„Schürfwunden“ ist ein Roman, der im Gebiet des Braunkohletagebaus spielt und die Themen Umsiedlung und Enteignung aufgreift. Dennoch sind alle Figuren und Geschehnisse rein fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder realen Namen wären Zufall und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Anja Wedershoven

Schürfwunden

Ein Tagebau-Roman

Wedershoven, Anja: Schürfwunden. Ein Tagebau-Roman, Hamburg, ACABUS Verlag 2014

Originalausgabe

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-159-4

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-160-0

Print ISBN 978-3-86282-158-7

Lektorat: Eva Bömer, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: ds, ACABUS Verlag

Covermotiv und Zeichnung Rückenakt: © Anja Wedershoven

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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© ACABUS Verlag, Hamburg 2014

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1

Je weiter Katja ins Tagebaugebiet fuhr, desto staubiger wurden die Straßen. Seit Wochen kaum Regen. Nur kurze Gewittergüsse, die verdunstet waren, noch bevor sich die Wolken verzogen hatten. Sie kurbelte ihr Autofenster wieder hoch, obwohl die Septembersonne den Wagen aufgeheizt hatte. Keine gute Idee, mit ihrer Großmutter zum Abriss der Kirche zu gehen. In den letzten Monaten war Charlotte immer magerer und gebrechlicher geworden. Wie ein aus dem Nest gefallenes Vogeljunges, dachte Katja.

Die körperliche Schwäche hatte die Sturheit ihrer Großmutter nicht gemildert. Dass sie ihr Haus nicht verlassen wollte, obwohl alle anderen weggezogen waren, war typisch für sie. Dabei wurde ihr Husten durch den Kohlestaub mit jedem Tag schlimmer.

„Irgendwann werden sie enteignen“, hatte Katjas Mann über die allmählich zu Neige gehende Geduld der Braunkohlegesellschaft gesagt. Damit hatte Robert wohl recht. Robert hatte meistens recht. Seit er Richter am Oberlandesgericht geworden war, hatte er noch häufiger recht. Katja verscheuchte den Gedanken und schaltete das Autoradio ein. Eigensinnige Frauen waren halt nicht Roberts Ding. Er mochte Charlotte noch nie.

Die Landstraße wurde in diesem Gebiet kaum noch befahren. Nur Schaulustige und ehemalige Bewohner der verlassenen Dörfer verirrten sich hierher. Bröckelnder Asphalt. Von Unkraut überwucherte Leitplanken. Der Renault ruckelte über einige Haufen Schotter, die ein Lastwagen verloren haben musste. Hinter der Kurve kam Katja ein Radfahrer entgegen. Sie schaltete einen Gang herunter und fuhr mit größtmöglichem Abstand an dem alten Mann mit Schirmmütze vorbei. Dennoch hüllte ihn eine Staubwolke ein. Im Rückspiegel sah sie, dass er abgestiegen war und wild gestikulierte.

„Tut mir leid“, murmelte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Unter den Song im Radio mischte sich der Klingelton ihres Handys. Charlotte. Sie wartete vermutlich schon.

„Hallo Omi, ich bin in fünf Minuten bei dir. Geht’s dir gut?“

„Mir geht et immer gut.“ Im Innenraum des Wagens klang das Brüchige in ihrer Stimme noch besorgniserregender, als wenn man ihr gegenübersaß.

„Sicher?“

„Sicher.“ Charlotte hustete.

„Hast du genug getrunken? Es ist schwül heute, du musst viel trinken.“

„Liebet Kind, ich bin zwar alt, aber noch nich’ senil.“

„Das habe ich ja auch nicht behauptet. Aber es wäre vernünftiger, du würdest zu Hause bleiben. Wir könnten zusammen Patiencen legen.“

„Du glaubst, ich leg hier seelenruhig Patiencen, während dat Gesocks unsre Kirche abreißt?“

Katja musste grinsen. „Nein. Nicht wirklich. Aber es wird nichts ändern, ob du protestierst oder nicht. Ob du dein Plakat in die Luft hältst oder nicht.“

Charlotte schwieg.

„Bist du noch dran, Omi?“

Ein Räuspern antwortete ihr. „Aber ich will mein Plakat inne Luft halten.“ Dann legte ihre Großmutter auf.

*

Charlotte legte das Telefon auf den Wohnzimmertisch und lehnte sich im Sessel zurück. Diese ewige Müdigkeit! Seit gut zwei Jahren kämpfte sie nun schon dagegen an. Sie strich die Bluse glatt, die um ihren Oberkörper schlabberte. Ein Gürtel. Sie wollte doch noch einen Gürtel raussuchen.

Am Morgen hatte sie sich vor dem improvisierten Spiegel in der Küche ihre von Natur aus wild abstehenden grauen Locken noch weiter hochtoupiert und ein rotes Band hineingebunden. Dazu die rote Bluse angezogen, die sie immer trug, wenn sie gegen die Umsiedlung ihrer Dörfer protestierte. Vor zwei Jahren hatte die noch tadellos gesessen. Aber jetzt … Auch ihre Büstenhalter waren viel zu weit geworden und Charlotte hatte sich angewöhnt, eine elastische Binde über ihren Brustkorb zu streifen, wenn sie außer Haus musste. Damit sah sie fast wie ein Knabe aus. „Mach mir keine Sperenzkes mit die jungen Mädels“, hatte sie zu ihrem Spiegelbild gesagt und gekichert.

Mehr trinken? Ihre Enkeltochter hatte ja recht. Außer einer Tasse Kaffee am frühen Morgen hatte Charlotte tatsächlich noch nichts getrunken. Sie streichelte langsam über den weichen Pelz des Katers, der sich neben ihr auf dem breiten Ohrensessel eingerollt hatte und schlief. Jeshim schnurrte leise.

„Tja, wir werden alt. Tun ’ner Katze eigentlich auch manchmal die Knochen weh?“ Sie griff nach ihrem Stock. „Aber wenn ich seh, wat du gestern wieder für ’nen Schlamassel angerichtet hast …“ Auf der großen Pappe, die an einen Besenstiel genagelt in der Ecke neben der Anrichte stand, prangten zwischen den Buchstaben Abdrücke von Katzenpfoten. Jeshim war mit einem eleganten Sprung auf den Tisch gelangt, um nach ihrem Pinsel zu jagen, und sie hatte ihren Protestspruch nicht rechtzeitig vor seinen flinken Bewegungen retten können.

„Da sind deine Fußabdrücke drauf, die Polizei kann dich jederzeit finden.“ Mit einem zufriedenen Blick auf das gemeinschaftliche Kunstwerk stand Charlotte auf. Der Schmerz zog durch ihre Beine bis ins Kreuz. Sie kämpfte um ihr Gleichgewicht. Und gewann. Auch dieses Mal wieder. Also alles in Ordnung. Mit kleinen Schritten machte sie sich auf den Weg in die Küche. Warum war ihr schon wieder schwindelig? Nicht über den Teppich fallen! Ludwig hatte ihn ihr zum 68. Geburtstag geschenkt. Sie erinnerte sich so genau daran, weil er zwei Monate später gestorben war. Ein Schlaganfall. Während Charlotte noch auf dem Weg zum Kühlschrank war, hörte sie, dass die Haustür aufgeschlossen wurde.

„Bist du das?“, rief sie Richtung Flur.

*

Jedes Mal, wenn ich das Haus meiner Großmutter betrete, überfällt mich sein Geruch schon im Flur. Ein Geruch nach feuchtem Gemäuer, staubgetränkter Luft und Kölnisch Wasser. Nach Filterkaffee, nach Lavendelsäckchen, nach Alter. Der Geruch meiner Großmutter. Wenn ich ihr nahe komme, um ihr in der Küche zu helfen oder sie über den Rand der Duschwanne auf den Kunststoffhocker zu setzen, scheint mir, dass ihr Körper und der betagte Bauernhof denselben Geruch angenommen haben. Dass weder der Duft von Seife noch der von frisch gewaschener Kleidung das überdecken kann. Charlotte riecht wie ihr Haus. Ihr Haus riecht wie Charlotte.

Manchmal gehe ich als Erstes ins Wohnzimmer, reiße die Fenster auf und ermahne sie, regelmäßig zu lüften. Als ob das etwas ändern würde. Als ob in diesem Haus Platz für etwas Neues, etwas Frisches wäre.

Nein, da ist kein Raum. Die Zimmer quellen über von den Lebensgeschichten vieler Generationen, das Mauerwerk ist getränkt mit Erinnerungen, und im Knarzen der Bodendielen höre ich die Stimmen all der Menschen, die hier gewohnt haben. Unzählige Vergangenheiten leben im Haus meiner Großmutter.

Und Charlotte lebt in der Vergangenheit. Ich kann sie mir ebenso wenig wie die Generationen vor ihr ohne diese Mauern denken. Als würde sie sich auflösen und verschwinden, wenn man sie aus ihrem Haus herausnähme. Als würde man mit dem Gebäude ihre Lebensgeschichte auslöschen. Und meine Großmutter klammert sich mit aller ihr verbleibenden Kraft an den alten Bauernhof, obwohl die Bagger unaufhaltsam näher kommen. Obwohl es hier nur Vergangenheit, kaum Gegenwart und keine Zukunft gibt.

Jedes Mal, wenn ich das Haus meiner Großmutter betrete, höre ich ihre Stimme. Sie ruft: Bist du das? Ich lausche, ob sie kräftig klingt oder schwach, ob sie von Husten unterbrochen wird oder ob es Charlotte an diesem Tag gut geht. Bist du das?

Ja!, antworte ich dann, bevor ich ins Wohnzimmer gehe. Ja, ich bin’s.

Jedes Mal, wenn ich das Haus meiner Großmutter betrete, sehe ich den Verfall aller Dinge. Die Trockenblumensträuße sind von Spinnweben überzogen, der Schimmel arbeitet sich vom Gewölbekeller, wo er seit Jahrzehnten schon wohnt, über die Außenmauern nach innen vor, und die alten Sektkelche und Kristallglaskaraffen im Wohnzimmer sind seit Jahren erblindet. Der Kampf, den meine Großmutter gegen den Verfall des Hauses und ihren eigenen führt, ist vergeblich. Aber sie führt ihn mit Mut und Entschlossenheit. Wird ihn bis zum Schluss führen. Bis zu ihrem Ende, das schneller kommen wird, als ich wahrhaben will. Bis zu einem Tag im Mai, an dem niemand mehr rufen wird:

Bist du das?

*

Ralf Hilbersen stolperte fast über die niedrige Stufe im Eingang der GBA, der Gesellschaft für Braunkohle. Er war spät dran. Vor dem Spiegel im Fahrstuhl rückte er seine Krawatte gerade und entdeckte dabei die eingetrocknete Tomatensauce auf dem Kragen seines Jacketts. Verdammt! Ausgerechnet heute! Die Kirche in Lossweiler sollte abgerissen werden. Als Leiter der Umsiedlungsabteilung konnte er sich vor einem solchen Termin nicht drücken. Hätte ihm der Fleck nicht früher auffallen können? Er kratzte mit dem Fingernagel daran herum. Evelyn hätte ihn niemals so aus dem Haus gehen lassen. Hilbersen fluchte.

Als der Aufzug im achten und damit obersten Stockwerk ankam, empfing ihn stickige Luft. Es war ungewöhnlich warm für einen Septembertag. Vielleicht könnte er sich erlauben, das Sakko abzulegen. Er war sowieso nicht sicher, ob die rostrote Krawatte zum Anzug und zum Anlass passte. Im Vorzimmer fuchtelte die neue Sekretärin ungeduldig mit den Händen:

„Dr. Wienands wartet in Ihrem Büro. Er hätte bereits vor einer halben Stunde einen Termin mit Ihnen gehabt! Auf Ihrem Handy konnte ich Sie auch nicht erreichen.“

Hilbersen zuckte zusammen. Der Rechtsanwalt! Wie hatte er das vergessen können? Aber seit seine Frau ihn vor acht Wochen vor die Tür gesetzt hatte, weil sie seine unglaubliche Passivität und sein provozierendes Desinteresse an ihr und seiner Karriere nicht mehr ausgehalten hatte, unterliefen ihm ständig Fehler. Er war zerstreut und unkonzentriert.

„Könnten Sie uns einen Kaffee … einen Cappuccino, also zwei Cappuccino reinbringen, Frau Brunowski?“

Die junge, strebsame Sekretärin sah ihn ungeduldig an. „Das habe ich längst gemacht. Ich wollte Dr. Wienands nicht ohne einen Kaffee warten lassen.“

„Danke. Sie denken wirklich an alles.“ Während er seine Aktentasche auf ihrem Schreibtisch öffnete und dabei einen Stapel von Dokumenten zu Fall brachte, überlegte Hilbersen, wie er dem Anwalt der Tagebaugesellschaft seine Verspätung erklären sollte.

„Können Sie nicht aufpassen!“ Frau Brunowski beugte sich zu den Akten hinunter und blieb dabei mit ihrem Blick an seinem Jackettaufschlag hängen.

„Ach ja, der Fleck.“ Er legte das Sakko ab und hielt es ihr hin. „Meinen Sie, Sie könnten versuchen …? Ich muss nachher in Lossweiler vor die Presse treten.“

Die Sekretärin schüttelte missbilligend den Kopf und zog ihre blütenweiße Bluse glatt, bevor sie mit spitzen Fingern nach dem Jackett griff.

„Ihre Gattin hat wohl bislang die Sachen für Sie in die Reinigung gebracht!“

„Ja.“ Er strich über seine Krawatte. „Ja, in der Tat.“

„Ich kann Ihnen gerne eine gute Reinigung empfehlen.“

Hilbersen zögerte. Ihr Tonfall ärgerte ihn. Andererseits war er gerade heute auf ihre Hilfe angewiesen. Er beschloss, diplomatisch zu bleiben.

„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meinen Fauxpas ausnahmsweise ausbügeln könnten.“ Damit drückte er auf die Klinke seiner Bürotür und öffnete sie betont schwungvoll. „Und bringen Sie mir bitte auch einen Cappuccino.“

Dr. Wienands stand am Fenster und beobachtete das Treiben auf dem Marktplatz, wo wie jeden Freitag der Wochenmarkt stattfand.

„Entschuldigen Sie meine Verspätung! Ich bin aufgehalten worden. Ein Bewohner von Neu-Lossweiler, der eine Reklamation hatte.“ Hilbersen eilte hinter seinen Schreibtisch und ließ sich auf den gepolsterten Ledersessel fallen. Wienands knurrte leise. Signalisierte das jetzt Zustimmung oder Unwillen?

„Ich werde es kurz machen.“ Der Anwalt nahm ihm gegenüber an dem schweren Holztisch Platz und rührte heftig in seiner nur noch halb gefüllten Tasse. Der Kaffee schwappte über und durchtränkte die beiden Amaretto-Makrönchen, die Frau Brunowski auf den Rand der Untertasse gelegt hatte.

„Wir müssen den Antrag auf Enteignung für Lossweiler auf den Weg bringen. Oder haben die beiden Herrschaften es sich inzwischen anders überlegt?“

Hilbersen sah sehnsüchtig auf die Makrönchen. Er hatte kein Frühstück gehabt.

„Leider nein. Ich fürchte …“, er dachte an die alte Frau, die ihm vor mehr als zehn Jahren den Krieg erklärt hatte und mit einer unglaublichen Zähigkeit an ihrer Weigerung festhielt, „… uns bleibt nichts anderes übrig als die Behörde einzuschalten.“

„Dann ist das richtig, dass ich in Sachen Frau Charlotte Rinke, geboren am 26.04.1921, wohnhaft Nelkenweg 68 und Herrn Josef Radek, geboren am 27.12.1939, wohnhaft Nelkenweg 70, einen Antrag auf Enteignung stelle?“

Hilbersen zögerte. Obwohl ihm klar war, dass er um ein Verfahren nicht herumkam, fühlte er sich unbehaglich.

„Wir müssen den Antrag jetzt stellen“, insistierte der Anwalt. „Also in meinen Augen ist das einfach nur Altersstarrsinn. Warum bleibt eine 86-Jährige in diesem Geister-Dorf wohnen, bis wir sie rausklagen müssen?“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. „In einem schönen Altersheim hätte sie es viel besser: Nette Gesellschaft, geregelte Mahlzeiten …“

„Frau Rinke hängt an ihrem Haus.“ Hilbersen fühlte sich genervt durch die Allgemeinplätze des Anwalts.

„Wer von uns hängt nicht an irgendwas. Aber es gibt doch einen Punkt, an dem der Verstand einem sagt, dass Schluss ist.“

Hilbersen schwieg und starrte auf die Amarettini, die sich immer mehr aufzulösen schienen.

„Aber die Ratio scheint bei den Herrschaften schon ins Grab vorangegangen zu sein.“ Wienands hatte die Fingerspitzen aneinandergelegt und sah sehr zufrieden mit sich aus.

Hilbersen blickte missmutig auf die Seidenkrawatte des Anwalts. Einen Versuch könnte er ja …

„Warten Sie noch eine Woche mit dem Antrag! Ich werde Frau Rinke und Herrn Radek ein letztes Angebot unterbreiten.“

Der Anwalt zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie mich fragen, ist das völlig sinnlos. Aber des Menschen Wille … Wie oft haben Sie eigentlich schon mit denen geredet? Um Geld geht es ja wohl nicht dabei. Herr Radek mit seinem Anwesen wäre doch regelrecht reich geworden.“

„Um ihn mache ich mir auch keine Sorgen. Der ist einem Enteignungsverfahren gewachsen. Ein zäher Knochen. Ein alter Sturkopf. Aber Frau Rinke … Haben Sie sie mal kennengelernt?“

„Gott bewahre, nein! Eine gesunde Distanz zu persönlichen Schicksalen sollte man in unserem Beruf schon haben.“

„Natürlich.“ Hilbersen lockerte seine Krawatte. Gesunde Distanz. Evelyn hatte ihm oft fehlende Durchsetzungskraft vorgeworfen. Aber so berechnend und kalt wie Wienands hätte er auch nicht sein mögen. Der Rechtsanwalt war mit allen Wassern seines Berufsstandes gewaschen.

„Anders als Sie lerne ich die Bewohner der Dörfer zwangsläufig kennen. Frau Rinke schon vor zwölf Jahren. Ich bin ihr auf so vielen Versammlungen und Protestkundgebungen …“ Er hielt inne, da ihm auffiel, dass Frau Brunowski immer noch nicht mit seinem Cappuccino erschienen war. Sein Verlangen nach einer Tasse Kaffee war groß. Der morgendliche Filterkaffee aus einer beim Auszug auf die Schnelle mitgenommenen, altersschwachen Kaffeemaschine war dünn ausgefallen. Andererseits war sie vielleicht gerade damit beschäftigt, den Fleck aus seinem Jackett zu entfernen. Der Anwalt trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.

„Eine solche Diskrepanz zwischen körperlicher Gebrechlichkeit und Willensstärke ist mir noch nie begegnet, Dr. Wienands. Frau Rinke ist eine beeindruckende alte Dame. Viel zu selbstständig für ein Altenheim.“

„Hat sie keine Familie, zu der sie ziehen könnte?“ Das Trommeln hatte aufgehört.

„Ihre Kinder leben im Ausland, wenn ich richtig informiert bin. Es gibt eine Enkeltochter hier, aber …“

„Na, wer weiß, wie wir im Alter sein werden! Vielleicht sind wir in dreißig Jahren genauso halsstarrig.“ Wienands schien die Diskussion abkürzen zu wollen. Er schaute auf seine Uhr. „Ich muss gleich weiter. Also … warte ich bis Ende nächster Woche mit dem Antrag? Ihre Entscheidung.“

„Ja, warten Sie noch die paar Tage.“

„Gut. Aber danach ist Schluss. Wenn die beiden Herrschaften Rechtsmittel einlegen … wie die Naturschützer … Sie wissen, wie lange sich das hinziehen kann. Ich muss übrigens eine vorzeitige Besitzeinweisung gegen diese Hippies beantragen. Die werden wir jetzt von ihrer Wiesenschaumkrautidylle verjagen. In drei Wochen soll der Bagger …“

„Ja, natürlich, machen Sie das. Stellen Sie meiner Sekretärin einfach die Kopien zu.“ Hilbersen stand auf.

„Mach ich.“ Der Anwalt schlürfte hastig den letzten Schluck Kaffee und erhob sich ebenfalls. Seine kleine, schmächtige Gestalt reichte Hilbersen gerade bis zur Nasenspitze. „Auf Wiedersehen und viel Glück für Ihre …“, er lachte kurz auf und fügte mit sarkastischem Unterton hinzu, „Verhandlungen.“

„Ebenso.“

„Und ein schönes Wochenende.“ Die Schritte des Anwalts wurden von dem weichen Teppich verschluckt, dann schlug die Bürotür hinter ihm zu.

„Ein schönes Wochenende“, murmelte Ralf Hilbersen vor sich hin. Die Makrönchen waren zu einem dunklen Brei aufgeweicht. Mit dem Brieföffner trennte er eine Portion des Keks-Kaffee-Gemisches ab und probierte. Er konnte nicht sagen, was ihn mehr ekelte: Die Konsistenz oder die Tatsache, dass er sich an den von Wienands verschmähten Makrönchen vergriff. So oder so. Er brauchte dringend etwas zu essen. Hilbersen schob die Tasse zur äußersten Ecke des Schreibtischs und öffnete das Fenster zum Marktplatz.

Enteignungsverfahren. Gegen die Naturschützer lief es schon seit zwei Jahren. Aber die hatten die Obstbaumwiesen ganz gezielt gekauft, um Ärger zu machen. Überzeugungstäter. Protest-Profis. Wenn die Polizei sie irgendwann endlich von den Bäumen losgesägt und weggetragen hatte, gingen sie nach Hause zu ihren Familien. Bei Frau Rinke und Herrn Radek war das anders.

Die Kirchturmuhr schlug zwei Mal. Schon halb elf. Immer noch kein Cappuccino. Hilbersen musste los. „Zeigen Sie sich solidarisch“, hatte sein Chef ihm aufgetragen. „Solidarisch, aber sachlich. Das wird auch bei der Presse einen guten Eindruck machen.“ Er beschloss, sich unterwegs ein Brötchen und einen Kaffee zu kaufen.

*

Als Katja und Charlotte am Kirchplatz von Lossweiler ankamen, duftete es bereits nach gebratenen Würstchen. Ein Werbebanner für Das einzig wahre Warsteiner überspannte die Straße, die in diesem Abschnitt gereinigt worden war.

„Soll dat hier ’n Volksfest werden?“, protestierte Charlotte, als Katja ihr aus dem Wagen half. „Sogar Toilettenhäuskes haben die aufgestellt.“ Sie stützte sich auf ihrem Stock ab und ging mühsam ein paar Schritte auf dem festgetretenen Erdreich. Hinter der Absperrung gegenüber dem Kirchenportal hatte bereits eine Menschenmenge Stellung bezogen.

Katja nahm den Protestspruch aus dem Wagen und hakte ihre Großmutter auf der linken Seite unter. „Wo willst du stehen?“

„Wo die Journaille mich auch sieht.“

Charlotte hatte seit Jahren alle Zeitungsberichte gesammelt, in denen über ihren Widerstand gegen die Braunkohle geschrieben worden war. Artikel mit Fotos hingen im Wohnzimmer über dem Sofa. Aber in letzter Zeit war es ruhig geworden. Niemand schien sich mehr für sie und das Verschwinden ihrer Heimat zu interessieren.

Katja führte sie durch einen Pulk Menschen, der unwillig Platz machte. Die Kirchenfenster leuchteten in der Septembersonne. Das Stimmengewirr empörte Charlotte. Die Leute schienen fröhlich zu sein. Sie ließ sich von ihrer Enkeltochter das Protestschild geben und stützte sich zwischen Stock und Besenstiel ab. Wo man Kirchen zerstört, zerstört man am Ende auch Menschen, stand auf der grauen Pappe. Dazwischen Abdrücke von Katzenpfoten. Der erste Fotograf ließ nicht lange auf sich warten.

„Könnten Sie sich damit vor das Portal stellen, mit der Kirche als Hintergrund? Rechts hätte ich dann noch den Abrissbagger im Bild … ja, das ist gut.“

*

Nach zehn Minuten Fotoshooting beobachtete Katja besorgt ihre Großmutter, die auf immer wackligeren Beinen neben ihr stand.

„Soll ich nicht den Rollator aus dem Auto holen? Dann könntest du dich zwischendurch hinsetzen.“

Charlotte schüttelte energisch den Lockenkopf. Ihr Haarband hatte sich gelöst und hing nun schräg zwischen Ohren und Kragen. Wieder hustete sie. Katja nahm sich vor, endlich mit ihr zu einem Spezialisten zu gehen.

„Möchtest du was trinken? Ich kauf uns eine Flasche Sprudel. Dass die Fotografen dich so durch die Gegend scheuchen müssen …“

„Bleib lieber hier. Ich glaub, die fangen gleich an.“

Katja warf einen Blick auf das Abrissgelände. Tatsächlich, da tat sich was. Ein Mann im orangefarbenen Anzug kletterte in das Führerhaus des Abrissbaggers und beobachtete von oben, wie die Feuerwehr sich mit Wasserschläuchen im richtigen Winkel zum Kirchturm positionierte. Letzte Presseleute wurden hinter die Absperrung gescheucht, und die Polizei fuhr noch einmal im Schritttempo um den Kirchhof. Katja fühlte den Blick eines jungen Mannes auf sich ruhen, der ihr schon während der Presseaktion mit Charlotte aufgefallen war. Wiederholt hatte er zu ihr herübergesehen. Wer war das? Sie hatte ihn vorher noch nie wahrgenommen. Weder in den Dörfern noch bei den Veranstaltungen der Braunkohle. Unsicher erwiderte sie sein Lächeln. Wie dunkel seine Augen waren. Noch dunkler als ihre. Vielleicht wirkten sie auch nur im Kontrast zu seinem strahlend weißen, weit geschnittenen Hemd so dunkel. Solche Hemden trug hier niemand sonst.

„Kennst du den Mann da drüben?“, fragte sie ihre Großmutter. „Ist das jemand vom Umsiedlungskomitee?“

Charlotte warf nur einen kurzen Blick auf den Fremden. „Nee, kenn ich nich’. Wenn er zu denen gehört, will ich ihn auch gar nich’ kennen.“

„Schon gut.“ Katja seufzte. „Aber der da scheint dich zu kennen.“

„Guten Morgen, Frau Rinke. Schön, Sie wiederzusehen!“

Ein großer Mann im Anzug kam mit schwerem, ein wenig linkischen Gang auf die beiden Frauen zu. Charlotte ignorierte die ausgestreckte Hand und richtete ihren Blick fest auf die Kirche. Katja sah ihn entschuldigend an.

„Sie fühlt sich nicht wohl, wissen Sie … der Abriss …“

„Natürlich. Ich verstehe.“ Er drückte ihre Hand. „Und Sie sind Frau … helfen Sie mir, bitte.“

„Katja Vohsen. Die Enkeltochter von Frau Rinke.“

„Richtig, die Enkeltochter. Ralf Hilbersen, sehr erfreut. Auch wenn es angenehmere Anlässe gibt …“

„Das ist wahr. Leben Sie auch in …?“

„Pah!“ Charlotte unterbrach ihre Enkeltochter. Aus ihrem blassen Gesicht stachen rot die Äderchen hervor und ihre Hand zitterte, als sie mit dem Stock auf den Boden pochte.

„Der is’ vonner Braunkohle. Dat is’ ein starkes Stück, dass Sie die Chuzpe haben, hier aufzutauchen. Macht Ihnen das Spaß, zuzugucken, wie wir unsre Kirche verlieren?“

Hilbersen schaute zu Boden. „Es macht mir keinen Spaß, verehrte Frau Rinke. Das müssen Sie mir bitte glauben. Aber ich sehe es als meine Pflicht an, die Bewohner an einem so schweren Tag zu begleiten. Die GBA ist solidarisch. Wir stehen in einer besonderen Verantwortung. Wir wissen, dass es Dinge gibt, die man nicht ersetzen kann.“

„Ihr Mitgefühl können Sie sich sparen.“ Charlottes Stimme wurde immer heiserer. „Und von einem Dünnbrettbohrer wie Ihnen brauch ich auch nicht Verehrte genannt zu werden.“

„Aber Omi! Nun sei doch nicht so unfreundlich. Herr Hilbersen tut nur seine Pflicht.“

„Jau, das haben sie damals auch gesagt. Wir sind in den Krieg gezogen? Das war doch unsre Pflicht. Wir haben die Juden umgebracht? Aber das war unsre Pflicht. Pflicht!!! Da krich ich die Pimpernellen!“

Katja war erleichtert, als der Baggerführer jetzt den Motor startete und der Lärm das Gespräch beendete. Sie warf einen raschen Seitenblick zu dem Mann im weißen Hemd, aber er schaute auf das Kirchengebäude. Herr Hilbersen beugte sich zu ihrem Ohr hinunter.

„Ich lasse Sie wohl besser allein mit Ihrer Großmutter.“ Mit einer angedeuteten Verbeugung verschwand er in der Menschenmenge. Charlottes Hände zitterten immer noch. Katja hätte gern einen Arm um sie gelegt, aber ihr war klar, dass man Charlotte jetzt weder trösten noch besänftigen konnte.

*

Zwei Mal wehrte sich der Kirchturm gegen den Stoß des Abrissbaggers. Beim dritten Mal fiel er. Wie in Zeitlupe drehte er sich im Fall, krachte mit der Spitze in eines der Buntglasfenster der Westseite und stürzte zu Boden. Eine riesige Staubwolke nahm Charlotte den Blick auf die Trümmer.

So schnell geht das, dachte sie bitter. Rubbeldiekatz, weg ist er.

Die Feuerwehr richtete ihren Wasserstrahl gegen die zerborstenen Dachschindeln, bis die Sicht wieder klarer wurde. Der Turm war beim Aufprall auf den Boden in zwei Teile zerbrochen. An der Bruchstelle ragte das nackte Holzgerüst, von den Ziegeln nur noch unzureichend bedeckt, in die Luft.

Wie ein Skelett. Charlotte wurde schwindelig. Katja sagte etwas zu ihr, das sie im Lärm der Maschinen und Menschen nicht verstand.

Der riesige Greifarm des Abrissgeräts öffnete sich erneut und machte sich an der oben entstandenen Öffnung der Kirche zu schaffen. Trümmer und Staub rieselten herab, wurden sofort vom Wasser aus den Feuerwehrschläuchen durchtränkt.

Wie ein riesiges Tier, das Steine und Erinnerungen frisst. Charlottes Körper fühlte sich taub an. Vergeblich suchte sie nach einem Gefühl von Schmerz. Nichts. Nicht mal eine Gänsehaut.

Jetzt fiel das große Fenster mit dem Heiligen Antonius zu Boden. Sie zuckte zusammen. Nur die Glasrosette über dem Portal war vor dem Abriss ausgebaut worden, um sie in der Kapelle in Neu-Lossweiler wieder einzusetzen.

Charlotte schloss die Augen. Plötzlich bedrängten sie Erinnerungen. Erinnerungen an das Licht, das bei Peters Beerdigung durch das Fenster des Heiligen Antonius gefallen war. Erinnerungen an Gebete und Gesänge, an einen Kindersarg. Sie öffnete die Augen wieder. Aber der Gedanke an ihren Sohn ließ sich nicht mehr verdrängen. Peter war fünf Jahre alt gewesen. Wie alle Kinder in der Nachkriegszeit spielte er mit seinem älteren Bruder auf den Feldern und Wiesen. Immer wieder fanden die Kinder dort Waffen und Granaten. Manchmal auch Bomben. Doch fast immer ging es gut. Bis Peter die Brandbombe im Feld entdeckte. Charlotte hatte gerade Kartoffeln abgießen wollen, als eine Explosion und Kindergeschrei sie aufschreckten. Peters großer Bruder kam ihr schon im Hof entgegen. Sie sah sein Gesicht und begriff sofort.

Hier auf dem Friedhof neben der Kirche hatte sie Peter begraben. Vor fast einem halben Jahrhundert. Nichts war von ihm übriggeblieben, als das Grab bei der Umbettung geöffnet wurde. Nicht mal Knochenreste, die sie zusammen mit Ludwigs Sarg auf den Friedhof in Neu-Lossweiler hätte bringen können.

Charlotte nahm nur noch verschwommen wahr, wie der Trümmerberg auf dem Kirchhof wuchs. Als ob sie nicht genug Trümmer in ihrem Leben gesehen hätte. Sie spürte einen stechenden Schmerz auf der Haut. Wie damals, als sie versucht hatte, mit ihrer Schürze den brennenden Phosphor auf Peters Körper zu löschen. Er hatte noch gelebt, als sie zu ihm kam. Sie kannte die Schreie von Verwundeten, hatte während des Krieges eine Zeitlang im Lazarett gearbeitet. Aber die Schreie des eigenen Kindes … Charlotte hielt sich die Ohren zu. Das Lärmen des Baggers schien sie zu verhöhnen. Dazu der Chor … der Chor stimmte das Sanctus an, der Sarg wurde mit Weihrauch gesegnet und der Pfarrer erstickte mit dem glockenförmigen Kerzenlöscher das Ewige Licht.

Das konnte doch nicht … Charlotte blinzelte. Der mit Lilien geschmückte Kindersarg stand zwischen den Trümmern der Kirche. Daneben Ludwig. Ihr Mann legte eine Hand auf das weiß getünchte Holz.

„Du bist schon lange tot“, wollte Charlotte sagen, aber Ludwig lächelte ihr zu. War sie auch tot? Wie strahlend weiß sich die Lilien vom Schutt abhoben! Wie aus weiter Entfernung hörte sie Katjas Stimme. Ihre Enkeltochter rief ihren Namen, lauter und lauter. Warum schrie sie? Und warum griff niemand ein, als Steinbrocken und Staub auf Peters Sarg fielen! Charlotte machte einen Schritt auf die Kirche zu und fiel.

*

Gleichzeitig mit mir beugt er sich über meine Großmutter, sein Gesicht berührt fast das meine. Seine Finger fühlen nach dem Puls an Charlottes welkem Hals.

Gleichmäßig, nur ein bisschen schnell, sagt er, wir sollten sie in den Schatten bringen. Er schiebt seine Arme unter ihren schmalen Körper.

Die ersten Presseleute werden aufmerksam, als er sie mühelos hochhebt, sie wie ein Kind durch die Menge trägt. Die Menschen starren und lassen uns kaum durch, die Kameras sind wieder auf Charlotte gerichtet.

Machen Sie doch bitte mal Platz, rufe ich. Sein weißes Hemd leuchtet makellos in der Septembersonne, nur die Ärmel haben jetzt erdige Flecken. Unter einem Baum, abseits der Menschen, legt er sie nieder.

Hier ist es kühler, sagt er, hier ist die Luft besser.

Ja, antworte ich staunend. Staunend über das Gefühl von Freude, das der Fremde in mir auslöst. Er riecht gut, nicht nach einem Aftershave oder Eau de Cologne, er riecht, wie seine Stimme klingt – warm und rau, leicht würzig. Sein Geruch erinnert mich an frisch gemahlenen Zimt.

Herr Hilbersen tritt zu uns, schaut besorgt. Er fingert sein Handy aus der Jackettasche. Ich werde einen Krankenwagen rufen, sagt er. Da öffnet Charlotte die Augen und stöhnt.

Warten Sie, es ist nur ihr Kreislauf. Ich halte Hilbersen am Unterarm fest, er soll nicht telefonieren. Ich kenne Charlotte, sie will nicht ins Krankenhaus.

Ich habe etwas zu trinken im Auto, sagt die Stimme des Fremden, sie scheint mir jetzt schon vertraut, der Klang bringt mich zum Lächeln. Doch ich will meine Freude nicht zeigen, ich knie mich neben Charlotte ins Gras.

Wie fühlst du dich? Ich ziehe das rote Band aus ihren Haaren, als könne sie dann besser atmen. Schon will sie sich aufsetzen, sie bleibt nie lang am Boden, und ich lege ihr einen Arm um die Schulter zur Unterstützung. Herr Hilbersen schaut skeptisch.

Es könnte aber auch ein Schlaganfall sein, sagt er, wir sollten auf jeden Fall einen Krankenwagen …

Nicht ins Krankenhaus, flüstert Charlotte, sie kneift mir in den Arm.

Ich beruhige sie, ich verspreche ihr, kein Krankenhaus! Der Fremde kommt mit Wasser und einer Decke zurück. Da sind kleine Sprenkel in seinen dunklen Augen, stelle ich fest, als er mir die Flasche reicht. Er schiebt die Decke zwischen meine Großmutter und den Baumstamm, er schaut zu Herrn Hilbersen hoch.

Ich kümmere mich, sagt er. Dann nicken beide.

Charlotte trinkt in großen, hastigen Schlucken, ich halte sie fest und schaue dabei in seine Augen. Die Sprenkel darin sind hell, beige vielleicht, vielleicht auch goldfarben.

Jens Mahnke, stellt er sich vor. Er reicht mir über die Beine meiner Großmutter hinweg eine Hand.

Katja, sage ich und warte einen Augenblick zu lang mit meinem Nachnamen, Katja Vohsen.

Jens lächelt, er sieht mich forschend an, in seinen Augen scheint es zu funkeln, zu sprühen, er nimmt den Blick nicht mehr von mir. Meine Wangen glühen.

Es ist wirklich heiß für einen Septembertag, murmele ich, dann schaue ich Charlotte wieder an, die immer noch trinkt.

Der Lärm der Baustelle verstummt, wie auf Kommando schauen wir alle drei zur Kirche hinüber, aber die Menschen versperren uns die Sicht. Am Rand steht Herr Hilbersen vor Presseleuten.

Schon fertig?, fragt Charlotte. Sie gießt sich etwas Wasser in die Handfläche, reibt sich damit übers Gesicht. So schnell geht das, sagt sie mit ihrer krächzenden Stimme, rubbeldekatz, ganze Kirche fort.

Jens nimmt diesmal Charlottes Handgelenk, sieht auf seine Armbanduhr, zählt, ich frage ihn, ob er Arzt sei. Er schüttelt den Kopf und zählt weiter.

Entschuldigung, ich wollte nicht stören. Ich stehe auf und laufe ein Stück nach vorne. Noch ist die Kirche nicht ganz verschwunden, da steht noch ein Rest. Mit den unregelmäßigen Bruchrändern sieht sie wie abgeschmolzen aus. Ich werfe einen verstohlenen Blick auf den Mann bei meiner Großmutter, was soll diese Freude? Das ist ein fremder, viel jüngerer Mann, der so nett ist, deiner Großmutter zu helfen, rufe ich mich zur Ordnung. Aber als ich zurückgehe zu den beiden, stelle ich mich neben ihn. Nah. So nah, dass der Stoff meiner Hose sein Hemd berührt.

Charlotte versucht aufzustehen, ihre Finger suchen in der aufgebrochenen Rinde des Eichenbaums nach Halt, ihre Beine tragen sie kaum, sie schwankt. Jens legt ihr einen Arm um den Oberkörper, er hält sie leicht und sicher, fast sieht es aus, als würden ihre Füße den Boden nicht mehr berühren.

Ich bringe Sie nach Hause, sagt er.

*

„Hab ich doch gerne getan“, sagte der junge Mann. Charlotte ließ sich mit einem erleichterten Seufzen in den Ohrensessel sinken und atmete tief durch. Im Haus war es kühl und ruhig. Jeshim strich ihr zur Begrüßung um die Beine. Während sie seinen Rücken streichelte, ließ auch das verdammte Herzklopfen endlich nach. Das Bild von Peters Sarg in den Kirchentrümmern verblasste allmählich.

„Trotzdem“, sagte sie, „das war nicht selbstverständlich. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich ins Krankenhaus …“ Ein Hustenanfall unterbrach sie. Ihr Helfer musterte sie besorgt.

„Wollen Sie sich nicht lieber etwas hinlegen?“

„Nein, danke. Hier zu Hause … es geht mir schon viel besser, Herr …“ Wie war noch sein Name gewesen? Als er sich ihrer Enkeltochter vorgestellt hatte, war das Rauschen in ihrem Kopf noch zu stark gewesen. Aber der junge Mann schien die indirekte Frage nach seinem Namen überhört zu haben. Im Flur klapperte etwas, dann kam Katja eilig ins Wohnzimmer.

„So, jetzt habe ich alles. Vielen Dank, Herr Mahnke.“ Sie reichte ihm den Autoschlüssel. „Ich glaube, wir kommen hier allein zurecht. Willst du dich nicht hinlegen, Omi?“

„Das habe ich ihr auch schon vorgeschlagen. Aber …“, er hielt ihre Hand mit dem Schlüssel immer noch fest, „… sagen Sie doch bitte Jens zu mir!“

Charlotte horchte auf. Die Stimmen der beiden … Also wenn sie nicht alles täuschte … Und wie Katjas Augen auf einmal leuchteten. Dieser Jens Mahnke durfte auf keinen Fall sofort wieder gehen.

„Können wir Ihnen ’nen Kaffee kredenzen?“ Charlotte zwinkerte ihrer Enkelin zu, die jetzt vor ihr hockte, um ihr aus den Schuhen zu helfen. „Ich hab noch Marmorkuchen im Kabäusken.“ Katja schien den Wink falsch zu verstehen.

„Was hast du denn heute gegessen, Omi? Wie ich dich kenne, allenfalls eine Scheibe Brot zum Frühstück.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hatte keinen Appetit.“ Erneut sah sie Katja schelmisch an und machte eine verstohlene Kopfbewegung zu ihrem Begleiter hin.

„Du musst aber essen. Kein Wunder, dass dir schlecht geworden ist“, schimpfte Katja.

Mein Gott war das Kind schwer von Begriff!

„Deswegen werden wir jetzt Kuchen essen. Wir alle drei!“

Der junge Mann im schmutzigen weißen Hemd stand immer noch unschlüssig im Wohnzimmer. Die Sonne brachte den Staub in der Luft zum Funkeln und Charlotte fiel auf, dass Möbel und Trockenblumen mit einer grauen Schicht überzogen waren. Unangenehm, aber jetzt nicht mehr zu ändern.

„Sie werden doch ’ner alten Frau nich’ den Wunsch ausschlagen, ihr ein halbes Stündken Gesellschaft zu leisten?“

Herr Mahnke nahm seinen Blick von Katjas Händen, die eine Wolldecke um Charlottes Beine gewickelt und unter ihren Füßen eingeschlagen hatten.

„Vielleicht sollten Sie sich besser ausruhen.“ Er schien zu zögern.

„Nur ’ne halbe Stunde! Und bevor Sie nein sagen, in meinem Alter könnte jeder Wunsch der letzte sein.“

„Aber Frau Rinke!“ Er lachte und sah fragend zu Katja hinüber. „Ihr Ruf als Kämpferin eilt Ihnen voraus. Die Frau, die ihr Haus nicht verlässt …“

„Vielen Dank, sehr schmeichelhaft, aber … diese Mauern sehen nich’ mehr oft ’nen schönen Mann wie Sie. Machen Sie ’ner Alschen doch die Freude und bleiben auf ’n Käffken.“

„Nun lass ihn doch gehen. Er hat uns schon so viel Zeit geopfert.“

Charlotte war nicht sicher, ob Katjas erhitztes Gesicht von der Wärme, ihrer gebückten Haltung oder von Verlegenheit herrührte.

„Ist schon in Ordnung.“ Jens ließ seinen Autoschlüssel in der Jeans verschwinden. „Sie haben wirklich eine außergewöhnliche Großmutter. Und wenn es keine Umstände macht, trinke ich gerne noch eine Tasse Kaffee mit.“

Katja stand auf. „Es macht keine Umstände. Ich muss meiner Großmutter sowieso etwas zu essen machen.“ Sie wischte sich eine Locke aus der verschwitzten Stirn und sah Charlotte missbilligend an. „Aber wenn du in Zukunft nicht für dich sorgen kannst und mir vor Hunger aus den Latschen kippst, muss ich einen Pflegedienst beauftragen. Ich kann nicht jeden Tag bei dir vorbeikommen. Robert ist schon sauer, dass ich so viel Zeit bei dir verbringe.“

„Ach, Robert! Ich hab nie kapiert, warum du diesen Besserwisser geheiratet hast.“

„Nun lenk nicht ab, ich mache mir Sorgen um dich.“

„Mir war nich’ kodderig, weil ich zu wenig gegessen hatte. Ich hab Peter in den Trümmern gesehen.“ Charlotte brachte den letzten Satz nur widerwillig hervor. Aber bevor Katja wirklich einen Pflegedienst in Alarmbereitschaft versetzte … Der Gesichtsausdruck ihrer Enkeltochter wechselte von Ärger zu Bestürzung. „Keine Sorge, ich bin nich’ meschugge geworden, falls du das denkst. War nur ’ne Erinnerung.“

Jens ließ sich vorsichtig auf dem Sofa nieder und sah fragend zwischen Großmutter und Enkeltochter hin und her.

„Peter war ein Bruder meines Vaters“, erklärte Katja. „Er starb als Kind bei einem Unfall kurz nach dem Krieg. Aber jetzt … gehe ich erst mal Kaffee kochen. Und dir“, sie deutete auf Charlotte, „mache ich eine Suppe warm.“

*

Während Katja durchs Esszimmer Richtung Küche ging, spürte sie Jens’ Blicke auf ihrem Rücken. Charlottes Bett war wie immer nicht gemacht und der Bademantel hing quer über einem Stuhl bis auf den Boden hinunter. Sie schüttelte Kopfkissen und Decke auf und legte den Bademantel ans Fußende. Ihre Großmutter schlief im Esszimmer, seit sie die Treppe in den ersten Stock nicht mehr bewältigen konnte.

Peter! Wie lange hatte Charlotte ihren zweiten Sohn nicht mehr erwähnt. Sie sprach nie über seinen Tod. Genauso wenig wie Katjas Eltern über den Tod ihres Sohnes reden wollten. Ihr kleiner Bruder Bernd war beim Schwimmen ertrunken.

„Entschuldigung. Ich wollte nicht an schmerzhafte Dinge rühren“, hörte sie Jens’ raue Stimme aus dem Wohnzimmer. Sie öffnete den Küchenschrank leise, um das Gespräch im Hintergrund nicht zu verpassen.

„Ach, Unsinn, papperlapapp. Das ist mehr als sechzig Jahre her.“

Einen Augenblick schwiegen beide. Katja füllte Wasser in die Kaffeemaschine und spülte die Kanne aus.

„Und was machen Sie hier in Lossweiler? Ich mein beruflich? Wenn ich Sie so kallen hör, sind Sie nicht grade mit einem Bauern aus der Gegend verwandt!“

„Nein.“ Er lachte. „Ich habe tatsächlich keine Verwandtschaft hier. Aber ich arbeite seit Anfang des Monats für die GBA.“ Katja fiel die Dose mit dem Kaffeemehl aus der Hand.

„Sie gehören zu den Braunkohleleuten?“ Die Stimme ihrer Großmutter klang plötzlich heiser.

„Ich bin Geologe. Ich kümmere mich um die Wasserwirtschaft nach der Rekultivierung.“

Im Wohnzimmer wurde es still. Während Katja das verschüttete Kaffeemehl auf der Arbeitsplatte zusammenschob und nach kurzem Zögern von ihrer Handfläche zurück in die Dose fallen ließ, wartete sie auf ein Donnerwetter. Aber Charlotte schwieg beharrlich. Jens räusperte sich.

„Mir ist klar, dass Sie auf Mitarbeiter der Gesellschaft nicht gut zu sprechen sind. Darf ich trotzdem zum Kaffee bleiben?“

Wieder folgte ein langes Schweigen. Katja ging hastig zurück ins Wohnzimmer und nahm Tassen und Teller aus dem Schrank. „Natürlich bleiben Sie.“ Sie stellte das Geschirr energisch auf den Tisch. Ihre Großmutter grinste.

„Na, Sie sind mir vielleicht ’n Bischek. Machen einen auf lieb Kind und gehören in Wirklichkeit zur feindlichen Front.“

„Ich weiß zwar nicht, was ein Bischek ist“, Jens saß auf der vordersten Kante des Sofas und fuhr mit dem Zeigefinger das in den Bezug geprägte Blumenmuster nach, „aber ich fürchte, es ist keine allzu schmeichelhafte Bezeichnung?“

Jetzt lachte Charlotte lauthals, was in einem Hustenanfall mündete. Katja antwortete an ihrer Stelle.

„Bischek ist eine liebevolle“, sie stockte und drohte schon wieder zu erröten, „eine durchaus Sympathie bekundende Bezeichnung für ein Schlitzohr. Altes Ruhrgebietsplatt.“

„Sie kommen ursprünglich aus dem Ruhrgebiet?“

„Nein, nein. Ich nicht. Aber meine Großmutter.“

„Jau, ich bin in Bochum aufgewachsen.“ Charlottes Atem hatte sich wieder beruhigt. „Aber dann kam der Krieg und Churchill ließ dat Ruhrgebiet bombardieren. Da ham’ se mich ’43 hier aufs Land geschickt. Und da bin ich geblieben.“

„Und Ihre Familie? Ihre Eltern?“

Charlotte winkte unwillig ab. „Da woll’n wir jetzt nich’ drüber reden. Die alten Geschichten. Wo sind Sie denn auffe Welt gekommen, Herr Mahnke? Wird dort kein Platt gesprochen?“

„Geboren und zur Schule gegangen bin ich in Bremen. Aber die letzten Jahre habe ich in Süddeutschland gelebt. Meine Frau kommt aus Augsburg.“

„Sie sind wegen der Arbeit hergezogen?“ Katja spielte mit ihrem Ehering.

„Nicht nur. Ich …“ Er wich ihrem Blick aus und schien sich das Blumenmuster der Tassen einzuprägen. „Ich hielt es auch für besser, nicht länger im Haus von Emilies Eltern zu wohnen. Es gab … einige Konflikte.“

Das kenne ich nur zu gut, dachte Katja, der ihre Schwiegermutter in den Sinn kam. Laut sagte sie:

„Das bleibt wohl immer schwierig, wenn Eltern und Kinder mit ihren Ehepartnern unter einem Dach leben.“ In der Küche fauchte die Kaffeemaschine. „Ich hol uns dann mal den Kaffee.“

*

Die ganze Zeit während unseres improvisierten Kaffeetrinkens mit staubtrockenem Marmorkuchen für Jens und Hühnersuppe für Charlotte bin ich irritiert über die Blicke, die meine Großmutter mir zuwirft. Denn wenngleich sie von ihrem Haus erzählt und von den aufregenden Jahren, die sie hier nach ihrer Heirat in Ludwigs wohlhabender Familie verlebt hat, schwingt in ihrer Stimme etwas Sinnliches, beinahe Anzügliches mit; schaut sie mich zwischendurch mit funkelnden Augen und einem verstohlenen Lächeln an.

Und als sie berichtet, wie sie in der Nachkriegszeit morgens den Ofen mit einer alten Zeitung und Kienspan, dann mit Holzscheiten entzündet hat, um danach die von durchfahrenden Güterzügen herabgefallenen und von den Kindern aufgesammelten Kohlen hineinzulegen, sagt mir ihr Zwinkern, dass es auch viel angenehmere Arten gibt, ein Feuer zu entfachen.

Wenn sie von den Nachmittagen mit ihren Freundinnen spricht, die sich Wasserwellen legten und beim Getreidekaffee mit ihren Eheringen pendelten, ob der Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurückkäme oder nicht, flüstert ihr schmaler Mund in dem eingefallenen Gesicht mir eine Geschichte von Liebe und Sehnsucht zu.

Und wenn sie von dem Stück Fallschirmseide schwärmt, das sie auf dem Schwarzmarkt ergattert hat und aus dem sie sich ein sündhaft knappes Hemdchen für ihre zweite Hochzeitsnacht, die eigentlich ihre erste war, genäht hat, kräuseln sich alle Fältchen in ihrem Gesicht vergnügt und geben mir zu verstehen, dass die Sinnlichkeit das größte Fest von allen ist.

Wie kann eine zweite Hochzeitsnacht die erste sein, fragt Jens, der still geworden ist über seinen Kuchenkrümeln und Charlottes Erzählungen. Seine Blicke gehen zwischen meiner Großmutter und mir hin und her, seine Augen scheinen zu lächeln. Oder bin ich es, die lächelt?

Meine erste Ehe habe ich im Krieg per Ferntrauung geschlossen, er ist gleich danach gefallen. Charlotte schlürft entschlossen an ihrem Kaffee, sie will nicht darüber sprechen, sie wird kurz angebunden. Sie stochert in ihrem Kuchen und gibt zu verstehen, dass das Thema jetzt beendet sei. Jens sieht mich an und zieht fragend die Augenbrauen hoch.

Das tut mir leid, sagt er. Seine Stimme füllt den Raum aus, warm und dunkel, obwohl er so leise spricht. Er schiebt mit der Kuchengabel die letzten Krümel auf dem Teller zusammen, sorgfältig, als seien sie eine Delikatesse. Ich biete ihm ein zweites Stück an, aber da schaut er auf seine Uhr, schüttelt den Kopf.

Ich muss nach Hause, sagt er, ich will Lena nicht zu lange mit meiner Frau alleinlassen.

Lena?

Meine Tochter. Sie ist erst drei und sie hat …

Er spricht nicht zu Ende, erhebt sich stattdessen und fragt, ob er mich noch zu meinem Auto mitnehmen könne.

Ich komm allein zurecht, wirft Charlotte ein, geh du man mit dem netten jungen Herrn.

Und so gehe ich nach ein paar hastig abgeräumten Tassen und Tellern hinter ihm her zum Auto, verwirrt von den Geschichten meiner Großmutter über Fallschirmseide und verwandelt von meinen Gefühlen für einen fremden Mann.

Wir schweigen, während er mir die Wagentür öffnet. Er wartet, bis ich eingestiegen bin, schließt die Tür dann leise, fast behutsam.

Eine beeindruckende Frau, Ihre Großmutter, sagt er, als er neben mir sitzt. Die Luft im Wagen ist stickig und heiß, ich warte, bis er den Motor gestartet hat, fahre das Fenster hinunter, endlich. Aber der Schweiß steht mir schon wieder auf dem Körper, der Kragen meiner Bluse klebt in meinem Nacken, das Etikett in der Seitennaht kratzt plötzlich auf meiner Haut. Das hat es noch nie getan, dabei habe ich diese Bluse schon so oft getragen. Ich schaue aus dem Fenster, Staub steigt mir in die Nase, ich muss niesen.

Gesundheit, sagt Jens und, wohnen Sie in der Nähe?

Ich fahre das Fenster wieder hoch.

In Mahrenbach.

Ich möchte den obersten Knopf meiner Bluse öffnen, vielleicht auch noch einen weiteren, ich würde gern alles von mir werfen. Mach dich nicht lächerlich, denke ich. Und da ist wieder seine Stimme, Raspelstimme, Zimtstimme.

Mahrenbach, sagt er, da wohnen wir jetzt auch. Vielleicht können Sie mir sagen, ob …

Wieder spricht er nicht zu Ende. Ich verstehe dieses Zögern nicht, aber ich dringe nicht in ihn, die Bäume am Kirchplatz ragen jetzt verloren vor uns in die Landschaft.

Schon gut, sagt Jens, wir sind da.

Von der Kirche steht nur noch das Fundament. Drumherum Aufräumarbeiten.

Da vorn, der weiße Renault.

Ich deute auf meinen Wagen. Ich bleibe noch einen Augenblick sitzen, als er angehalten hat, wir starren beide auf die Reste der Kirche.

Danke, sage ich schließlich und reibe meine Handfläche über den Stoff meiner Jeans, dann gebe ich ihm die Hand. Sie scheint mir immer noch feucht und klebrig, aber er hält sie fest, lange Zeit, und wartet, bis ich seinen Blick erwidere, dann lächelt er.

Es war schön, Sie kennenzulernen.

Wie eine Flüchtende greife ich nach dem Türgriff, reiße die Beifahrertür weit auf, tauche ab in die kühlere Luft draußen. Ich finde es auch schön, denke ich.

Als er gefahren ist, stehe ich unschlüssig neben meinem Wagen. Ich will jetzt nicht nach Hause, ich will auch nicht zurück zu Charlotte. Ich beobachte eine Weile die Arbeiter, die Trümmer und Schutt in Container verladen. Langsam gehe ich um die Absperrung herum. Die unregelmäßig gezackte Kante des Fundaments gibt aus jedem Blickwinkel neue Formen preis. Eine alte Lust am Sehen packt mich, in meinen Fingern kribbelt es. Ob ich noch zeichnen kann?

Ich laufe eine zweite Runde um die Reste der Kirche, habe Jens’ Gesicht vor Augen und seine Stimme im Ohr. Dann weiß ich, was ich will. Zurück in meinem Wagen lasse ich alle Fenster hinunter und ignoriere den Staub, der bald in meinen Haaren hängt, bald auf meinem Gesicht und meiner Bluse haftet. Es ist drei Uhr am Nachmittag und ich werde jetzt nicht nach Hause fahren.

*