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Grundwissen Soziale Arbeit

Herausgegeben von Rudolf Bieker

 

Band 23

Carola Kuhlmann, Hildegard Mogge-Grotjahn, Hans-Jürgen Balz

Soziale Inklusion

Theorien, Methoden, Kontroversen

Mit einem Gastbeitrag von Christina Reichenbach

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

978-3-17-030807-7

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-030808-4

epub:   ISBN 978-3-17-030809-1

mobi:   ISBN 978-3-17-030810-7

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Vorwort des Herausgebers

Mit dem so genannten „Bologna-Prozess“ galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin „berufliche Handlungsfähigkeit“ zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.

Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.

Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor/innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese(r)-freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.

 

Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln

Inhaltsverzeichnis

  1. 1 Einführung
  2. 1.1 Die Begriffe Inklusion und Exklusion
  3. 1.2 Die Indizes für Inklusion
  4. 1.3 Die Bedeutung von Menschenbildern
  5. 1.4 Aufbau und Zielsetzung des Lehrbuchs
  6. 2 Meta-Theorien
  7. 2.1 Niklas Luhmann: Inklusion als Befreiung von Integration
  8. 2.1.1 Menschen- und Gesellschaftsbild
  9. 2.1.2 Autopoiesis und Kommunikation
  10. 2.1.3 Die Entstehung gesellschaftlicher Funktionssysteme
  11. 2.1.4 Binäre Codes und unangepasste Evolution
  12. 2.1.5 Bezug zur Inklusion
  13. 2.1.6 Exklusion als Unmöglichkeit oder Endzustand?
  14. 2.1.7 Ausgewählte kritische Positionen zu Luhmann
  15. 2.2 Michel Foucault: Inklusion als Einschränkung der Freiheit in der inkludierenden Exklusion
  16. 2.2.1 Menschen- und Gesellschaftsbild
  17. 2.2.2 Genealogie der Diskurse
  18. 2.2.3 Disziplinargesellschaft und Normalisierungsmacht
  19. 2.2.4 Regierung der Bevölkerung
  20. 2.2.5 Bezug zur Inklusion
  21. 2.2.6 Ausgewählte kritische Positionen zu Foucault
  22. 2.3 Pierre Bourdieu: Inklusion als Ressourcenvermittlung
  23. 2.3.1 Menschen- und Gesellschaftsbild
  24. 2.3.2 Ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital
  25. 2.3.3 Bezug zur Inklusion I: Sozialräumliche Exklusionen durch Armut
  26. 2.3.4 Die rechte und die linke Hand des Staates
  27. 2.3.5 Bezug zur Inklusion II: Die intern Ausgegrenzten der Schule
  28. 2.3.6 Ausgewählte kritische Positionen zu Bourdieu
  29. 2.4 Martha Nussbaum: Inklusion als Befähigung
  30. 2.4.1 Menschen- und Gesellschaftsbild
  31. 2.4.2 Fähigkeiten und angeborenes Vermögen
  32. 2.4.3 Geschlechterfragen
  33. 2.4.4 Bedeutung des Nationalstaates und Gerechtigkeitsfragen
  34. 2.4.5 Politische Emotionen und Liberalismus
  35. 2.4.6 Bezug zur Inklusion
  36. 2.4.7 Ausgewählte kritische Positionen zu Nussbaum
  37. 2.5 Norbert Elias: Inklusion als Figuration
  38. 2.5.1 Menschen- und Gesellschaftsbild
  39. 2.5.2 Soziogenese und Psychogenese
  40. 2.5.3 Gesellschaften als Figurationen
  41. 2.5.4 Der Persönlichkeitstyp des Homo Clausus
  42. 2.5.5 Bezug zur Inklusion
  43. 2.5.6 Ausgewählte kritische Positionen zu Elias
  44. 2.6 Hinweis zu weiteren relevanten Theorien: Stigma und Anerkennung
  45. 3 Bedeutung der Meta-Theorien für die Inklusionsdebatte in der Sozialen Arbeit
  46. 3.1 Soziale Arbeit als Exklusionsvermeidung und Integrations-/Inklusionsvermittlung (nach Niklas Luhmann)
  47. 3.2 Neosoziale Arbeit als Normalisierung und Aktivierung (nach Michel Foucault)
  48. 3.3 Soziale Arbeit als linke Hand des Staates und ihre widersprüchlichen Aufgaben (nach Pierre Bourdieu)
  49. 3.4 Soziale Arbeit als Befähigung (nach Martha Nussbaum)
  50. 3.5 Machtbalancen und ein kritischer Blick auf den modernen Persönlichkeits-Typus (nach Norbert Elias)
  51. 4 Diskurse und Kontroversen in Wissenschaft und Politik
  52. 4.1 Sozialwissenschaftliche und politische Zugänge zur Inklusion
  53. 4.1.1 Verständnis sozialer Ungleichheit und Inklusion
  54. 4.1.2 Das Konzept der Intersektionalität
  55. Exkurs zu Good Practice: die Claudiushöfe in Bochum
  56. 4.1.3 Politische und soziale Akteure
  57. Exkurs zu Good Practice: die Monheimer Präventionskette
  58. 4.1.4 Der migrationspolitische Diskurs
  59. 4.1.5 Der behinderungspolitische Diskurs
  60. 4.2 Der psychologische Diskurs
  61. 4.2.1 Pädagogisch-psychologische Themenfelder
  62. 4.2.2 Zur Bedeutung sozialer Vergleiche
  63. 4.2.3 Soziale Vergleiche in der Schule
  64. 4.2.4 Gruppenpsychologische Mechanismen
  65. 4.3 Der erziehungswissenschaftliche und schulpädagogische Diskurs
  66. 4.3.1 Pädagogik der Vielfalt
  67. 4.3.2 Von der Integrationspädagogik zur Inklusion
  68. 4.3.3 Die Zwei-Gruppen-Theorie und das Lernen am gemeinsamen Gegenstand
  69. 4.3.4 Inklusion als enthinderte Integration und das Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma
  70. Exkurs zu Good Practice: Eine Schule für alle – Berg Fidel Münster
  71. 5 Inklusive Handlungsansätze und Methoden
  72. 5.1 Ansätze zur Begründung einer inklusiven Praxis
  73. 5.1.1 Das Menschenbild der humanistischen Psychologie
  74. 5.1.2 Empowerment-Ansatz
  75. 5.1.3 Der Gemeinwesen-Ansatz
  76. 5.1.4 Der Systemische Ansatz in der Sozialen Arbeit
  77. 5.1.5 Grundlagen der Ressourcenarbeit
  78. 5.1.6 Wege zur Resilienzförderung
  79. 5.2 Konzepte, Methoden und Techniken im Kontext der Inklusion
  80. 5.2.1 Funktionsebenen der Inklusion Exkurs: Ziele und Struktur des Index für Inklusion
  81. 5.2.2 Gestaltung der helfenden Beziehung
  82. 5.2.3 Personenzentrierung und Zukunftsplanung
  83. 5.2.4 Zukunftsfeste als Element der personenzentrierten Planung
  84. 5.2.5 Qualifizierung von Prozessbegleiter_innen
  85. 5.2.6 Entwicklung Universeller Designs
  86. Exkurs zu Good Practice: Entwicklung eines innovativen Wohnprojekts – das Apartementhaus Bochum-Weitmar
  87. Exkurse zu Good Practice: Entwicklung neuer Technologien und Medienkompetenz
  88. 5.2.7 Herausforderungen für die Gestaltung von institutionellen Unterstützungsprozessen
  89. 5.2.8 Diagnostisches Handeln im Rahmen von Inklusionsprozessen (Christina Reichenbach)
  90. 6 Paradoxien der Inklusion und Widerstände gegen die Inklusion
  91. 6.1 Stagnierende Zahl von Kindern auf Förderschulen trotz höherer Inklusionsquote
  92. 6.2 Widerstände bei Lehrkräften wegen Personalmangels und didaktischer Bedenken
  93. 6.3 Differenzierung von Lerngruppen: Lernbehinderte Kinder am Gymnasium
  94. 6.4 Utopie oder Illusion – Kritik der „Inklusionsbewegung“ in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion
  95. 6.5 Selbstbestimmte Exklusion und Exklusion als Schonraum als Varianten der exkludierenden Inklusion und der inkludierenden Exklusion
  96. 6.6 Gleichbehandlung Ungleicher als Ungerechtigkeit. Zur Unmöglichkeit der Auflösung aller Kategorien im praktischen Handeln
  97. 6.7 Kontroversen um die Kriterien der Inklusion
  98. 7 Fazit: Inklusion als Perspektive für eine menschengerechte Gesellschaft
  99. Literatur
  100. Register

 

 

1          EINFÜHRUNG

1.1       Die Begriffe Inklusion und Exklusion

Inklusion geht auf das lateinische Wort inclusio, das mit Einschluss oder Einschließen zu übersetzen ist, zurück. Der Begriff Inklusion wird in sehr verschiedenen Wissenschaften gebraucht, so in der Geologie, der Mathematik, der Medizin, der Bildungswissenschaft sowie in den Human- und Sozialwissenschaften. Es überrascht insofern nicht, wenn es – trotz des häufigen Gebrauchs – kein allgemeines und eindeutiges Verständnis davon gibt, was mit „Inklusion“ und ihrem Gegenstück, der „Exklusion“, gemeint ist. Dieses Buch will Inklusion aus einer Perspektive der Sozialen Arbeit beleuchten und stellt dabei Bezüge zu pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Sichtweisen her (vgl. auch Balz, Benz & Kuhlmann 2012). Notwendig ist dieser breite Blick auf das Thema der sozialen Inklusion, da über Sinn und Ziel ebenso wie über Mittel und Wege von Inklusionsförderung und Inklusionsstrategien wissenschaftlich, politisch und medial sowie praktisch-methodisch gestritten wird.

Der im vorliegenden Buch angebotene umfassende Blick ist hilfreich zum Verständnis der beteiligten Ebenen in der Kontroverse, ihrer Herkunft und möglichen Lösungsansätze. Auch kann es dazu beitragen, eine professionelle Position zur sozialen Inklusion und der Debatte darüber zu finden.

Zusammengefasst lassen sich vier Verwendungszusammenhänge des Begriffs der sozialen Inklusion unterscheiden:

•  Allgemeine Gesellschaftstheorien (hier Metatheorien genannt), in denen es um die Beziehungen von Individuen und Gesellschaften und um gesellschaftliche Differenzierungs- und Modernisierungsprozesse geht.

•  Die soziologische Armuts- und Ungleichheitsforschung, die sich vor allem seit den 1970er Jahren mit den Folgen der strukturellen Arbeitslosigkeit und den wachsenden Gruppen von „Abgehängten“ oder „Ausgeschlossenen“ beschäftigt.

•  Der sozialpolitische Diskurs, der in erster Linie im Rahmen der Europäischen Union geführt wird. Die Europäische Union hat sich seit den 1980er/90er Jahren die „social inclusion“ im Sinne einer gemeinsamen Armutsbekämpfung auf die Fahnen geschrieben.

•  Die vor allem durch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) vorangetriebene „Inklusion“ von Menschen mit Behinderungen mit all ihren Konsequenzen für die Heil- und Sonderpädagogik, für die Behindertenhilfe, das Schulsystem, den Arbeits- und den Wohnungsmarkt (vgl. Breuer 2013, 220 ff.).

Fassen wir aus diesen Verwendungszusammenhängen die wesentlichen Elemente zusammen, so kommen wir zu einer ersten Arbeitsdefinition, die wir den weiteren Ausführungen zugrunde legen:

Inklusion- Exklusion

Das Begriffspaar Inklusion und Exklusion wird auf eine Vielzahl von sozialen Problemen und biographischen Lebenslagen bezogen, z. B. Behinderung, Armut, Krankheit, Erwerbslosigkeit und Migration und/oder Flucht. Unabhängig vom jeweiligen Themenbereich geht es immer um den Zugang von Einzelnen und Gruppen zu und die Teilhabe an allen Bereichen der Gesellschaft und darum, dass möglichst alle Menschen in einer Gesellschaft das eigene Leben aktiv gestalten und ein „gutes Leben“ führen können.

Schon diese erste Arbeitsdefinition zeigt, dass der Begriff weitreichende theoretische Fragen und daraus abgeleitet unterschiedliche praktische und politische Schlussfolgerungen einschließt. Zentral sind:

•  die Frage danach, was die Teilhabe an Gesellschaft nachhaltig fördert und wie bestehende Barrieren für Einzelne und Gruppen beseitigt werden können,

•  die Frage danach, was denn ein „gutes“ oder „gelingendes“ Leben ausmacht und wer dies definiert,

•  die Frage danach, was Menschen brauchen (Ressourcen, Fähigkeiten etc.), um ein gutes oder gelingendes Leben führen zu können,

•  die Frage danach, wodurch Menschen die Möglichkeiten verlieren oder sie ihnen vorenthalten werden, um ein gutes oder gelingendes Leben zu führen.

Um sich mit diesen Fragen vertiefend auseinanderzusetzen, gilt es, sich mit verschiedenen gesellschaftstheoretischen Entwürfen und den jeweils dazu gehörenden Menschenbildern zu befassen. Ebenso wichtig ist es, sich mit den gesellschaftlichen Handlungsbereichen und den jeweils aktiven „Akteuren“ zu beschäftigen, die unterschiedliche Ziele und Strategien verfolgen.

Erst vor diesem Hintergrund kann es gelingen, für sich selber und für sein professionelles Handeln Ziele zu definieren und Konzepte sowie Methoden für den jeweiligen Handlungsbereich zu entwickeln bzw. vorhandene Konzepte und Methoden kritisch zu hinterfragen. Es zeigt sich dann, dass die intensive Auseinandersetzung mit Inklusion eine Auseinandersetzung über die grundlegenden Ziele der eigenen Arbeit beinhaltet.

Ebenso wie Lehrer_innen müssen sich Sozialarbeiter_innen, Heilpädagog_innen, Elementarpädagog_innen, Religions- und Gemeindepädagog_innen, Pflegefachkräfte und weitere Fachkräfte aus Gesundheitsberufen in ihren jeweiligen Handlungsfeldern der Frage nach der Inklusionsförderlichkeit ihrer Handlungskonzepte stellen. Ebenso müssen sie die Rahmenbedingungen ihres beruflichen Handelns darauf hin kritisch befragen, ob sie äußerliche oder organisatorische Barrieren enthalten, die es bestimmten Zielgruppen erschweren, ihre Angebote wahrzunehmen. Dabei sind Fachkräfte und Träger sozialer oder pädagogischer Arbeit mehr denn je zur multiprofessionellen Zusammenarbeit aufgefordert.

Dieses Lehrbuch soll dazu beitragen, sich theoretisch, konzeptionell und methodisch im Feld der Inklusion zu orientieren und für die jeweils angestrebte oder auch schon ausgeübte Berufstätigkeit Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

1.2       Die Indizes für Inklusion

Mit der sozialen Inklusion verbindet sich eine Vision – eine entfernte Zielvorstellung für eine Gesellschaft. Gleichzeitig verspricht soziale Inklusion einen Weg hin zur Teilhabe, Partizipation und zu einem eigenverantwortlichen „guten Leben“. Diese doppelte Zielsetzung berücksichtigend, liefern die Indizes für Inklusion praxisorientierte Evaluationsinstrumente, die eine inklusive Orientierung in dem jeweiligen Feld (Schule, Kita, Kommune, Sportverein) anleiten und begleiten können. Der erste Index wurde von den englischen Erziehungswissenschaftlern Tony Booth und Mel Ainscow in Kooperation mit Lehrer_innen, Eltern und Schulvorständen an Grund- und Sekundarschulen in England mit dem Ziel entwickelt, zur aktiven Umsetzung von Werten wie Gleichheit, Gemeinschaft, Mitgefühl, Ehrlichkeit und Nachhaltigkeit in der Schule beizutragen. Inklusion sollte in ihrem Verständnis die Teilhabe aller am „System“ bewirken und damit Ausgrenzung vermeiden. Alle sollen gleichermaßen wertgeschätzt und hierarchische Kategorisierungen vermieden werden (Booth 2008, 60).

Der Index für Inklusion, im Jahr 2000 erstmals von Booth & Ainscow veröffentlicht, enthält eine Sammlung von Fragen, deren positive Beantwortung als Zeichen gesehen wurde, dass die betreffende Schule oder Organisation den Ansprüchen an Inklusion genügt. Der für den deutschen Kontext angepasste und übersetzte Index wurde 2003 von Ines Boban und Andreas Hinz veröffentlicht und bald auch im Internet zugänglich gemacht. Dort heißt es zum Begriff und zu den Zielen der schulischen Inklusion:

„Bislang sind wir eher gewohnt, von schulischer Integration zu sprechen, häufig vorrangig assoziiert mit SchülerInnen, von denen gesagt wird, sie hätten ‚Behinderungen‘ oder sonderpädagogischen Förderbedarf oder aber mit SchülerInnen, die einen Migrationshintergrund aufweisen. Der Index benutzt bewusst den Begriff Inklusion, denn er meint damit die Erziehung und Bildung aller Kinder und Jugendlichen. (…) Inklusion geht es darum, alle Barrieren in Bildung und Erziehung für alle SchülerInnen auf ein Minimum zu reduzieren“ (Boban & Hinz 2003, 9 und 11).

Die Verbreitung des Index für Inklusion an Schulen führte zur Entwicklung weiterer Inklusionsindizes: 2006 erschien der „Index für Inklusion (Tageseinrichtungen für Kinder), Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln“, herausgegeben von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), ebenfalls übersetzt und angepasst von Boban & Hinz. Dieser Index wurde 2015 aktualisiert und überarbeitet (s. GEW 2015). 2011 erschien der Index für die kommunale Verwaltung, herausgegeben von der Montag-Stiftung, 2012 ein Index für die Erwachsenenbildung (Reddy 2012) und 2014 sowohl einer für die Jugendarbeit (Meyer & Kieslinger 2014) wie auch ein Index für den organisierten Sport, herausgegeben vom Deutschen Behindertensportverband e. V.

Der Indexprozess wird in allen Indizes beschrieben als eine prozesshafte Umgestaltung der Praxis in Bezug auf drei Ebenen innerhalb der Institution:

•  inklusive Kulturen,

•  Strukturen und

•  Praktiken.

Zu inklusiven Kulturen gehören die Verankerung von Werten wie Anerkennung und Teilhabe sowie Prinzipien wie Sozialraumorientierung und Barrierefreiheit, aber auch eine entsprechende Organisationsentwicklung und die Mobilisierung von Ressourcen. Die Indizes beinhalten zu jeder der drei Ebenen Indikatoren und Fragen bzw. Handlungsempfehlungen und Forderungen wie: „Alle Schüler_innen, bzw. Besucher werden freundlich empfangen und mit Respekt behandelt.“ Eine „Willkommens- und Kooperationskultur“ soll etabliert werden, damit sich alle leicht eingewöhnen und kooperieren können, auch die Professionellen (Boban & Hinz 2003, 17).

Der Index für die Kindertagesstätte hat vergleichbare Dimensionen wie der Index für die Schule, allerdings stehen hier das gemeinsame Spiel und die Partnerschaft mit den Eltern im Vordergrund. Im kommunalen Index geht es um den barrierefreien Zugang der Bürger_innen zur Verwaltung, aber auch um gerechte und transparente Beförderung und Mittelvergabe. Explizit wird darauf hingewiesen, dass diskriminierende Bemerkungen, z. B. sexistischer, rassistischer, schwulen- und lesbenfeindlicher oder anderer Art, vermieden werden sollen (Montag-Stiftung 2011, 54). Der „Index für Inklusion im und durch Sport“ möchte das Sportangebot von Vereinen für behinderte Menschen öffnen, beispielsweise durch Fahrdienste und Kontakte zu sozialen Diensten und zu Behinderteneinrichtungen.

Fassen wir die in den verschiedenen Indizes erhobenen Ansprüche und Fragen zusammen, so wird deutlich, dass Inklusion mehr bedeutet als Integration behinderter Kinder, Jugendlicher und Erwachsener in Regel-Schulen oder Regel-Einrichtungen. Es geht immer auch um Benachteiligung durch Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und soziales Milieu. Im Verständnis der Indizes richtet sich Inklusion gegen Etikettierung und institutionelle Diskriminierung und steht für Barrierefreiheit und Partizipation. Inklusive Umgestaltung von Institutionen bedeutet, Leitlinien zu etablieren, nicht-diskriminierende Praktiken zu entwickeln und wertschätzende Kulturen zu entfalten. „Ein solches prozessorientiertes Verständnis von Inklusion bedeutet, dass sie niemals vollständig abgeschlossen ist“ (Hinz & Boban 2015, 18).

Dieses Lehrbuch schließt sich diesem weiten Verständnis von Inklusion an, das sich auf die vielfältigen Dimensionen von Unterschiedlichkeiten bezieht (Diversität). Allerdings sehen wir auch, dass aus diesem Anspruch leicht eine Überforderung in der Praxis werden kann und dass ein Appell an die Wertschätzung für alle allein nicht reicht. Denn die oben ausgeführten verschiedenen Arten von Benachteiligung durch Geschlecht oder Armut erfordern andere Strategien der Hilfe zur Inklusion als die Benachteiligungen, die durch Behinderung entstehen. Wir werden dies im Kapitel 4 und 6 näher ausführen.

 

Verbunden mit der Frage danach, wie die verschiedenen Dimensionen von Benachteiligung gewertet werden, ist auch die Frage, ob es einen Unterschied gibt zwischen Exklusion und sozial bedingter Exklusion. Denn im Armutsdiskurs wird von sozialer Inklusion und im Behinderungsdiskurs vorrangig von Inklusion gesprochen. Tony Booth, der Mitbegründer der Inklusions-Indizes, kritisiert dies aber mit Bezug auf Amartya Sen. In der angloamerikanischen Debatte um Armut und soziale Ausgrenzung – so Booth – werde der Begriff der Inklusion „in einer verengenden Weise“ gebraucht, da „Inklusion“ ausschließlich für Behinderung, der Begriff der „Ausgrenzung“ ausschließlich für andere Gruppen benutzt werde: „Der Begriff soziale Ausgrenzung impliziert ebenfalls, dass es noch eine andere Form der Ausgrenzung gibt, die nicht sozial, sondern ‚natürlich‘ ist“ (Booth 2008, 59).

Die Auslassung von Menschen mit Behinderungen aus dem Diskurs um soziale Ausgrenzung führe fälschlicherweise zu der Annahme, dass die Ausgrenzung Folge der Behinderung ist, während Booth die Position vertritt, dass sie ebenfalls sozial bedingt ist. In diesem Sinne müsste also auch im Behindertenbereich immer von „sozialer Inklusion“ gesprochen werden.

1.3       Die Bedeutung von Menschenbildern

Das verbindende Element der Verschiedenheits-Dimensionen stellt die Orientierung an einem Menschenbild dar, das grundsätzlich allen Menschen ohne Rücksicht auf soziale Herkunft, Geschlecht, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit oder Behinderung gleiche Rechte auf Teilhabe einräumt. Insofern ist das Eintreten für Inklusion immer auch ein Eintreten für Menschenrechte, Gleichberechtigung, soziale Gerechtigkeit und Partizipation.

Im Alltagsdenken werden Menschenbilder häufig unreflektiert aus Medien oder der Alltagskommunikation übernommen und davon ausgehend gehandelt. Beispielsweise herrschte früher im Alltagsverständnis über Menschen mit geistiger Behinderung die Vorstellung vor, dass diese im Erwachsenenalter nicht bildbar seien. Insofern gab es auch nicht den Anspruch, spezielle Bildungsangebote über die Phase der Allgemeinbildung in der Kindheit und Jugend hinaus für diese Personengruppe anzubieten. Im Kontext der Inklusion wird diese Annahme in Frage gestellt und überwunden, sodass nun über die Schulzeit hinausgehende Angebote im Kontext der Erwachsenenbildung gemacht werden.

Menschenbilder haben Einfluss auf die Wahrnehmung sozialer Gruppen und einzelner Menschen mit den bei ihnen sichtbaren äußeren Merkmalen und unsichtbaren inneren Anteilen (Denken, Fühlen, Wahrnehmen u. a.). Menschenbilder umfassen allgemeine Aussagen beispielsweise zu folgenden Fragen:

•  Welchen Stellenwert haben Menschen in dieser Welt und in der sozialen Gemeinschaft?

•  Wonach streben Menschen in ihrem Leben (z. B. Hedonismus, Individualismus, Gemeinschaftssinn, Nutzenmaximierung)?

•  Welche zentralen Prozesse der Entwicklung finden beim Individuum und in der Gemeinschaft statt?

•  Welche Voraussetzungen beeinflussen die Entwicklung des Individuums und der Gemeinschaft positiv und negativ?

•  Wie nehmen Menschen eine „normale“ Entwicklung, und welche Ursachen für verschiedene Formen der Abweichung davon bestehen?

•  Wo liegen Grenzen der Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen?

•  Wie stehen Menschen untereinander in Beziehung und welche Beziehungen zu anderen Lebewesen, der Natur und der physischen Umgebung sind erstrebenswert?

Menschenbilder bündeln unsere Annahmen über andere Menschen, bilden aber auch die Basis für die Bewertung von Leben und Gemeinschaft. Dies impliziert die Reflexion über strukturelle Aspekte von Gesellschaft. So stellt die voraussetzungslose und uneingeschränkte Teilhabe im Rahmen der Inklusion zahlreiche selegierende Mechanismen kapitalistischer Gesellschaften in Frage. Insbesondere gilt dies für den Zugang zu den Schlüsselbereichen dieser Gesellschaften: Bildung, Arbeit, Wohnen, Konsum und Gesundheit.

Neben veränderten Strukturen erfordert Inklusion aber auch eine Veränderung der zwischenmenschlichen Dimension. Hierfür ist es erforderlich, persönliche Vorurteile zu überwinden und die eigene Stellung in der Welt und die Bedeutung von menschlichen Beziehungen neu zu überdenken. Für die psychosoziale Arbeit geht es darum, eine vorurteilsfreie und reflektierte Haltung anderen Menschen gegenüber zu erarbeiten.

1.4       Aufbau und Zielsetzung des Lehrbuchs

Um der Komplexität der Inklusionsdebatte gerecht zu werden, beginnt das Lehrbuch in Kapitel 2 mit einer Darstellung von metatheoretischen Zugängen zum Begriff der Inklusion in ausgewählten Sozialtheorien. Die fünf theoretischen Zugänge von Niklas Luhmann, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Martha Nussbaum und Norbert Elias wurden gewählt, weil sie einerseits wichtige Reflexionsrahmen zum Themenbereich darstellen und weil sie andererseits in verschiedenen fachwissenschaftlichen Debatten, u. a. in der Sozialen Arbeit, diskutiert wurden. Auch basieren sie auf unterschiedlichen Menschenbildern, die jeweils einleitend ausgeführt werden. Daneben erlauben sie andere Lesarten zum Thema Inklusion als diejenigen, die in der öffentlichen Debatte dominieren:

So kann mit Luhmann einerseits Exklusion als wertfreie Nicht-Kommunikation gesehen und Inklusion als Freiheitsgewinn in Abgrenzung zur Integration verstanden werden.

Und mit Foucault kann wiederum diese Freiheit in Frage gestellt und die Normierungen, die mit einer Inklusion einhergehen, kritisiert werden. Während Menschen nach Luhmann lediglich Umwelten von Systemen und im Unterschied zu früheren Gesellschaften dadurch freier in ihrem Verhalten sind, sieht Foucault die Regierung der Menschen im Inklusionsbereich als Zwang zum Selbstzwang, also zur Selbstbeherrschung und Anpassung an gesellschaftliche Normen.

Mit Bourdieu kann genauer verstanden werden, wie milieuspezifische Sozialisationsprozesse zur Ausgrenzung aus der Gesellschaft beitragen. Insbesondere an Wohnorten und an Schulen zeigen sich diese Mechanismen der räumlichen Segregation, die über den Habitus auch in die Körper der Menschen eingeschrieben werden.

Nussbaum wiederum öffnet den Blick für Grundbedürfnisse und grundlegende Fähigkeiten aller Menschen und fragt nach der Verantwortung des Staates für die Bereitstellung von Rahmenbedingungen als Voraussetzung dafür, dass Menschen ihre Fähigkeiten auch realisieren können.

Und Elias, ein zu Unrecht häufig vergessener Sozialwissenschaftler, stellt das gewohnte Denkmuster des „Gegenüber“ von Individuum und Gesellschaft in Frage. Er verdeutlicht den Zusammenhang zwischen sozialstrukturellen Gegebenheiten in einer Gesellschaft und dem jeweils damit korrespondierenden Persönlichkeits-Typus und macht auf den Macht-Aspekt in allen sozialen Beziehungen aufmerksam.

Dieses Lehrbuch möchte neben der allgemeinen Information über die oben genannten Sozialtheorien, die für Fragen zur Inklusion relevant sind, diese theoretischen Zugänge auch zur Reflexion verschiedener empirischer Fragestellungen vorschlagen (s. auch Balz, Huster & Kuhlmann 2011). Dies auch vor dem Hintergrund, dass die Autor_innen des Lehrbuchs u. a. in der Lehre des Masterstudiengangs „Soziale Inklusion: Bildung und Gesundheit“ an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe tätig sind (s. auch Balz, Benz & Kuhlmann 2012), in dessen Rahmen seit 2010 eine Reihe von Lehr-Forschungs-Projekten durchgeführt wurden. Die Projekte verfolgten die Frage, wie soziale Teilhabe von benachteiligten Menschen gefördert werden kann und – konkreter – welche Interventionen zur Überwindung von Lebenslagen der Armut, Benachteiligung und Ausgrenzung für unterschiedliche Zielgruppen und Problemlagen konzeptionell entwickelt oder verbessert werden können. Sie behandelten Themen wie Sprachförderung im Kindergarten oder Inklusion im schulischen Ganztag sowie Probleme der Schulverweigerung oder der Partizipation in Wohngruppen. Auch Forschungsprojekte zur ehrenamtlichen Vormundschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, begleiteter Elternschaft oder migrationssensibler Altenhilfe, zur Tafelbewegung oder zu einsam Verstorbenen in bestimmten Stadtteilen wurden durchgeführt. Die Lehr-Forschungs-Projekte fanden fast ausschließlich in Kooperation mit Trägern der Sozialen Arbeit in verschiedenen Städten des Ruhrgebiets und der Umgebung statt.

Bei der Präsentation der Ergebnisse der Lehr-Forschungs-Projekte wurde immer wieder deutlich, dass die Fragen nach Teilhabe und einem guten Leben für die Klient_innen der Sozialen Arbeit je nach Arbeitsfeld (Behindertenarbeit, Altenarbeit, Flüchtlingsarbeit, Jugendarbeit etc.) unterschiedlich zu beantworten sind und dass Armutsfragen nicht zu trennen sind von Fragen nach anderen Ursachen und Dimensionen von Benachteiligung (Geschlecht, Migration, Behinderung, soziale Herkunft und Alter). Auch wurde klar, wie notwendig die theoretische Reflexion vor und nach den Projekten ist. Denn die Ergebnisse zeigten, wie komplex und aufwändig die Umsetzung inklusiver Orientierungen in der Praxis ist, welche räumlichen und sozialen Dimensionen das jeweilige Arbeitsfeld hat und welche unterschiedlichen lebensbiographischen Fragen für Personen der verschiedenen Zielgruppen bestanden. Sie ließen aber auch erkennen, wie sich die Umsetzung von inklusiven Projekten teilweise paradox oder widersprüchlich gestaltet (vgl. Kap. 6.2 und 6.5).

Um die theoretische Einordnung und Interpretation empirischer Arbeiten im Bereich der inklusiven Sozialen Arbeit zu erleichtern, folgt in unserem Buch in Kapitel 3 ein Überblick über die Bedeutung der in Kapitel 2 vorgestellten Meta-Theorien für die Soziale Arbeit im Allgemeinen und für Fragen der Inklusion im Besonderen. Auch die in Kapitel 4 vorgestellten Diskurse aus Politik und Wissenschaft (insbesondere sozial- und erziehungswissenschaftliche sowie psychologische Diskurse und Kontroversen) sollen einer Orientierung dienen, die es ermöglicht, praktische Konzepte und empirische Ergebnisse in ihrer Komplexität zu verstehen.

Kapitel 5 dient der Vorstellung der Methoden, die ein inklusives Handeln ermöglichen. Hier wird deutlich, dass es bei aller Kritik an der bisherigen Umsetzung von Inklusion noch ein großes Potenzial für inklusive Praxiskonzepte und deren Umsetzung gibt.

Kapitel 6 konzentriert sich dann wieder auf die praktischen Entwicklungen, die aus unserer Sicht zu hinterfragen sind, und beschreibt die Paradoxie von Versuchen wie beispielsweise der Inklusion von lernbehinderten Schüler_innen in Gymnasien. Auch wird die Frage gestellt, unter welchen Bedingungen Orte der Exklusion selbstbestimmter sein können als Orte der Inklusion.

In Kapitel 7 ziehen wir Schlussfolgerungen aus den vorherigen Kapiteln. Insbesondere wird hier auf den in Kapitel 4 vorgestellten intersektionalen Ansatz vertiefend eingegangen.

 

 

2          META-THEORIEN

Was Sie in diesem Kapitel lernen können:

In diesem Kapitel werden fünf ausgewählte Sozialtheorien vorgestellt, die sich mehr oder weniger ausdrücklich mit Fragen von Inklusion und Exklusion beschäftigen und in den letzten Jahren im Bereich der wissenschaftlichen Diskussion – auch in der Sozialen Arbeit – viel diskutiert wurden. Diese Theorien gehen von unterschiedlichen Interpretationen der Gesellschaft und des Menschen aus und kommen daher in Bezug auf die Möglichkeiten und Bewertung von Inklusion zu unterschiedlichen Positionen. Sie können hier lernen, dass die Frage danach, ob Inklusion eine wünschenswerte Utopie ist und ob sie sich verwirklichen lässt, von der Frage abhängt, wie die Veränderungsprozesse einer Gesellschaft beschrieben werden, ob dominante Machtinteressen einzelner Gruppen unterstellt werden oder nicht, oder welche Bedürfnisse den Menschen zugeschrieben werden. Die Reihenfolge der Theoretiker_innen ist nicht mit ihrer Relevanz zu begründen. Wir beginnen mit Luhmann, da er als einer der ersten den Begriff der Inklusion in Abgrenzung zur Integration benutzte.

Im dritten Kapitel wird es dann um die Anwendung der Theorien auf bestimmte Themen der Sozialen Arbeit und der Inklusion gehen.

2.1       Niklas Luhmann: Inklusion als Befreiung von Integration

Niklas Luhmann (1927–1998) war Jurist, Verwaltungsbeamter, Stipendiat der Havard-Universität und wurde später einer der weltweit bekanntesten deutschen Soziologen. Beeinflusst durch Talcott Parsons und seine strukturfunktionale Systemtheorie entwickelte er an der Universität Bielefeld, wo er von 1968 an lehrte, die Theorie einer Gesellschaft, die durch sich ausdifferenzierende Funktionssysteme bestimmt und weiterentwickelt wird. Zu Beginn seiner Tätigkeit wurde er insbesondere durch den Streit mit Jürgen Habermas, einem Vertreter der Kritischen Theorie, bekannt.

2.1.1     Menschen- und Gesellschaftsbild

Nach Luhmann ist der Mensch in der modernen Gesellschaft nicht mehr integriert, sondern über Funktionssysteme inkludiert. Um zu verstehen, was Luhmann damit meint und warum er darin einen Freiheitsgewinn sieht, muss man sich sowohl auf seine Idee der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft wie auch auf sein Verständnis der „autopoietischen“ Funktionsweisen dieser Systeme einlassen. Einlassen insofern, weil er eine in der abendländischen Philosophietradition ungewöhnliche Definition von Mensch und Gesellschaft vornimmt, die nicht nur unserem Alltagsverständnis widerspricht, sondern auch den meisten anderen soziologischen Auffassungen, die zuvor oder danach entwickelt wurden.

In der Moderne – so Luhmann – wirken verschiedene Funktionssysteme zusammen, die nach je eigenen und von außen weitgehend unbeeinflussbaren Regeln arbeiten. Zu diesen Systemen gehören das Wirtschafts-, das Rechts- und das Erziehungssystem, aber auch die Religion, die Gesundheit, die Politik oder die Wissenschaft bilden eigene Systeme aus. Nach Luhmann gibt es drei Typen von sozialen Systemen:

•  Interaktionssysteme,

•  Organisationssysteme und

•  Gesellschaftssysteme (oder Funktionssysteme).

In den Interaktionssystemen kommunizieren Anwesende, in Organisationssystemen ist die Mitgliedschaft an Bedingungen geknüpft, und in die Gesellschaft sind alle über die Funktionssysteme „inkludiert“.

Luhmanns Auffassung von Gesellschaft als Zusammenwirken verschiedener Systeme knüpft einerseits an die strukturfunktionale Gesellschaftstheorie von Talcott Parsons an und bezieht sich andererseits auf die Theorie der „autopoietischen Systeme“ des chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana. An der strukturfunktionalen Theorie kritisierte Luhmann, dass sie die Entwicklung der Gesellschaft nicht hinreichend erklären könne, was allerdings mit der Übertragung der Idee der „Autopoiesis“ auf soziale Systeme gelinge. Demnach ist ein System nicht als Summe von zugehörigen Teilen zu verstehen, sondern als Einheit, die einen Unterschied zur sie umgebenden Umwelt macht. Ein System zeichnet sich dadurch aus, dass es die Differenz zwischen System und Umwelt selbst ist (Luhmann 2006, 66).

2.1.2     Autopoiesis und Kommunikation

Wie eine biologische Zelle ein offenes System darstellt, das von der Umwelt durch chemische Austauschprozesse beeinflusst wird, so werden nach Luhmann auch soziale und psychische Systeme durch ihre Umwelten beeinflusst. Allerdings zeichnen sich lebendige Systeme – hier in Anlehnung an Maturana – anders als Maschinen dadurch aus, dass sie sich selbst aus eigener Kraft verändern und regulieren können. Biologische Systeme gehorchen nicht den Gesetzen der sie umgebenden Umwelt, sondern eigenen Gesetzen. Sie starten ihre „Operationen“ mit einer „Selbstreferenz“ und ihre internen Abläufe beziehen sich auf die eigenen Entwicklungsgesetze. Sie produzieren und reproduzieren sich selbst. Auch die Unterscheidung von System und Umwelt nimmt das System selbst vor. Dieses Prinzip, dass ein System sozusagen sein „eigenes Werk“ ist, nennt Maturana „Autopoiesis“ (Luhmann 2006, 111).

Trotz der „Selbstreferenz“ sind lebendige Systeme anschlussfähig, d. h. offen für Veränderungen durch die Umwelt. Umweltanregungen können auf Systeme sogar strukturverändernd wirken. Gemäß dem Prinzip der Autopoiesis entscheidet aber nicht die Umwelt, sondern das System über die Relevanz der „Informationen“, die aufgenommen werden. Ein System ist daher relativ autonom (Luhmann 2006, 47).

Luhmann überträgt nun die Idee der autopoietischen Systeme auf die gesellschaftlichen Systeme, die seiner Meinung nach auch über systemimmanente Operationen verfügen. Hier werden die Informationen nicht in Form chemischer Austauschprozesse übermittelt, sondern durch Kommunikation. Nur die Kommunikation ist nach Luhmann für die Operationen in sozialen und psychischen Systemen im oben genannten Sinne „anschlussfähig“:

„Ein Sozialsystem entsteht, wenn sich Kommunikation aus Kommunikation entwickelt. (…) Kommunikation kommt überhaupt nur zu Stande, wenn jemand im Groben versteht oder vielleicht auch missversteht, aber jedenfalls soweit versteht, dass die Kommunikation weiter laufen kann, und das liegt außerhalb dessen, was man durch die bloße Benutzung von Sprache schon sicherstellen könnte. Es muss jemand erreichbar sein, muss hören oder lesen können“ (ebd., 78f.).

Unter Kommunikation versteht Luhmann also nicht eine auf Verständigung und Konsens zielende Handlung oder ein „Sender-Empfänger-Modell“, sondern nur ein „Attribut einer Handlung“, eine „sich selbst beobachtende Operation“, die aus Informationen, Mitteilungen und Verstehen besteht (Luhmann 2005, 63; 2006, 288). Auch das Bewusstseinssystem des Menschen funktioniert „autopoietisch“, indem es „das Fortspinnen mehr oder minder klarer Gedanken“ betreibt (Luhmann, zit. n. Kneer & Nassehi 1997, 60) und gekoppelt ist mit den Kommunikationen der sozialen Systeme. Es ist ein selbstreferentielles, geschlossenes System, das Gedanke an Gedanken reiht und über eine „emergente Ordnung“ verfügt, d. h. über ein selbstorganisiertes Entstehen der Ordnung aus der Unordnung. Nach Luhmann denkt das Bewusstsein, kommuniziert aber nicht, während die Kommunikation kommuniziert, aber nicht denkt (ebd., 73). Auch Menschen kommunizieren nicht: „Nur die Kommunikation kann kommunizieren.“ (Luhmann, zit. n. ebd., 66)

Gesellschaft entsteht also nicht durch die Handlungen der in ihr lebenden Menschen, sondern durch kommunikative Operationen, denen eine Eigendynamik innewohnt. Der Mensch ist – wie alles Lebendige und alles Psychische – nach Luhmann lediglich Teil der Umwelt der sozialen Systeme. Da er „nicht aus Kommunikation besteht, ist er nicht Teil der Gesellschaft“, denn diese besteht nur aus Kommunikation (Luhmann 2005, 23; vgl. ebd., 35ff.). Zwar rechnet Luhmann die Kommunikation als eine Mitteilungs-, Informations- und Verstehenshandlung einzelnen Personen zu, aber der Mensch ist nicht Ursache der Kommunikation. Luhmann unterscheidet hier zwischen Mensch und „Person“. Der Mensch ist nach Luhmann ebenfalls ein System: ein biologisches und ein psychisches, vor allem auch ein „autopoietisches“. Nur so lasse sich die Vielfalt von Individuen erklären, Sozialisation sei daher vor allem Selbstsozialisation (Luhmann 2006, 136).

Da der Mensch nicht Teil der Gesellschaft ist, besteht diese also nicht aus Menschen. Vielmehr sind der Körper und das Bewusstsein des Menschen „Umwelten“ der sozialen Systeme. Der Mensch wird als „Person“ von den gesellschaftlichen Systemen in ihre Kommunikation einbezogen – oder nicht, je nachdem ob er von der Kommunikation des Systems nach dessen Funktionslogik für relevant erachtet wird. Luhmann möchte diese Konzeption des Menschen aber nicht als Abwertung verstanden wissen. Vielmehr sieht er in der modernen Gesellschaft die Chance, dass Menschen einen „radikalen Individualismus“ leben können, dass sie also eine gewisse Unabhängigkeit und Kritikfähigkeit gegenüber Systemen haben können, da sie nicht Teil, sondern Umwelt dieser Systeme sind (ebd., 256f.).

Die Gesellschaft besteht nach Luhmann also aus sich ausdifferenzierenden Systemen, die auf Operationen der Kommunikation beruhen und nach autopoietischen Prinzipien funktionieren.

Im Unterschied zu Emile Durkheim oder Max Weber sieht er daher die Gesellschaft nicht nur als Folge einer Spezialisierung von Rollen, sondern von Systemdifferenzierungen (Luhmann 2005, 19). Er versteht Gesellschaft darüber hinaus auch nicht mehr regional, sondern aufgrund der Existenz von Massenmedien und Globalisierung als Weltgesellschaft. Denn die Grenzen einer Gesellschaft bestehen nach Luhmann in Kommunikation oder Nichtkommunikation, weshalb Landesgrenzen letztlich nicht mehr bedeutsam seien (ebd., 60).

2.1.3     Die Entstehung gesellschaftlicher Funktionssysteme

Die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen betrachtet Luhmann als Ergebnis eines evolutions-ähnlichen historischen Prozesses. In seinem Verlauf wurden archaische, d. h. „segmentierte“ Gesellschaften, von Gesellschaften mit „stratifikatorischer Differenzierung“ abgelöst. Während in ersteren die gesellschaftliche Teilhabe an reale Anwesenheit in einem Dorf oder Stamm gebunden war und nur ein geringes Maß an Arbeitsteilung und Komplexität herrschte, unterschieden die stratifizierten Gesellschaften bereits grundlegend in ungleiche, hierarchisch geordnete Schichten. In diesen Gesellschaften wurden die Menschen in eine bestimmte, vor der Geburt festgelegte Statusposition hineingeboren, die ihre Teilhabe an der Gesellschaft in allen Bereichen des Lebens regelte. Sie waren von Vornherein „integriert“. Dafür mussten sie sich festgelegten Regeln, bspw. den Zunftregeln, unterwerfen und in ihrem gesamten Verhalten – auch im privaten Bereich – diesen Regeln anpassen. Stratifizierte Gesellschaften stellen die bisher längste und stabilste historische Phase dar. Sie waren gekennzeichnet durch eine primär religiös fundierte Auslegung des Daseins, weshalb die Regulierung der Inklusion hier der Moral überlassen war, „die dann nur noch zu bestimmen hat, wem nach Maßgabe seiner Herkunft und seines Verhaltens Achtung geschuldet ist und welches Verhalten Missachtung auf sich zieht“ (Luhmann, zit. n. Kneer & Nassehi 1997, 128).

In der Vormoderne differenzierten sich die heutigen Funktionssysteme heraus. Zunehmend fanden z. B. eine Entfernung des Rechts von der Politik statt, eine Entkoppelung der Wirtschaft von Religion und Moral und eine Monetarisierung ökonomischer Beziehungen. Dies alles führte spätestens mit Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Die Gesellschaft bildete Systeme aus, die sich in nicht durch einander ersetzbare Funktionen differenzierten. Durch diese Umstellung auf funktionale Differenzierung konnte man auf soziale Klassen als Ordnungsprinzip verzichten. Das heißt – so Luhmann – aber nicht, dass es in dem „Regime funktionaler Differenzierung“ keine Ungleichheiten mehr gibt. Allerdings dürften diese nicht festgeschrieben sein, d. h. beispielsweise, dass hoher Reichtum nicht Reichtum für alle Zeiten bedeuten dürfe (Luhmann 1995, 249).

2.1.4     Binäre Codes und unangepasste Evolution

Die sozialen Funktionssysteme der modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft kommunizieren nach je eigener Rationalität. Sie reagieren verschieden und ihre strukturellen Bedingungen sind ebenfalls verschieden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie „nach Maßgabe eines binären Codes (kommunizieren, d. Verf.), der jeweils einem und nur einem Funktionssystem zugeordnet ist“ (Luhmann 1996, 54).

So gehe es im Wissenschaftssystem immer um Wahrheit oder Unwahrheit, im Rechtssystem um Recht oder Unrecht, im Wirtschaftssystem um Besitz oder Nicht-Besitz und Zahlungsfähigkeit oder -unfähigkeit. In der Politik gehe es um den „legalen Gebrauch staatlicher Autorität zu kollektivbindendem Entscheiden“ sowie um Regierung, Opposition, „Amtsmacht und Unterworfensein, also Folgenmüssen“. Im Erziehungssystem gehe es um die Selektion für Karrieren. Daher werde in diesem System beispielsweise „dauernd anhand eines Selektionscodes“ gelobt oder getadelt, gute oder schlechte Noten bzw. Abschlüsse vergeben, versetzt oder nicht versetzt (ebd., 54; Luhmann 2005, 263). Ein System entscheidet über Zuständigkeit nach einer binären Codierung, d. h., entweder das System ist zuständig oder nicht, eine dritte Möglichkeit ist ausgeschlossen. Wer beispielsweise sozial nicht bedürftig ist, erhält keine staatlichen Transferleistungen (Hartz IV). Und wer nicht behindert ist, erhält keine Leistungen der Behindertenhilfe.

Funktionale Differenzierung meint aber nicht nur, dass die Personen innerhalb der einzelnen Funktionssysteme gleich behandelt werden, sondern auch die Gleichheit der ungleichen Systeme. Luhmann behauptet, es gäbe keine Rangordnung mehr in dem Sinne, „dass Politik wichtiger ist als Wirtschaft, Wirtschaft wichtiger als Religion, Religion wichtiger als Familie, Familie wichtiger als Recht oder andersherum, sondern eine horizontale Nebeneinanderordnung ohne gesellschaftliche Vorprägung der Verhältnisse“ (Luhmann 2005, 254).

Die heutige Gesellschaft entwickelt sich als Folge der „isoliert arbeitenden Funktionssysteme“ in Richtung einer Steigerung ihrer Leistungen (ebd., 268). Diese heißt im Wirtschaftssystem mehr Wohlstand, in der Politik steigender Konsens und in der Wissenschaft eine Vermehrung wahrer Erkenntnisse, im Bildungsbereich beispielsweise die Senkung der Analphabetenquote. Dabei stehen die Systeme zugleich in Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu einander. Die Einheit der Gesellschaft gelingt über eine „Integration“, d. h. nach Luhmann durch eine wechselseitige Einschränkung der Freiheit der Systeme. Wenn ein Funktionssystem nicht richtig funktioniert, reagieren die anderen Systeme darauf, zum Beispiel, wenn die Wissenschaft von der Wirtschaft nicht mit Geld versorgt wird, sodass sie nicht mehr funktionieren kann.

2.1.5     Bezug zur Inklusion

Luhmann behauptet, im Unterschied zur stratifikatorischen Differenzierung in der Vergangenheit sei die Inklusion jeder Person in der Moderne in allen Funktionssystemen vorgesehen, denn die Systeme brauchen diese Beteiligung, um zu funktionieren. Inklusion meint dabei „die Teilhabe von Personen an bestimmten Kommunikationen“, die dadurch erreicht wird, dass diese Personen kommunizieren können, „was man kommunizieren kann“ (Luhmann, zit.n. Kneer & Nassehi 1997, 157). Das heißt, ein Wissenschaftler wird durch wissenschaftliche Kommunikation adressiert, während die ökonomische Kommunikation über Geld verläuft. Daher soll jeder über Geld verfügen, denn „je mehr Geld vorhanden ist, umso mehr kann gekauft werden, umso besser ist es für die Wirtschaft“ (Luhmann 2005, 275). Jeder sei daneben rechts- und vertragsfähig, wahlberechtigt usw. Also wenden sich die Funktionssysteme prinzipiell an alle Personen, d. h. nach Luhmann, sie „adressieren“ ihre Kommunikation an sie. Dabei werden die Menschen nicht mehr als „ganze Person“ in diese Funktionssysteme integriert, sondern „inkludiert“, sofern sie nach der Logik dieser Systeme in Bezug auf deren Funktion „passen“. Das heißt, wenn sie krank sind, werden sie ins Gesundheitssystem inkludiert, bei Bildungsfähigkeit ins Schulsystem usw. Da der Mensch in jedem System eine andere Rolle spielen kann, ist er in seinem Handeln weniger festgelegt als in vormodernen Gesellschaften. Eine vollständige Inklusion findet nach Luhmann nur in der Familie statt, in anderen gesellschaftlichen Bereichen ist Exklusion der normale Zustand, während sich die Inklusion dann jeweils nur an einen Teilaspekt der Person richtet (als Patient_in, Schüler_in, Arbeitnehmer_in etc.). Die moderne Gesellschaft überlässt die Inklusion damit ihren Funktionssystemen und „verzichtet auf gesellschaftseinheitliche Regelung von Inklusion“ (Luhmann 1995, 246). So werde Teilnahme an Bildung, Politik oder Familie jeweils nach anderen Regeln verhandelt.

Allerdings ist auch klar: Die Personen in einer modernen Gesellschaft müssen in den Systemen nach den erwarteten Regeln kommunizieren. Sie können als Umwelten der Systeme deren Regeln selbst nicht verändern, da Systeme autopoietisch sind. Eine „Vollinklusion“ in die Gesellschaft ist wie auch eine vollständige Exklusion in der Gesellschaft nicht möglich, weil einerseits die Berücksichtigung einer Person im System an Bedingungen geknüpft ist und andererseits die Exklusion aus einem System die Inklusion in ein anderes nach sich zieht. Z. B. zieht die Exklusion aus dem Erwerbsbereich die Inklusion in das System sozialer Sicherungen nach sich. Nach Luhmann beschreibt Exklusion also zunächst nur einen Zustand der teilweisen Nicht-Zugehörigkeit, nicht eine wertende Ausgrenzung.

Individualität wird nach Luhmann nicht mehr über Inklusion, sondern über Exklusion bestimmt. Das Individuum wird durch die funktionale Differenzierung der Gesellschaft zum Maß aller Dinge, wodurch sich allerdings psychische Mentalitäten entwickeln können, die eine Weiterexistenz der Gesellschaft gefährden.