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Über dieses Buch:

Das 20. Jahrhundert beginnt gefährlich … Die Cousinen Lucinda und Annabelinda sind behütet in London aufgewachsen – nun sollen sie in Belgien das noble Internat La Pinière besuchen. Doch dort geschieht etwas, was das Leben der beiden für immer verändern wird … Als kurz darauf der Erste Weltkrieg ausbricht, marschieren deutsche Truppen in Belgien ein. Nur mithilfe des charmanten Marcus Merrivale können die Freundinnen sich in Sicherheit bringen. Während Annabelinda bald zarte Bande zu dem charmanten Major knüpft, findet auch Lucinda ihr Liebesglück an der Seite des schneidigen Robert Denver. Keine von beiden will jemals wieder über das Geheimnis sprechen, das sie gemeinsam hüten. Aber es gibt noch jemanden, der davon weiß – und skrupellos genug ist, sie zu erpressen!

Schwärmerisch und spannend – ein Roman der Saga »Die Töchter Englands«: Bestsellerautorin Philippa Carr verwebt große historische Ereignisse mit den Lebensgeschichten starker Frauenfiguren zum mitreißenden Lesevergnügen!

Über die Autorin:

Philippa Carr ist – wie auch Jean Plaidy und Victoria Holt – ein Pseudonym der britischen Autorin Eleanor Alice Burford (1906–1993). Schon in ihrer Jugend begann sie, sich für Geschichte zu begeistern: »Ich besuchte Hampton Court Palace mit seiner beeindruckenden Atmosphäre, ging durch dasselbe Tor wie Anne Boleyn und sah die Räume, durch die Katherine Howard gelaufen war. Das hat mich inspiriert, damit begann für mich alles.« 1941 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem in den nächsten 50 Jahren zahlreiche folgten, die sich schon zu ihren Lebzeiten über 90 Millionen Mal verkauften. 1989 wurde Eleanor Alice Burford mit dem »Golden Treasure Award« der Romance Writers of America ausgezeichnet.

Eine Übersicht über den Romanzyklus »Die Töchter Englands« finden Sie am Ende dieses eBooks.

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eBook-Neuausgabe Februar 2018

Copyright © der Originalausgabe 1991 Philippa Carr

Die Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel »A Time for Silence«.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1993 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Bram Reusen und Dark Bird

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-95824-941-7

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Philippa Carr

Zeit des Schweigens

Roman

Aus dem Englischen von Erna Tom

dotbooks.

Prolog

Als ich Carl Zimmermann im Haus meines Vaters in Westminster zum ersten Mal begegnete, war ich elf Jahre alt. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Wir feierten mit ganz London – genauer gesagt mit dem gesamten Land – die Krönung des Königs und der Königin.

Der alte König war tot. Er war eine schillernde Persönlichkeit gewesen, hauptsächlich als er noch Prinz von Wales war. Er zog Skandale geradezu magisch an, und das schockierte das Volk – aber das Volk läßt sich ja gern schockieren. Als König schien er dann wesentlich gesetzter, aber da war er natürlich auch viel älter.

Ich wurde im letzten Jahr des Jahrhunderts geboren – zu jung, um mich an Mafeking zu erinnern, wie meine Mutter sagte, obwohl sie damals mit mir auf dem Arm am Fenster unseres Londoner Hauses stand und die Parade in den Straßen beobachtete, was mir bestens zu gefallen schien.

Der Prinz von Wales wurde bald darauf, nach dem Tod seiner Mutter, der großen Viktoria, König Edward VII. Danach, so hörte ich oft, war nichts mehr wie es einmal gewesen war. Inzwischen war Edward tot, und wir begrüßten seinen Sohn George und seine Frau Queen Mary als unsere neuen Regenten.

Mein Vater, Joel Greenham, war der Abgeordnete für Marchlands, einem Wahlbezirk in der Nähe von Epping Forest, der seit George II. immer von einem Greenham vertreten wurde – damals von einem Whig und seit die Partei ihren Namen geändert hatte, von einem Liberalen.

Ich war an Menschenansammlungen gewöhnt, da wir sowohl in Westminster als auch in Marchlands, wo wir ein herrliches Haus besaßen, häufig Gäste hatten. Hier in London hatten die Gesellschaften, die wir gaben, meistens einen politischen Charakter. Die Gäste waren ziemlich einflußreiche und bekannte Leute, die ich gerne beobachtete, wenn sich die Gelegenheit bot. Das war auf dem Land ganz anders, wo die Gäste benachbarte Gutsbesitzer waren und deshalb sehr viel menschlicher.

An den Londoner Gesellschaften konnte ich nur heimlich teilnehmen. Vom zweiten Stock aus, hinter dem Geländer, konnte ich alles sehen und mich schnell verstecken, falls jemand zufällig nach oben schaute. Meine Eltern wußten, daß ich mich dort aufhielt. Sie sahen manchmal nach oben und winkten mir verstohlen zu, als Zeichen, daß sie von meiner Anwesenheit wußten. Robert Denver wußte es ebenfalls, aber er gehörte sowieso fast zur Familie.

Zwischen uns und den Denvers hatte es immer schon eine enge Verbindung gegeben. Meine Mutter und Lady Denver waren zusammen aufgewachsen; danach ging Lady Denver, die ich Tante Belinda nannte, für ein paar Jahre nach Australien. Nach ihrer Rückkehr und Heirat mit Sir Robert Denver, nahmen sie ihre Verbindung wieder auf. Tante Belinda hatte zwei Kinder, Robert und Annabelinda. Beide spielten in meinem Leben eine große Rolle.

Robert war ungefähr fünf Jahre älter als ich und einer der nettesten Menschen, die ich kannte. Er war groß und hager; irgendwie sah er rührend aus, als ob er eilig zusammengesetzt worden wäre und einige Teile nicht besonders gut zueinander paßten. Er hatte ein sanftes Wesen, und ich liebte ihn vom ersten Moment ab.

Annabelinda war nur zwei Jahre älter als ich und hatte überhaupt nichts von ihrem Bruder; sie sorgte permanent für Unruhe, war unberechenbar und hielt ihre Umgebung ständig in Atem.

»Annabelinda kommt ganz nach ihrer Mutter«, hörte ich meine Mutter mehr als einmal sagen.

Sie hatten ein Gut auf dem Land, das Robert eines Tages übernehmen sollte. Immer wenn sie nach London kamen, wohnten sie bei uns. Annabelinda und ihre Mutter besuchten uns häufiger als Robert und sein Vater, denen es in London viel besser gefiel als auf dem Land.

An jenem Tag weilte die ganze Familie bei uns. Sir Robert, Tante Belinda und Robert waren Gäste unserer Gesellschaft.

Annabelinda saß mit uns auf der Treppe. Sie war bereits eine Schönheit mit tiefblauen Augen, dichtem schwarzen Haar und einer wunderbar weichen, blassen Haut; sie sprühte vor Lebensfreude und Unternehmungsgeist. Ich konnte mir gut vorstellen, daß Tante Belinda in ihrer Jugend genauso gewesen war und meine Mutter genauso genervt hatte wie Annabelinda jetzt mich.

»Du darfst dich nicht von Annabelinda beherrschen lassen«, riet mir meine Mutter. »Bilde dir dein eigenes Urteil und lasse dich nicht von ihr beeinflussen. Sie könnte sehr dominierend werden … genau wie ihre Mutter«, fügte sie hinzu.

Ich wußte, was sie meinte und beschloß, ihrem Rat zu folgen.

An diesem Tag ließ Annabelinda ihrem Ärger freien Lauf. Miss Grant, meine Gouvernante, hatte sich gerade zu uns gesetzt, als wir wie jeden Abend unsere Milch tranken.

»Dir macht das nichts aus, Lucinda«, begann sie. »Du bist schließlich erst elf. Aber ich bin schon dreizehn und werde trotzdem immer noch wie ein Kind behandelt.«

»Wir sehen die Gäste, wenn sie eintreffen. Das macht doch Spaß, meinst du nicht, Charles?« wandte ich mich an meinen jüngeren Bruder.

»Ja, natürlich«, erwiderte er. »Und wenn alle im Speisezimmer sind, schleichen wir hinunter und warten in der kleinen Kammer, bis Robert uns die Leckereien bringt.«

»Annabelinda weiß das doch«, sagte ich. »Sie ist schon ein paar Mal dabei gewesen.«

»Auf jeden Fall macht es Spaß«, wiederholte Charles.

»Spaß?« rief Annabelinda heftig. »Wie ein Kind behandelt zu werden … in meinem Alter!«

Ich betrachtete sie eingehend. Sie sah mit Sicherheit nicht wie ein Kind aus.

»Annabelinda ist sehr frühreif«, hatte meine Mutter vorhergesagt.

Und tatsächlich, ihr Körper wies bereits weibliche Formen auf.

»Sie ist wie ihre Mutter – schon erwachsen zur Welt gekommen.« Auch diese Aussage stammte von meiner Mutter, die Tante Belinda durch und durch kannte, und es klang fast wie eine Warnung.

»Ich werde mir die Gesellschaft jedenfalls nicht durch das Treppengeländer ansehen«, fuhr Annabelinda fort. »Das ist doch kindisch.«

Ich zuckte mit den Schultern, denn ich freute mich jedenfalls darauf. Die Gäste kamen immer die breite Treppe von der Eingangshalle herauf nach oben, wo meine Eltern sie unter dem großen Kronleuchter begrüßten. Der Salon und das Speisezimmer lagen im ersten Stock und dort am Ende der Treppe unterhielten sie sich immer ein Weilchen, bevor die Gäste sich in die anderen Räume verteilten. Und genau an dieser Stelle beobachten wir sie durch das Geländer.

Sobald sie im Speisezimmer waren, konnten wir hinunterschleichen in die kleine Kammer – von uns Kabüffchen genannt –, die man über eine Hintertreppe erreichte, die zu den oberen Räumen führte. Dort warteten wir. In der Kammer befanden sich mehrere Schränke, in denen allerhand Dinge aufbewahrt wurden, ein Tisch und einige Stühle. In unserem Kabüffchen konnten wir uns glücklich niederlassen und alles verspeisen, was Robert uns brachte. Immer, wenn er sich zu uns hereinschlich, brachte er ein Tablett voller Köstlichkeiten. Er setzte sich immer zu uns, während wir aßen. Das war der schönste Teil des Abends, und ich glaube, Robert fand das auch.

Nachdem Miss Grant uns an jenem Abend alleingelassen hatte, gingen wir zu unserem Aussichtspunkt hinter dem Geländer und Annabelinda folgte uns. Über ihren Sinneswandel verlor sie kein Wort. Sie kauerte sich neben uns hin und kritisierte abfällig die Damen. Ihr Hauptaugenmerk galt jedoch den Herren.

Als sich die Gäste zum Abendessen niedergelassen hatten, kam für uns endlich der aufregendste Teil des Abends. Leise schlichen wir die Treppe hinunter, rannten unter dem Kronleuchter hindurch zum Ende des Treppenabsatzes und die vier Stufen hinauf zu der kleinen Kammer.

Charles konnte ein Kichern kaum zurückhalten, und wie ich es erwartet hatte, erschien fast im gleichen Augenblick Robert mit einem Tablett, auf dem vier Glasschalen mit Weinschaumcreme standen. Er hatte anscheinend geahnt, daß Annabelinda dabei sein würde.

Ich glaube, sie genierte sich ein wenig, sich mit uns Kleinen zusammengetan zu haben. Aber da sich selbst ihr Bruder Robert so weit herabgelassen hatte, was ihm selbst wohl gar nicht so vorkam, war sie wieder etwas beruhigt.

So saßen wir da und genossen die Weinschaumcreme.

»Ich wußte, daß es Weinschaumcreme gibt«, sagte Charles. »Ich hab gehört, wie es die Köchin gesagt hat. Sie war gar nicht erfreut. Es sei viel zu aufwendig.«

Niemand hörte ihm zu. Armer Charles! Aber wenn man der Jüngste ist, gewöhnt man sich daran, daß einem nie jemand zuhört, und zum Glück hatte Charles ein sehr fröhliches Gemüt. Er war damit zufrieden, sich mit Hingabe auf die Weinschaumcreme zu stürzen.

»Ich habe dir eine besonders große Portion gebracht«, schmunzelte Robert. »Ich dachte, daß du das vielleicht nötig hast.«

»Vielen Dank«, gab Charles mit einem breiten Lächeln zufrieden zurück.

»Über was unterhalten die sich da unten?« erkundigte sich Annabelinda.

»Hauptsächlich über Politik«, erwiderte Robert.

»Doch nicht etwa immer noch über die letzte Wahl?« fragte ich.

»Das Hauptproblem scheint wohl eher das Oberhaus zu sein.«

»Sie sind grundsätzlich gegen alles, was die Regierung vorschlägt«, sagte ich. »Das ist doch ein alter Hut.«

»Vielleicht wird der neue König etwas ändern«, meinte Annabelinda.

»Auch Monarchen unterliegen jetzt der Verfassung«, erinnerte ich sie, »und das Oberhaus ist nicht so wichtig wie das Unterhaus – obwohl die Gesetze auch dort genehmigt werden müssen. Mein Vater sagt, daß Mr. Asquith noch mehr Gleichgesinnte braucht, um die Mehrheit zu erreichen.«

Annabelinda gähnte, und ich fuhr fort: »Es war sehr nett von dir, Robert, uns zu versorgen.«

»Du weißt doch, daß ich das bei solchen Gelegenheiten immer mache.«

»Ja, ich weiß … und ich freue mich darüber.«

Er lächelte mir auf seine besondere Art zu. »Ich bin eigentlich sowieso lieber hier … als auf der Gesellschaft.«

»Ich hätte gerne ein bißchen mehr gehabt«, gab Charles zu.

»Was? Nach dieser Riesenportion, du undankbares Geschöpf«, ermahnte ich ihn.

»Du kannst von mir noch etwas haben«, erbot sich Robert, und Charles nahm das Angebot an. »Wenn du sicher bist, daß du nichts mehr willst. Es wäre doch eine Schande, es verkommen zu lassen.«

Genau in diesem Moment glaubte ich, Schritte vor der Tür zu hören.

Ich hielt inne und lauschte.

»Was ist los?« fragte Robert.

»Jemand ist auf der Treppe. Ich habe die Diele knarren hören. Sie knarrt immer … genau vor dem Kabüffchen.«

Ich ging zur Tür und öffnete sie.

Vor mir stand ein junger Mann. Verblüfft sah er mich an. In den wenigen Sekunden bemerkte ich sein blondes Haar und seine hellblauen Augen. Er war in Abendgarderobe, gehörte also zu den Gästen.

»Haben Sie sich verlaufen?« fragte ich.

»Ja … ja … ich habe mich verlaufen.« Er sprach mit leichtem Akzent.

Die anderen waren inzwischen ebenfalls zur Tür gekommen. Er sah uns erschrocken an.

»Es tut mir ja so leid«, entschuldigte er sich. »Ich weiß gar nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich habe meinen Anzug bekleckert und wollte ihn säubern, bevor es jemand sieht. Ich fand dann zum Glück das Badezimmer. Als ich herauskam … wußte ich nicht mehr, wo ich war. Ich habe mich verlaufen.«

»Sie wollen also zurück ins Speisezimmer. Dieses Haus ist voller Ecken und Winkel, aber es liegt so günstig in der Nähe des Parlaments. Ich kann verstehen, daß Sie sich nicht zurechtfinden. Aber Sie sind schon beinahe auf dem richtigen Stockwerk. Ich werde Ihnen den Weg zeigen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

Annabelinda sah ihn durchdringend an. »Kommen Sie, setzen Sie sich doch einen Augenblick zu uns«, sagte sie. »Sie sind noch nie in diesem Haus gewesen, stimmt’s?«

»Nein, dies ist mein erster Besuch. Ich bin erst vor zwei Wochen in England angekommen.«

»Woher kommen Sie«, wollte Annabelinda wissen.

»Aus der Schweiz.«

»Wie aufregend … die vielen Berge und Seen.«

Er lächelte sie an und wirkte längst nicht mehr so nervös.

»Wie heißen Sie?« fragte ich.

»Carl Zimmermann.«

»Ich bin Annabelinda Denver«, stellte sich Annabelinda vor. »Und das ist mein Bruder Robert. Diese beiden gehören zum Haus. Lucinda und Charles Greenham.«

»Jetzt kennen wir uns alle«, sagte er mit einem Lächeln.

»Wir wurden nicht zu der Gesellschaft eingeladen. Sie halten uns für zu jung, … außer Robert natürlich. Er brachte uns die Weinschaumcreme.«

Der junge Mann lächelte noch breiter.

»Ich verstehe. Und ich bin sehr froh, Sie kennengelernt zu haben.«

»Sind Sie vielleicht ein wichtiger Diplomat?« fragte Annabelinda.

»Kein wichtiger. Dies ist mein erster Einsatz.«

»Und Sie haben sich hier verirrt«, rief Annabelinda.

»Jeder kann sich mal verlaufen«, nahm ich ihn in Schutz.

»Mir passiert das die ganze Zeit«, fügte Robert hinzu.

»Bleiben Sie lange in London?« wollte Annabelinda wissen.

Er zog die Schultern hoch. »Ich weiß noch nicht.«

»Sie müssen ganz schön bedeutend sein, um heute abend eingeladen zu werden«, fuhr Annabelinda fort.

Wieder zuckte er mit den Schultern. »Mein Kollege hat mich mitgebracht, er hatte die Einladung.«

»Werden die anderen Sie nicht vermissen?« fragte ich.

»Ja, natürlich, sie werden sicher gleich aus dem Speisezimmer herauskommen«, sagte Robert. »Wir gehen jetzt besser. Kommen Sie mit mir. Ich werde Sie begleiten.«

»Danke, Sie sind sehr freundlich.«

Annabelinda paßte das gar nicht. Sie warf ihrem Bruder einen finsteren Blick zu, aber der junge Mann hatte sich bereits erhoben und folgte Robert zur Tür.

Ich dankte Robert für die Weinschaumcreme, und er lächelte mich an.

»Und ich danke Ihnen«, sagte der junge Mann. »Ich danke Ihnen allen.«

Dann gingen er und Robert zurück zu den anderen Gästen.

»Gerade als es interessant wurde!« murrte Annabelinda. »Robert ist wirklich ein Spielverderber.«

»Er hatte vollkommen recht«, verteidigte ich ihn. »Vielleicht hat man sie schon vermißt und das könnte sehr peinlich für ihn sein … wo das doch alles noch neu für ihn ist.«

»Ich wünschte, er wäre geblieben. Es war doch so lustig. Na ja, das war’s dann wohl für heute. Ich gehe jetzt auf mein Zimmer.«

Charles und ich zogen uns ebenfalls in unsere Zimmer zurück. Wir hatten keine Lust zu warten, bis die Gäste gingen.

»Die Weinschaumcreme schmeckte lecker«, war Charles’ letzter Kommentar. »Mir macht es nichts aus, daß es aufwendig war.«

Ich glaube, ich teilte Annabelindas Enttäuschung.

Erst am nächsten Morgen erfuhr ich die Neuigkeit. Millie Jennings, eines der Mädchen, erzählte mir davon, als sie mir heißes Wasser brachte.

»Was für eine Aufregung, Miss Lucinda. Genau um Mitternacht war die Polizei hier. Erst nachdem alle Gäste gegangen waren, hat es die gnädige Frau entdeckt.«

»Wovon sprichst du überhaupt?« fragte ich sie.

»Von dem Diebstahl, Miss, davon spreche ich. Als die gnädige Frau in ihr Schlafzimmer ging, sah sie, daß eine Schublade offenstand – jemand hatte ihren Schmuck durchwühlt. Man hat sofort die Polizei geholt, obwohl es schon so spät war. Demnach haben Sie nichts gehört? Sie schlafen wohl wie ein Murmeltier, Miss.«

»Diebe! Gestern abend! Das muß dann während der Gesellschaft gewesen sein.«

»Das vermutet die Polizei auch. Einige Smaragde der gnädigen Frau sind verschwunden. Stellen Sie sich bloß vor … und wir haben nichts davon gemerkt.«

Ich beschloß aufzustehen, um selbst herauszufinden, was geschehen war. Ich wusch mich und zog mich so schnell ich konnte an und ging hinunter, um meine Mutter zu suchen. Sie saß im Speisezimmer bei einer Tasse Kaffee.

»Mama, was ist passiert?« rief ich.

Sie runzelte mißmutig die Stirn. »Es sieht so aus, als wäre gestern abend jemand eingebrochen.«

»Das hat mir Millie auch schon erzählt. Sie sagte, deine Smaragde seien verschwunden.«

»Ja, ein Teil von meinem Schmuck fehlt.«

»Und es passierte während der Gesellschaft!«

»Das war wahrscheinlich ein ganz guter Zeitpunkt.«

»Millie hat gesagt, die Polizei sei hier gewesen.«

»Ja, sie kamen gestern abend noch. Sie werden heute morgen noch einmal kommen.«

»Aber wie sind die Diebe hereingekommen?«

»Sie müssen von hinten ins Haus eingedrungen sein. Das Fenster in unserem Schlafzimmer war offen. Ich vermute, sie sind gestört worden, denn sie haben vieles nicht mitgenommen. Sie waren auch im Arbeitszimmer deines Vaters.«

»Haben sie dort irgend etwas gestohlen?«

»Eigentlich nicht. Es gibt dort nichts wertvolles … außer dem Papiermesser mit den Saphiren im Griff. Das haben sie offensichtlich übersehen. Es hat den Anschein, als wären sie gestört worden, bevor sie richtig loslegen konnten, und sich dann lieber aus dem Staub machten. Du hast nichts gehört, oder? Was habt ihr gemacht, nachdem ihr die Weinschaumcreme gegessen hattet, die Robert euch brachte? Ich sah, wie er sich mit dem Tablett aus dem Speisezimmer davonstahl.«

»Wir haben sie einfach gegessen. Ach ja, da war jemand auf der Treppe vor dem Kabüffchen.«

»Wie bitte?«

»Er hatte seine Jacke bekleckert und wollte sie säubern. Auf dem Weg zurück hat er sich dann verlaufen. Robert hat ihn zurückbegleitet.«

»Ach so, ich verstehe. Wer war das?«

»Jemand namens Carl Zimmermann.«

»Stimmt, er kam zusammen mit einem anderen Botschaftsangehörigen. Ein ziemlich schüchterner junger Mann. Na ja, das ist ja alles auch noch neu für ihn.«

»Ja, diesen Eindruck hatte ich auch.«

»Was ich meinte ist, hast du irgend etwas Verdächtiges gehört? Ein Geräusch oder sonst irgendwas?«

»Nein, danach ging ich ins Bett und dann weiß ich nur noch, daß Millie mich aufgeweckt hat.«

»Eigentlich sollten wir froh sein, daß es nicht schlimmer ist. Aber der Gedanke, daß irgendwelche Leute um das Haus herumschleichen, gefällt mir gar nicht besonders. Das ist doch ziemlich beunruhigend.«

Ich stimmte ihr zu.

Die Polizei kam an jenem Morgen noch einmal vorbei. Annabelinda, Charles und ich beobachteten sie von einem der oberen Fenster. Annabelinda hoffte, daß auch sie befragt werden würde. Sie fragte sich inzwischen allen Ernstes, ob sie nicht doch etwas gehört hatte, nachdem wir uns am vorherigen Abend getrennt hatten. Natürlich würde sie nie absichtlich die Unwahrheit sagen, aber sie kam gerne in aufregende Situationen, und am allerliebsten war es ihr, wenn sie dabei der Mittelpunkt war.

Sie war maßlos enttäuscht, als die Polizei wieder wegging, ohne mit ihr gesprochen zu haben.

Zwei Tage später reisten die Denvers ab. Das tat mir leid, denn ich hatte Robert furchtbar gern in meiner Nähe. Er war so nett und so bestrebt, mit allen Leuten gut auszukommen. Was Annabelinda anging, hatte ich gemischte Gefühle, und so ging es meiner Mutter auch mit Tante Belinda. Sie faszinierten uns; einerseits mochten wir sie, aber gleichzeitig trauten wir ihnen nicht ganz über den Weg. Immer wenn es hieß, sie kämen uns besuchen, freute ich mich darauf, aber wenn sie dann da waren, war ich ein wenig gereizt. Das kam von Annabelindas herablassender Art, der Aufmerksamkeit, die sie forderte, und ihrem Bedürfnis, ständig im Mittelpunkt zu stehen, und jeden aus dem Weg zu räumen, der ihr Konkurrenz machen könnte.

Meine Mutter wußte genau, was in mir vorging, denn ihr war es mit Belinda genauso ergangen. Wenn sie dann wieder abreisten, fehlte plötzlich etwas und wir fühlten uns ein wenig niedergeschlagen; das Leben ohne sie verlief ziemlich eintönig, so daß wir ihren nächsten Besuch kaum erwarten konnten.

Fast war es so, als sei Annabelinda ein Teil von mir – nicht gerade ein Teil, den ich besonders mochte, aber ohne den ich auch nicht sein konnte.

Wir waren gerade mit dem Frühstück fertig, als Sir Robert sagte, daß es ihnen gut bei uns gefallen hätte und daß wir sie in Hampshire besuchen sollten. Mein Vater erwiderte, daß im Parlament gerade eine Menge los sei und er für längere Zeit in London bleiben müsse. Dann müsse er eine Weile nach Marchlands. Wahlbezirke könne und dürfe man nicht vernachlässigen.

»Es ist leichter für euch, nach London zu kommen«, meinte meine Mutter.

»Viel leichter«, pflichtete ihr Tante Belinda bei. »Keine Sorge, liebe Lucie. Du wirst uns bald wieder erdulden müssen. Ich weiß, daß es Annabelinda geht wie mir, nicht wahr, Liebes?«

»Ich bin liebend gerne in London«, bestätigte Annabelinda eifrig.

»Na dann sehen wir uns ja bald wieder«, antwortete meine Mutter.

In diesem Moment stürmte Mrs. Cherry, die Wirtschafterin ohne anzuklopfen in das Zimmer, was sonst gar nicht ihre Art war. Sie war sehr erregt und hielt etwas in der Hand.

»Gnädiger Herr … gnädige Frau … Jane hat … sie hat das gerade gefunden.«

Wir hatten uns alle erhoben, denn Mrs. Cherry hielt das Smaragdarmband und den Ring meiner Mutter in der Hand. Genau jene Stücke, die angeblich während der Gesellschaft gestohlen worden waren.

»Mrs. Cherry!« schrie meine Mutter. »Wo um alles in der Welt …?«

Mein Vater trat zu der Wirtschafterin und nahm ihr die Schmuckstücke ab. »Wo wurden sie gefunden, Mrs. Cherry?« wollte er wissen.

»Im Schlafzimmer, Sir. Sie hatten sich im Volant am Bett verfangen.«

»Das ist doch nicht möglich. Ich bewahre sie immer in der Schmuckschatulle auf«, stammelte meine Mutter.

»Jane hat sie also gefunden?« fragte mein Vater.

»Ja, Sir. Ich werde sie hereinbringen.«

Wir waren total verblüfft. Es gab keinen Zweifel, daß dies die vermißten Smaragde waren. Wie konnten sie sich im Volant verfangen haben?

Meine Mutter bestand darauf, daß sie die Smaragde eine Woche lang nicht getragen und sie davor mit Sicherheit in die Schatulle gelegt hatte. Was war bloß geschehen?

Auf jeden Fall waren die vermißten Smaragde wieder aufgetaucht, und die Polizei mußte informiert werden.

Alle waren sich einig, daß kein Einbruch stattgefunden hatte und die Smaragde nicht in die Schatulle gelegt worden waren; stattdessen hatten sie sich irgendwie in dem Volant verfangen; irgendjemand hatte offensichtlich vergessen, das Fenster zu schließen, und als meine Eltern zu Bett gingen und das geöffnete Fenster sahen, nahmen sie an, daß eingebrochen worden war.

Es folgte eine Entschuldigung an die Polizei sowie eine Spende an die polizeilichen Wohlfahrtseinrichtungen und damit war der Fall abgeschlossen.

Aus diesem Grund erinnere ich mich noch so gut an mein erstes Zusammentreffen mit Carl Zimmermann.

Kapitel 1
La Pinière

Was für ein Glück für mich, in einer Familie aufzuwachsen, in der es so viel Zusammenhalt gab. Stets hatte ich in meiner Kindheit die Sicherheit, daß außer meinen Eltern auch noch andere Menschen für mich da waren. Zum Beispiel Tante Rebecca und ihre Familie in Cornwall, die ich hin und wieder besuchen durfte. Dort lebten auch die Cartwrights – die Familie des Ehemanns von Rebecca. Sie mochten mich ebenfalls sehr.

Tante Rebecca war die Stiefschwester meiner Mutter, und die beiden waren ein Herz und eine Seele; dann gab es da noch Onkel Gerald, den Bruder meines Vaters, ein Oberst im Garderegiment. Er war mit Tante Hester verheiratet, einer sehr energischen Dame, die im Armeeleben völlig aufging. Sie hatten zwei Söhne, meine Cousins George und Harold.

Außer der Familie waren noch die Denvers und Tante Belindas Vater da, Jean Pascal Bourdon – ein faszinierender und ein bißchen geheimnisumwitterter Mann, den, so fand ich, eine fast satanische Aura umgab.

Zu meiner Mutter hatte ich die innigste Beziehung, doch dann kam gleich mein Vater. Ich bewunderte ihn aus tiefstem Herzen. Als hochangesehenes Mitglied des Parlaments mußte er immer sehr viel arbeiten; wenn nicht in London im Unterhaus, dann auf dem Land, in Marchlands, wo er seinen Wahlkreis »pflegte«. Wenn es im Parlament spät wurde, wartete meine Mutter mit einem kleinen Abendbrot auf ihn, und dann saßen sie beieinander und besprachen die Ereignisse des vergangenen Tages. Genau wie damals mit ihrem eigenen Vater, der ebenfalls Abgeordneter gewesen war. Durch ihn hatte sie die Greenhams ja überhaupt erst kennengelernt und einen von ihnen schließlich geheiratet. Manche Leute behaupteten, daß sie diese Angewohnheit von Mrs. Disraeli übernommen habe, die ihrerseits immer auf den großen Benjamin gewartet hatte, um mit ihm über alles zu reden.

Mein Vater war ein sehr angesehener Mann; er wurde oft in den Zeitungen zitiert, wenn er im Parlament oder bei sonstigen Gelegenheiten eine Rede hielt. Obwohl seine Partei seit 1905 an der Macht war, wurde er nie ins Kabinett berufen, was er aber eigentlich auch gar nicht wollte.

Trotz der Tatsache, daß er ein ganz normaler, fürsorglicher Vater war und wir mit allen unseren Sorgen und Nöten immer zu ihm kommen konnten, hatte er ein Geheimnis vor uns. Manchmal verschwand er einfach für eine Weile, und wir wußten nie, wohin er ging und wann er zurückkommen würde. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Mutter mehr wußte als wir. Wenn ja, dann verriet sie es jedoch nicht.

»Er ist in Regierungsgeschäften unterwegs«, beschwichtigte sie uns, aber ich kannte sie gut genug, um ihre Unruhe zu spüren, wenn er weg war, und ihre Erleichterung, wenn er wieder auftauchte.

Wahrscheinlich hatte ich wegen dieser Reisen das Gefühl, das ich einen Teil meines Vaters gar nicht kannte. Deshalb blieb er mir auch immer ein bißchen fremd, ganz im Gegensatz zu meiner Mutter. Er war ein guter Mensch, und ich liebte in über alles, aber dieses dunkle, unbestimmte Geheimnis stand zwischen uns.

Einmal sagte ich meiner Mutter, wie froh ich sei, Lucinda zu heißen, denn sie hieß Lucie, und das mache uns zu einem Teil des anderen. Sie war sehr gerührt und meinte, daß sie sich immer eine Tochter gewünscht habe und daß es der glücklichste Tag ihres Lebens gewesen sei, als ich zur Welt kam. Wie unterschiedlich ihr Leben doch im Vergleich zu meinem verlaufen war. Sie hatte keine so sorglose Kindheit erlebt, war in keiner großen Familie aufgewachsen, die sie liebte.

»Tante Rebecca war wie eine Mutter für mich«, erzählte sie mir. »Ich wage gar nicht daran zu denken, was aus mir geworden wäre, wenn es Rebecca nicht gegeben hätte.« Damals kannte sie nicht einmal ihren leiblichen Vater, und erst viel später fand sie heraus, daß er der bekannte Politiker Benedict Lansdon war und Rebecca ihre Stiefschwester.

Von da an verbrachte sie mit ihrem Vater sehr viel Zeit.

Ab und zu erzählte sie mir von ihm; zuerst strahlte sie immer vor Stolz, wurde dann aber meist von großer Traurigkeit erfaßt. Denn eines Tages, als er gerade in eine Kutsche steigen wollte, die ihn zum Unterhaus bringen sollte, wurde er von einem irischen Terroristen erschossen. Sie war dabei gewesen, als es passierte.

Ich versuchte, nachzuempfinden, wie es ist, wenn man erlebt, wie der eigene Vater erschossen und das Leben eines geliebten Menschen einfach ausgelöscht wird. Sie hat sich, glaube ich, niemals wirklich davon erholt. Das war erst der Anfang vieler tragischer Erlebnisse, die sie durchstehen mußte, bevor sie mit meinem Vater endlich das große Glück fand.

Davor war sie schon einmal verheiratet gewesen, aber darüber sprach sie nie, und ich wußte, ich durfte nicht fragen. Sie konnte sich nur sehr selten dazu überwinden, über jene Tage zu sprechen.

»Manchmal ist es ganz gut, großes Leid zu erfahren, denn erst dann wird man das wahre Glück wirklich schätzen lernen, wie es Leute, die nie das Gegenteil erlebten, vielleicht nicht können«, sagte sie einmal.

Ich war sehr froh, daß sie meinen Vater geheiratet und mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen hatte.

»Jetzt hast du ja uns … Vater … Charles und mich«, tröstete ich sie.

»Ja, Gott sei Dank!« erwiderte sie. »Lucinda, hoffentlich wirst du eines Tages genauso glücklich sein und eigene Kinder haben; dann kannst du verstehen, wieviel Freude sie bereiten.«

Die Denvers standen uns sogar fast noch näher als unsere Blutsverwandten. Tante Belinda und ihre Tochter überraschten uns oft mit ihrem Besuch, manchmal kündigten sie sich auch kurz vorher an. Mrs. Cherry fand sogar, daß sie unser Haus lediglich als Hotel benützten und wunderte sich, warum die gnädige Frau so etwas zuließ.

Oft besuchte ich die Denvers auch in Hampshire. Sie besaßen dort ein herrliches Landgut mit großem Grundbesitz. Sir Robert war sehr stolz darauf, das Gut mit Hilfe seines Sohnes Robert zu verwalten.

Mir gefiel es immer gut auf dem Landsitz in Caddington, ja ich fand Caddington Manor sehr aufregend. Es war wesentlich älter als Marchlands und bestand schon seit der Zeit der Rosenkriege. Von Anfang an war es im Familienbesitz der Denvers gewesen. Der erste Denver hatte von der Thronbesteigung Heinrichs VII. profitieren können und unter den Tudors ging es der Familie weiterhin sehr gut. Während der ganzen Auseinandersetzung blieben die Denvers den Lancasters treu, und so zierte die Rote Rose denn auch Wände, Feuerstellen und Treppenaufgänge im ganzen Haus. Ich lernte bereits bei meinem ersten Besuch in Caddington Manor eine ganze Menge über die Rosenkriege.

Die Ahnengalerie fand ich besonders interessant. Annabelinda allerdings fertigte mich kurz ab, als ich von ihr etwas über die Menschen auf den Bildern wissen wollte.

»Die sind doch alle längst tot«, meinte sie nur. »Wenn wir doch in London leben könnten! Aber mein Vater will das einfach nicht, und darüber läßt er auch nicht mit sich reden.«

»Was dich und deine Mutter nicht davon abhalten kann, uns zu besuchen«, erwiderte ich.

Annabelinda lachte. Sie und Tante Belinda übten freundliche Nachsicht mit ihrem Vater. Er war zwar der Ernährer der Familie, die liebenswerte, tolerante Figur im Hintergrund, aber wehe, er stellte sich ihrem Vergnügen in den Weg.

Trotz ihres Familienstammbaums interessierte sich außer Robert keiner mehr für die Vergangenheit als ich.

Eine wahnsinnig aufregende Bekanntschaft, die ich dank der engen Freundschaft mit den Denvers machte, war die von Annabelindas faszinierendem Großvater, Jean Pascal Bourdon.

Er war völlig anders als alle anderen, die ich bis dahin getroffen hatte.

Tante Celeste, die in London ganz in unserer Nähe wohnte und die wir oft sahen, war seine Schwester. Sie war eine bescheidene Frau, die nach dem Tod meiner Großmutter Benedict Lansdon geheiratet hatte und auch noch mit ihm verheiratet war, als er ermordet wurde. Es war alles ziemlich kompliziert – wie es wahrscheinlich in solchen Fällen immer ist aber jedenfalls war Celestes Bruder der Vater von Tante Belinda. Alle waren damals maßlos entsetzt, denn Tante Belindas Mutter war Näherin im Haus der Bourdons gewesen, und das Kind wurde jahrelang geheimgehalten. Es muß für Tante Belinda ein freudiger Schock gewesen sein, als sie es erfuhr. Da ich Annabelinda bestens kannte und damit auch ihre Mutter, der sie in so vielen Dingen glich, konnte ich mir genau vorstellen, wie begeistert sie gewesen sein muß, die Tochter dieses fesselnden Mannes zu sein.

Jean Pascal Bourdon war reich, ein Weltmann und so völlig anders als all die Leute, die wir sonst kannten. Sobald er herausgefunden hatte, daß Tante Belinda seine Tochter war, nahm er sich ihrer an. Auf seinem Schloß in der Nähe von Bordeaux traf sie dann auch Sir Robert Denver.

Jean Pascals Fürsorge übertrug sich auf seine Enkelin, und es versteht sich von selbst, daß Annabelinda ganz hingerissen von ihm war. Sie verbrachte immer einen Monat im Jahr bei ihm, für gewöhnlich während der Weinlese, und einmal durfte auch ich mit ihr reisen.

Meine Mutter und Tante Rebecca waren nicht sehr begeistert von dieser Idee. Aber Annabelinda hatte es sich in den Kopf gesetzt, und Tante Belinda stimmte ihr zu. »Warum in aller Welt sollte sie nicht mitgehen? Das Kind kann nicht ewig an deinem Rockzipfel hängen, Lucie. Es wird langsam Zeit, daß sie etwas von der Welt sieht und sich entfalten kann.«

So durfte ich also mit und war restlos begeistert vom Schloß, der herrlichen Umgebung, den Weinbergen, dem Land und hauptsächlich natürlich von Monsieur Jean Pascal Bourdon selbst.

Ungefähr zwei Jahre vor meinem zehnten Geburtstag hatte er eine Frau seines Alters aus dem französischen Hochadel geheiratet. Nicht, daß ein Adelstitel heutzutage noch viel bedeutet, er war lediglich ein Relikt aus vorrevolutionären Zeiten. Die Tatsache, daß Jean Pascal wieder verheiratet war, milderte die Mißbilligung meiner Reisen nach Frankreich seitens meiner Mutter und Tante Rebecca. Die Fürstin würde wenigstens dafür sorgen, daß der Haushalt mit der angemessenen Schicklichkeit geführt wurde; und so durfte ich schließlich öfter nach Frankreich, natürlich in Begleitung Annabelindas.

Ich freute mich immer riesig auf diese Reisen, denn ich liebte es, die Gegend zu durchstreifen und am See die Schwäne zu beobachten. Meine Mutter hatte mir von dem schwarzen Schwan erzählt, der in ihrer Kindheit an diesem See gelebt und jeden angegriffen hatte, der sich zu nahe an das Wasser herantraute. Sie hatten ihn Diable getauft, und seine Gefährtin, die so zahm war wie er wild, nannten sie Ange.

Diese Geschichte gefiel mir deswegen besonders gut, weil der Schwan eines Tages meine Mutter attackierte und Jean Pascal sie gerettet hatte.

Ich fühlte mich auf dem Schloß immer willkommen. Jean Pascal unterhielt sich mit uns wie mit Erwachsenen, was Annabelinda sehr gefiel. Er und die Fürstin waren die einzigen Menschen, vor denen sie einen gewaltigen Respekt hatte.

Als wir eines Tages am See saßen, kam Jean Pascal vorbei. Er erzählte mir, wie sehr er meine Mutter bewundert habe, die einst mit Tante Belinda auf das Schloß gekommen war.

»Es war ihr einziger Besuch«, sagte er. »Sie traute mir nicht ganz über den Weg. Natürlich ohne jeden Grund, denn ich verehrte sie. Ich freute mich sehr für sie, als sie deinen Vater heiratete. Er war genau der richtige Mann für sie. Diese erste Ehe …« Er schüttelte den Kopf.

»Darüber spricht sie nie«, entgegnete ich.

»Es ist auch besser, man vergißt diese ganze Affäre. So etwas Unerfreuliches streicht man am besten ganz schnell aus der Erinnerung. Daran sollten wir uns alle halten.«

»Es ist nicht immer leicht, zu vergessen.«

»Reine Gewohnheitssache.«

»Haben Sie sich daran gewöhnt?«

»So sehr sogar, daß ich ein Meister in der Kunst des Vergessens geworden bin, kleine Lucinda. Deshalb mache ich einen so zufriedenen Eindruck.«

Damit brachte er mich wie immer zum Lachen. Er wirkte ziemlich verrucht, schien deshalb die Schwächen anderer Menschen besser zu verstehen und fällte längst kein so hartes Urteil über seine Mitmenschen wie andere Leute.

»Hüte dich vor den allzu Frommen«, warnte er mich. »Hüte dich vor den Menschen, die mit ihren hohen Ansprüchen protzen. Oft können sie ihnen selbst nicht gerecht werden und gehen dann um so härter mit den anderen ins Gericht, denen es ebenso ergeht. Lebe dein Leben, wie es für dich am besten ist, genieße es und gestehe anderen Leuten dasselbe Recht zu.«

Dann erzählte er mir, wie er eines Morgens den guten alten Diable mit dem Kopf unter Wasser im See vorfand. Das war sehr ungewöhnlich und er verstand nicht gleich, was passiert war. Er rief dem Schwan etwas zu und schlug mit einem Stock ins Wasser. Das Tier reagierte nicht. Armer Diable. Er war tot. Das war das Ende seiner Herrschaft. »Eine ziemlich traurige Geschichte«, fügte er hinzu.

»Und die arme kleine Ange?«

»Sie vermißte den alten Tyrannen. Eine Zeitlang durchstreifte sie alleine die Gegend um den See, aber knapp ein Jahr später starb sie ebenfalls. Jetzt haben wir diese weißen Schwäne. Sind sie nicht wunderschön und friedlich? Wenigstens braucht man sich nicht mehr mit einem Stock zu bewaffnen, wenn man zum See geht, aus Angst vor einem Angriff aus dem Hinterhalt. Aber irgend etwas fehlt trotzdem. Komisch nicht? Wie wir uns doch daran gewöhnen, die Bösewichte dieser Welt zu lieben! Ziemlich ungerecht, das ist wahr, aber das Böse ist oft anziehender als das Gute.«

»Kann das Böse wirklich anziehender sein als das Gute?« fragte ich ihn.

»Tja, so pervers ist die Welt nun mal«, seufzte er.

Ich fand es immer sehr interessant, ihm zuzuhören, und ich bildete mir ein, daß er sich sehr gerne mit mir unterhielt. Dieser Eindruck bestärkte sich noch, als Annabelinda erste Spuren von Eifersucht zeigte.

Ich wäre sehr enttäuscht gewesen, Jean Pascal nicht mehr besuchen zu können.

Tante Belinda kam manchmal auch dorthin, sehr zur Freude ihres Vaters. Die Fürstin und sie kamen ebenfalls gut miteinander aus. Seit seiner Hochzeit nahm Jean Pascal wieder rege am gesellschaftlichen Leben teil, die beiden hatten sehr oft Gäste von hohem Rang und Namen.

»Die warten doch alle nur auf eine neue Revolution. Dieses Mal zu ihren Gunsten, damit sie die alte Herrlichkeit wieder aufleben lassen können«, meinte Annabelinda.

Ich teilte Annabelindas Meinung, daß unsere Reise nach Frankreich immer das schönste Ereignis im ganzen Jahr war.

Im Schloß mußten wir allerdings immer französisch sprechen. Das sei gut für uns, hieß es. Jean Pascal machte sich über unseren Akzent lustig.

»Ihr solltet genauso fließend französisch sprechen können wie ich englisch«, ermahnte er uns. »Das ist ein sehr wichtiger Teil der Allgemeinbildung für alle außer den Bauern und den Engländern.«

Im Jahr 1912, als ich dreizehn Jahre alt war, stand unsere weitere Schulbildung zur Debatte.

Tante Belinda hatte Sir Robert davon überzeugt, daß Annabelinda auf eine Schule in Belgien gehen sollte. Die Schule, die sie ausgewählt hatte, gehörte einer französischen Aristokratin, einer Bekannten von Jean Pascal. In dieser Schule lernten die Mädchen so perfekt französisch, daß sie sich auch mit der führenden Schicht des Landes ohne weiteres unterhalten konnten, vielleicht nicht gerade auf hochwissenschaftlicher Ebene, aber bestens vertraut mit der gesellschaftlichen Etikette.

Annabelinda war restlos begeistert, stellte aber die Bedingung, daß ich mitgehen mußte. Das überraschte mich ein bißchen, aber eigentlich hätte ich damit rechnen müssen. Annabelinda hatte schon immer ein Publikum gebraucht, und über die ganzen Jahre hinweg hatte ich diese Rolle perfekt gespielt. Sie ließ sich durch nichts davon abbringen, daß ich mit ihr nach Belgien gehen sollte.

Meine Mutter war zunächst dagegen.

»So weit weg!« wandte sie ein. »Und für so lange!«

»Es ist auch nicht weiter als Schottland«, beruhigte sie Tante Belinda.

»Wir reden jetzt aber nicht über Schottland.«

»Du mußt an dein Kind denken. Das Wohl des Kindes muß immer im Vordergrund stehen«, fuhr Tante Belinda scheinheilig fort. Das erbitterte meine Mutter besonders, denn noch nie hatte Tante Belinda ihr eigenes Wohl hintenangestellt. Sie hatte schon immer zuerst nach sich selbst geschaut.

»Ich weiß, daß Lucinda dort eine erstklassige Ausbildung erhalten würde«, ließ Tante Celeste vernehmen. »Mein Bruder ist sich da absolut sicher. Die Schule hat einen sehr guten Ruf. Mädchen guter Familien aus ganz Europa gehen dorthin.«

»Aber es gibt doch auch in England gute Schulen«, widersprach meine Mutter.

Mein Vater hielt es für eine gute Idee, ein Mädchen eine Weile in eine ausländische Schule zu schicken. Es gäbe keine bessere Möglichkeit, die Sprachkenntnisse zu vervollkommnen. »Man kann dort auch Deutsch lernen. Sie würde gleich das richtige Sprachgefühl bekommen und das ist sehr viel wert.«

Ich wollte unbedingt mit auf diese Schule, schon allein wegen der Überheblichkeit, die Annabelinda an den Tag legen, wenn sie von dem Internat nach Hause kommen würde. Außerdem wollte ich auch dorthin, weil ich früher oder später sowieso auf eine Schule gehen mußte, da meine Gouvernante mir nichts Neues mehr beibringen konnte. Mittlerweile wußte ich genauso viel wie sie und konnte fast schon selbst andere Kinder unterrichten. Mit jedem Tag wuchs mein Wunsch, mit Annabelinda zu gehen. Obwohl meine Mutter dies genau wußte, konnte sie sich nicht entscheiden.

Tante Celeste, die nicht viel sagte, aber viel Einfühlungsvermögen besaß, erkannte, daß es meiner Mutter insgeheim nicht paßte, mich so nah bei Jean Pascal zu wissen, dem sie nicht über den Weg traute.

»Die Fürstin hält große Stücke auf diese Schule«, versuchte sie meine Mutter zu überreden. »Sie wird ein Auge auf die Mädchen haben. Ich kenne Madame Rochère, sie ist eine sehr tüchtige Dame. Und außerdem liegt die Schule weit weg vom Schloß. Die Fürstin hat zwar ein Haus ganz in der Nähe, aber sie und Jean Pascal halten sich dort nur sehr selten auf. Das Haus liegt nicht in Belgien, sondern nahe der Grenze in Valenciennes. Madame Rochère ist sehr zuverlässig – vielleicht ein wenig streng, aber ein bißchen Disziplin hat noch keinem geschadet. Sicherlich kann Annabelinda davon nur profitieren … und Lucinda auch. Sie sollten zusammen gehen, Lucie. Zusammen wäre es doch auch viel einfacher für die beiden.«

Zu guter Letzt gab meine Mutter nach, hauptsächlich, weil ich so enthusiastisch war.

Ich wollte unbedingt gehen. Wie abenteuerlich, endlich einmal etwas ganz anderes zu erleben. Und für alle Fälle war Annabelinda ja bei mir.

So geschah es also. Annabelinda und ich trafen aufgeregt unsere Vorbereitungen, und am 3. September des Jahres 1912 verließen wir England in Begleitung von Tante Celeste.

Ich hatte mich liebevoll von meinen Eltern verabschiedet, die mit Tante Belinda nach Dover gekommen waren, um uns und Tante Celeste auf der Fähre nachzuwinken. Wir sollten die Nacht im Haus der Fürstin in Valenciennes verbringen und von dort am nächsten Tag Weiterreisen. Die Fürstin würde uns in ihrem Haus erwarten. Von dort aus war es nicht mehr weit zur Schule, sie lag nur ein paar Meilen westlich von der Stadt Mons.

Meine Mutter war ein wenig besänftigt, daß Tante Celeste uns begleitete. Sie wurde dringend von Jean Pascal wegen der bevorstehenden Weinernte zu Hause im Schloß gebraucht.

Tante Celeste hatte meiner Mutter und Tante Belinda versichert, daß die Fürstin sich äußerst aufmerksam um uns kümmern würde. Die Schülerinnen konnten sich gelegentlich ein Wochenende frei nehmen, vorausgesetzt, sie hatten Verwandte oder Freunde in der Nähe, die sie besuchen konnten, und die Fürstin würde sich gegebenenfalls der Mädchen annehmen. Außerdem könnte uns Celeste selbst auch so ab und zu besuchen. Meine Mutter meinte, sie habe Celeste selten so ausgeglichen erlebt wie jetzt, wo sie sich um Annabelinda und mich kümmern konnte.

»Wirklich schade, daß sie keine eigenen Kinder hat«, fuhr sie fort. »Das hätte ihrem Leben gleich einen ganz anderen Sinn gegeben.«

Dafür waren wir nun eine kleine Entschädigung.

Obwohl mir der Abschied von meinen Eltern sehr schwer gefallen war, sah ich der Zukunft mit großer Spannung entgegen; die Tatsache, daß sich eine gewisse Ängstlichkeit mit einschlich, tat meiner freudigen Erwartung keinen Abbruch. Annabelinda erging es nicht viel anders.

Nach der einen Nacht in Valenciennes fuhren wir mit dem Zug über die Grenze nach Belgien. Begleitet wurden wir von der Fürstin. Die Fahrt nach Mons dauerte nicht sehr lange und schon bald saßen wir in der Kutsche, die uns die wenigen Meilen vom Bahnhof zur Schule brachte.

Wir hielten vor einem grauen steinernen Pförtnerhaus. Dahinter konnte ich nur Kiefern sehen. An einer grauen Steinmauer, die unendlich lang zu sein schien, hing eine große Tafel, auf der in schwarzen Buchstaben geschrieben stand:

La Pinière

Pension de Jeunes Demoiselles

»Der Kiefernhain«, sagte Annabelinda. »Hört sich das nicht romantisch an?«

Ein Mann trat aus dem Pförtnerhaus und sah uns fragend an.

»Mademoiselle Denver und Mademoiselle Greenham sind neue Schülerinnen«, klärte ihn Tante Celeste auf.

Der Mann spitzte den Mund und winkte uns weiter.

»Er scheint nicht sehr erfreut, uns zu sehen«, stellte ich fest.

»So ist er halt«, erwiderte Tante Celeste.

Wir fuhren weiter auf einem breiten von Kiefern gesäumten Weg, deren aromatischer Duft die Luft erfüllte. Nach ungefähr einer halben Meile konnten wir die Schule sehen.

Völlig überrascht hielt ich den Atem an. Ein solches Gebäude hatte ich gewiß nicht erwartet. Es war groß und eindrucksvoll, umgeben von gepflegten Rasenflächen, wo sogar ein Springbrunnen plätscherte. Bestimmt stand es da schon einige Jahrhunderte – mindestens fünf, schätzte ich. Später erfuhr ich, daß es in der Mitte des 15. Jahrhunderts gebaut worden war und sich seit 300 Jahren im Besitz der Familie Rochère befand. Vor 30 Jahren, als Madame Rochère gerade kühne 20 Jahre alt gewesen war, mußte sie eine Einnahmequelle finden, um das Anwesen halten zu können. Sie versuchte es mit der Schule, und die Idee hatte sich bewährt.

Ich kannte mich ein bißchen in Architektur aus, da mich unser Haus in Marchlands, das auch ziemlich alt war, und das der Denvers schon immer interessiert hatten. Robert kannte mein Interesse und hatte in der Bibliothek eine Reihe von Büchern für mich aufgestöbert.

Daher war ich jetzt in der Lage, den traditionell gotischen Stil zu erkennen und später die in den Granit gemeißelten Fresken und weitere Details zu bewundern.

»Es ist uralt!« rief ich. »Es ist wundervoll!«

Die anderen waren viel zu aufgeregt, um mir zuzuhören. Wir stiegen aus und erreichten über sechs Steinstufen den Eingang.

An der eisenbeschlagenen Tür hing ein riesiger Klopfer, der von einem Kopf eines wilden Kriegers gehalten wurde.

Tante Celeste klopfte an. Nach einer Weile ging eine Klappe auf.

»Ich bin Madame Lansdon mit den Mädchen«, verkündete Tante Celeste.

Ein Mann öffnete langsam die Tür. Er schaute uns von oben bis unten an, nickte und brabbelte etwas Unverständliches, und ließ uns schließlich eintreten. Drinnen sprach Celeste mit ihm; er nickte wieder und verschwand.

Dann sah ich Madame Rochère zum ersten Mal. Sie war persönlich erschienen, um uns zu empfangen. Wahrscheinlich nur, weil, wie ich vermutete, die Fürstin dabei war, die sie respektvoll willkommen hieß; nach einer höflichen Begrüßung von Celeste, die als Schwester von Jean Pascal auch eine gewisse Beachtung verdiente, wandte sie sich an uns.

»Und das müssen die Mädchen sein«, sagte sie.

»Ja, genau«, bestätigte Celeste.