Aus dem Amerikanischen von René Ulmer

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Ghouls

erschien 1988 im Verlag Pinnacle.

Copyright © 1988 by Edward Lee

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Anca Mitroi – https://masqueradeinfernale.wordpress.com

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-636-6

www.Festa-Verlag.de

Für (meine)

Betsey.

Auf ewig

und darüber

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s.

PROLOG

RIAD, SAUDI-ARABIEN 1978

Der Colonel benutzte Zigaretten, um festzustellen, wie viel Zeit verging.

Er rauchte alle 15 Minuten eine, weshalb laut den im Aschenbecher versammelten Stummeln eineinhalb Stunden vergangen sein mussten.

Eineinhalb Stunden?

Langsam öffnete er den Mund und blinzelte erstaunt angesichts dieser Tatsache. Er hatte das Gefühl, schon seit Tagen hier im Jeep auf sie zu warten. Dementatus proximus, dachte er. Gerade mal eineinhalb Stunden. Es fühlte sich vielmehr so an, in einem sich überschlagenden Albtraum festzusitzen, in dem die Zeit rückwärtslief und sich die Welt in entgegengesetzter Richtung drehte.

Er versuchte, nicht an die Schreie zu denken.

Seiner Uhr zufolge war es Viertel nach drei. War die Batterie leer? Er war davon überzeugt, sie erst kürzlich ausgetauscht zu haben; Sanders hatte es ihm befohlen, ihnen allen. Trotzdem verzerrte irgendetwas das Zeitempfinden des Colonels, genauso wie seine Orientierung. Die Nacht und das stundenlange Warten spielten mit seinen Sinnen, sodass er sich auf nichts mehr verlassen konnte. Der Mond zerrte geradezu an seinem Hirn. Er sah zu der Maschinenpistole in seinem Schoß und fragte sich, was sich ihr früherer Besitzer dabei gedacht haben mochte, 13 perfekte Knoten in den Tragegurt zu machen. Die Waffe lag wie ein tot geborenes Kind auf seinen Beinen; er berührte sie kaum. »M3A1«, hatte ihm Sanders erklärt. »Einfach, zweckmäßig, wenige bewegliche Teile. Die kostengünstigste Waffe in der Waffenkammer und die zuverlässigste.« Auf den Colonel allerdings machte sie einen zerbrechlichen und billigen Eindruck; die Oberfläche sah nach mattem grauem Wachs aus, und so fühlte sie sich auch an. »Und sie hat nie Ladehemmungen«, hatte Sanders noch betont. »Man kann sie verbiegen, drauf pissen, die Kammer mit Sand vollstopfen, aber sie hat nie Ladehemmungen.« Der Colonel hoffte, er würde die letzte Behauptung nie selbst bestätigen müssen.

Er fragte sich, ob Sanders und seine Männer tot waren.

Vor nicht mal 20 Minuten hatte er Kampfgeräusche gehört. Das langsame, erbärmliche Stottern ihrer Fettpressen, weit entfernte, gequälte Rufe. Und dann waren Granaten (sechs Stück hatte der Colonel gezählt) in der ansonsten totenstillen Nacht explodiert. War alles wie geplant verlaufen? Die Granaten hätten ein Signal für ihn sein sollen, sich in Bewegung zu setzen. »Wenn Sie die Granaten hören«, hatte Sanders ihn angewiesen, »dann wissen Sie, dass wir es raus geschafft haben. Aber wenn nicht, warten Sie nicht auf uns. Dann kommen wir nicht wieder.«

Die Granaten waren ein gutes Zeichen, ein Hinweis auf Erfolg; aber nur Minuten später hatte es noch mehr Lärm gegeben, noch mehr Waffenfeuer. Und danach die Schreie.

Schmerzensschreie, Angstschreie – menschliche Schreie, aber in Verbindung mit etwas anderem, eindeutig nicht menschlichen Ursprungs.

Der Colonel wusste, dass etwas schiefgegangen war.

Er überlegte, den Jeep zu starten und abzufahren, solange er noch die Gelegenheit dazu hatte. Vielleicht war der Plan schiefgegangen. Vielleicht saß er hier und wartete auf die Rückkehr von Toten. Oder, schlimmer noch, vielleicht …

Er hörte einen Schuss. Eine Pistole, dachte er. Sanders hat sich auch eine Pistole mitgenommen. Aber es war etwas, die Andeutung eines Versprechens. Der Schuss bedeutete, dass zumindest einer von Sanders’ Team noch am Leben war.

Der Colonel beschloss, noch zehn Minuten länger zu warten.

Er zündete sich eine weitere Zigarette an und lächelte fast, dachte daran, wie Sanders ihn davor gewarnt hatte, zu rauchen. Irgendein Blödsinn über Feuervorschriften. Benutze immer eine Uhr mit Abdeckung. Benutze niemals eine tickende Uhr. Immer den Müll vergraben. Wenn etwas glänzt, mal es schwarz an. Mal dein Gesicht schwarz an. Mal deine Hände schwarz an. Wenn du deinen Schwanz zum Pissen rausholst, mal ihn an. Dann scharre die Pisse zu. Und unter gar keinen Umständen darfst du nachts rauchen.

War Sanders wirklich nur ein Fanatiker, ein Army-Spinner? Der Colonel dachte darüber nach. Allerdings hatte er Sanders’ Papiere gesehen: zuständig für die Waffenkammer der Botschaft mit einem vertraulichen Spezialaufgabenanhang; Ausbildungen, über die er nicht einmal sprechen durfte; Streifen für absolvierte Operationen an den Ellbogen seiner Uniform. Einmal hatte er dem Colonel das gezeigt, was er scherzhaft als seinen »Schrott« bezeichnete. »Werfen Sie einen Blick auf meinen Schrott«, hatte Sanders angeboten. Ganze Schachteln voller Ausbildungszertifikate des Verteidigungsministeriums. Qualifikationsabzeichen, Achselschnüre, genug Belobigungen als Soldat des Monats, um ein Jahr lang die Wand damit zuzupflastern. Expertenabzeichen für Waffen, von denen noch nie jemand gehört hatte. Belobigungen von Generälen, Divisions- und Gruppenkommandeuren und sogar einen Belobigungsbrief dafür, dass er auf einem Schießstand in Deutschland sämtliche anderen NATO-Teilnehmer übertroffen hatte. Die Unterschrift stammte von Bernard W. Rogers.

Als Nächstes hatte er dem Colonel einen Schuhkarton voll mit Orden für Vietnam gezeigt. Diesem Krieg und dem Inhalt des Kartons gegenüber hatte Sanders stets eine neutrale Scham an den Tag gelegt. »Das ist eine Menge Fruchtsalat und Hühnerkacke. Man hätte mir keine Orden für einen Krieg geben sollen, den wir nicht gewonnen haben. Dieser ganze Scheiß, den man von posttraumatischem Stress und Folter hört, und wie schlimm Vietnam doch gewesen ist. Sagen Sie das mal denen, die in Korea oder Stalingrad waren. Sagen Sie das jemandem, der am D-Day gegen die Waffen-SS gekämpft hat. Da will ich nur kotzen. Das Zeug ist nur dafür gut, dass man es einschmilzt und Kugeln daraus macht.« Dann hatte er die Schachteln wieder in seinen Spind geworfen. »Schrott.« Verwundetenabzeichen. Tapferkeitsabzeichen. Abzeichen für herausragende Tapferkeit.

Nein, Sanders war der Beste, den er finden konnte. Aber reichte das hier aus? Noch eine Frage, die sich der Colonel stellte.

Einfach warten. Sich jetzt Sorgen zu machen bringt auch nichts.

Durch die Windschutzscheibe in ihrem Stahlrahmen betrachtete er einen Streifen des nächtlichen Zenits. Die Abgelegenheit dieses Orts machte ihn immer etwas nervös; er hatte noch nie so sternenklare und endlose Nächte erlebt. Der Mond war eiförmig, ein blasses, missgestaltetes Gesicht am Himmel, hinter dem die endlose Leere mit all ihren Sternen thronte. Rechts von ihm unterbrachen die Tuwaiqkämme den Horizont wie den Rand eines endlosen Kraters. Das waren Hügel, arabische Hügel, die sich wie abgestoßenes totes Gewebe durch die Erdkruste gedrückt hatten. Trotzdem bezeichneten die Saudis sie als Hügel. Sie hatten keine Ahnung, was Hügel waren. Ihre sogenannte geheiligte islamische Welt war kaum mehr als eine Einöde, Steppe auf Steppe aus verbranntem Vulkangestein und einem Ozean aus Sand. Es war Februar, mitten im Winter, und die Temperaturen lagen bei ungefähr 15 Grad. An einem herkömmlichen Sommertag wurde es manchmal bis zu 50 Grad heiß.

Er schob den Kopf durch die Abdeckplane, die das Dach des Jeeps darstellte, kniff die Augen zusammen, versuchte, irgendwo Wolken, zumindest den kleinsten Streifen, zu entdecken. Aber da war nichts. Seit drei Jahren hatte er keine nennenswerten Wolken mehr gesehen. Hier lag die durchschnittliche Niederschlagsmenge im Jahr bei vielleicht zehn Zentimetern. In manchen Gebieten des Leeren Viertels, des Rub al-Chali, regnete es alle drei bis fünf Jahre. Er hatte das Gefühl, dass dieser Ort überhaupt nicht Teil dieser Welt war, abgelegen wie ein anderer Planet. Und ohne die Erdölvorkommen könnten die Saudis ihren Backofen von einem Zuhause nehmen und darin vertrocknen. Ja, die Erde könnte sich auftun und alles verschlucken …

Das Knallen weiterer Pistolenschüsse ließ ihn wie bei einem elektrischen Schlag zusammenfahren. Da kam jemand. Dieses Mal waren die Schüsse näher, sehr viel näher. Er drückte die Zigarette aus, legte die Hand auf seine Waffe.

Er lauschte.

Rechts von ihm hörte er ein Schlurfen. Keuchen. Stiefel, die über die scharfkantigen Rillen des unwegsamen Geländes rutschten. Noch ein Pistolenschuss, der ihn zusammenzucken ließ. Er startete automatisch den Motor des Jeeps, beugte sich zum Fenster hinaus, hob ein Nachtsichtgerät an die Augen, stellte es scharf und suchte dann das seltsam grün gefärbte Gebiet der Hänge ab, über das Sanders und seine Leute kommen würden.

Auf dem Hügelkamm kam eine kleine verzweifelte Gestalt in Sicht. Durch das Nachtsichtgerät sah sie wie ein Insekt aus. Ein Mann, der den Hang heruntergerutscht kam.

Dann hörte er einen Schrei, monströs wie aus der Hölle. Ein Heulen voller Wut.

Es war Sanders. In einer Hand hielt er seine automatische Pistole, in der anderen eine grüne Munitionskiste aus Metall. Er stolperte, sprang in den Jeep, und einen verwischten Augenblick später schrie er: »Los! Los! Fahren Sie!« Während der Colonel ungeschickt einen Gang einlegte, rammte Sanders ein frisches Magazin in seine Pistole, beugte sich hinaus und gab ein paar Schüsse in die Richtung ab, aus der sie kamen. Der Colonel raste die unbefestigte Straße entlang, wurde in seinem Sitz hin und her geworfen; er betete, dass sie auf diesem schlechten Witz von einer Straße kein Rad verlieren würden oder eine Achse brach. Messing flog durch die Luft, als Sanders seine letzten Patronen verschoss. Der Colonel starrte geradeaus; er war dankbar, nicht sehen zu müssen, worauf Sanders schoss.

Acht Kilometer später hielt der Colonel den Wagen an, ließ den Motor laufen. Ohne Unterstützung durch die Lichtmaschine wurden die Scheinwerfer schwächer. Als er Sanders ansah, keuchte er. In Mondlicht gebadet saß Sanders stocksteif mit zum Himmel gerichtetem Blick auf dem Beifahrersitz. Er atmete schwer, saugte die Luft förmlich in sich auf. Er hatte seinen Helm verloren, seine Maschinenpistole, seinen Beutel mit Ersatzmagazinen und seine Taschenlampe. Er ließ den leeren 45er-Colt klappernd auf den Boden fallen. An seiner Wade war ein Fairbairn-Sykes-Kampfmesser befestigt und an seinem Netzgürtel hing noch eine von den Phosphorgranaten, die wie eine staubgraue Coladose mit weißen Buchstaben aussah. Eine Verletzung am Arm färbte sein Feldhemd dunkel. Aus seinen Ohren ragten die grellgelben Ohrstöpsel, ein lächerlicher Kontrast zu seinen vom Trauma weiß geränderten Augen.

Der Blick des Colonels wanderte von Sanders’ Gesicht zu der Metallkiste auf dem Boden.

»Dreckskerl«, keuchte Sanders. Er sah zum Himmel hinauf, nicht zum Colonel.

»Was?«

»Gottverfluchter Dreckskerl. Sie haben gesagt, es wären nur vier.«

»Und?«

»Es war ein Dutzend.«

Schweigen. Der Colonel schluckte schwer, als würde er versuchen, Kies hinunterzuwürgen. Tödliche Fehlinformationen. »O’Brien, Kinnet. Was ist mi…«

»Sie sind tot.« Sanders’ Stimme machte einen Satz, ein unterdrücktes Kreischen.

»Woher wollen Sie das wissen? Vielleicht sind sie noch dort und warten auf uns.«

»Sie sind tot.« Mittlerweile war Sanders wieder etwas zu Atem gekommen. Er sprach wie jemand, den man gerade vorm Ertrinken gerettet hatte. »Beide tot. Ich hab sie gesehen. Beide zerfetzt.«

Der Colonel wandte den Blick ab, spürte die der M3-Maschinenpistole innewohnende Kälte in seinem Schoß. Er wusste, diese Männer waren Sanders’ Freunde gewesen. »Es tut mir leid, Sergeant. Ich habe gedacht, sie wären nur zu dritt oder zu viert … Ein Dutzend, sagen Sie?«

»Mindestens.«

Der Colonel hatte Schwierigkeiten, das zu glauben. »Aber die Waffen, die Granaten … Sie hatten genug dabei, um eine ganze Kompanie auszuradieren.«

»Das sind keine Menschen«, widersprach Sanders. »Und die Waffen, die Granaten … alles nutzlos. Wenn wir fünf von ihnen getötet haben, war das schon viel.« Sanders tätschelte seine Verletzung, ohne sich um die Blutmenge Sorgen zu machen. »Und sie sind schnell. Mein Gott, sind die schnell. Ich glaub … ich glaube, sie sind den Kugeln tatsächlich ausgewichen. Als wir es endlich raus geschafft hatten, habe ich die Luft mit genug Blei gefüllt, um einen Lastwagen aufzuhalten … Eine regelrechte Bleiwand, und sie haben trotzdem nicht aufgegeben. Innerhalb von Minuten hatten sie uns wieder eingeholt … Alles ist schiefgelaufen. Ich weiß immer noch nicht, wie ich da weggekommen bin.«

Darauf antwortete der Colonel nichts. Gedankenverloren fummelte er an der Verschlussabdeckung seiner M3 herum.

»Ich habe keine Ahnung, was beschissen noch mal jetzt passieren wird«, fuhr Sanders fort. »Ich kann meinem Vorgesetzten die fehlenden Waffen erklären. Ich werde ihm sagen, dass ein paar abtrünnige Kameltreiber ins Waffenlager eingebrochen sind oder so was.«

»Und die Munition? Die Granaten?«

»Die werde ich als Übungsverbrauch austragen. Das ist einfach, da stellt niemand Fragen.«

»Wo ist dann das Problem?«

»O’Brien und Kinnet. Früher oder später wird man ihre Leichen finden. Was dann?«

Offensichtlich hatte Sanders seine Panik noch nicht vollends überwunden; er ließ ein paar kleine (und entsetzliche) Details außer Acht. »Sergeant«, sagte der Colonel. »Ihnen ist nachweislich etwas entgangen.«

»Und was wäre das?«

»Man wird die Leichen nie finden.«

Sanders sah nachdenklich durch die Windschutzscheibe. »Oh … stimmt.«

»Sie sehen also, es gibt nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssen; es wird so aussehen, als hätten sich O’Brien und Kinnet ohne Abmeldung aus dem Staub gemacht. Es gibt keine Verbindung zu uns; niemand wird vermuten, dass wir etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben.« Der Colonel schielte erneut zu der Munitionskiste auf dem Boden. Er hielt es nicht länger aus, im Ungewissen zu sein. »Die Kiste. Haben Sie …«

Sanders nickte, schloss die Augen. »Ich hab sie.«

Der Colonel biss die Zähne zusammen. Für ihn stand die Welt still. Sein ganzes Leben stand still.

Sanders griff in den Fußraum, holte die Kiste hoch, wobei ihm die Wunde in seinem Arm Schwierigkeiten bereitete. »Mehr hat nicht reingepasst; ob es Ihnen gefällt oder nicht. Besser als nichts, und fast wäre es nichts geworden …« Dann gab er die Kiste an den Colonel weiter.

Konnte es wirklich sein? Die Kiste war schwer und ungleichmäßig gefüllt. Am Griff klebte Blut. Der Colonel öffnete die Riegel. Nein, nein, dachte er. Das ist ein Traum, ein Traum. Er hob den Deckel, sah hinein, augenblicklich überfluteten tausend Vorstellungen seinen Verstand. In der Kiste sah er den Ruhm der Könige, die Macht der Alchemisten, Weisheit, Reichtum, Größe und mehr. In der Kiste sah er die Geschichte.

»Sie haben, was Sie wollten«, sagte Sanders.

Noch immer von seiner Zukunft träumend, sagte der Colonel mit einer Stimme, die so trocken und so weit wie die Wüste war: »Ja.« Ungläubig zitternd verriegelte er den Deckel wieder und legte die Kiste auf die Rückbank. »Sie haben es geschafft, Sergeant. Sie haben es fertiggebracht. Hervorragend.«

»Also haben Sie jetzt etwas für mich, richtig?«

Der Colonel griff auf die Rückbank. »Das mit O’Brien und Kinnet ist natürlich tragisch. Ich trauere mit Ihnen … aber zumindest müssen Sie jetzt nicht mehr teilen.« Er gab Sanders einen braunen abgewetzten Aktenkoffer mit abgestoßenen Ecken. »Wie vereinbart, Sergeant. 25.000.«

Ein Grinsen wie ein Schnitt spannte sich über Sanders’ Gesicht. Hatte er seine toten Freunde so leicht vergessen? Er legte den Aktenkoffer auf seine Beine, öffnete ihn …

… und starrte den Colonel wütend an. »Was soll der Scheiß, Sie Hurensohn? Ich habe eben meinen Hals für Sie riskiert, und jetzt wollen Sie mich verarschen?«

Der Aktenkoffer beinhaltete kein Geld, stattdessen alte Ausgaben der Army Times, arabische Zeitungen und mehrere aktuelle Ausgaben der britischen Penthouse.

Der Colonel hielt seine M3 auf Brusthöhe, richtete den matten 20 Zentimeter langen Lauf auf Sanders’ Herz. »Tut mir leid, Sergeant. Es tut mir sehr, sehr leid. Aber damit das funktioniert, darf es keine Mitwisser geben. Nicht einmal Sie.«

Und bevor Sanders dazu kam, zu betteln oder sich zu rühren, drückte der Colonel ab, und zehn 45er-Vollmantelgeschosse durchschlugen die Brust des Sergeants, schleuderten ihn aus dem Jeep.

Schießpulverrauch stieg auf, verteilte sich. Der Colonel hustete. Er war überrascht, wie behäbig die Waffe war und wie ungenau. Die Luft um ihn war heiß, voller Schmutz.

Er wedelte den Rauch energisch weg, legte dann einen Gang ein und fuhr davon.

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Ghoul (gōōl) Nomen [Ar. ghāla, auch ghūl]

– aus »Begriffsgrundlagen«,

Das Morakis-Wörterbuch der Weltmythen

Geh schlafen, du wimmerndes, fettes Balg,

sonst fressen dich die Ratten heut’ Nacht.

Da lauert ein Vampir im Keller,

es sind Kobolde in den Wänden,

ein Werwolf im Schrank,

und Ghoule im Flur.

– aus »Der Babysitter« von PHILIP STRAKER

1

»Ja, Chief, Kurt hier.«

»Heilige Scheiße. Darauf wäre ich ja nie gekommen.«

»Die Einsatzzentrale hat mich gerade angefunkt und gesagt, ich soll dich über Festnetz anrufen.«

»Hm. Das war vor einer halben Stunde.«

»Nicht meine Schuld, wenn die so lange warten, bis sie sich melden.«

Bards Worte waren auf einmal undeutlich, schmatzend. Es war bekannt, dass er während Unterhaltungen häufig den Mund voll hatte. Tatsächlich hatte er fast zu jeder Gelegenheit etwas im Mund.

»Ich behaupte nicht, dass es deine Schuld ist. Das ist der Preis, den wir dafür bezahlen, im Kommunikationsnetz des Bezirks eingebunden zu sein. Was taugt eine Polizeidienststelle ohne eigenes Kommunikationssystem, kannst du mir das sagen? Vielleicht werden diese Geizkragen von der Verwaltung irgendwann mal die Gelder rausrücken, damit wir unsere eigene Einsatzzentrale samt Frequenz bekommen. Der beschissene Bezirk tut so, als wären wir absolut unwichtig.«

»Okay. Also, was ist so wichtig?«

»Du musst mir auf dem Rückweg zur Wache eine Packung Donuts besorgen. Die mit Schokoglasur, die großen.«

»Das nenne ich mal wichtige Polizeiangelegenheiten, jawohl, Sir.«

»Nun, es ist wichtig. Ich habe Hunger. Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen.«

»Aber du isst gerade. Ich kann es hören.«

»Halt einfach die Klappe und besorg die Donuts. Und bring mir auch gleich die neue Ausgabe des Hustler mit.«

»Ich werde in Uniform bestimmt keine Pornomagazine kaufen.«

»Das wirst du, es sei denn, du willst die Uniform einer anderen Wache tragen. Baltimore City sucht gerade Leute, wenn dir das niedrigste Startgehalt und die höchste Mordrate des Staates nichts ausmachen. Oder, verdammt, ich bin sicher, jemand mit deiner Erfahrung könnte einen bequemen Posten in Südost D. C. abstauben.«

»Ich hab’s kapiert, Chief.«

»Gut. Wenn es keinen Hustler gibt, bring mir eine High Society mit.«

Kurt wünschte sich, er wäre mit Eiern gesegnet, um Bard zu sagen, wo genau er sich seine Donuts und Magazine hinschieben könne. Drei Monate auf der Polizeiakademie für das hier? Dad wäre stolz auf mich. »Ist das alles, was ich bin, Chief? Ein bewaffneter Laufbursche?«

»Genau, aber bevor du dich daranmachst, lass ich dich zur Abwechslung mal Polizist spielen. Ich habe eine Beschwerde eines Anwohners für dich, möglicherweise einen 7P. Das bedeutet unbefugtes Betreten von Privateigentum, falls du deine Codeliste vergessen hast.«

»Ich weiß, was ein 7P ist, Chief. Ich bin der Einzige hier, der sich überhaupt die Mühe macht, darauf zu reagieren. Also, wie lautet die Adresse?«

»Belleau Wood. Der Anruf kam von der Ehefrau des Grundstückinhabers. Glen kommt erst in ein paar Stunden rein, darum hat sie sich bei uns gemeldet.«

»Das ist das Grundstück von diesem reichen Typen, oder? Doktor Willard? Ich wusste nicht mal, dass er verheiratet ist.«

»Na, jetzt weißt du es. Sie hat gesagt, jemand hat die Kette an einem der Tore geknackt. Wahrscheinlich nur ein paar Jugendliche, die sich gegenseitig in den Arsch ficken oder so was.«

»Soll ich sie festnehmen?«

»Mir scheißegal, benutz deinen gesunden Polizistenverstand. Soweit es mich angeht, kannst du ihnen auch die Schwänze abreißen. Nur kümmer dich darum.«

»Okay, Chief. Bin auf dem Weg.«

»Und nicht vergessen: die mit Schokoglasur, die großen.«

Streifenpolizist erster Klasse Kurt Morris hängte den Hörer des Münztelefons im Spirituosengeschäft ein und ging zu seinem Dienstwagen zurück, einem heruntergekommenen weißen Dodge Diplomat mit eingedrückter Heckstoßstange und einer fehlenden Lampe im Blaulicht. Das Auto sah aus, als hätte man es seit dem Tag seiner Fertigstellung nicht mehr gewaschen, was sehr gut möglich war. Letztlich hatte ihn Glen Rodz gefragt: »Denkst du nicht, es wäre Zeit, die Karre mal zu waschen?«, und Kurt hatte recht logisch geantwortet: »Wieso? Ich sitze beim Fahren nicht auf der Motorhaube.«

Jetzt verließ er den Parkplatz mit quietschenden Reifen, aber nicht, weil er es besonders eilig hatte, sondern weil die abgefahrenen Schlappen mehr Lärm machten, als dass sie Strecke hinter sich brachten. Die Meldung aus Belleau Wood war keine große Sache; über die Jahre hatte er sich um viele solcher Anrufe gekümmert, wenn der Sicherheitswachmann der Gegend, Glen Rodz, nicht im Dienst war. Die Gegend zog die Jugendlichen von Tylersville an. »Genau wie ein Eimer voll Scheiße die Fliegen«, pflegte Chief Bard zu sagen. Häufig waren es nur Bier trinkende Jugendliche, aber meistens gingen sie sich gegenseitig an die Wäsche. Dank 7Ps hatte Kurt so einiges erlebt, und was er auf den Rückbänken einiger dieser Autos gesehen hatte, hätte selbst John C. Holmes aus den Latschen gehauen.

So allmählich machte sich der April bemerkbar. Zum ersten Mal dieses Jahr bemerkte Kurt, wie alles um ihn herum lebendiger und farbenfroher wurde. Der hässliche graue Schnee war geschmolzen und offenbarte darunter den sauberen, schwarz schimmernden, sich dahinwindenden Asphalt der Route 154. Bäume, die vor einem Monat noch kahl gewesen waren, trugen mittlerweile ihr grünes Blätterkleid. Links leuchtete kupferfarben das riesige Maisfeld der Mersels. Das fruchtbare Braun der frisch umgepflügten Erde würde schon bald voller mannshoher Maisstauden stehen, die das ganze Gebiet grün färbten. Die Farben wirkten kräftiger, intensiver und die Luft roch geradezu nach Leben. Das war mehr als ein Wechsel der Natur; es war wie eine Wiederherstellung seiner eigenen Seele – Frühlingsfieber und die näher rückenden langen Tage, endloser Himmel und die Wärme, von der er bereits befürchtet hatte, sie würde nie kommen. Das Ende eines weiteren tristen Winters in Maryland.

Tylersville war rückständig, kompromisslos und eigentlich gar keine Stadt; es war eine Straße – Route 154 –, und das, was sich auf den beiden Straßenseiten befand, nannte man Tylersville. Die Route 154 schnitt eine mehrere Dutzend Kilometer lange, gewundene Schneise durch die schlimmsten Wälder, Hügel und Sümpfe, die Maryland zu bieten hatte, und verband Bowie im Süden mit einem Randbezirk von Annapolis im Norden. Es waren nicht einmal 100 kleine verstreute Häuser und Wohnwagen, die sich entlang der Route verteilten, und ohne das Einkaufszentrum und die Wohnkomplexe am Südende gäbe es nicht genug Einwohner, um es als Stadt zu bezeichnen. Tylersville hatte nur deswegen eine eigene Polizeiwache, weil es die notwendige Bevölkerung hatte und zwischen zwei größeren Städten lag. Die Wache selbst war klein und es gab kaum Verbrechen, wenn man von den Säufern, den Bauerntrampeln und den Rasern absah, die die Route 154 als Teststrecke für ihre Hot Rods betrachteten.

Kurt hatte die Schicht von vier Uhr nachmittags bis Mitternacht und nahm an, das würde er für den Rest seines Lebens tun. Die Arbeit war stinklangweilig, die Gegend alles andere als erbaulich und die Bezahlung hatte ihn noch nie zu Freudensprüngen animiert; aber er glaubte, der Beruf passte zu ihm. Abgesehen von der Langeweile hatte er eine Daseinsberechtigung, klein, aber vorhanden. Jemand musste die Arbeit machen, und dabei konnte man sogar Leuten helfen; und im allerschlechtesten Fall war es immer noch besser, als sich vor dem Büro eines Arbeitsvermittlers anzustellen.

Manchmal hatte er das Gefühl, seine Schichten bestanden nur daraus, die Route entlangzufahren, von einem Ende zum anderen, immer wieder. Das hatte er Hunderte, vielleicht Tausende Male getan. Dieselben Kilometer abgrasen und dabei immer dieselbe langweilige Umgebung vor Augen. Die Polizeiarbeit in Tylersville befasste sich hauptsächlich mit Verkehrsdelikten. Raser bretterten die Route entlang, die mit ihren engen Kurven und den langen freien Geraden die Herden schneller Autos im Prince George’s Bezirk geradezu nachdrücklich dazu aufforderte. Die Radarmesspistole war Kurts Lieblingsentspannungstherapie. Die einzigen anderen regelmäßigen, nicht verkehrsbezogenen Verbrechen waren die wöchentlich stattfindenden Wochenendschlägereien im Anvil (eine neben der Straße gelegene Oben-ohne-Bar) und gelegentliche Ausbrüche häuslicher Gewalt, bei deren besoffene Ehemänner ihren ebenfalls besoffenen Ehefrauen die Scheiße aus dem Leib prügelten. Allerdings kannte Kurt auch einen oder zwei Fälle, bei denen es andersherum gelaufen war.

Ich frag mich, welche Zufahrt?, dachte er. Abwesend kratzte er sich im Nacken, drückte sein dunkelblondes Haar glatt und runzelte dann die Stirn, weil er genau wusste, bald würde ihm Chief Bard wieder in den Ohren liegen, er solle sich die Haare schneiden lassen. »Zum Hippietreff geht es da lang« und »Wann lassen Sie den Rest Ihrer Geschlechtsumwandlung vornehmen?« waren zwei von Bards lustigeren Andeutungen. »Lassen Sie sich das beschissene Haar schneiden, sonst werde ich Sie verflucht noch mal feuern« war eine weniger lustige. Auch die Koteletten waren länger, als sie sein sollten, aber die würde Kurt auch ohne Aufforderung abrasieren; ausufernde Koteletten waren das Markenzeichen der ortsansässigen Bauerntrottel von Tylersville. Er wollte zumindest nicht mit diesen Hinterwäldlern verwechselt werden, wenn er nicht in Uniform war.

Je weiter er nach Norden fuhr, desto ärmer schienen die Anwohner zu sein – ihre Autos waren älter, rostiger, ihre Behausungen verfallener, ein paar davon sollte man wahrscheinlich am besten abreißen. Er wusste, abseits der Straße, zwischen den Hügeln, gab es auch Wohnwagen, die nicht einmal ans Stromnetz angeschlossen waren. Armer weißer Abschaum …

In dieser Richtung wurde die Straße dunkler, die Tannen, Kiefern und Pappeln standen dichter und waren so hoch, dass ihre schweren ausladenden Äste das Sonnenlicht zurückhielten, und die Sonne stand ohnehin bereits tief. Hier gab es keine Häuser auf der rechten Straßenseite, die Bäume ragten größtenteils über Sumpfland anstatt Hügel. Etwas über einen Kilometer weiter sah er nach links und erkannte die wild überwucherten Mauern des Beall-Friedhofs, der auf einer kleinen Lichtung zwischen den Bäumen lag. Er fand es seltsam, dass so viele Friedhöfe und Bestattungsunternehmen in Maryland den kryptischen Namen »Beall« trugen. Er hatte immer gedacht, dieser Friedhof wäre aufgegeben worden, aber er sah mehrere Autos am Straßenrand und eine Gruppe düster gekleideter Trauergäste, die sich um ein offenes Grab versammelt hatten. Und da erinnerte er sich an die Drucker-Tragödie von vor ein paar Tagen. Der Stadtsäufer und Sonderling Cody Drucker war versehentlich auf einen Krocketball getreten, polternd und fluchend die Treppe hinuntergestürzt, und dabei hatte er sich das Genick gebrochen. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen, was der Krocketball auf dem Treppenabsatz zu suchen gehabt hatte oder warum genau Cody nichts als schwarze Socken und Schuhe getragen hatte. Allerdings war das auch unwichtig; die Stadt würde den alten Cody kaum vermissen. Das spärlich besuchte Begräbnis spiegelte ziemlich präzise seine Beliebtheit wider.

Da ist das Scheißding ja. Kurt wurde langsamer, hielt dann am Straßenrand. Wie gemeldet, war die Kette am ersten Eingangstor von Belleau Wood kaputt. Er schlug das Lenkrad ein, rollte zum Tor. Eine genauere Betrachtung der Kette sagte schon alles – das gehärtete Master-Vorhängeschloss war noch in Ordnung; man hatte die Kette selbst geknackt. Bolzenschneider, dachte er. Man sollte die Scheißdinger verbieten. Im Leerlauf rollte er durch das Tor und folgte dem alten Bergbaupfad auf das Grundstück.

Was die Stadt Belleau Wood nannte, umfasste mehrere Hundert Ar unberührte Wälder, etwas brachliegendes Ackerland und ein halbes Dutzend Minenschächte, die man in den späten 40ern stillgelegt hatte. Das Grundstück war zu einem unscheinbaren Stück Land verkommen, das das Belleau-Wood-Herrenhaus umgab, wahrscheinlich das Unscheinbarste, was man hier finden konnte. Gleich rechts auf dem höchsten Hügel errichtet, thronte das düstere und trostlose »Herrenhaus«, ein großes Bauernhaus aus der Kolonialzeit, komplett mit Säulen auf der Veranda und beachtlich heruntergekommen. Das Haus, zusammen mit dem gesamten Belleau-Wood-Besitz, gehörte einem gewissen Doktor Charles Willard. Niemand wusste, was für ein Doktor er war; nur wenige kannten ihn und noch weniger interessierten sich für ihn. Kurt vermutete, dass Belleau Wood vor Jahren beeindruckend gewesen war. Aber jetzt, nachdem sich so lange niemand darum gekümmert hatte, hätte der Besitz genauso gut in der Hölle liegen können.

Diese Straße, einer von vier mit Ketten gesicherten Zugängen auf das Gelände, verlief neben dem Ackerland, das die südliche Grenze bildete. Am anderen Ende der Straße entdeckte Kurt Lenny Stokes’ grundierungsgrauen Chevelle in der Nähe des Zugangs zur ersten Mine. Das war der einzige Schacht, der nicht eingestürzt war. Kurt fluchte, Ärger kochte hoch; er schnappte sich seine Kel-Lite (eine 55 Zentimeter lange Taschenlampe mit Metallgehäuse), stieg aus und betrat die Mine.

Mit jedem vorsichtigen Schritt wurde es dunkler. Die Luft war abgestanden, stank nach Steinstaub und zersetztem Speckstein. Im Schein der Taschenlampe zeigte sich ein Labyrinth aus gesplitterten, verrotteten, hölzernen Balken, die die Decke der Mine stützten. Kurt erkannte die Gefahr, wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor die Balken nachgeben und die Mine für immer verschließen würden.

Das Licht der Taschenlampe durchstieß die schwarze Leere. Streifen aus Speckstein durchzogen die Wände wie Abszesse im Gestein. Die uralten Gleisbetten waren mit Geröll bedeckt; Schienen für Bergbauloren waren nach oben gebogen, bildeten skelettartige Formen, WARNUNG: AUF LOREN ACHTEN!, gebot ein Schild. Im Licht wurden noch mehr sichtbar: LINKS HALTEN, FÖRDERLINIE und HAUPTSCHACHT VORAUS. Überall lagen verbeulte und zerquetschte Schutzhelme herum. Plötzlich spürte Kurt niederdrückendes Unbehagen; dieser Ort weckte Geister seiner Kindheit. Sein Vater hatte 20 Jahre lang in Kohlebergwerken gearbeitet. »Gute, ehrliche Arbeit mit einer Rente, von der man leben kann. Die Art von Arbeit, die dieses Land stark macht.« 20 Jahre im Bergbau. Sein Vater hatte nur ein paar Monate lang etwas von seiner Rente gehabt, bevor er an einer Mischung aus Emphysem, Staublunge und Krebs krepiert war.

Als das erdrückende Gefühl nachließ, zitterte Kurt, ging weiter und hörte dann das leise Lachen einer Frau und einen Mann, der etwas Unverständliches sagte. Er wusste, das waren Lenny Stokes und eines seiner Betthäschen. Lenny Stokes und Kurt kannten sich schon lange, Feinde seit der Grundschule, absolut gegensätzlich; ihre einzige Gemeinsamkeit war ihr Alter von derzeit 26 Jahren. In einer Stadt voller Arschlöcher war Stokes die unangefochtene Nummer eins und er sah auch genauso aus. In seinem Gesicht tobte die Akne. Verschlagener Blick. Holzfällerhemd und schwere Stiefel. Er trug sein Haar lang, zurückgegelt, hatte Elvis-Koteletten und ein satanisches Spitzbärtchen. Er wilderte und handelte mit Drogen, trieb sich aus Spaß mit jedem willigen Mädchen herum, und wenn er sonst nichts zu tun hatte, verprügelte er seine Frau.

Kurt kam um eine Schräge im Schacht herum und wurde sofort entdeckt. Zwei schreckensbleiche Gesichter gafften ihm im Lichtkegel entgegen. Lenny Stokes stand mit den Jeans um die Knie da; er wurde augenblicklich schlaff. Vor ihm kniete Joanne Sulley, eine schlanke, vampirhafte Brünette. Stokes »traf« sich seit letztem Herbst hinter dem Rücken seiner Frau mit ihr. Passenderweise trug Joanne im Moment weder Bluse noch BH.

»Die Fete ist gelaufen«, verkündete Kurt. Stokes und das Mädchen wurden zu Schemen aus Haut und Schatten. Das Licht wischte über aus Kontrasten gezeichnete Gesichter, denen es – auf frischer Tat ertappt – an Farbe mangelte. Stokes zerrte seine Hose hoch, murmelte in seinem breiten Südstaatendialekt: »Gottbeschissener Sohn von ’nem Pferdeaasch. Ich hätte drecksnochmal wissen sollen, dass sich ’n Bulle her verirrt.« Joanne kroch hektisch auf Händen und Knien herum, suchte nach ihrer Bluse. Zu Kurts Belustigung schien sie dabei wenig Erfolg zu haben.

»Lenny«, kreischte sie, »wer ist das?«, und Kurt erkannte, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnten, nur das grelle Licht seiner Lampe. »Morris«, knurrte Stokes, während er seine Augen abschirmte. »Muss Morris sein.«

»Stimmt genau. Hach, die gute alte amerikanische Liebe am Nachmittag. Hast wohl nachgesehen, ob ihre Mandeln noch da sind, hm, Lenny?«

Stokes verzog wütend das Gesicht. »Gottverdammter Zuckeraasch. Nimm das beschissene Licht aus meinem Gesicht.«

Kurt ignorierte die Forderung. »Ich sollte dich einbuchten, weil du die Kette durchtrennt hast.«

»Ach, ’nen Scheiß buchtest du ein, Penner, die Kette war schon ab. Die hat wer anderes abgemacht.«

»Klar doch, Stokes, und Wasser fließt auch den Berg rauf, stimmt’s? Eines Tages erwisch ich dich mit deinem Bolzenschneider, und dann wickle ich ihn dir um deinen Bauerntrampelhals.«

Wut färbte Stokes’ Gesicht rosa. »Für ’n Weichei spuckste ja ganz schön große Töne. Nur weil du ’ne Waffe und ’n Abzeichen hast, heißt das nicht, dass du losziehen und Leute schikanieren kannst, wie’s dir einfällt. Ich habe keinen Schiss vor dir, Morris. Ich tret’ dir dermaßen in den Aasch, dass du denkst, du wärst gestorben und als Fußball wiederauferstanden.«

»Nichts als Geschwätz, Stokes, und ich weiß, dass du eine Menge quatschst. Warum trittst du mir nicht gleich in den Arsch?«

»Nee, nicht jetzt, Weichei. Wenn die Zeit passt.«

Joanne kroch noch immer auf dem Boden herum, ihre Stimme hallte schrill durch den Minenschacht. »O Lenny, ich kann mein Hemd nicht finden. Hilf mir beim Suchen.«

»Depp«, erwiderte Stokes. »Das is’ im Auto. Du hast’s ausgezogen, bevor wir hier rein sind.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass du überhaupt ein Hemd hast«, sagte Kurt zu ihr. Joanne war eine der beliebteren Oben-ohne-Tänzerinnen im Anvil und verbrachte für gewöhnlich mehr Zeit ohne als mit einem Hemd am Leib. »Warum hast du überhaupt Dinge, die du sowieso nicht benutzt?«

Mit hochrotem Kopf stand sie auf, aber bevor sie dazu kam, ihre Brüste zu bedecken, beleuchtete Kurts Lampe – rein zufällig, versteht sich – ihren Oberkörper. Im unnachgiebigen Licht war ihre Haut so bleich wie ein Fischbauch, unterschied sich deutlich von ihren großen rosafarbenen Nippeln. Hastig verschränkte sie die Arme und schrie: »Das machst du mit Absicht! Hör auf, mich anzuleuchten, du Perversling!«

Kurt lachte laut. »Ernsthaft? Du lutschst einem Typen halb nackt in einem Minenschacht den Schwanz und nennst mich pervers? Das ist der beste Witz, den ich diese Woche gehört habe. Keine Bange, Joanne, ich habe deine Titten schon gesehen. Jeder hat das.«

Joanne drückte ihre Arme enger um ihren Oberkörper, funkelte ihn mit einer Mischung aus Wut und Verlegenheit an. Stokes sagte: »Wieso verpisste dich nicht? Wir haben nix getan.«

»Ihr befindet euch unerlaubt auf Privatbesitz, das ist gegen das Gesetz, nur damit du es weißt. Und ich weiß ganz genau, dass du die Kette durchtrennt hast. Und ist dir mit deinem betongefüllten Schädel jemals der Gedanke gekommen, dass ihr euch hier drin umbringen könntet? Ein Einsturz ist schon seit 50 Jahren überfällig … Verschwindet, beide! Sucht euch einen anderen Ort, wo ihr übereinander herfallen könnt. Ich habe Wichtigeres zu tun, als meine Zeit damit zu verschwenden, euch Vollidioten zu verhaften.«

Stokes grinste anzüglich in das spröde Licht. »Du bist nix als ’n beschissenes Schwein, sonst nix.«

»Genau, und dieses Schwein gibt dir einen Rat. Wenn ich dich noch einmal hier erwische, sitzt du schneller im Bezirksgefängnis, als du Sodomie sagen kannst«, er sah das Mädchen an, »dasselbe gilt auch für dich, Nackte Miss Amerika. Dann kannst du mal sehen, wie die Trinkgelder im Lesbenblock aussehen.«

»So kannst du nicht mit mir reden«, kreischte sie. »Lenny, so kann der nicht mit mir reden!«

»Keine Bange, Schätzchen.« Stokes wandte sich zum Gehen. »Der kriegt sein Fett weg. Komm!«

»Ach, Lenny?«, rief ihm Kurt hinterher. »Ich habe deine Frau in letzter Zeit nicht mehr gesehen. Hast du sie schon wieder ins Koma geprügelt, oder hat sie dich endlich sitzen gelassen?«

»Vicky is’ nicht so blöd, sich aus dem Staub zu machen. Aber eigentlich geht dich das gottverdammt nix an.«

»Doch, tut es, Stokes. Und merk dir … wenn ich noch mal höre, dass du sie verprügelst, dann schiebe ich dir höchstpersönlich diese Taschenlampe so tief in den Arsch, dass du sie mit der Zunge einschalten kannst.«

»Wir werden sehen, Schwein. Quiek quiek.«

Im schmalen Lichtstrahl beobachtete Kurt, wie Stokes und das Mädchen Richtung Ausgang davonstolperten, bis er sie nicht mehr sehen konnte.

Er blieb noch eine Weile im Schacht, stand sozusagen neben sich und fühlte sich seltsam. Er dachte an Stokes und Joanne Sulley, wie sie sich dem ätzenden Vergnügen hingaben und Stokes ganz offen seine Frau betrog. Wie lange würde Vicky das noch ertragen? Es konnte ihr kaum entgangen sein, dass er fremdging. Davon abgesehen war Kurts Verhalten unentschuldbar. Polizeibeamte sollten alle mit beruflicher Objektivität behandeln, aber mittlerweile versuchte er nicht einmal mehr, sich selbst anzulügen oder sein inakzeptables Verhalten zu rechtfertigen. Wenn es um Lenny Stokes ging, war Kurt einfach kein respektabler Polizeibeamter. Das wusste er mittlerweile; er wusste es schon seit Jahren. Stokes war mehr als ein dahergelaufener Unruhestifter; das hier war persönlich. Kurt hasste Lenny Stokes von ganzem Herzen.

Dann grübelte er weiter. Hässliche, schmerzliche Gedanken an Vicky Stokes und die Dinge, die Lenny ihr angetan hatte und noch immer antat, kamen ihm in den Sinn. Die Prügel, die geschwollenen Augen, blassschwarze Blutergüsse. Und er dachte an das eine Mal im Anvil, als Stokes sie so hart geschlagen hatte, dass ihr Blut aus dem Ohr gekommen war. Das alles machte ihn krank, die beweglichen Teile seiner Welt machten ihn krank, und er fand sich selbst zum Kotzen. Zu häufig schwappte ein Tagtraum wie ranzige phosphoreszierende Flüssigkeit um seinen Verstand herum. Die Vorstellung, wie er Stokes den Lauf seines Revolvers gegen die Schläfe drückte und der Hammer herunterkrachte …

Er schloss die Augen, schüttelte den Kopf, bis auch der letzte dieser Gedanken verflogen war. Unerklärlicherweise blieb er noch etwas im Inneren dieser absurden Mine stehen. Von rechts, links und hinter ihm kroch die Dunkelheit auf ihn zu. Ein ausgehöhlter, einsamer Flecken in seinem Herzen wurde eiskalt, die Stille wurde greifbar. Schnell hintereinander schaltete er die Taschenlampe mehrmals ein und aus, seine Augen gewöhnten sich an den schnellen Wechsel von hell zu dunkel, dunkel zu hell, und wie ein Kind forderte er sich selbst dazu heraus, mit ausgeschalteter Lampe dazustehen. Aber das tat er nicht, wegen der ähnlich kindischen Angst, etwas Schwarzes, kaum Wahrgenommenes und Grässliches könnte nach ihm greifen, ihm die Taschenlampe entreißen und gackernd lachen.

Das hielt aber die anderen Gedanken nicht auf, seltsame, zusammenhanglose, unmögliche Gedanken.

Nach dem erneuten Einschalten richtete er den Strahl vor sich in die Mine. Irgendwo dort hinten tropfte regelmäßig wie ein Uhrwerk Wasser; Staub tanzte durch den Lichtstrahl. Der Schacht erstreckte sich tiefer und tiefer, ein endloses Loch in der Erde. Abrupt drehte er sich um, ging in Richtung Ausgang, fing an zu traben, und als er wieder draußen war, rannte er. Kurz bevor er sich umgedreht hatte, war ihm noch ein Gedanke gekommen – das makabere Gefühl, dass ihn irgendetwas in den Tiefen des Schachts die ganze Zeit über beobachtet hatte.