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Frank Göhre

DER LETZTE FREIER

Krimi * Nautilus

KALIBER .64

Edition Nautilus

1

Am letzten Freitag im Mai wurde Tanja, 27, naturblond und nahtlos sonnenbankgebräunt, von ihrer zwei Jahre älteren und im siebten Monat schwangeren Schwester Anita Knipp angerufen. Es war ca. 14 Uhr, und Tanja war gerade erst aufgestanden.

Nach den üblichen Floskeln über ihr jeweiliges Befinden lud Anita ihre Schwester zum Nachmittagskaffee am kommenden Sonntag ein. Tanja ließ offen, ob sie erscheinen werde. Sie erklärte, momentan gut im Geschäft zu sein und wollte den klasse Lauf, wie sie es nannte, nutzen.

2

Bernd Küster, 31, ein eigentlich eher unscheinbarer kaufmännischer Angestellter, bekleidet allerdings mit einem auffallend gemusterten Jackett und einer hellgrauen Flanellhose, verließ um Punkt 14.30 Uhr seinen Arbeitsplatz in der Druckerei Ebers und ging die knapp dreihundert Meter zur U-Bahnstation Niendorf.

Küster war schlecht gelaunt. Er hatte am Abend zuvor wieder einmal Streit mit seiner Mitbewohnerin Monika gehabt, einer in seinen Augen mittlerweile total frustrierten Zicke, die neben ihrem offenbar nie enden wollenden Biologiestudium in einer Barmbeker Kneipe jobbte. Küster überlegte jetzt, wie sich die nun schon zweieinhalbjährige Wohngemeinschaft mit ihr möglichst stressfrei beenden ließ.

3

Monika Graf, 28, eine zu Übergewicht neigende Brünette, kaufte zu der Zeit im »Sparmarkt« ein. Sie wollte an diesem Abend für Bernd und sich ein chinesisches Gericht zubereiten, Basmatireis mit Frühlingszwiebeln, Pilzen, Scampis und fein geschnittenem Schinkenspeck. Dazu sollte es einen guten, aber nicht zu teuren Weißwein geben, und zum Nachtisch eine Quarkspeise mit frischen Früchten.

Monika bedauerte ihren gestrigen Ausbruch, denn im Grunde ihres Herzens mochte sie den ihr lediglich etwas zu peniblen und auch extrem schüchternen Bernd gern. Insgeheim wünschte sie sich, dass er einmal ganz aus sich herauskam, ihr einfach eine langte und sie inmitten ihres ständig unaufgeräumten Zimmers flachlegte.

Der Gedanke daran erregte sie dermaßen, dass sie tatsächlich feucht wurde. Mit geröteten Wangen reihte sie sich an der Kasse in die Warteschlange ein.

Monika zahlte, steckte das Wechselgeld ein und schulterte ihre Einkaufstasche.

4

Bernd Küster bestieg den ersten Wagen der U2 in Richtung Berliner Tor. An der Station Osterstraße setzte sich ihm eine Mutter mit einem etwa vier, fünf Jahre alten Jungen gegenüber. Der Junge schleckte ein Eis. Die Mutter schlug die taz auf und begann zu lesen. Der Junge bekleckerte mit dem Eis sich und den Sitz.

Bernd Küster schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

Der Junge streckte ihm die Zunge raus.

Bernd Küster war nahe daran, ihm eine zu knallen.

5

Tanja duschte, frottierte sich ab und cremte sich ein.

Es war 14.43 Uhr, und es war ein herrlich sonniger Tag.

6

Kriminalhauptkommissar Jörg Fedder und seine vom Einbruch- und Diebstahldezernat in das Morddezernat gewechselte Kollegin Karin Neuenfels hatten an diesem Wochenende Dienstbereitschaft und in der Gewissheit, im Verlauf dieser Tage noch oft genug gefordert zu sein, gingen sie es ruhig an.

Fedder hatte sich seine Steuererklärung vorgenommen und Karin Neuenfels telefonierte von ihrem privaten Handy aus mit ihrem zu einer Tagung bundesdeutscher Juristen nach Berlin gereisten Mann Klaus.

Karin Neuenfels war, den schon beinahe hochsommerlichen Temperaturen entsprechend, nur leicht bekleidet. Sie trug eine dünne, weit geschnittene Leinenhose, unter der sich, wenn sie sich bückte, ihr schmaler Slip abzeichnete. Dazu eine locker fallende Bluse ohne Kragen, die bis zum Brustansatz offen war. Einen BH trug sie nicht.

Fedder war nicht zum ersten Mal von ihrem Anblick äußerst angetan. Obwohl er sich mit seiner seit vielen Jahren von ihm geschiedenen Ex zur Zeit relativ gut verstand und sogar schon einmal wieder mit ihr geschlafen hatte, war sein Wunsch nach einer neuen festen Beziehung groß und Karin wäre genau die Frau, mit der er es riskieren würde. Aber dummerweise war sie verheiratet. Und allen Anzeichen nach war sie auch glücklich verheiratet.

Jetzt verabschiedete sie sich von ihrem Klaus und schenkte Fedder über die beiden zusammengestellten Schreibtische hinweg ein Lächeln.

Fedder erwiderte es.

»Alles bestens?«, fragte er.

»Klaus geht heute Abend mit einigen Kollegen ins Theater«, erklärte Karin. »Cabaret. Ich hätte auch mal wieder Lust.«

»Auf was?«

»Mal wieder ausgehen. Schick essen, Theater, Konzert – einen netten Abend haben.«

»Nächstes Wochenende hast du frei.«

»Da ist Klaus in Stuttgart, und die Woche über …« Sie machte eine wegwerfende Geste. »Vergiss es.«

»Ich?«

»Quatsch. Du weißt, was ich meine.« Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme im Nacken. Fedder sah auf die Uhr.

»Essen müssen wir zwischendurch auch mal.«

»Klar – bestenfalls an einer Imbissbude.«

Fedder schob seine Steuerunterlagen zusammen und stand auf.

»Dienstbereitschaft heißt lediglich, jederzeit erreichbar zu sein«, sagte er. »Egal wo. Welche Landesküche bevorzugst du? Italienisch, Spanisch, Griechisch, Asiatisch – ich lad dich ein.«

»Ja, und dann müssen wir beim ersten Bissen gleich wieder los, weil irgendwo eine Leiche herumliegt. Danke, das macht keinen Spaß.«

»Riskieren wir’s«, sagte Fedder. »Also – was steuern wir an?«

»Du bist verrückt«, sagte Karin, aber sie stand ebenfalls auf und überlegte kurz. »Italienisch kommt gut«, sagte sie dann.

Und so brachen Kriminalhauptkommissar Jörg Fedder und seine Kollegin Karin Neuenfels kurz nach 18.00 Uhr vom Präsidium in Alsterdorf zum Kiezitaliener »Piceno« auf, während Monika Graf sich fragte, wo ihr ansonsten überaus pünktlicher Mitbewohner Bernd Küster blieb, und Tanja sich auf der Schmilinskystraße zu dem Fahrer eines silbergrauen Toyota beugte und die Preise für ihre sexuellen Praktiken nannte.

7

Um 18.30 Uhr betrat der Kücheneinrichtungsberater Hans-Hermann Pfahl, 53, das Foyer des »Maritim Reichshof Hotel« neben dem Schauspielhaus. Er war mit einer schwarzen Joop-Jeans, einem dunkelblauen Hemd und einem Ton in Ton gehaltenen Blouson bekleidet. Hans-Hermann Pfahl war ein gut aussehender Mann, der mindestens zweimal wöchentlich im Winterhuder »Kieser«-Studio an den Geräten trainierte.

Pfahl war in zweiter Ehe mit der Gymnasiallehrerin Astrid verheiratet, die ihren inzwischen 14-jährigen, nur Olli genannten Sohn mit in die Lebensgemeinschaft gebracht hatte. Der leibliche Vater war ebenfalls Lehrer und nach Pfahls nur zu gern geäußerter Meinung ein absolutes Arschloch. Olli war keinen Deut besser. Der Junge war ein Superarschloch. Iris war am frühen Nachmittag mit ihm übers Wochenende zu ihren in Kiel lebenden Eltern abgerauscht. Gute Reise dann und viel Spaß! Er jedenfalls hatte Arschloch Olli für zwei Tage vom Hals und auch ansonsten freie Bahn.

Hans-Hermann Pfahl war im »Maritim« mit der »bulthaup«-Repräsentantin Inge Kottke verabredet, um mit ihr über bessere Konditionen zu verhandeln. Er hatte ein paar neue Kunden an der Hand, denen er preislich entgegenkommen wollte, insbesondere einer ungemein attraktiven Witwe in Ottensen, Ende vierzig und in Pfahls Fantasie zu mehr als einer Sünde bereit.