Über R.T. Acron

R.T. Acron sind Frank Maria Reifenberg und Christian Tielmann, zwei renommierte Kinder- und Jugendbuchautoren.

Frank Maria Reifenberg, 1962 geboren, ist gelernter Buchhändler. Er ist heute freier Autor und verfasst vorwiegend Kinder- und Jugendbücher sowie Drehbücher für Film und Fernsehen.

Christian Tielmann wurde 1971 in Wuppertal geboren. Er studierte Philosophie und Deutsch in Freiburg und Hamburg. Heute lebt er als freier Autor in Detmold.

Über das Buch

WER DIE ZEIT KONTROLLIERT, HAT DIE MACHT

 

Mitten in Ocean City, einer auf dem Meer treibenden Megacity des 22. Jhds., zerreißt ein Schuss die morgendliche Stille – und Jacksons Leben gerät aus den Fugen. Wenn es um Zeit geht, mit der man so gut wie alles in der Stadt bezahlt, versteht die totalitäre Regierung von Ocean City keinen Spaß. Jackson und seine Freunde haben einen Weg gefunden, mit einem selbstgebauten Transponder Zeitkonten zu hacken. Auf keinen Fall darf der Geheimdienst jetzt das verräterische Gerät finden. Doch nicht nur der ist Jackson bald dicht auf den Fersen …

Impressum

Ungekürzte Ausgabe

2020 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlagbild und -gestaltung: Max Meinzold

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook 978-3-423-43274-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71860-8

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423432740

Etwas stimmte nicht. Jackson konnte nicht sagen, was in ihm dieses Unbehagen auslöste. War es die Mappe mit den Zeichnungen unter seinem Arm? Aber die Kontrolleure, die vom anderen Ende der Straße auf Crockie und ihn zukamen, würden sich nicht für die Zeichenmappe eines Jungen der Clark Kellington Highschool interessieren, das wusste Jackson.

Die Decoder an seinem und Crockies Handgelenken, darum ging es ihnen. Kontrollen waren eigentlich keine Seltenheit, schon gar nicht, wenn Jackson mit Crockie in der City unterwegs war.

Crockie schlurfte neben ihm die Maui Avenue hinunter, als wäre es ein ganz normaler Morgen, an dem sie wieder einmal zu spät zur Schule kommen würden. Ein kleiner Abzug von ihren Zeitkonten wäre die Folge, ein schiefer Blick von Heather Blue, die am Haupteingang in ihrer Uniform thronte und bei Problemen mit den Decodern am Handgelenk der Schüler ein paar Knöpfe drückte.

Ein unauffälliger Blick in das Gesicht seines Freundes verriet Jackson sofort, dass auch Crockie etwas bemerkt hatte. Da war nichts von dem sonst so entspannten Crockie-Smile in seiner Miene. Sein Freund versuchte, die Panik wegzugrinsen, die ihm offenbar in die Knochen gefahren war, als die Kontrolleure auftauchten.

Beide Frisurvarianten passten zu Crockie, aber nicht zu einem Schüler der feinen Clark Kellington Highschool. Vor allem für Eltern, Lehrer und Timecontroller war Crockies ganzes Auftreten die pure Kampfansage. Dabei waren Crockie seit seinem Unfall einfach nur andere Dinge wichtiger als ein stromlinienförmiger Haarschnitt.

Crockie hatte meistens die Körperspannung eines Schnürsenkels und trug ein lässiges Lächeln zur Schau, als habe er die Ruhe weg. Crockie ging nicht, er schlurfte. Er sprach nicht, er nuschelte. Und seine Kleidung war auch immer zu irgendwas: zu groß, zu schlabberig, zu verwaschen.

Wenn Jackson und Henk mit Crockie einkaufen gingen, konnten sie sicher sein, dass sie hinter einem der Trafficpoints am Ausgang, die den Wert der Waren direkt von ihren Zeitkonten abzogen, angehalten wurden. »Die Decoder bitte«, hieß es dann und sie lasen die Zeitkonten aus.

Logisch, keiner traute Crockie zu, dass er über genug Zeit auf seinem Konto verfügte, um so faul und entspannt durch die Gegend zu eiern. Das war nicht verboten, aber es fiel unangenehm auf. Man eckte an, wenn man trödelte, in einem der

Aber das hier schien mehr als eine normale Kontrolle zu sein.

Jackson strich sich eine seiner braunen Haarsträhnen aus der Stirn und sah sich unauffällig um. Die Maui Avenue war komplett gesperrt. Die Subway mit Gittern verrammelt. Sogar der Timeline-Park vor dem Hauptgebäude des Headquarters der Zeitagentur wurde gerade abgeriegelt. Die Sicherheitsleute postierten sich an allen Zugängen.

Jackson ging schneller. Wenn diese Kontrolle so scharf wurde, wie die Typen aussahen, kamen sie ganz sicher zu spät zur Schule. Die Uniformen der Kontrolleure saßen knapp, weil sich Muskelberge darin auftürmten. Mit kalten, ausdruckslosen Mienen folgten sie einem genauen Plan, den nur sie zu kennen schienen.

»Lass uns abhauen«, murmelte Jackson.

»Ausnahmsweise mal eine gute Idee.« Crockie schubste Jackson in die schmale Straße, die runter zum Kanal führte.

Den Weg hatten die Sicherheitsleute noch nicht verstellt. Sie rannten die menschenleere Gasse hinab. Das war eigentlich peinlich, denn in der City rannte man nicht. Wer durch die Straßen sprintete, zeigte aller Welt, dass er knapp bei Kasse war. Hektik und Rennerei war nur etwas für Leute, die es bitter nötig hatten.

Aber Jackson war das in diesem Augenblick völlig egal. Er warf einen Blick zurück, lief dabei weiter und krachte mit einem Mann zusammen, der aus einem der Hinterhöfe gekommen sein musste.

»Hoppla!«

»Sorry!« Jackson schnappte nach Luft und wollte schon weiterrennen. Doch als er dem Straßenkehrer ins Gesicht blickte, war er für einen Augenblick völlig verdutzt. Der Mann hatte zwei verschiedenfarbige Augen. Das linke war himmelblau, das rechte braun, fast golden. Der Alte, der eine ziemlich auffällige Narbe auf der linken Wange hatte, sah Jackson an, dann knurrte er etwas und drehte sich um.

»Komm schon!«, rief Crockie.

Jackson rannte die Gasse runter, hinter Crockie her. Vier breite Stufen führten zum Kanal.

Direkt unter der Wasseroberfläche lagen ein paar dicke Blöcke, die eigentlich dazu dienten, bei schlechtem Wetter die Strömung zu brechen. Über die konnten sie hinüber zur Clark Kellington Street und von dort direkt auf den Schulhof gelangen. Das war eine prima Abkürzung, allerdings würden die anderen Schülerinnen und Schüler an den nassen Füßen erkennen, wer mal wieder spät dran gewesen war.

»Moment mal, Jungs!«

Die Kontrolleure.

Jackson blieb wie angewurzelt stehen. Er nahm Crockies unauffällige Bewegung aus dem Augenwinkel wahr.

Bitte nicht, dachte Jackson, aber es war schon geschehen. Crockie löste mit einem schnellen Griff den Decoder von seinem Handgelenk und schob ihn vorne tief in die Hose. Er musste aufpassen, dass da nicht ein paar ziemlich wichtige Dinge verstrahlt und seine Kinder später mit einem Timecode auf der Stirn geboren wurden.

»Was zum Henker machst du da?«, flüsterte Jackson.

Jackson hätte ihn erwürgen können. Crockie, der Freak. Musste der mal wieder einen Super-Gag reißen, die Sicherheitsleute verarschen, ausgerechnet jetzt, wo die Zeit kaum reichte, um den Trafficpoint am Schultor pünktlich zu passieren?

»Was soll der Mist?« Jackson sah die Timecontroller die Gasse herunterkommen. Es waren viel zu viele. Sechs Mann für zwei Jungs? Jetzt wurde Jackson klar, warum er von Anfang an ein ungutes Gefühl gehabt hatte: Diese Sicherheitsleute trugen Waffen. Jeder der sechs hatte eine am Gürtel hängen. Das waren nicht die normalen Timecontroller, die Crockie gerne veralberte und auflaufen ließ. Das hier waren andere Kerle. Schwereres Kaliber.

Crockie nuschelte nur: »Mach dir nicht ins Hemd, Jackson. Dir passiert schon nichts. Schließlich knetet deine Mum Lydia Tremont den Nacken!«

Jackson schwieg. Crockie tat oft so, als wären Jacksons Eltern die völligen Arschkriecher. Das waren sie nicht. Okay, sie waren angepasst, und es gefiel Jacksons Vater überhaupt nicht, wenn Jackson und Henk mit Crockie durch die Stadt spazierten.

»Wertvolle Stunden, Jackson Crowler! Wertvolle Minuten! Entwickle ein vernünftiges Zeitgefühl!«, predigte Herb Crowler gerne.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Crockie und Henk zu erzählen, dass seine Mutter Mrs Tremont, die mächtigste Frau von Ocean City, massierte. Crockie schoss deswegen immer wieder mal einen giftigen Pfeil ab. So, als hätten Jacksons Eltern damals die zwei Wochen Urlaub auf Cheruba Island von ihr geschenkt bekommen. Hatten sie nicht. Sie hatten die Reise in der großen Tombola zum Jahresende gewonnen und Crockie wusste das.

»Wir arbeiten hart, für jede freie Sekunde. Und das ist auch gut so«, pflegte Herb Crowler zu sagen.

Es war doch nicht Jacksons Schuld, dass nicht alle Arbeit gleich viel wert war im System der City. Wer mehr wichtige Aufgaben schneller erledigen konnte, konnte auch mit mehr Freiminuten auf dem Konto rechnen. Das war logisch. Und gerecht.

Dass es jetzt Ärger geben würde, war klar. Jackson brauchte nur in das Gesicht von Crockie und in die sechs grimmigen Visagen der Kontrolleure zu gucken. Der erste von ihnen schien so eine Art Anführer zu sein. Er stellte sich breitbeinig vor Jackson und Crockie auf. Hinter ihm versperrten zwei seiner Kollegen die Gasse.

»Decoder!«, sagte der Anführer knapp.

Jackson klemmte sich die Mappe mit den Zeichnungen zwischen die Beine. Er war ein begabter Zeichner, aber er zeichnete nicht nur gerne, was Mr Gobbins im Unterricht vorgab. Ebenso gern kritzelte er seine, Henks und Crockies wildesten Spinnereien aufs Papier. Unter den Selbstporträt-Versuchen für den Kunstunterricht lag daher ein Blatt in der Mappe, das ihnen wirklich gewaltigen Ärger einbringen würde. Nichts aus dem Unterricht, keine hingeschmierten Karikaturen der Lehrer, sondern sehr gerade, saubere und auf den Millimeter ausgemessene Linien, Winkel und Kreise.

Jackson schob den Ärmel seines Shirts hoch und zeigte seinen Decoder, der das Handgelenk fest umschloss, so wie es Vorschrift war. Der Decoder musste genau über dem kleinen Chip sitzen, der jedem Bewohner am Tag seiner großen Zeremonie dort unter die

»Tut mir echt leid, hab voll vergessen, ihn nach der Dusche wieder anzulegen, und wir sind tierisch spät dran«, nuschelte er. Er zeigte seinen nackten Unterarm. Kein Decoder. Natürlich nicht. Der steckte schließlich in seiner Unterhose.

Der Anführer holte sein Lesegerät raus. »Name?«

Dabei rutschte sein Jackett zur Seite und Jackson sah die schwarze kugelsichere Weste darunter, auf der ein kleines, dunkelrotes Z prangte. Das Zeichen der Abteilung Z.

Jackson wurde flau im Magen. Über diese Abteilung wurde in der City einiges gemunkelt. Wenn sie ausrückte, musste man angeblich mit allem rechnen. Entwischt war der Abteilung Z noch nie jemand, hieß es.

Warum holte Crockie nicht den Decoder raus? Er würde eine Ermahnung kassieren, vielleicht ein paar Minuten Abbuchung, weil die Decoder entweder an den Arm oder nachts zu Hause in die Docking-Station gehörten, aber garantiert nicht dahin, wo er gerade bei Crockie steckte!

Sein Freund dachte jedoch nicht dran, das Gerät hervorzuholen. Und das war vielleicht auch besser so, dämmerte es Jackson. Die Typen durften auf keinen Fall den Decoder auslesen – wenn Crockie auf eigene Faust und ohne Jackson und Henk etwas davon zu sagen, ihre Idee umgesetzt hatte.

»Verdammt, Crockie!«, entfuhr es Jackson leise.

»Da wird dir fett was vom Konto abgezogen, Junge, das ist dir wohl klar!«, sagte der Kontrolleur. »Name?«

»Los!« Crockie packte Jackson und riss ihn mit sich. Jacksons Zeichenmappe flog auf den Boden.

»Schneller! Schneller!«, rief Crockie.

Dann knallte etwas. Steinchen spritzten neben Jackson auseinander. Wieder knallte es.

»Verdammt, die schießen!«, keuchte Jackson.

Einen Decoder nicht vorzeigen zu können, wurde mit einer Strafe belegt, logisch. Aber schießen? Wer schoss auf zwei harmlose Schüler?

Eines war Jackson klar: Die Abteilung Z verstand wirklich keinen Spaß.

Jackson rutschte das Herz in die Hose. Er hätte sich am liebsten ergeben. Hände hoch und fertig. Aber Crockie dachte gar nicht daran. Er rannte auf die Blöcke im Kanal zu.

»Jackie, die meinen es ernst …«

Jackson starrte ihn fassungslos an. Nur Crockie brauchte herumballernde Sicherheitsleute, um das zu verstehen. Es konnte nur einen Grund geben, warum sie es so ernst meinten. »Du hast das verdammte Ding doch nicht etwa aufgeschaltet, oder?«, stöhnte Jackson, als sie den Kanal erreichten.

»Tut mir leid, Jackson. Es ist so genial. Sie können uns nicht erwischen.«

»Sie haben uns gerade erwischt!«

Aber Crockie redete einfach weiter: »Ich muss nur noch einmal an die Kiste, wegen Henk. Ich hab vergessen, den …«

Weiter kam Crockie nicht. Wieder knallte ein Schuss. Jackson zuckte zusammen. Crockie riss es ein Stück seiner Hose weg. Darunter klaffte eine heftig blutende Wunde. Jackson glaubte, den blanken Knochen sehen zu können.

Crockie schnappte nach Luft. »Jack…«

»Crockie!« Jackson versuchte, Crockies Mähne zu packen. Er erwischte sie nicht.

Das Wasser färbte sich rot.

Crockie war sportlich. Er war ein Freak und er konnte die besten Ideen der Welt entwickeln. Nur eins konnte Crockie nicht: schwimmen.

 

Der alte Mann im grünen Overall bückte sich, um die Zeichenmappe aufzuheben. Er lächelte. Diese grauen großen Pappdinger nutzten sie immer noch in der Schule. Mit einer Schlaufe aus schwarzem oder dunkelrotem oder blauem Stoff wurden sie verschnürt.

Er nahm die Kappe vom Kopf und wischte sich damit über die Stirn, strich mit der linken Hand die für sein Alter noch sehr dichten Haare zurück und setzte sie wieder auf. Er klemmte die Mappe hinter dem Müllsack an seinem mobilen Müll-Trolley ein. Dann kehrte er noch einige Ladungen Dreck zusammen und ging weiter.

Als die Schüsse fielen, war er bereits hinter der nächsten Ecke verschwunden. Im Schatten des Oneworld-Buildings setzte er sich auf eine Mauer, zückte ein Taschentuch und wischte sich die Reste des verschütteten Kaffees vom Overall. Dann schnürte er die Mappe auf. Was er fand, gefiel ihm.

Der Eigentümer der Mappe war ein talentierter Zeichner und Maler. Kohlezeichnungen, ohne Zweifel Karikaturen von Personen, die er nicht besonders mochte, allerlei Entwürfe und Studien von

Ganz zuunterst lag eine technische Zeichnung.

Die Blätter würde er behalten. Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen verstaute er die Mappe wieder am Trolley. »Schlaue Köpfchen«, murmelte er. »Schlaue Köpfchen, diese Jungs.«

Niemand beachtete den alten Mann, der sich noch einmal die Kappe zurechtrückte. Niemand bemerkte sein plötzliches Verschwinden. Die Leute von der Straßenreinigung kommen und gehen eben. Niemand fragt, woher und wohin. Das hat seine Vorteile, dachte der Alte leise lächelnd.

Crockie ist tot. In Jacksons Kopf gab es nur noch diesen Gedanken. Crockie.

Tot.

Jackson hatte alles gesehen. Versteckt im Ginsterbusch auf dem Dach der Schule, das wie viele Dächer der City begrünt war. Er war einfach gerannt, über die Blöcke im Kanal, hinauf zur Schule. Aber statt durch den Check-in, vorbei an Heather Blues gläserner Kanzel zu sprinten, hatte er eine der Feuerleitern angesteuert, die aufs Dach des Schulgebäudes führten.

Jackson hatte unten am Kanal schon zum Sprung angesetzt, um hinter Crockie herzuhechten. Die Wunde am Bein würde er überleben, wenn die Kugel nicht gerade eine Schlagader zerfetzt hatte. Jackson hatte von Crockie aber nichts mehr gesehen. Das Wasser im Kanal war zu trüb.

Außerdem waren da die Typen von der Abteilung Z gekommen. Einer war sofort in den Kanal gesprungen. Wenig später ein zweiter hinterher. Selbst diese sportlichen Kraftprotze waren zu spät gekommen. Die Strömung hatte Crockie schon zu weit abgetrieben.

Jackson sah nun, wie die Sicherheitsleute Crockies Körper aus dem Wasser fischten. Sanitäter waren da. Sie packten den

Jackson hörte seinen eigenen Atem. Er keuchte. Er war kein guter Sprinter. Ausdauer, die hatte er, aber der schnelle Antritt fehlte ihm.

Die Sicherheitsleute hörte er nicht, dafür war die Entfernung zu groß. Sie diskutierten etwas. Vermutlich überlegten sie, ob sie Jackson suchen sollten. Seinen Decoder hatten sie ja kontrolliert. Mit ihm war alles in Ordnung gewesen. Dass ich etwas mit der Sache zu tun habe, kann keiner wissen, versuchte sich Jackson zu beruhigen.

Solange niemand die Mappe mit den Zeichnungen fand.

Da waren die Pläne drin. Seine Pläne für einen Transponder, ein Gerät, für das andere töten würden. Jackson hatte das Wort noch nicht zu Ende gedacht, da legte sich schon die nächste Erkenntnis darüber.

Nicht würden.

Gerade eben hatten ein paar Typen dafür getötet. Sie hatten seinen Freund Crockie getötet.

Und auf der Mappe stand Jacksons Name. Jackson musste sie holen, bevor sie den Sicherheitsleuten in die Hände fiel.

Er wartete in seinem Versteck, bis alle abgezogen waren. Dann kletterte er die Feuerleiter runter und rannte zurück zum Kanal. Als er zu der Stelle kam, an der sie auf Crockie geschossen hatten, wurden seine Knie weich. Wie in Zeitlupe liefen die Bilder noch einmal vor ihm ab: Crockie, wie er Jackson mit sich zog, der Knall, die zerrissene Hose, das Blut und dann Crockies Sturz in den Kanal.

Jackson sah unter einer Bank nach, durchwühlte den Mülleimer neben der Bank. Nichts. Keine Mappe.

Er lief weiter, spähte in Hauseingänge, Nebenstraßen, den Blick immer auf den Boden gerichtet. Die vorbeieilenden Passanten mussten ihn für völlig durchgeknallt halten. Wer konnte es sich schon leisten, vormittags durch die City zu streifen, wenn er keine Zeit dafür geschenkt bekam? Jackson war egal, was die Leute über ihn dachten. Er hatte nur Augen für die Zeichenmappe, die nicht in die falschen Hände geraten durfte.

 

Die Luft im Einsatzwagen des Sonderkommandos wurde von Augenblick zu Augenblick stickiger. Ambrose di Gallo saß seit 14 Minuten und 33 Sekunden in diesem Kasten, wischte sich immer wieder den Schweiß vom kahl rasierten Schädel und hörte sich die Vorwürfe an. Lydia Tremonts Gesicht auf dem Display des Teleports verzerrte sich, teilweise weil sie gerade dabei war, die Kontrolle über sich zu verlieren, teilweise weil seit einiger Zeit ausgerechnet die geschützten Frequenzen der Polizei instabil waren.

Wusste diese Frau eigentlich, was bei einer solchen Ermittlung jede einzelne Minute wert war? Schnell sein, nicht weil die Zeit an

Ambrose di Gallo konnte Menschen nie richtig ernst nehmen, wenn sie Wutanfälle bekamen. Es war angeblich eine seiner Stärken, dass er immer ruhiger wurde, je wilder der Sturm um ihn herum tobte. Die Wahrheit war eine andere: Der erfolgreichste Ermittler der City fand Schreihälse schlicht lächerlich.

»Sie sind der beste Mann, den wir für diese Art Job haben!«, schimpfte die Generalsekretärin der Zentralbank, Herrin über alle Zeitkonten von Ocean City Inc.

Gut, dass Sie es sagen, dachte di Gallo. Laut sagte er: »Es ist doch nur ein Schuljunge, der irgendwie ein bisschen Zeit gemopst hat. Wahrscheinlich hatte der keine Lust auf seine Hausaufgaben.«

Ambrose di Gallo wunderte sich. Eigentlich war Tremont nicht seine direkte Vorgesetzte, auch wenn sie letztendlich in ihrer Position für alles und jeden zuständig war. Ihr Einfluss reichte angeblich rauf bis zum legendären, ziemlich menschenscheuen Vorstandsvorsitzenden der City, Clark Kellington. Kellington verfügte über die meisten Anteile an der Ocean City Inc.

Warum schickte diese Frau zuerst die Abteilung Z los und beauftragte anschließend di Gallo und sein Team mit den Ermittlungen? Di Gallo war kein Freund der Abteilung Z. Diese Typen nahmen sich, was sie brauchten. Sie bedienten sich in jeder anderen Polizeieinheit, rückten selbst aber nicht die geringste Information heraus. Ihr Vorgehen bei Verhören war auch nicht gerade das, was di Gallo unter redlicher Ermittlungsarbeit verstand.

Die Stimme von Lydia Tremont überschlug sich. »Es ist mir egal, ob er ein Schuljunge ist oder der Kaiser von China. Ich muss Ihnen doch nicht erklären, dass die Zeitkonten die Basis unseres friedlichen und erfolgreichen Zusammenlebens sind? Alles, unser

Die Verbindung riss ab. Manchmal musste man den instabilen Frequenzen dankbar sein. Di Gallo wuchtete seinen massigen Körper aus dem Einsatzwagen. Er musste mehr Sport machen. Dringend.

Die uniformierten Kollegen, die draußen gewartet hatten, standen stramm.

»War das gerade wirklich Lydia Tremont?«, fragte der kleine Rothaarige, der neu in seinem Team war.

Ambrose nickte. »Wie sie leibt und lebt.«

»Und da lachen Sie?«, fragte der Rothaarige.

Ambrose di Gallo winkte ab. Er würde tun, was Lydia Tremont wollte, und er würde erfolgreich sein. Schließlich fand er immer etwas. Wenn nicht in den Daten der Decoder und den Konten der Verdächtigen, dann bei ihren Nachbarn, Freunden und Verwandten oder auf dem Klo. Dort hatte er seinen letzen Fall gelöst. Auf dem Klo.

»Das ist die Adresse«, sagte di Gallo. Er drückte dem Rothaarigen einen Zettel in die Hand. »Bringen Sie mich zur Wohnung der Flemings. Die Herrschaften von der Abteilung Z sind schon unterwegs, wir können mit Sicherheit gleich aufräumen.«

 

Jackson wagte es nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

Er sah auf seine Uhr. Seit drei Stunden lief der Unterricht. Das würde teuer werden. Aber für Crockie hätte er alle Zeit der Welt ausgegeben. Bei der Vorstellung, dass er es sein würde, der in der Schule die Nachricht von Crockies Tod verkünden musste, wurde ihm übel.

Jackson beugte sich über den Mülleimer, den vorhin der alte Typ vom Reinigungsdienst geleert hatte. Das Frühstück kam ihm hoch.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte eine Frau mit raspelkurzen Haaren. »Soll ich einen Notruf absetzen?«

»Nein …«, flüsterte Jackson, »… ein Sandwich … Thunfisch … schlecht … alles gut …«

Die Frau verplemperte keine Sekunde und klackerte auf ihren hohen Absätzen weiter. Nach einigen Minuten wagte Jackson ein paar Schritte. Immerhin, die Beine funktionierten wieder.

Jackson lief los.

Crockie war tot. Und er hatte den Tansponder aufgeschaltet.

Jackson musste nachdenken. Gab es außer den Plänen in seiner Kunstmappe noch Spuren? Irgendwas hatte Crockie von Henk geredet, aber Henk saß in der Schule fest und wunderte sich höchstens, dass Crockie und Jackson gleichzeitig krank waren. Ob Crockie bei sich zu Hause noch was rumfliegen hatte?

Jackson ging mit gemessenen Schritten. Zügig, aber nicht gehetzt. Sonst fiel er nur auf. Jackson kannte die möglichen Wege zu Crockies Wohnung in- und auswendig. Crockie, Henk und er hatten oft Spaziergänge in der Gegend zwischen der Schule und Crockies Wohnung gemacht. Crockie hatte Spaziergänge geliebt.

Jackson blieb beim unauffälligen, aber zügigen Gehtempo, bis er endlich vor Crockies Haus stand. Er drückte die Klingel der Flemings, eher um sicherzugehen, dass niemand in der Wohnung war, da stieg es in ihm hoch: das Gefühl von Schuld.

Wer hatte denn die Idee gehabt? Wer hatte sich ausgedacht, wie sie die Zeitkonten manipulieren konnten? Und wer hatte die technische Zeichnung entworfen?

Ich, ich und noch mal ich!, schrie es in Jackson. Er selbst hatte Crockie auf die Idee gebracht, die Konten von Crockies Eltern ein bisschen positiver zu gestalten. »Das muss doch möglich sein«, hatte Jackson vor ein paar Monaten behauptet. »Jedes System hat einen schwachen Punkt, den muss man finden und nutzen.«

Das waren seine eigenen Worte gewesen, sie klangen immer und immer wieder in seinem Kopf nach. Es war doch völlig klar, dass man Crockie mit solchen Sätzen herausforderte.

Crockie hatte den Schwachpunkt gefunden, und es war unverschämt simpel gewesen, jedenfalls wenn man über ein schlaues Köpfchen verfügte, ein Köpfchen mit ein paar Ideen.

Irgendwer hatte das einmal über Crockie, Henk und Jackson gesagt, schlaue Köpfchen seien sie, schlaue Köpfchen. Jackson erinnerte sich nicht, wer es gewesen war. Es war auch egal. Der Ton, in dem derjenige es gesagt hatte, der war nicht egal. Er war wie eine Vorhersage gewesen. Das wusste Jackson jetzt, wo es zu spät war.

Ideen hatten sie beide, eine Menge Ideen.

Und es war schon immer seine Aufgabe gewesen, Crockie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Sie waren noch achtjährige Rotzlöffel gewesen, als sie sich bei einem der vielen Besuche von

Ein Jahr lang hatte Crockie gebraucht, bis er nach seinem Unfall damals wieder fünf kleine Schritte machen konnte, ohne umzukippen, und das war Amelia Crowler zu verdanken gewesen. Und ein bisschen Jackson, der sich jeden Tag mit Crockie getroffen und ihm die Zeit vertrieben hatte. Die Zeit und die düsteren Gedanken, denn alle hatten Crockie vorhergesagt, dass er nie mehr auf seinen Beinen stehen würde.

Crockie wirkte nicht so, aber er brachte Tempo in die Dinge. Tempo und Kraft, explosive Kraft. Dieses gewisse Etwas, das einen im entscheidenden Moment einen Vorsprung verschaffte, einen Kickstart ermöglichte, den andere auf keinen Fall mehr wettmachen konnten. Das war Crockie.

»Pass ein bisschen auf deinen Freund auf«, hatte Jacksons Mutter damals gesagt. »Er sollte sich diese Knochen nicht noch einmal brechen.«

Jackson hatte aufgepasst. Auf Crockie, auf Henk und auch auf sich selbst. Nur dieses eine Mal eben nicht. Ein einziges Mal, das entscheidende Mal, in dem es um alles ging. Wo warst du, Jackson Crowler, wo verdammt noch mal warst du?, fragte er sich immer und immer wieder. Bei den Zeitkonten verstand die City keinen Spaß. Du wusstest das, Jackson Crowler, du wusstest das.

Crockie wollte seinen Eltern ein paar Stunden schenken. Ein paar freie Tage, um ihren Hochzeitstag zu feiern. Das war nicht mehr drin gewesen für die Flemings seit Crockies Unfall.

Jackson, Henk und Crockie hatten alle Möglichkeiten durchdacht: Sie wollten sich in die Zentrale der Zeitverwaltungsagenturen einhacken. Aber das war unmöglich, ohne innerhalb von Millisekunden aufzufliegen. Crockie wollte sich als

Aber dann kam ihnen die Idee mit dem Transponder. Ein kleines Gerät, das vortäuschte, die Filiale einer Zeitagentur zu sein. Natürlich keine wirkliche, keine, in die die Bewohner der City marschieren und sich beraten lassen oder Zeitkredite nehmen konnten. Die Idee war so simpel.

Den Transponder zu bauen hatte den größten Spaß gemacht.

Tagelang hatten die drei Jungs im Hinterstübchen von Rufus Gainsbourghs Kiosk rumgehangen und sich aus uralten Computern und Spielkonsolen das zusammengesucht, was sie brauchten. Jackson liebte diesen verstaubten Laden, der immer in so ein warmes, gelbliches Licht getaucht war.

Ein Wahnsinn war das ganze Zeug, das Rufus Gainsbourgh hortete: Geräte aller Baureihen und -arten, uralte Speichermedien, Einzelteile aus den letzten zweihundert Jahren der Elektronikgeschichte lagerten in den Regalen. Dieser kleine Raum, in den man durch einen kurzen Flur gelangte, war für Jackson der beste, der friedlichste, der heiligste Ort der City.

Die Regale reichten bis unter die Decke. An der linken Wand stand eine kleine Werkbank mit allem, was dazugehörte. Rechts luden ein uraltes Sofa und ein leicht müffelnder Sessel zum Rumhängen und Nachdenken ein. Auf der Werkbank musste sich Jackson regelmäßig einen Platz frei schaufeln, an dem er und Henk die Bauteile des Transponders löten konnten, während Crockie sich mit irgendwelchem Schrott als Roboter verkleidete und sinnlos rumblödelte, bis der alte Gainsbourgh kam, weil er den Laden abschließen wollte. In dieser Werkstatt hatten sie den Transponder in groben Zügen entworfen und die Grundbausteine konstruiert.

Ja, das konnte ich ahnen!, war die Antwort.

Crockie war Crockie. Er war Jacksons Freund wie Henk, aber er war nicht so brav und zuverlässig wie dieser. Crockie war verrückt, waghalsig und durchgeknallt. Schon immer gewesen.

Nun war er tot.

Und Jackson stand vor seinem Haus und hoffte, dass seine Eltern nicht zu Hause sein würden, als er klingelte.

Die Haustür schwang auf. Jacksons Finger drückten im Aufzug die Taste mit der Sieben. Sein Wunsch, dass niemand zu Hause war, ging nicht in Erfüllung.

Mrs Fleming stand in der Wohnungstür. Auch ihr Mann war da und das war außergewöhnlich. Beide guckten nervös, so, als wüssten sie, dass etwas nicht in Ordnung war, als Jackson aus dem Fahrstuhl auf sie zukam.

»Jackson! Was ist los? Wo ist Crockie? Was ist passiert?« Die Stimme von Mrs Fleming piepste viel höher als sonst.

Mr Fleming winkte Jackson in die Wohnung.

»Warum sind Sie zu Hause?«, hörte Jackson sich selbst fragen.

»Wir sind benachrichtigt worden«, sagte Mr Fleming. »Wir sollten sofort nach Hause gehen und würden erwartet.«

Jackson schluckte. »Tot.« Mehr brachte er nicht hervor. Er spürte diesen dicken Kloß im Hals.

»Was soll das? Wer ist tot?«, fragte Mrs Fleming.

»Crockie ist tot.«

Crockies Mutter begann zu zittern. Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Was ist passiert?«, fragte er.

»Jemand hat auf ihn geschossen.«

»Und dann ist er in den Kanal gestürzt.« Jackson hörte sich das sagen und konnte es selbst kaum glauben. Es klang so absurd. Es klang so unwirklich. Es klang wie aus einer anderen Welt. Aber es gab nur diese eine Welt. Und es war vor seinen Augen passiert. Jackson stand da und konnte nichts mehr tun. Er stand einfach nur da und spürte die Zeit.

Alle in der City hatten ein perfektes Gefühl für die Zeit. Man täuschte sich selten in der Zeit, sie dehnte sich nicht und sie schrumpfte nicht. Jede Minute hatte ihre sechzig Sekunden, genau die, und alle sechzig fühlten sich immer gleich an. Nur nicht in diesem Moment. Jackson verstand zum ersten Mal, was eine gefühlte Ewigkeit war. Sie wurde zerrissen vom Schrillen der Türklingel, gefolgt von heftigem Pochen einer Faust.

»Sicherheitsdienst, öffnen!«

»Ich weiß nicht, was die wollen, aber bitte, Sie dürfen mich nicht verraten«, flüsterte Jackson und hechtete zum Balkon. Er kauerte sich hinter die Kamelien. Die Blumen waren Mrs Flemings Ein und Alles. Dort versteckt hörte Jackson jedes Wort: Eine Frau, die sich als Mechthild Schmidt vorstellte, erzählte was von einem tragischen Unfall. Dann wurden die Decoder der Flemings ausgelesen. »Reine Routine, für das Protokoll«, sagte ein Mann. »Sechs Wochen«, stellte er kurz darauf fest.

Jackson kapierte es sofort. Es gab in dieser Situation keinen Grund, die Decoder auszulesen – außer die Besucher wussten, was passiert war.

Wussten sie auch, wie es zustande gekommen war?

Sechs Wochen freies Guthaben, bei jedem der beiden Flemings. 42 Tage, 1008 Stunden, über 60000 Minuten. Das war für jeden

»Bitte begleiten Sie uns ins Büro«, sagte der Mann, aber es war keine Bitte.

Mrs Fleming schluchzte laut auf. »Was ist mit unserem Sohn passiert?«

Mr Fleming versuchte seine Frau zu beruhigen. »Es ist alles ein Missverständnis, Melissa. Das wird sich aufklären.«

Mrs Fleming sprach aufgeregt weiter: »Wir waren selbst überrascht, wir wollten bei der nächsten Gelegenheit mit Mr Omar, unserem zuständigen Sachbearbeiter in der Zeitagentur, darüber sprechen. Wir haben eine Spende von Care & Share erhalten, ich meine, das kommt doch vor, aber wir hätten es natürlich nicht ausgegeben, bevor alles geklärt ist. Das können Sie gerne überprüfen.«

»Das werden wir, Mrs Fleming. Kommen Sie!«

Jackson hörte Schritte, die Haustür schlug zu, er wartete. Vorsichtig lugte er über die Brüstung des Balkons in die Tiefe.

Die Flemings kamen aus dem Haus. Zwei Sicherheitsbeamte hielten sie an den Armen. Der Mann öffnete die Tür des Lieferwagens. Die Frau schwang sich auf den Fahrersitz. Dann fuhren sie davon.

Auf der Stelle rauschten drei andere Wagen heran und spuckten ein ganzes Rudel von Uniformierten mit Koffern aus.

Ein rothaariger, junger Polizist sprang aus einem Zivilfahrzeug und rannte zur Beifahrertür, die er mit Schwung aufriss. Ein übergewichtiger Mann mit glatt rasiertem Schädel wuchtete sich aus dem Auto. Seine tiefschwarze schweißüberströmte Haut glänzte in der Sonne. Er warf einen Blick nach oben.

Augenblicklich wusste er, dass ihm die paar Kamelien, hinter denen er sich versteckte, keinen Schutz mehr boten. Das Einsatzteam würde jeden Millimeter der Wohnung auf links drehen. Auch den Balkon. Auch Crockies Zimmer. Und es war vollkommen klar, was sie suchten: Spuren, die zum Transponder führten! Diese Spuren, wenn es sie denn gab, würden sie früher oder später auch zu Jackson bringen.

Noch ein paar Minuten blieben Jackson, um ihnen zuvorzukommen. Minuten, die er eigentlich brauchte, um schleunigst aus der Wohnung zu verschwinden. Er rannte hinüber in Crockies Zimmer. Er stellte sich mitten in das Chaos, das sein Freund um sich herum ausgebreitet hatte, als wäre es sein persönliches Wurzelwerk.

Jackson konzentrierte sich. Er wusste genau, dass er jetzt nichts, nicht das kleinste Stückchen eines alten Kupferkabels, keinen Widerstand, nicht mal einen Spritzer vom Lötzinn oder einen Hauch vom Schraubenabrieb übersehen durfte. Und er wusste, dass er keine Zeit hatte. Er hatte nur eine winzige Chance.

Noch nie hatte Jackson das Wort »Zeit« so sehr gehasst wie in diesem Augenblick in Crockies Zimmer. Alles wurde in der City in Zeit aufgewogen. Alles wurde in Zeit bezahlt.

Damals, in den ersten Tagen mit einem eigenen Decoder, war er noch voller Stolz in den Supermarkt spaziert und hatte Kaugummi gekauft. Das war seine erste Kontobewegung. Ein Päckchen Kaugummi für 15 Sekunden.

Er hatte sich so groß und erwachsen gefühlt, als er seine Kinderhand mit dem Armband das erste Mal auf den Scanner gelegt hatte. Wie ein Großer war er sich vorgekommen, wie ein vollwertiger Teilhaber der City. Er hatte es geliebt: die eigene Zeit. Auf seinem eigenen Konto. Angezeigt auf seinem eigenen Decoder.

Aber neben der Zeit, die auf den Zeitkonten für geleistete Arbeit gutgeschrieben und für verbrauchte Waren abgezogen wurde, existierte noch eine zweite Art von Zeit.

Die Lebenszeit.

Die konnte niemand auf einem Konto verlängern oder verkürzen.

Crockies echte Zeit, seine Lebenszeit, war vorbei.