­her. Aber als ich ei­nes Ta­ges eine Flie­ge in den of­fe­nen Mund des Kin­des krie­chen sah und alle Mühe hat­te, sie her­aus­zu­brin­gen, ohne ihn zu we­cken, da wur­de mir sei­ne gan­ze Hilf­lo­sig­keit klar; von Stun­de an lieb­te ich ihn zärt­lich und wid­me­te ihm auch ger­ne mei­ne Zeit.

Es mag in je­nem Jah­re oder auch et­was frü­her ge­we­sen sein, dass ich zum ers­ten Mal mei­ne ei­ge­ne Be­kannt­schaft mach­te. Im großen Zim­mer in Obe­reß­lin­gen wa­ren zwi­schen den Fens­tern zwei lan­ge schma­le Wand­spie­gel ein­ge­las­sen, die auf ei­nem nied­ri­gen, rings um­lau­fen­den So­ckel ruh­ten. Ei­nes Ta­ges, ob es nun Wir­kung der Be­leuch­tung oder sonst ein Zu­fall war, blieb ich plötz­lich be­trof­fen mit­ten im Zim­mer ste­hen und starr­te in einen die­ser Spie­gel, der mir mein ei­ge­nes Bild ent­ge­gen­hielt. Ein lei­ser Schau­der über­lief mich, und ich dach­te einen nie­ge­dach­ten Ge­dan­ken: Also das bin ich! Zwi­schen Scheu und Wiß­be­gier trat ich ganz nahe hin­zu und mus­ter­te das schma­le, durch­schei­nen­de Kin­der­ge­sicht, das fast nur aus Au­gen be­stand, aus großen, er­staun­ten Au­gen, die mich rät­sel­haft und for­schend an­blick­ten, wie ich sie: Also das sind mei­ne Au­gen, mei­ne Stirn, mein Mund! Mit die­sem Ge­sicht, mit die­sen Glie­dern muss ich nun im­mer bei­sam­men sein und al­les mit ih­nen ge­mein­sam er­le­ben! – Die­ser Fra­ter Cor­pus, der »Bru­der Leib«, den ich da plötz­lich vor mir sah, schi­en mir aber kei­nes­wegs mein Ich zu sein, son­dern ein eben auf mich zu­ge­tre­te­ner Weg­ge­nos­se, mit dem ich jetzt wei­ter zu pil­gern hät­te. Und es kam mir vor, als wäre eine Zeit ge­we­sen, wo wir zwei uns noch gar nichts an­gin­gen. Bis­her war mir näm­lich mei­ne Kör­per­lich­keit nur be­wusst ge­wor­den, wenn ich mir eine Beu­le an die Stirn rann­te oder mit der großen Zehe ge­gen einen Stein stieß. Es war auch bloß ein kur­z­er Au­gen­blick der Be­frem­dung, in dem mich die­ses un­fass­ba­re Zwei­sein be­rühr­te. Die frü­he Kind­heit mag sol­chen halb me­ta­phy­si­schen Emp­fin­dun­gen zu­gäng­li­cher sein als die reif­ge­wor­de­ne Ju­gend, die im un­bän­di­gen Stolz ih­rer phy­si­schen Kraft und Herr­lich­keit viel­mehr den Bru­der Leib für den ei­gent­li­chen Men­schen an­sieht.

In die glei­che Zeit fiel eine an­de­re er­schüt­tern­de­re Ent­de­ckung. Ich sah ei­nes Ta­ges durchs Fes­ter eine Schar schwarz­ge­klei­de­ter Män­ner vor­über­ge­hen und einen mit schwar­zem Tuch ver­hüll­ten Ge­gen­stand tra­gen, der mir wie ein großer Kof­fer er­schi­en. Der An­blick be­rühr­te mich pein­lich, und Chris­ti­ne, un­ser neu­es Kin­der­mäd­chen, das seit kur­z­em im Hau­se war, sag­te auf mei­ne Fra­ge, das sei eine Lei­che, mit der die Leu­te auf den Kirch­hof gin­gen. – Was ist eine Lei­che? frag­te ich mit Wi­der­wil­len, denn ich hat­te das Wort noch nie ge­hört, und es klang mir fremd und un­heim­lich. Sie ant­wor­te­te, das sei ein to­ter Mensch. Ich wun­der­te mich, dass auch Men­schen ster­ben soll­ten, denn ich hat­te ge­meint, das sei ein üb­ler Zu­fall, der nur Vö­gel, Hun­de, Kat­zen und sol­ches Ge­tier be­tref­fe. Chris­ti­ne woll­te mich auf an­de­re Ge­dan­ken brin­gen, aber nun ließ ich nicht mehr los, son­dern stürz­te zur Mut­ter: Ist es wahr, dass Men­schen ster­ben? – Wer hat dir das ge­sagt? – Die Chris­ti­ne. – Ich sah gleich, dass die Chris­ti­ne ein Ver­bot über­tre­ten hat­te. – Ar­mes Kind, sag­te mein Müt­ter­lein, du hät­test es noch lan­ge nicht er­fah­ren sol­len. Aber jetzt ist es her­aus. Ja, es ist wahr, die Men­schen ster­ben. – Aber doch nicht alle, Mama? – Ja, Kind, alle. – Sie hielt mich im Arme, wie um mich zu schüt­zen und zu trös­ten, ich war aber mit dem Ge­dan­ken noch lan­ge nicht so weit. – Aber doch du nicht, Mama? – Ich auch, Kind. Alle. – Aber der Papa doch nicht? – Auch der Papa. – Also viel­leicht auch ich? – Auch du, aber erst in lan­ger, lan­ger Zeit. Wir alle erst in lan­ger Zeit. – Und man kann gar nichts da­ge­gen tun? Es muss kom­men? – Gar nichts, Kind, es muss kom­men, aber jetzt noch lan­ge nicht.

Das war mir durch­aus kein Trost, die lan­ge Zeit, von der sie sprach, war in die­sem Au­gen­blick schon vor­über. Ein schwar­zer, furcht­ba­rer Ab­grund ging auf, der al­les ver­schluck­te. Ja, wenn es doch kom­men muss­te, dann lie­ber gleich, als die­se lan­ge dunkle Er­war­tung. Ein plötz­lich ein­tre­ten­der Zu­fall schi­en mir lan­ge nicht so schau­er­lich wie die­ses un­aus­weich­li­che »Spä­ter«. Den­noch wirk­te die Mit­tei­lung nicht ei­gent­lich über­ra­schend. Es war mir, als hör­te ich da et­was, das ich zu­vor schon ge­wusst, aber wie­der ver­ges­sen hät­te. Ich dach­te fort­an oft über das Ster­ben nach, und die Uner­bitt­lich­keit des Vor­aus­be­stimm­ten er­füll­te mich mit im­mer neu­em Grau­sen: Also ein­mal muss es sein, je­der Tag bringt mich dem letz­ten Zie­le nä­her. Und wenn ich mich un­ter das Kleid der Mama ver­krö­che, es wür­de mir doch nichts nüt­zen. Und wenn ich so­gar zum Papa gin­ge, auch er könn­te mir nicht hel­fen. Nie­mand, nie­mand kann mir hel­fen, ganz al­lein ste­he ich dem Furcht­ba­ren ge­gen­über – dem Tod! Da­bei war mir zu­mu­te, als be­fän­de ich mich in ei­nem lan­gen, en­gen Gang, wo kein Ent­rin­nen, kei­ne Um­kehr mög­lich, und am Ende des Gan­ges, da war­te es auf mich, das Rät­sel­haf­te, Un­be­greif­li­che; ich aber müs­se im­mer wei­ter, so ger­ne ich ste­hen­blie­be, un­auf­halt­sam, Schritt für Schritt bis zum ge­fürch­te­ten Aus­gang. Na­tür­lich wur­de trotz dem un­heim­li­chen »Spä­ter« fort­ge­tollt, als wäre al­les wie zu­vor, und nie­mand er­fuhr, was in dem klei­nen Seel­chen vor­ging. Aber mit­ten im Spie­len schlug es zu­wei­len her­ein: Trotz al­le­dem – es wird doch ein­mal ein Tag kom­men, wo ich kalt und starr da­lie­ge, wo ich sel­ber eine Lei­che bin. Das Wort be­hielt mir auf lan­ge hin­aus et­was un­säg­lich Wi­d­ri­ges und Ab­scheu­li­ches, es haf­te­te ihm schon ein Ge­ruch wie von Ver­we­sung an.

Auch das ge­hört für mich zu den Rät­seln der Kin­der­see­le, dass mir die Ent­de­ckung des To­des als des all­ge­mei­nen Schick­sals so neu und über­wäl­ti­gend war, wäh­rend ich doch ganz frü­he schon das man­nig­fachs­te Le­se­fut­ter, und ge­wiss nicht im­mer auf das dunkle Ge­heim­nis hin ge­sich­tet, in die Hän­de be­kam. So las ich seit lan­ge in ei­nem Ban­de Pfen­nig­ma­ga­zin, der in der Kin­der­stu­be lag, Ge­schich­ten und Ab­hand­lun­gen über alle mög­li­chen Din­ge wahl­los durch­ein­an­der; die Tat­sa­che des Ster­ben­müs­sens hat­te ich schlech­ter­dings über­se­hen. Wahr­schein­lich ist der kind­li­che Geist nicht im­stan­de, die Er­schei­nun­gen zu ver­knüp­fen und zu ver­all­ge­mei­nern. Es gibt ja auch Ne­ger­stäm­me, die je­den To­des­fall im­mer wie­der als dä­mo­ni­schen Ein­zel­vor­gang be­trach­ten, auf den sie mit Teu­fels­aus­trei­bung ant­wor­ten, da­mit er sich ins­künf­ti­ge nicht mehr wie­der­ho­le.

Im Ler­nen konn­te un­ser gu­tes Müt­ter­lein, das sel­ber einen nie zu stil­len­den Wis­sen­strieb be­saß, uns zwei Äl­tes­te nicht schnell ge­nug vor­wärts brin­gen. Ein­zig für das Rech­nen, das ihr sel­ber nicht all­zu ge­läu­fig war, wur­de ein jun­ger Hilfs­leh­rer aus Ess­lin­gen an­ge­stellt, ein bäu­ri­scher Mensch, der den un­acht­sa­men Al­fred et­was derb mit dem schwe­ren Ta­schen­mes­ser auf die Fin­ger­knö­chel klopf­te und sich so­gar ein­mal ge­gen Ed­gars jun­ge Ma­je­stät ver­ging, so­dass Mama ihn ent­rüs­tet wie­der entließ. Da­von hat­te ich den Scha­den, weil ich ge­ra­de im Bruch­rech­nen ste­hen­blieb, das die Brü­der spä­ter in der Schu­le fort­set­zen konn­ten, wäh­rend ich in der gan­zen Arith­me­tik, für die ich zu­erst eine gute Fas­sungs­kraft ge­zeigt hat­te, nicht mehr wei­ter un­ter­rich­tet wur­de und so­mit in den Zah­len für im­mer schwach blieb. Alle an­de­ren Fä­cher über­nahm sie sel­ber, und wir mach­ten ihr das Leh­ren leicht. Sie be­saß kein wirk­li­ches Lehr­ta­lent, weil al­les Metho­di­sche ih­rer Na­tur aufs tiefs­te wi­der­streb­te, wie ich auch glau­be, dass die­se Apos­tel­see­le für kei­nes der vie­len ir­di­schen Ge­schäf­te, de­nen sie sich al­len wil­lig un­ter­zog, so recht ei­gent­lich ge­bo­ren war. Ihr na­tür­li­ches Amt war ein­zig, hö­he­res Le­ben ent­zün­den, wach­hal­ten und ver­brei­ten. Kei­ne Mühe war ihr da­für zu groß: ne­ben un­se­rem Un­ter­richt und den häus­li­chen Ge­schäf­ten führ­te sie noch be­gab­te Dorf­mäd­chen ins Fran­zö­si­sche und in die Li­te­ra­tur ein. Schon hat­te sie auch die An­fän­ge des La­tei­ni­schen in un­se­re Stun­den auf­ge­nom­men. Ihre ei­ge­nen in der Ju­gend er­wor­be­nen Kennt­nis­se ka­men ihr da­bei zu­stat­ten, und wir hol­ten sie all­mäh­lich mun­ter ein. Über gram­ma­ti­sche Schwie­rig­kei­ten hal­fen bei­den Tei­len die lus­ti­gen Reim­re­geln weg:


Was man nicht de­kli­nie­ren kann,
Das sieht man als ein Neu­trum an, usw.

So blieb das Ler­nen im­mer ein Spiel un­ter an­de­ren Spie­len. Wir über­setz­ten klei­ne Übungs­stück­chen aus dem »Mid­den­dorf«, la­sen eine Sei­te in L’Hom­monds Viri Il­lus­t­res und ver­fer­tig­ten so­gar ge­reim­te Knit­tel­ver­schen in un­se­rem Sup­pen­la­tein, al­les mit dem glei­chen Ver­gnü­gen, mit dem wir die uns über­las­se­nen Ra­bat­ten an­pflanz­ten, auf ho­hen Ern­te­wa­gen fuh­ren, den länd­li­chen Pfer­den und Och­sen auf den Rücken klet­ter­ten, den Nach­ba­rin­nen beim Aus­gra­ben der Kar­tof­feln hal­fen oder auf lan­gen Spa­zier­gän­gen, wo­bei man bar­fuß in klei­nen Seen und Pfüt­zen quat­schen durf­te, für Ed­gars Aqua­ri­um Sala­man­der und Kaul­quap­pen fin­gen. Das schöns­te aber war, im of­fe­nen Neckar zu ba­den, an sei­nen Wei­de­nu­fern die aus­ge­wor­fe­nen Mu­schel­scha­len zu sam­meln, in de­nen man sich die Far­ben an­rieb, oder sei­ne nie­de­re Furt un­ter Jo­se­phi­nens Füh­rung mit hoch­ge­schürz­ten Klei­dern zu durch­wa­ten, um dann jen­seits im Sir­nau­er Wäld­chen sich aus­zu­tol­len. Der ei­gen­tüm­li­che Ge­ruch des flie­ßen­den Süß­was­sers, der an den Necka­ru­fern be­son­ders stark war, hat sich mir aufs tiefs­te ein­ge­prägt und er­regt mir, wo ich ihm be­geg­ne, ein un­be­schreib­li­ches Ju­gend- und Hei­mat­ge­fühl. In dem sonn­be­strahl­ten, sil­bern rie­seln­den Neckar ver­ehr­te ich ein be­seel­tes hö­he­res We­sen. Ich warf ihm ab und zu ein paar Blu­men oder eine Hand­voll glit­zern­der Per­len aus mei­ner Per­len­schach­tel hin­ein, und wenn ein Fisch auf­hüpf­te, schi­en mir das ir­gend­wie ein gu­tes Zei­chen. Er hat­te aber auch noch ein an­de­res dä­mo­nisch wil­des Ge­sicht, das ich schau­dernd noch mehr lieb­te: dort an der nach Ess­lin­gen füh­ren­den be­deck­ten Brücke, die wir das Was­ser­haus nann­ten, ver­brei­ter­te sich sein Lauf für mein Auge ins Uner­mess­li­che. Un­ter den Pfei­lern schüt­tel­te er wil­de brau­ne Lo­cken, schnaub­te und rüt­tel­te an dem Bau, dass ich wie ge­bannt stand und kaum von der Brücke weg­zu­brin­gen war. Am ge­heim­nis­volls­ten aber er­schi­en er mir in Ess­lin­gen sel­ber, wo­hin wir oft durch das alte Wolf­stor pil­ger­ten. Dort stand ich in dem be­freun­de­ten Haus die gan­ze Zeit am Fens­ter und sah auf die stil­le Flut hin­un­ter, die die Rück­sei­te des Ge­bäu­des un­mit­tel­bar be­spül­te. Ich war dann, wäh­rend die Müt­ter auf dem Sofa sa­ßen und Kaf­fee tran­ken, in Ve­ne­dig, sah schwarz­ge­schnä­bel­te Gon­deln, die ich aus Ab­bil­dun­gen kann­te, und Mar­mor­pa­läs­te in fei­er­li­cher Pracht.

In mei­ner Vor­stel­lung ist es in Obe­reß­lin­gen im­mer Som­mer ge­we­sen. Wie es mög­lich war, uns wäh­rend der lan­gen Win­ter­mo­na­te in den en­gen Räu­men zu hal­ten, ist mir nicht er­in­ner­lich. Un­se­re Leb­haf­tig­keit mag die dich­te­ri­schen Ge­bil­de, mit de­nen sich un­ser Va­ter trug, schwer ge­nug be­ein­träch­tigt ha­ben und war die Ur­sa­che, dass er den Tag über nur sel­ten das Kin­der­zim­mer be­trat, ja nicht ein­mal die Mahl­zei­ten mit der Fa­mi­lie teil­te. Des­halb tritt auch sei­ne Ge­stalt in mei­nen frü­hen Erin­ne­run­gen we­nig her­vor; sie wan­delt nur manch­mal ernst und ho­heits­voll über den Hin­ter­grund.

O die Som­mer­se­lig­keit, als man sel­ber noch nicht hö­her war als die rei­fen son­ne­duf­ten­den Ähren, zwi­schen de­nen man sich durch­wand, um die blau­en Korn­blu­­­­­­­­­­­­­­­­­­­