817463_Franke_Das_Licht_scheint_in_die_Finsternis_S003.pdf

Notaufnahme

Mara gähnte. Es war bereits früher Morgen und ihr offizieller Dienst war eigentlich seit mehr als einer Stunde vorbei. Sie rang um Konzentration, ein Fehler in der Dokumentation konnte schwerwiegende Folgen haben. Sie hatte einmal erlebt, wie einem Patienten versehentlich zweimal dasselbe Medikament verabreicht worden war. Er wäre beinahe gestorben. Mit einem solchen Fehler wollte sie nicht leben müssen. Nachdem sie alles Wichtige sorgfältig erfasst hatte, schloss sie das Programm und machte sich daran, die fälligen Medikamentenboxen zu bestücken. Anschließend kochte sie noch eine zweite Kanne Kaffee für den Frühdienst. Ohne eine Überdosis Koffein war Schwester Steffi für alle in ihrer Nähe unerträglich.

Gewohnheitsmäßig zupfte Mara einige lange Haarsträhnen über ihrer linken Wange zurecht, bevor sie das Schwesternzimmer verließ.

Die Innere lag direkt neben der Notaufnahme, wo immer noch hektische Betriebsamkeit herrschte. Gestern Abend war ein Schwerverletzter mit dem Rettungshubschrauber eingeflogen worden. Die sogleich eingeleitete Not-OP dauerte noch immer an. Später waren mindesten zwei Dutzend weitere Verletzte gebracht worden. Auf der Stadtautobahn hatte es einen weiteren Verkehrsunfall gegeben und in einem nahe gelegenen Nachtclub hatte es gebrannt. Sie wich einer Kollegin aus, die in halsbrecherischem Tempo einen OP-Wagen durch die Gänge schob, und stieß die gläserne Tür zum Treppenhaus auf.

Erneut schallte die Sirene eines Rettungswagens durch die Doppelfenster ins Treppenhaus. Blaues Licht flackerte unstet über die weiß verputzten Wände. Heute gab es so viele Notfälle wie sonst nur zu Silvester.

Auf dem Hof kamen ihr zwei blassgesichtige Rettungssanitäter entgegen. Der Verletzte auf der Trage schien das Bewusstsein verloren zu haben. Seine Hand hing über den Rand der Trage, Blut tropfte auf die grauen Pflastersteine.

„Scheiße! Warum kommt da niemand?“, schimpfte der vordere der beiden Sanitäter. Sein Blick fiel auf Mara. „Wir brauchen ein Bett, schnell!“

„Okay.“ Mara eilte vor zur Rettungsstation. Aus einem der Behandlungszimmer drang lautes Fluchen. Sie sah zwei Schwestern mit einem um sich schlagenden Betrunkenen ringen. Der Mann hatte eine stark blutende Platzwunde an der Stirn. Sein Gesicht und seine Kleidung waren rußverschmiert. Rasch griff sich Mara eines der freien Betten und schob es hinaus auf den Hof.

„Wo sind die denn alle?“, schimpfte der Sanitäter.

„Beschäftigt“, erwiderte Mara. „Ich kümmere mich so lange um ihn.“

„Okay. Fassen Sie mit an? Auf drei! Aber vorsichtig!“

„Eins, zwei, drei!“

Behutsam hoben sie den Verletzten auf das Bett. Der Mann reagierte nicht. Seine Kleidung war blutverschmiert und völlig verschmutzt. Er hatte Verbände an Armen und Beinen. Auch sein Kopf war verbunden. Das Gesicht des Mannes war aufgequollen und es bildeten sich bereits Hämatome. Die Schnittverletzungen an der Stirn und in Höhe des Jochbeins waren notdürftig geklammert. Noch immer sickerte Blut hervor und lief ihm über das Gesicht. Rasch prüfte Mara seinen Puls, er war sehr schwach.

„Was ist mit ihm?“, fragte die junge Krankenschwester.

„Ein Angler hat ihn heute Morgen am Havelufer gefunden, hielt ihn erst für tot, bis er sah, dass die Brust sich noch bewegte. Aber es ist alles kaputt, Schädelverletzung, starker Blutverlust“, erwiderte einer der beiden Männer. „Sieht nicht gut aus.“

Sie schoben das Bett in die Notaufnahme.

Mara wollte sich gerade zum Schwesternzimmer begeben, als ein Arzt mit wehendem Kittel vorbeieilte. Er nickte ihnen knapp zu. „Ich bin sofort da!“

Missmutig starrten die beiden Sanitäter ihm hinterher.

„Sie können ruhig schon gehen und Ihren Bericht schreiben, ich bleibe bei ihm“, bot Mara an.

„Danke!“ Die beiden Männer gingen zurück auf den Hof.

Mara wartete. Der Patient fing an zu krampfen. Arme und Beine zitterten. Sein Atem ging röchelnd. Rasch drehte die junge Schwester den Mann auf die Seite. Blut rann aus dem Mund auf die weißen Laken. Sein rechter Arm zuckte noch einmal, dann war er still. Mara prüfte erneut den Puls, er schien etwas schwächer geworden und ging unregelmäßig. Ihr Blick fiel auf den verschmutzten Unterarm des Mannes. Der Schock traf sie völlig unvorbereitet. Das Blut rauschte in ihren Ohren und ihre Sicht verschwamm. Sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen.

Plötzlich drangen undeutlich und verwaschen Stimmen an ihr Ohr „… kümmern uns um ihn.“

„Was?“ Taumelnd wandte sie sich um. Der Stationsarzt und eine Krankenschwester standen vor ihr.

Der Arzt runzelte die Stirn. „Wir kümmern uns um ihn, vielen Dank! Sie können gehen.“

Die Schwester blickte Mara fragend an. „Alles in Ordnung?“

„Ja, alles okay.“ Hastig wandte Mara sich ab. Dann eilte sie, so schnell sie konnte, hinaus auf den Hof.

Die Agentur

Jonathan gähnte. Die Morgensonne zeichnete sein müdes Schattenbild an die Hausfassaden. Er hatte nicht gut geschlafen.

An die Träume der Nacht konnte er sich nicht erinnern, stattdessen drängten seine feuernden Synapsen weitaus ältere Bilder zurück in sein Bewusstsein: „Komm, wir gehen zu den Kaninchen.“ Ein abenteuerlustiges, zahnlückiges Grinsen erschien vor seinem inneren Auge.

Seltsam, dass es dieses Bild war, das ihm in den Sinn kam, und nicht jenes, das alles verändert hatte.

Ohne dass er es bemerkte, verlangsamte sich Jonathans Schritt. Damals hatte er den Kopf in den Nacken legen müssen, um in das grinsende Gesicht seines Halbbruders zu blicken. Er war zu dieser Zeit noch nicht einmal drei Jahre alt gewesen. Sein Bruder hatte ihn über den Zaun gehoben. Im Schatten einer wild wuchernden Hecke hatten sie sich über das Nachbargrundstück geschlichen und dann durch ein Loch im Zaun auf das nächste. Durch einen düsteren Durchgang waren sie auf den Hinterhof gelangt, auf dem der alte Bolzen seine Kaninchen züchtete. Den wirklichen Namen des alten grantigen Bauern hatte Jonathan vergessen. Aber er erinnerte sich noch ganz genau an den Geruch nach Heu und das Quietschen der Käfigtür. Ganz behutsam hatte Maik ein winziges Fellbündel aus dem Käfig genommen. In seiner Erinnerung spürte Jonathan noch immer das warme, flauschige Fell und das hastig pochende Herz des kleinen Kaninchens.

Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. „Ja?“

„Wo bleibst du denn?“

Jonathan hob verwundert die Brauen. „Du bist schon im Büro?“

„Natürlich.“

„Ich bin gleich da.“

Er legte auf, schob das Handy zurück in die Hosentasche und ließ raschen Schrittes die Erinnerungen hinter sich.

Ihr Büro war klein, nur zwei Räume, zusätzlich eine winzige Küche und eine Besuchertoilette. Die Miete war sehr günstig. Noch vor wenigen Jahren war diese Gegend heruntergekommen und sogar etwas verrufen gewesen. Dann hatten einige Künstler die lichtdurchfluteten Altbauwohnungen für sich entdeckt. Ateliers und Galerien waren entstanden. Wenig später hatten die ersten trendigen Cafés eröffnet und nun entwickelte sich die ehemalige Schmuddelecke zum neuen Szenebezirk. Jenny hatte ein Gespür für so etwas. Sie hatte die Räume angemietet, bevor die Mieten rasant anstiegen und auch bevor die Ideen für eine eigene Agentur vollständig ausgereift waren.

Noch immer hing der Geruch von frischer Farbe in der Luft, als er ins Treppenhaus trat. Der Hausbesitzer hatte die Zeichen der Zeit erkannt und das alte Schmuckstück etwas aufgehübscht. Die neuen Mieter mussten deutlich tiefer in die Tasche greifen. Jenny hatte einen Zehnjahresvertrag ausgehandelt, und der Eigentümer biss sich wahrscheinlich jetzt noch in den Hintern, wenn er daran dachte.

Die Tür öffnete sich, bevor Jonathan den Schlüssel ins Schloss steckte. „Na endlich.“

„Kommst du gerade von einer Party?“

„Sehr witzig!“ Jenny verschränkte die Arme vor der Brust. Sie trug ein kurzes Kleid, durch das ihre langen schlanken Beine perfekt zur Geltung kamen. „Ich habe einen Kundentermin.“

„Verstehe. Und was machst du dann hier?“

Jenny setzte sich an den Besprechungstisch im Büro und schlug die Beine übereinander. „Ich will alles wissen.“ Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln – ihr Geschäftslächeln, wie Jonathan es insgeheim nannte. Sie konnte es nach Belieben ein- und ausschalten. Aber es verfehlte seine Wirkung nie, auch bei Jonathan nicht.

Er setzte sich. An seinem ersten Praktikumstag im Verlag war ihm dieses Lächeln zum ersten Mal begegnet. Er war rot geworden, hatte sich verhaspelt und kaum ein sinnvolles Wort über die Lippen gebracht. Wenig später hatte er sich vor einem riesigen Stapel unverlangt eingesandter Manuskripte wiedergefunden – den großen Träumen verkappter Autoren …

„Wenn ein frankierter Rückumschlag dabei ist, schickst du sie mit einem freundlichen, aber unverbindlichen Anschreiben zurück. Der Rest wandert in den Schredder.“

Jonathan hatte auf den Stapel gestarrt. Die Umschläge waren alle ungeöffnet gewesen. „Äh … einfach so? Werden die nicht geprüft?“

Wieder dieses charmante Lächeln. „Wirf einen Blick in die Exposés. Und wenn du einen potenziellen Bestseller übersiehst, drehe ich dir den Hals um.“

Das war der Beginn ihrer Zusammenarbeit gewesen.

„Nun?“ Jenny beugte sich vor. „Was hat der Notar gesagt?“

„Meiner Mutter schien es sehr wichtig gewesen zu sein, dass Maik und ich uns noch einmal sehen …“ Er verstummte.

Jenny nickte ihm aufmunternd zu.

„Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass sie religiös geworden ist. Sie hat sich sogar taufen lassen – mit 74 Jahren. Hatte ich das schon mal erwähnt?“

„Ja.“

„Ich frage mich, ob das einfach in uns drinsteckt. Vielleicht werden wir alle religiös, wenn es ans Sterben geht.“

„Das bezweifle ich.“ Jenny trug noch immer das gleiche aufmunternde Lächeln, aber auf ihrer Stirn bildete sich diese kleine Falte, die sich immer zeigte, wenn sie ungeduldig wurde. „Du hast mit dem Notar über die Religiosität deiner Mutter gesprochen?“

„Nein. Ich habe ihn gefragt, ob das Testament meiner Mutter rechtlich korrekt sei.“

„Und?“

„Er ließ keinerlei Zweifel daran.“

„Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen: Wie sieht es mit dem Erbe aus? Manchmal ist es vernünftiger, es auszuschlagen.“

„300 000 Euro“, sagte Jonathan. „Sie vererbt meinem Bruder und mir ein Gesamtvermögen von 300 000 Euro.“

Jennys Augen weiteten sich. „Oh …“ Sie räusperte sich. „Das solltest du besser nicht ausschlagen.“

Er nickte.

„Schau nicht so grantig! Weißt du denn nicht, was das bedeutet? Du hast es endlich in der Hand, deinen Traum zu verwirklichen!“

Und deinen, ging es Jonathan durch den Kopf.

Jenny grinste schief. Manchmal glaubte Jonathan, sie könne in seinen Gedanken lesen wie in einem Buch. „Ich weiß, dass es dein Geld ist. Du kannst damit machen, was du willst. Aber wenn du es in die Agentur steckst, bekommst du es mit Zinsen zurück. Mit diesem Geld könntest du dich voll auf die Agentur konzentrieren. Du müsstest nie mehr irgendwelche Kurierdienste übernehmen und im Café an der Kasse aushelfen.“

Sie hatte ja recht. Jenny hatte noch immer ihre Lektorentätigkeit im Verlag. Aber Jonathan musste jeden Job annehmen, um sich über Wasser halten zu können. Für die Agentur blieb oft wenig genug Zeit.

„Das Erbe gehört zur Hälfte meinem Bruder“, sagte er, „und es wird erst ausgezahlt, wenn er den Brief unterzeichnet hat.“

Jenny blickte ihn nachdenklich an. „Du hast mir nie erzählt, dass du einen Bruder hast.“

„Er ist eigentlich mein Halbbruder“, erwiderte Jonathan. Aber das erklärte natürlich nichts. Warum hatte er nie von Maik erzählt? Er wusste eine Menge über ihre Familie und auch über ihre verflossenen Beziehungen. Mit Jenny verband ihn ein sehr gutes Vertrauensverhältnis, nicht nur beruflich. Sie waren Freunde, und einmal war da sogar mehr gewesen … Die Einweihungsparty ihrer kleinen Agentur hatte bis in die frühen Morgenstunden gedauert, zum Schluss waren sie ganz allein gewesen, und dann war es irgendwie passiert. Es war in jedem Fall eine Menge Alkohol im Spiel gewesen. Sie hatten nie darüber gesprochen.

„Ich dachte, wir wären Freunde“, sagte Jenny. „Dass du mir deinen Bruder verschwiegen hast, kränkt mich ein bisschen.“

„Es … sind keine allzu guten Erinnerungen“, erwiderte Jonathan nach kurzem Schweigen. Das war nicht völlig falsch, aber dennoch gelogen.

„Das schwarze Schaf der Familie?“

„Könnte man so sagen …“

Jenny beugte sich vor und nahm seine Hand. „Deine Mutter wollte wohl den verlorenen Sohn zurück in die Familie holen, was?“

Jonathan blickte überrascht auf.

Jenny lächelte. „Das wollen alle Mütter. Aber man kann niemand zu seinem Glück zwingen. Jeder muss seine eigenen Entscheidungen fällen.“

Er zuckte mit den Achseln. Jennys Nähe erinnerte ihn an etwas, an das er jetzt nicht denken wollte. Er fixierte den silbernen Ohrring, der unter ihrem roten Haar hervorlugte.

„Du musst aufpassen!“

„Was?“ Jonathan wäre beinahe zusammengezuckt. „Was meinst du?“

„Pass auf, dass du nicht das schlechte Gewissen deiner Mutter übernimmst. Du bist nicht für deinen Bruder verantwortlich! Also steigere dich da nicht zu sehr hinein. Mach keine persönliche Sache daraus. Du hast genug eigene Sorgen.“

„Wahrscheinlich hast du recht“, brummte Jonathan.

„Ich habe immer recht.“ Sie lächelte.

„Na ja, wenn wir die Irrtümer abziehen“, entgegnete Jonathan.

Jenny hob die Brauen.

„Ich erinnere mich da an eine Aussage: ,Vergiss es, eine international erfolgreiche Thrillerautorin sieht anders aus!‘“

„Die Frau war über sechzig und hatte noch nie irgendetwas veröffentlicht“, verteidigte sich Jenny. „Außerdem hatte sie gerade mal den Volksschulabschluss und war ihr Leben lang Hausfrau und Mutter gewesen …“

„Und sie konnte genial schreiben!“, unterbrach Jonathan sie.

Jenny verdrehte die Augen. Dann lachte sie. „Okay, ich gebe mich geschlagen: Ich habe fast immer recht und für die restlichen zwei Prozent, auf die das nicht zutrifft, habe ich ja dich.“ Sie erhob sich anmutig. „Möchtest du mitkommen? Ein wenig Ablenkung könnte dir guttun.“

Er hob den Kopf und betrachtete sie. Jenny hatte eine hinreißende Figur und ihr Lächeln war betörend. Im letzten Jahr vor dem Abitur hatte sie an einer landesweiten Misswahl teilgenommen und den dritten Platz belegt. Jahrelang hatte sie nebenbei als Model gearbeitet und selbst jetzt noch fragten hin und wieder Agenturen an.

Jonathan schüttelte langsam den Kopf. „Das ist wirklich sehr nett von dir, aber … ich glaube, ich wäre heute nicht besonders hilfreich.“

Jenny nickte. „Ich verstehe. Wenn sich irgendetwas Neues ergibt, melde dich.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

„Viel Erfolg“, murmelte er.

Als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, wirkte der Raum mit einem Mal leer. „Jonathan, du bist ein Idiot“, sagte er zu sich selbst. Dann stand er auf und ging zur Tür. Er musste nachdenken, und das konnte er am besten, wenn er allein durch die Straßen wanderte.

Ein schwacher Sommerhauch trug den Duft von blühenden Büschen durch die Straßen. Der Stadtpark war nicht weit.

Die belaubten Kronen der Bäume rauschten. Die wuchernden Hecken wurden nur sehr selten beschnitten. Wäre der Müll nicht gewesen, hätte man beinahe das Gefühl, sich in unberührter Natur zu bewegen.

Unvermittelt kam Jonathan ein anderes Bild in den Sinn – ein in Folie eingewickelter gelber Lutscher, der in unerreichbarer Höhe über ihm schwebte. Maik hielt ihn in der Hand. Er hatte die Leckerei aus Jonathans Schultüte geholt und hielt sie nun so hoch, dass der Kleine sie mit seinen kurzen Ärmchen nicht erreichen konnte. Und gerade als Jonathan vor Wut und Enttäuschung die Tränen in die Augen traten, spürte er, wie der Lutscher auf seinen Kopf plumpste.

So war Maik gewesen, seine Zuwendungen waren oft mit einer gewissen Herablassung gepaart gewesen. Aber im Allgemeinen hatten sie sich gut verstanden.

Immer mehr Bilder befreiten sich aus den staubigen Kammern des Vergessens. Jonathan hatte seinen älteren Halbbruder geliebt. Damals war Maik sein Held gewesen, sein Beschützer und Lehrer. Natürlich war er auch sein schärfster Konkurrent gewesen, und es war kein Tag vergangen, an dem sie sich nicht gestritten hatten.

Maik hatte stets einen schwelenden Zorn in sich getragen, der schon bei geringsten Anlässen ausbrechen konnte.

Zu offenem Hass war dieser Zorn ausgebrochen, wenn es Streit mit Jonathans Vater gegeben hatte. Maik war die unerwünschte Folge einer ausufernden Erstsemesterparty gewesen. Seinen leiblichen Vater hatte er nur selten gesehen.

„Dein Vater ist ein großer Junge, der sich nur für sich selbst interessiert und glaubt, mit Spielen durchs Leben zu kommen“, hatte Mama ihn nicht sehr schmeichelhaft charakterisiert. „Je unähnlicher du ihm bist, desto besser für dich.“

Fünf Jahre lang lebte ihre Mutter als Alleinerziehende. Mehr schlecht als recht brachte sie ihr Studium zu Ende. Dann lernte sie Jürgen kennen. Als sie erneut schwanger wurde, heirateten die beiden, und Jonathan kam zur Welt. Fünf Jahre lang war Maik das Zentrum im Leben seiner Mutter gewesen. Und dann wurde er plötzlich an den Rand gedrängt. So etwas war schwer zu verkraften.

Die Streitereien reichten zurück in Jonathans früheste Erinnerungen. Wo Maik mit glühendem Jähzorn attackierte, schlug Jürgen mit kalter Verachtung zurück. Jonathan erinnerte sich, wie ein nichtiger Anlass schließlich so weit eskalierte, dass Maik ein Küchenmesser ergriff und brüllte: „Ich bring dich um!“

Mit einer verächtlichen Bewegung hatte Jürgen ihm die Waffe aus der Hand geschlagen. „Wenn du wüsstest, wie lächerlich du bist!“

Und seine Mutter hatte bei alldem meist nur stumm in der Ecke gestanden und anschließend so getan, als wäre es nie geschehen.

Doch Maiks Zorn brach nicht nur blindwütig aus ihm heraus, manchmal bewirkte er auch Gutes. Jonathan war noch im Kindergarten gewesen, als er, aus welchem Grunde wusste er nicht, die Aufmerksamkeit einer Gruppe von Fünftklässlern auf sich zog. Die großen Jungen fingen an, ihn zu tyrannisieren. Anfangs beschimpften sie ihn lediglich oder schubsten ihn. Dann hatten sie sich etwas Neues ausgedacht. Möglicherweise inspiriert durch einen Indianerfilm, banden sie ihn an einen Zaun und begannen, ihn mit faulen Äpfeln zu bewerfen, die auf einem brachliegenden Grundstück nebenan wuchsen. Es tat weh. Jonathan fing an zu weinen, was sie nur noch mehr aufzustacheln schien. Plötzlich war Maik da.

„Was macht ihr da?“, fragte er. Sein Gesicht war ganz blass gewesen.

„Siehst du doch, Spatzenhirn.“

„Bindet ihn los!“ Er sagte es ganz ruhig.

„Verpiss dich, Arschgesicht“, antwortete der größte der Jungen.

Eine Sekunde später lag er auf dem Boden und hielt sich die blutende Nase. Wie ein tollwütiger Hund warf sich Maik auf die größeren und älteren Kinder, bis sie schließlich heulend Reißaus nahmen. Die Clique hatte Jonathan nie wieder belästigt. An diesem Tag war Maik zu seinem Held geworden und diesen Status hatte er lange beibehalten. Bis zu dem Tag, an dem sich alles verändert hatte.

Jonathan stellte fest, dass er schon geraume Zeit im Schatten eines Ahornbaums stand und auf einen überquellenden Mülleimer starrte. Er gab sich einen Ruck. „Zeit, nach Hause zu gehen“, sagte er zu sich selbst. Und er wunderte sich, wie bitter seine Stimme dabei klang.

Erwachen

Der Nachhall von etwas Schrecklichem klang in ihm wider. Ein gellender Schrei voller Furcht durchdrang die Leere, die ihn umfangen hielt.

Er riss die Augen auf. Sein Herz pochte. Graue Düsternis war um ihn herum … und Stille. Bewegungslos lag er da. Nur sein Brustkorb hob und senkte sich und sog die muffig riechende Luft in seine Lungen. Er befand sich in einem Raum. Von irgendwo drang Licht herein und er erkannte ein niedriges Deckengewölbe.

Eine Frage formte sich mühsam in ihm: Wo bin ich?, und einen Herzschlag später: Wer bin ich?

Abrupt richtete er sich auf. Einen kurzen Moment musste er innehalten, als Schwindel ihn erfasste. Seine Hände fühlten rauen Stein. Sand rieselte zu Boden, als er sich von der Plattform gleiten ließ, auf der er gelegen hatte. Seine Füße versanken knöcheltief in feinem Sand und seine Knie zitterten. Es war mühsam, aber er konnte aus eigener Kraft stehen. Ein schmaler Streifen Licht fiel durch den Spalt über einer steinernen Tür.

Was war das für ein seltsamer Ort ohne Fenster? Ein Keller? Mit gerunzelter Stirn blickte er zurück. Der schmucklose Raum schien bis auf ein steinernes Podest vollkommen leer … Doch nein, da war etwas. An der gegenüberliegenden Wand hatte jemand einige Worte in den roten Sandstein gemeißelt. Er trat vor und fuhr mit den Fingern über die Konturen der Buchstaben.

Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub!

Das ist kein Keller!, schoss ihm durch den Kopf. Das ist eine Gruft! Plötzlich schien die Luft zu dünn zum Atmen. Man hat mich lebendig begraben!

Er fuhr herum und war mit zwei Schritten an der Tür. Seine Hände tasteten nach einer Klinke oder einem Knauf, doch da war nichts – nur das raue Gestein. Mit aller Kraft, die in ihm steckte, warf er sich dagegen. Nichts geschah. Genauso gut hätte er versuchen können, Felswände zu verschieben. Er stemmte die Füße gegen die Steinplatte und presste sich mit aller Macht gegen die Tür. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Er kämpfte gegen das Hindernis an, bis seine Muskeln zitterten.

„Verdammt!“, keuchte er.

Sein Herz raste, gierig sog er die staubige Luft ein. Es kam ihm so vor, als würde der winzige Raum immer enger werden, als würden die steinernen Wände unmerklich zusammenrücken, um ihn zu zerquetschen. Verzweifelt schlug er mit der Faust gegen das unnachgiebige Gestein. Ein scharfer Schmerz schoss von seinen Knöcheln aus den Arm hinauf und ließ ihn innehalten. Blut rann warm über seine aufgeschürften Knöchel.

Denk nach!, befahl er sich selbst. Langsam ließ er sich mit dem Rücken zur Tür zu Boden gleiten.

Es musste doch irgendeinen Hinweis darauf geben, wie er hier hereingekommen war! Hier und da glaubte er Anhaltspunkte zu entdecken. Der rötliche Sand und die stickige, verbrauchte Luft weckten eine schemenhafte Erinnerung in ihm. Aber mehr noch, es war ein vertrautes und zugleich auch schmerzhaftes Gefühl der Leere, das ein vages Gefühl der Vertrautheit in ihm auslöste.

Was sollte er damit anfangen?

Sein Blick fiel auf den feinen Staub, der im Licht der Sonnenstrahlen tanzte, die durch den schmalen Türspalt in sein Gefängnis drangen. Das Licht trug etwas in sich, das ihn anzog. Langsam richtete er sich auf. Er kletterte auf das Podest und lugte durch den schmalen Spalt oberhalb der Tür. Er konnte einen blassblauen Himmel ausmachen, vor dem ein feiner rötlicher Schleier tanzte. Ob es sich dabei um dünne Wolkenfäden handelte, die von der aufgehenden Sonne gefärbt wurden, oder um aufgewirbelten Sand, vermochte er nicht zu sagen. Aber der Anblick versetzte ihm einen Stich ins Herz. Hoffnung und Verzweiflung erwachten in ihm. Und er glaubte, etwas zu hören, ganz fern und leise, eine Harmonie, herübergetragen vom Wispern des Windes. Es war der Nachklang von etwas … Lebendigem.

„Hallo!“, schrie er durch den schmalen Spalt in die Weite hinaus. „Hallo, ist da jemand? Ich bin hier eingesperrt! Ich brauche Hilfe!“

Niemand antwortete.

Hitze drang durch den Spalt in seinen Kerker und salziger Schweiß rann ihm die Wangen hinab.

„Hilfe …“, krächzte er. Sollte er nicht bald an Wasser gelangen, würde er keinen weiteren Morgen erleben.

Da war es wieder, dieses seltsame Geräusch.

Er hielt inne und lauschte.

„Hallo?!“

Keine Antwort.

Enttäuscht wandte er sich ab, um vom Podest herunterzuklettern. Dabei hielt er sich an der Türkante fest und spürte, wie sie sich ein paar Millimeter bewegte, und zwar … nach innen!

Konnte das sein? Hoffnung durchströmte ihn. Hastig kletterte er wieder auf das Podest und zog. Wieder bewegte sich die Tür, allerdings erneut nur ein paar Millimeter, dann stieß sie auf festen Widerstand. Er kletterte herunter und untersuchte den Türspalt. Das Licht drang durchgehend als schmales Band durch die schmale Fuge. Es gab außen keinen Riegel.

Aber was hielt dann die Tür verschlossen? Sein Blick glitt suchend über den Boden. Der Sand bedeckte alles. Er kniete nieder und begann zu graben. Mit beiden Händen schaufelte er den Sand beiseite. Die Schicht war tiefer, als er erwartet hatte. Plötzlich schimmerte Metall auf – ein Riegel! Das war doch völlig verrückt – die Tür war von innen verriegelt! Er stemmte sich gegen den Riegel, knirschend glitt dieser zur Seite. Dann grub er tiefer, bis er auf steinernen Boden stieß. Schnaufend erklomm er ein weiteres Mal die Steinplatte, presste die Finger in den schmalen Türspalt und zog mit aller Kraft. Langsam bewegte sich der Türflügel nach innen. Ein Spalt entstand, helles Licht flutete herein und überspülte ihn für einen Moment mit Glück. Er sprang herunter und zog mit beiden Händen. Als der Spalt ihm breit genug erschien, zwängte er seinen Körper hindurch. Raues Gestein kratzte an seiner Wange und zerrte an seiner Kleidung, als wolle es ihn festhalten.

Schließlich war er hindurch und stolperte ins Freie. Rötlicher Staub wirbelte auf. Ein heißer Wind strich durch sein Haar. Er spürte seinen hämmernden Puls und atmete die trockene Luft.

Frei! Er war frei! Entkommen aus einem von innen verschlossenen Grab – was für ein Irrsinn!

Langsam wandte er sich um.

Über der Gruft war in großen Lettern ein Name gemeißelt: SOKJAN.

Eine schwache Erinnerung keimte in ihm auf. Er kannte dieses Wort, es war ein Begriff aus einer uralten Sprache, und er bedeutete so viel wie … Suchender.

Und noch während er sich darüber wunderte, woher er das wusste, kam ihm eine andere Frage in den Sinn. Bin ich das? Ein winziges Lächeln legte sich auf seine Lippen. Der Suchende … kein unpassender Name.

„Sokjan – der Suchende“, wiederholte er leise, und es klang feierlicher, als er beabsichtigt hatte.

Er befand sich in einem von Natursteinmauern umgebenen Rund. Die vertrockneten Reste von Pflanzen deuteten darauf hin, dass es hier einmal einen Garten gegeben haben musste. Doch nun wirbelte bei jedem Schritt rötlicher Staub auf.

Das Krächzen eines Raben drang zu ihm herüber.

Er verließ den toten Garten und schritt durch einen engen Torbogen. Flügelschläge und krächzende Schreie. Ein schwarzer Schatten erhob sich über hohe Mauern und verschwand. Nur Schweigen blieb zurück.

Sokjan befand sich nun in einem von hohen Mauern umgebenen Hof. Alles war von rotem Sand bedeckt. Einige vom Wüstenwind zerfressene Gebäude schmiegten sich an eine hoch aufragende Mauer. Der Wind pfiff durch die Zinnen. Es war heiß wie in einem Backofen.

Sokjans Blick glitt an den Mauern empor. Er befand sich in einer Burg! Verwirrt blickte er sich um.

„Hallo!“, rief er laut. „Ist hier jemand?“

Schweigen. Nur der Wind pfiff leise durch die steinernen Zinnen.

Sokjan erschauerte. Vollkommene Einsamkeit umgab ihn. Was war das für ein absonderlicher Ort?

Befand er sich in einem Albtraum?

Er kniff sich in den Arm und spürte den stechenden Schmerz. Vielleicht war es ja auch schlimmer als das? Vielleicht war er längst tot und dies war … das Jenseits?

Er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er musste raus hier, so schnell wie möglich. Hektisch blickte er sich um. Dort drüben, ein von zwei Türmen eingefasstes Tor. Es sah aus, als würde es nach draußen führen. Stolpernd hastete er über den Hof.

Als er die Torflügel erreicht hatte, streckte er die Hand nach dem Balken aus, der sie verriegelte. Doch unerwartet stieß er auf ein Hindernis. Seine Finger fühlten sich an wie taub, sie konnten das Holz des Balkens nicht erspüren. Er versuchte, seine Schulter unter den Riegel zu stemmen, aber es gelang ihm nicht. Was immer er auch tat, seine Bewegung endete einen Fingerbreit vor dem Tor. Er erschauerte. Das konnte nicht sein! Das war doch völlig unmöglich!

Mit klopfendem Herzen wandte er sich ab, stieg die Stufen eines Turms empor und betrat den Wehrgang. Mühsam kletterte er auf die Mauer, zwischen zwei halb zerstörte Zinnen. Ohne auf den Abgrund zu achten, der auf der anderen Seite lauerte, versuchte er, die äußere Seite des massiven Gesteins zu berühren – vergeblich. Eine unsichtbare Barriere verschloss ihm den Weg. Es war nicht so, als würde er gegen eine Wand aus Glas stoßen oder etwas Ähnliches. Vielmehr schien es ihm, als wäre die Mauer zugleich auch die Begrenzung seiner Bewegungsfähigkeit. Seine Muskeln gehorchten ihm nicht länger, sobald er diesen Bereich verlassen wollte.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er war gefangen … gefangen in einer verlassenen Burg. Wie betäubt hockte er da und starrte hinaus auf ein Meer aus rötlichem Sand. Die Festung lag mitten in der Wüste. Am Horizont konnte er einen düsteren Streifen ausmachen – vielleicht ein Gebirgszug oder auch ein nahender Sandsturm?

Nichts deutete darauf hin, dass es hier irgendetwas anderes gab außer der endlosen Wüste und dieser Festung. Es schien, als wäre er der letzte Mensch in einer vollkommen verlassenen Welt. War das die Hölle?

Warum?, schrie es in ihm. Warum?

Seine Gedanken tasteten durch ein wirres Nichts aus Schock und dumpfer Verzweiflung. Es gab keine Antwort, natürlich gab es keine Antwort.

Er war sich kaum bewusst, dass er von der Mauer herunterkletterte. Wie in Trance taumelte er über den Hof und folgte dem Verlauf der Festungsmauer. Sie war ungeheuer mächtig und ganz offensichtlich errichtet worden, um einen massiven Angriff abzuwehren. Doch nichts deutete darauf hin, dass es einen Kampf gegeben hatte. Welchen Feind hatten die Bewohner dieser Festung gefürchtet? Und was war mit ihnen geschehen?

Seine Finger kratzten über den rauen Stein. Und dann vernahm er plötzlich ein Geräusch. Es war das leise Plätschern von Wasser. Im selben Moment spürte er, wie durstig er war. Sein trockener Hals schmerzte bei jedem Atemzug. Warum war ihm das bisher nicht aufgefallen?

Er folgte dem Geräusch und entdeckte schließlich einen halb zerfallenen Eingang. Rasch schaufelte er Sand und loses Gestein beiseite, um den Eingang zu vergrößern. Dann bückte er sich und kroch durch die schmale Öffnung.

Der Raum, der sich nun vor ihm öffnete, war riesig. Vermutlich ein Lager, aber bis auf den roten Sand, der alles bedeckte, war er vollkommen leer. Durch schießschartenähnliche Öffnungen fiel von weit oben Licht herein. Das Plätschern schien von dorther zu kommen. Sokjan kniff die Augen zusammen und erkannte ein schwaches, silbriges Glänzen. Als würde Licht zu Flüssigkeit gerinnen. Fasziniert ging er darauf zu. Als er sich direkt unter den Schießscharten befand, berührte er die Außenmauer. Seltsamerweise fühlte sie sich kühl und feucht an. Er spürte ein winziges Rinnsal, das durch seine Finger rann. Hastig beugte er sich vor und leckte daran – klares, kühles Wasser.

Das war vollkommen verrückt – wie konnte von dort oben Wasser kommen?

Als er nach oben starrte, fiel ihm auf, dass es nicht allein das Plätschern war, das ihn hergelockt hatte. Ein unendlich feines Klingen begleitete das Geräusch des fließenden Wassers. Es wob eine Melodie, deren Reinheit und Schönheit ihn erschauern ließ. Die Klänge malten vage Bilder vor seine Augen, sie weckten eine Art Erinnerung in ihm. Aber es war eine Erinnerung, die er nicht greifen konnte. Stattdessen spürte er eine schmerzhafte Leere in sich, die ihn ahnen ließ, dass er irgendwann etwas Bedeutsames verloren hatte. Ratlos schüttelte er den Kopf.

Dann wurde ihm erneut bewusst, wie trocken, wie ausgedörrt er war. Rasch formte er mit beiden Händen eine Schale, ließ das Leben spendende Nass von der Mauer hineinrinnen und trank, sobald sich eine kleine Pfütze gebildet hatte. Es war ein mühsames Unterfangen, aber irgendwann erlosch das Brennen des Durstes in ihm. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und kühlte seine heiße Stirn.

Wo es Wasser gab, gab es auch Leben und Hoffnung. Vielleicht war er verflucht. Vielleicht war dieser Ort eine Art Strafe für ihn … Vielleicht aber auch eine Prüfung? Er würde es nie herausfinden, wenn er nicht begann, nach der Wahrheit zu suchen.

Mit neu gefasstem Mut trat er hinaus in die flimmernde Hitze des Burghofs. Das feine Klingen wurde leiser. Sokjan blickte auf. Sein Blick wanderte über den versandeten Hof hinweg zu einem düsteren Bau. Es musste das Hauptgebäude dieser Festung sein. Er kniff die Augen zusammen: Dort drüben … kräuselte sich aus einem der hohen Schornsteine etwa Rauch in den grauen Himmel?

Ein Schauer lief Sokjan über den Rücken. Eben noch hatte er sich nach irgendeinem Zeichen dafür gesehnt, dass er nicht allein war, und nun spürte er mit einem Mal Beklommenheit. Das offene Tor des mächtigen Gebäudes wirkte wie der gähnende Schlund eines Ungeheuers. Was für ein Wesen hauste wohl in dieser Festung?

Plötzlich ging ihm die Ironie dieses Gedankens auf. War er nicht gerade erst selbst einer Gruft entstiegen? Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Wer auch immer dort hauste – Sokjan konnte mit einiger Berechtigung davon ausgehen, dass dieser Jemand nicht absonderlicher war als er selbst.

Entschlossen machte er sich auf den Weg.

Als er aus dem Schatten der Mauer auf den Hof trat, verstummte die leise Musik hinter ihm. Und in diesem Moment erst wurde ihm bewusst, dass sie ihn an die Klänge einer Harfe erinnerte.

Die Akte El Niño

Das ist nicht Ihr Ernst!“ Die Akte klatschte auf den Schreibtisch. Ein Foto rutschte heraus und flatterte zu Boden.

Hauptkommissar Thorsten Boddien unterdrückte den Impuls, es aufzuheben. Stattdessen blickte er in das hochrote Gesicht von Kriminalrat Dr. Müller. „Zwei Jahre lang war Ihr verdeckter Ermittler an der Sache dran! Mittlerweile ist Ihr Team auf insgesamt zehn Leute angewachsen! Damit hatte jeder Tag für Sie 80 Stunden – und alles, was Sie vorweisen können, ist ein Verdacht?!

Boddien vermutete, dass es sich hier um eine rhetorische Frage handelte, daher machte er nicht den Versuch, darauf zu antworten.

„Ist Ihnen eigentlich klar, wie knapp unsere Ressourcen sind?!“, fuhr der Kriminalrat mit immer lauter werdender Stimme fort und bestätigte damit Boddiens Vermutung. „El Niño ist immer noch ein Phantom! Er spielt Katz und Maus mit uns. Unsere Parks entwickeln sich allmählich zu öffentlichen Drogenmärkten. Bald haben wir hier rivalisierende Drogengangs wie in Mexiko. Es gehen bereits Dutzende von Toten auf sein Konto! In höchsten Kreisen ist man äußerst besorgt, um es gelinde auszudrücken. Ich habe den Innensenator am Hals und den Oberstaatsanwalt auch, und Sie bringen mir DAS?!“ Mit einer verächtlichen Geste deutete er auf die Akte. „Ihr Bericht hat mehr Lücken als Text! Ich bin kein Idiot, Boddien. Ich weiß, dass Ihre Informationen zum größten Teil mit Methoden beschafft wurden, die uns vor Gericht in Teufels Küche bringen können.“

„Herr Dr. Müller …“, setzte Boddien zu seiner Verteidigung an, doch der Kriminalrat unterbrach ihn: „Was Ihr verdeckter Ermittler da getrieben hat, stinkt zum Himmel. Der Kerl hat sich über alle Regeln hinweggesetzt, die für solche Einsätze gelten! Und nun hat er nichts Besseres zu tun, als einen spektakulären Unfall hinzulegen! Haben Sie eine Ahnung, wie viel Mühe ich hatte, die Presse aus der Sache rauszuhalten?!“

Boddien biss sich auf die Zunge. Dachte der Kerl wirklich nur an die Presse?

„Doch lassen wir Ihr Versagen an dieser Stelle für einen Moment beiseite. Nehmen wir mal an, es gelänge Ihnen tatsächlich, Martin Böhm zu fassen. Wie wollen Sie beweisen, dass er El Niño ist? Doch nicht etwa mit diesem einen Besuch am Grab einer toten Frau oder dieser Sammlung von Vermutungen, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben stehen?“

Boddien blickte in das zorngerötete Gesicht des Polizeirats. „Wir haben eine DNA-Probe aus einem alten Mordfall, die mit fast hundertprozentiger Sicherheit El Niño zuzuschreiben ist, und wir haben einen Kronzeugen“, sagte er leise.

Die Brauen des Polizeirats schossen in die Höhe. „Einen Kronzeugen?“

„Wir haben einen Mann aus dem inneren Kreis. Er ist bereit auszusagen, wenn wir ihm schriftlich Straffreiheit zusichern und ihn in das Zeugenschutzprogramm aufnehmen.“

Der Polizeirat kniff die Augen zusammen. „Und warum, zum Teufel, sagen Sie das nicht gleich?“

„Es steht in der Akte.“

Polizeirat Dr. Müller ignorierte den Einwand. „Wie dicht ist der Mann an El Niño dran?“

„Er ist ihm persönlich nie begegnet. Aber er kümmert sich als Buchhalter um die finanziellen Belange. Ich bin mir sicher, dass er ausreichend Material liefern kann, um Martin Böhm festzunageln.“

„Und warum ist er bereit, das Risiko einzugehen?“

„Dafür hat mein zwielichtiger verdeckter Ermittler gesorgt“, erwiderte Boddien mit säuerlichem Lächeln. „Er hat dem Mann ein Video zukommen lassen, dass die Liquidation eines Kollegen zeigt, der das Missfallen von El Niño erregt hatte. Offenbar hat dieser Vorfall das Vertrauen des Mannes in seinen Arbeitgeber stark erschüttert. Zumal er sich wohl auch selbst eine Kleinigkeit zuschulden kommen ließ.“

„Verstehe! Und er wird wirklich aussagen?“

„Ja, ich bin davon überzeugt. Die Filmaufnahmen waren sehr … überzeugend. Allerdings wird er sich erst aus der Deckung wagen, wenn wir El Niño verhaftet haben.“

„Schön, schön …“ Der Polizeirat nickte langsam. „Ihr Mann hat das also eingefädelt … Wie, äh, geht es ihm eigentlich?“

„Er hat eine elfstündige Operation hinter sich und liegt im künstlichen Koma“, erwiderte Boddien.

„Wird er durchkommen?“

Boddien zuckte die Achseln. „Die Ärzte wollen keine konkrete Prognose abgeben. Aber wenn ich ihre Blicke richtig deute, würde ich sagen: Es sieht nicht gut aus.“

„Das, äh, tut mir leid. Aber natürlich dürfen wir jetzt nicht nachlassen. Wir müssen El Niño dingfest machen, solange die Spur noch heiß ist. Auch der beste Kronzeuge nützt uns nichts, wenn niemand auf der Anklagebank sitzt. Außerdem wissen wir nicht, wie lange unser Zeuge bereit ist auszusagen. Schließlich kann er ja gerade an Ihrem Mann sehen, was ihm blüht, wenn er sich gegen El Niño stellt!“

Arschloch, dachte Boddien.

„Brauchen Sie noch weitere Unterstützung?“

„Im Moment nicht. Wir haben eine … alte Verbindung zu El Niño. Es ist eine … sensible Geschichte …“

Der Polizeirat winkte ab. „Die Details will ich lieber gar nicht wissen. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen, und sorgen Sie dafür, dass dieses Ungeheuer hinter Gittern landet!“

„Mach ich“, erwiderte Boddien, und in Gedanken fügte er hinzu: Das bin ich Alex schuldig.

Das Elternhaus

Das Zwitschern der Vögel hallte im schmalen Innenhof in einer Lautstärke wider, die mühelos mit einem Presslufthammer mithalten konnte. Als Jonathan die Augen aufschlug, fühlte er sich erschöpfter als am Vorabend. Nachdem er eine Entscheidung getroffen hatte, waren die Erinnerungen über ihn hinweggeschwappt. Bis spät in die Nacht hatte er wach gelegen.

Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich auf die Bettkante. Der Duft von gebratenem Bacon drang durch das geöffnete Fenster. Schräg unter ihm wohnte ein US-amerikanischer Student, der neben seiner Neugier auf die deutsche Kunstgeschichte auch die Essgewohnheiten seiner amerikanischen Heimat mitgebracht hatte. Für Jonathan, der um diese Zeit höchstens einen Kaffee herunterbekam, war das eine ständige olfaktorische Herausforderung. Müde schlurfte er zum Fenster, um Vogellärm und Zwiebelduft auszusperren. Er war einfach kein Morgenmensch.

Jonathan zog sich das verschwitzte T-Shirt über den Kopf und tappte ins Bad. Beim Duschen wurden seine schlummernden Synapsen ein wenig wacher, und er konnte einen ersten konstruktiven Gedanken formulieren: Du musst Jenny Bescheid geben!

Er verbrauchte den letzten Rest Duschgel, strapazierte seine Warmwasserrechnung und verwandelte das Bad in einen überdimensionierten Dampfkessel. Die Haut an seinen Fingern war schrumpelig vor Feuchtigkeit, als er schließlich den Duschhahn zudrehte.

„Okay“, seufzte er. „Dann mal los.“

Das Telefon tutete zweimal, ehe Jenny abnahm.

„Guten Morgen.“ Ihre Stimme klang nervtötend munter.

„Morgen“, brummte Jonathan. „Und, wie war’s gestern?“

„Der Cheflektor hat sich noch nicht klar geäußert“, erwiderte Jenny. „Aber ich denke, wir haben den Verlag am Haken. Was gibt es?“

„Ich nehme mir heute frei.“

Eine kurze Pause entstand. „Okay“, sagte sie gedehnt.

„Ich fahr raus … muss ein paar Sachen nachprüfen.“

„Du willst deinen Bruder suchen?“

Er nickte.

„Bist du dir sicher?“

„Nein, aber ich mach’s trotzdem.“

„Vielleicht solltest du dir doch einen Anwalt nehmen. Ich könnte mir vorstellen, dass man ein solches Testament auch anfechten –“

„Ich brauch keinen Anwalt“, unterbrach er sie, „nur ein wenig Zeit.“

„Wie du meinst …“ Wieder ein kurzes Zögern. „Wenn du reden möchtest, du weißt, du kannst jederzeit –“

„Ich weiß, Jenny, vielen Dank! Ich … muss dann los.“

„Okay. Mach’s gut.“

„Tschüss.“

Die Fahrt mit der Regionalbahn war wie eine Reise in die Vergangenheit. Das Rattern des Zuges hatte ihn lange Jahre begleitet. Die Kiefernwälder, endlose Korn- und Maisfelder, der Gestank von Gülle, der einem als Erstes um die Nase wehte, wenn man auf den betongrauen Bahnsteig trat – all das war ihm wohlvertraut, aber es schien dennoch zu einem anderen Leben zu gehören.

Jonathan ließ den verwahrlosten kleinen Bahnhof hinter sich und schlenderte die von hohen Platanen gesäumte Landstraße entlang. Dann bog er auf das Kopfsteinpflaster der Hauptstraße des alten Dorfes ab. Es war beinahe unerträglich still. Das Dorf lag da wie tot. In seltenen Momenten hatte er diese Ruhe genossen, meist aber hatte er ihr entfliehen wollen. Wenn äußerlich Stille herrscht, werden die inneren Stimmen nur umso lauter – und nicht immer ist es angenehm, ihnen zuzuhören.

Ein massives Tor versperrte die Einfahrt seines Elternhauses. Jonathan zog den Schlüssel aus der Tasche und schloss auf. Es war lange her, dass er ihn benutzt hatte. Der Vorgarten sah etwas wüst aus, war aber noch nicht völlig verwildert. Irgendjemand musste vor einiger Zeit den Rasen gemäht haben.

Er ging langsam zur Haustür und steckte den Schlüssel in das Schloss. Ein letztes Mal atmete er tief durch und betrat sein Elternhaus.

Dämmriges Licht und muffige, abgestandene Luft hüllten Jonathan ein. Die alten Dielen knarrten unter seinen Füßen. Die Tür zum Wohnzimmer war nur angelehnt. Er stieß sie auf. Alles war wie immer: die plüschige Sofagarnitur, der mächtige alte Fernseher, der auf einem alten Nähmaschinengestell stand, und die rustikale Schrankwand. Durch die Gazevorhänge drang schal das Licht. Seine Hand betätigte den Lichtschalter und der mehrarmige Deckenleuchter flammte auf – ein Erbstück seiner Großmutter.

Er ging durch den lang gestreckten Raum, der fast das gesamte Erdgeschoss des kleinen Hauses einnahm. Der Esstisch war stets ein wenig zu groß gewesen, selbst als sie noch zu dritt hier gewohnt hatten. Vielleicht hatte seine Mutter unbewusst die Hoffnung gehegt, dass hier irgendwann wieder eine vierte Person sitzen würde. Der alte Kamin stank nach Asche, wie eigentlich immer an Sommertagen, wenn die warme Außenluft durch den Belüftungskanal in den Raum drückte.

Jonathans Blick glitt über die Wand, an der alte Fotos hingen. Er sah sich selbst, stolz im Trikot seines Fußballvereins. Jürgen, sein Vater, im Anzug – er hatte ihn wie eine zweite Haut getragen. Sein Lächeln war selbstbewusst – ein attraktiver Mann … und ein Säufer. Aber das war Mutter erst sehr spät klar geworden. Daneben ein unscharfes Bild: zwei Jungen, die auf dem Hinterhof Ball spielten. Der ältere der beiden war zwei Köpfe größer. Das Spiel mit dem Kleinen musste für ihn langweilig gewesen sein. Er hatte es sich aber nicht anmerken lassen. Mit einem Mal war die Erinnerung ganz nah. Sie hatten sich Namen von Fußballnationalspielern gegeben. Maik war immer Jürgen Klinsmann gewesen. Jonathan hatte den kleinen Dribbler Thomas Häßler mehr gemocht. Stundenlang hatten sie draußen gespielt. Damals hatte es sich nicht so angefühlt, aber im Nachhinein erkannte Jonathan, dass diese Zeiten zu den schönsten seines Lebens gehörten.

Mutter musste dieses Foto versteckt haben. Alle anderen Bilder, auf denen Maik zu sehen gewesen war, hatte Jonathans Vater verbrannt. „Er soll brennen, genauso, wie er mein Leben verbrannt hat“, hatte er damals mit verwaschener Stimme geschrien.

Jonathan zuckte mit den Achseln, als wolle er diese Erinnerung von sich abstreifen, und wandte sich dem altmodischen Sekretär zu, der in einer Ecke des Wohnzimmers stand. Mutter hatte es nie leiden können, wenn irgendwelche Ordner oder Papiere offen herumlagen. Er fischte den Schlüssel aus der blauen, mit goldenen Sternen verzierten Keksdose und schloss auf. Geräuschlos ließ sich der Sekretär aufklappen. Der Ordner lag zuoberst im großen Schubfach. Er schlug ihn auf. Kopien verschiedenster Unterlagen waren darin, unter anderem der Kaufvertrag für das Haus und der Eintrag ins Grundbuch. Die Originale hatte wohl der Notar an sich genommen. Jonathan stellte den Ordner zurück und durchblätterte die Ablage. Er stutzte, als zwischen alten Einkaufszetteln und Rechnungen und Werbeprospekten plötzlich ein Foto auftauchte. Die Aufnahme war vermutlich mit einem Teleobjektiv gemacht worden. Das Bild zeigte einen Mann. Er war dunkelhaarig, ziemlich hager und recht gut aussehend. Seine Lippen waren zu einem Lächeln verzogen, aber dieses Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen. Der Blick des Mannes wirkte vollkommen leer – als starre man in die glasigen Augen eines Toten. Jonathan erschauerte. Wer war das?

Er drehte das Bild um. Das dort abgedruckte Datum zeigte, dass es erst einen Monat alt war. Warum hatte Mutter es in ihren Unterlagen aufbewahrt? Jonathan drehte das Bild wieder um und betrachtete es genauer. War das …? Er biss sich auf die Lippen. War das Maik? Er hatte seinen Halbbruder seit eineinhalb Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Die Nase des Mannes wies einen Buckel auf, er hatte hohe Wangenknochen und dunkles welliges Haar. Maiks Nase war gerade gewesen, sein Gesicht runder und sein Haar struppig-blond. Nein. Er schüttelte den Kopf. Das musste jemand anderes sein.

Aber warum hatte seine Mutter es aufbewahrt? Einem Impuls folgend, steckte Jonathan das Foto in seine Hosentasche.

Anschließend blätterte er weiter durch die Ablage, fand aber nichts Auffälliges mehr. Nachdenklich trommelte er mit den Fingern auf den Schreibtisch. Dann öffnete er die Schublade.