Mystische Geisterschiffe

Anthologie

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www.net-verlag.de

Erste Auflage 2016

© Coverbild: Sandra Braun

Covergestaltung, Korrektorat und Layout:
net-Verlag

Auswahl der Geschichten:

Lysann Rößler & Leserteam

© Illustrationen:

Michael Mauch (S. 27)

Katharina Beilmann (S. 102)

Silke Vogt (S. 182)

Jacqueline V. Droullier (S. 321)

Christine Prinz (S. 341)

© net-Verlag, Tangerhütte

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-95720-172-0

Mystische Geisterschiffe

Wenn am Horizont ein Schiff erscheint

und näherkommt, dann aber doch nicht da ist –

dann war das vielleicht nur eine Erscheinung.

Oder doch nicht?

Wirre Ereignisse, geheimnisvolle

Begebenheiten rund um das Thema

»Mystische Geisterschiffe« erwarten Sie hier,

liebe Leser.

Wir wünschen Ihnen

einige unterhaltsame Stunden!

Ihr net-Verlag-Team

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Michael Mauch

Unter die Haut

Susanne Zetzl

Am Ende der Zeit

Wolfgang Rödig

Fang des Tages

Alexandra Leicht

Das Sklavenschiff

Sandra Rapp

Teufelsriff

Anneke Schipper

Froschaugen

Marieke Pochstein

Die Überfahrt

Pia Euteneuer

Wellen in der Nacht

Karsten Beuchert

Traumschiff

Ben Riebel

Osiris

Tony Sebastian

Lindisfarne

Tobias Habenicht

Kapitän Wright und die See

Vera C. Koin

Das Geheimnis der Roarvikbucht

Silke Vogt

Wenn das Schule macht …

Isabell Kohlberger

Willkommen im Paradies

Volker Liebelt

Louisa

Juliane Rehmann

Küsst der Teufel den Klabautermann, ist unser Untergang getan

Wiebke Tillenburg

Die Seelenfänger oder von einem Geist, der das Leben wieder lernte

Kerstin Gramelsberger

Die Pearl of Humanity

Collin Steven

Die Reise ins Jenseits

Julia Lehn

Das Vermächtnis

Lars O. Heintel

Jenseits von Eden

Christian Stielow

Den Tod trägt das Meer

Christina Wuttke

Ein langer Urlaub

Jacqueline V. Droullier

Bis ans Ende der Welt

Sarah Moos

Geisterstunde auf hoher See

Maike Ruprecht

Kreuzfahrt ohne Wiederkehr

Christine Prinz

…---… (SOS)

Autorenbiografien

Illustratorenbiografien

Buchempfehlungen

Michael Mauch

Unter die Haut

»Du wirst sehen«, sagte Alan, »Coach Carter wird uns so lange ums Feld laufen lassen, bis wir kotzen.« Dabei verzog er das Gesicht, als kaue er auf einem fauligen Stück Apfel.

Jamie trottete mit hängenden Schultern neben ihm her. »Wie oft soll ich denn noch sagen, dass es mir leidtut?«

»Zum hundertsten Mal: Du sollst deine Sachen rechtzeitig packen!«, brüllte Alan, »dann kommen wir auch nicht ständig zu spät!«

»Ist ja gut«, entgegnete Jamie und wuchtete die ausladende Sporttasche auf seine Schulter. Wütend trat er gegen einen Stein.

Die Jungen erreichten die Ecke Swordfish und Scott’s Road. Für gewöhnlich bogen sie an diesem Punkt links ab und folgten der Straße bis zur Küste.

Alan hielt an und sah auf die Uhr. »Noch sieben Minuten. Das schaffen wir nie.«

»Und wenn wir ganz schnell rennen?«

»Nicht mit den schweren Taschen«, erwiderte Alan kopfschüttelnd. »Wir könnten natürlich auch …«

Jamie folgte dessen Blick. »Du willst die Abkürzung nehmen?«

»Vielleicht ist er heute gar nicht zu Hause«, fing Alan an. »Wir müssten danach nur über die Weiden und wären sogar noch vor sechs am Stadion.«

»Aber wenn der Alte doch da ist, wird er uns der Länge nach aufschlitzen und unsere Eingeweide den Robben vorwerfen.«

Alan kratzte sich unter der Tweedmütze. »Ein Restrisiko bleibt immer.«

Jamie spähte über die von Flechten bedeckte Gartenmauer. Das weiß getünchte Cottage mit Reetdach machte einen verwaisten Eindruck auf ihn, als sei es seit Jahren nicht bewohnt. Hinter den Fensterscheiben konnte er keinerlei Regung ausmachen. Das gesamte Anwesen lag einsam, nahezu friedlich da. Die einzige Kreatur, die sich an diesem trostlosen Ort aufzuhalten schien, war eine Dohle. Sie hüpfte im hohen Gras umher, scharrte an einigen Stellen und reckte hin und wieder den Kopf in die Höhe.

»Also, was ist nun?«, hakte Alan nach.

»Ich weiß nicht«, meinte Jamie tonlos. »Das Haus … es scheint irgendwie auf uns zu warten.«

»So einen Quatsch hab ich ja noch nie gehört.« Alan schlug ihm die Mütze vom Kopf.

»Hey!«, rief Jamie und bückte sich, um die Mütze aufzuheben.

»Erde an Jamie. Erde an Jamie. Tick tack, tick tack, tick tack. Triff endlich eine Entscheidung! Mann oder Memme?«

Jamie richtete sich auf. »Mann, natürlich!«

»So werden Helden gemacht«, meinte Alan. »Über die Mauer mit dir und dann renn, so schnell du kannst!«

»Wie jetzt? Ich zuerst?«

Alan verdrehte die Augen. »Logisch. Wirf die Tasche über die Mauer und klettere hinterher! Total easy. Ich mach dann die Nachhut.«

»Wenn du meinst.« Jamie blickte zum Haus. Alles ruhig. Selbst die Dohle war nirgendwo mehr zu sehen. In seinem Bauch rumorte es. Sollte er seinen Entschluss besser noch einmal überdenken? Allerdings käme er so nie zu dem Ruf, ein Draufgänger zu sein. Scheiß drauf! Er holte tief Luft und hievte seine Sporttasche auf die Mauer. Danach gab er ihr einen Stoß. Noch ein letzter Kontrollblick. »Geronimo«, murmelte Jamie und schwang sein rechtes Bein über die Mauer. Er zog sich nach oben, sprang zur anderen Seite hinunter und landete sanft. »Alan, du kannst kommen.«

Zügig überwand auch dieser das Hindernis. »Okay«, sagte Alan leise. »Auf drei: eins, zwei …«

»Drei!«, riefen beide und stürmten los. Sie rannten durch den Garten, übersprangen Maulwurfshügel und wichen schwer behangenen Ästen von Apfelbäumen aus. Bei jedem Sprung schlugen die Inhalte ihrer Taschen gegeneinander.

Nach wenigen Schritten begannen Jamie die Oberschenkelmuskeln zu brennen. Die Entfernung kam ihm mit einem Mal weiter, als gedacht, vor. Er hörte das Blut in den Ohren rauschen, spürte die ausbreitende Hitze in sich. Ein paar Meter noch bis zur entgegengesetzten Steinmauer. Das Ziel schien greifbar nah. Er biss die Zähne zusammen. In Gedanken sah er sich im Umkleideraum sitzen, wie ihn das komplette Team samt Coach Carter feierte. Sie würden eingestehen müssen, was für einen coolen Typen sie in Wahrheit vor sich hatten. Die ewigen Schikanen und Boshaftigkeiten ihm gegenüber fänden endlich ein Ende. Blieb nur zu hoffen, dass Alan sich diesmal nicht in den Vordergrund spielte. Alan? Ja, wo war der eigentlich?

»Keine falsche Bewegung, Freundchen!« Eine Stimme wie Donnergrollen.

Kurzzeitig setzte Jamies Herzschlag aus. Sein Atem beschleunigte sich. Er drehte sich um und blickte in den Lauf eines Gewehrs. Erst darauf sah er Alan. Hinter ihm und über ihm stand ein Bär von einem Mann – hochgewachsen, breitschultrig, behaart, grimmig.

»Hab ich euch endlich«, sagte der Hüne. Mit der einen Hand hielt er Alan im Nacken gepackt, mit der anderen die doppelläufige Schrotflinte.

»Nicht schießen! Bitte, nicht schießen!«, schrie Jamie.

Der große Mann stieß Alan von sich. »Ihr wolltet mich also beklauen?«

»Nein!«, antwortete Jamie und half Alan auf.

»Was dann?«

»Wir sind auf dem Weg zum Training«, erwiderte Alan. »Das sollte bloß eine Abkürzung sein. Wir wollten Sie nicht bestehlen.«

»So, so, und was ist in den Taschen da, hm? Diebesgut?«

»Wir sind keine Diebe!«

Der Mann fuchtelte mit dem Lauf seines Gewehrs in Richtung Sporttaschen. »Los, aufmachen!«

Hektisch zogen die Jungen an den Reißverschlüssen und brachten Schienbeinschoner, Stollenschuhe und kurze schwarze Hosen zum Vorschein. Außerdem Handtücher, gepolsterte Kappen, Suspensorien und rot-schwarze Trikots, auf denen Orkney R.F.C. und ein Rugbyball mit Flügeln aufgedruckt waren.

»Ihr könnt aufhören«, sprach der Mann. »Das sind ja wirklich nur Sportsachen.«

»Ja, Mister.«

»Na schön, wie heißt ihr denn?«

»Ich bin Alan, und das ist Jamie.«

»Und eure Nachnamen?«

»Macaulay.«

»Und du?«

»Auch Macaulay«, antwortete Jamie.

»Ihr seid Brüder?«

»Zwillinge.«

»Nein, wie das Leben so spielt.« Der bärtige Mann lachte. »Ich hätte euch gar nicht für Zwillinge gehalten. Ihr seid auch unterschiedlich groß.«

»Wir sind keine eineiigen Zwillinge.«

»Aha. Und wie alt seid ihr?«

»Vierzehn.«

»Macaulay ist ein alt-schottischer Name.«

»Ja, Mister.«

»Das ist gut. Ich hasse die Engländer nämlich. Und die Iren kann ich auch nicht besonders leiden.« Er senkte die Flinte. »Ihr spielt Rugby?«

»Ja, Mister.«

Bisher hatten sie den alten Mann stets nur von Weitem gesehen. Tiefe Falten durchsetzten seine vom Wetter gegerbte, grobporige Haut. Eine lange Narbe führte von der linken Stirnseite über Braue und Auge bis hin zur krummen und platt gedrückten Nase, die ebenso zu einem Boxer gepasst hätte. Den unteren Teil des Gesichts verbarg ein ergrauter Vollbart.

Der alte Herr strich sich durch die langen Barthaare. »Ich besitze einen Rugbyball, von Gavin Hastings unterschrieben – aus der Zeit, als er noch in der schottischen Rugby-Union spielte. Der beste Schlussmann, den es je gab.« Er hustete mehrmals und fuhr sich mit einem Stofftaschentuch über den Mund. »Bis er zur falschen Seite wechselte. Na ja, vermutlich werdet ihr den gar nicht kennen …«

»Soll das ein Witz sein?«, meldete sich Jamie. »Gavin Hastings steht auf der ewigen Bestenliste mit 733 Länderspielpunkten. Unser Dad hat in seiner Werkstatt sogar ein Poster von ihm hängen.«

»Hört, hört«, sagte der alte Mann. Unter seinem krausen Bart formte sich ein Lächeln. »Möchtet ihr den Ball vielleicht sehen?«

Die Zwillinge tauschten flüchtige Blicke aus und nickten.

Beim Betreten des Cottages schlug Jamie ein süßwürziger Geruch entgegen. Die Holzdielen ächzten bei jedem Schritt. Interessiert nahm er die Inneneinrichtung in sich auf: an der Fensterfront ein von Hockern eingerahmter langer Holztisch. Benutztes Geschirr darauf. Über dem offenen Kamin war ein Schiffssteuerrad zu sehen. Davor zwei lederne Ohrensessel. Im hinteren Teil der Wohnstube ein alter, rostiger Holzherd, auf dem ein verrußter Wasserkessel und Töpfe standen. Daneben die Spüle, eine antike Kommode und ein Holzschrank. Verschiedene Ölgemälde mit Seefahrtsmotiven hingen an den Wänden. Zum rechten Seitentrakt führten zwei Türen, die geschlossen waren. Alles in allem machte die Behausung einen düsteren Eindruck auf Jamie.

»Ziemlich spartanisch, wie?«, fragte der alte Mann Jamie, als könne er seine Gedanken lesen. »Ich mache Licht.«

Die Deckenlampen gingen an und vertrieben das bedrohlich wirkende Halbdunkel.

»Setzt euch doch«, sagte er und lehnte die Schrotflinte an die Wand neben der Eingangstür.

»Sie haben ein schönes Haus, Mister«, meinte Alan.

»Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben. Bis jetzt habe ich noch niemanden gefressen. Übrigens, das Gewehr ist nur mit Steinsalz geladen. Das brauch ich, um die Krähen von meinen Bäumen fernzuhalten. Ich hätte niemals auf euch geschossen.«

Jamie räusperte sich. »Wir haben keine Angst, Mister.«

Demonstrativ stellten er und Alan ihre Sporttaschen auf den Holzbohlen ab.

»Dann ist es ja gut. Ihr sprecht mich die ganze Zeit mit Mister an. Wisst ihr meinen richtigen Namen?«

»Ja«, rief Jamie. »Sie sind Käpt’n Ungeheuer.«

»Jamie!«, zischte Alan und boxte seinen Bruder in die Seite.

Der Alte hob die buschigen Augenbrauen. »Käpt’n Ungeheuer

»Mein Bruder hat das nicht so gemeint«, setzte Alan nach. »Entschuldigen Sie, bitte!«

Mit festem Blick musterte der Alte die Jungs. »So nennt man mich also. Hm, hätte mich durchaus auch schlechter treffen können. Findet ihr nicht?«

Die Teenager zuckten mit den Schultern.

Der alte Mann lachte. »Der Käpt’n war zumindest richtig, obwohl es lange her ist, seit ich das letzte Mal draußen war. Mein bürgerlicher Name lautet Graham Owenhoyer. Aber ihr könnt mich ruhig Käpt’n Owen nennen – und das Ungeheuer lasst ihr besser stecken.«

»Käpt’n Owen«, entgegneten die Jungen zur Bestätigung.

»So nannte man mich schon früher. Ich habe mich dran gewöhnt. Kann man sich auch leichter merken, oder?«

Alan und Jamie nickten.

»Na ja, besonders gesprächig scheint ihr ja nicht zu sein. Setzt euch doch endlich!«

»Eigentlich müssten wir auch dringend weiter«, meinte Alan und trat von einem Fuß auf den anderen.

»Ach so, der Rugbyball«, sagte Owen. »Wo hab ich nur meinen Kopf?« Er durchquerte den Raum. Die alten Dielen knarzten. Am Schrank angekommen, öffnete er dessen linken Türflügel und kramte einen weißen Lederball mit sichtbarer Naht hervor.

Als er zurückkam, weiteten sich Alans Augen. »Wallaby! Das steht auch auf dem Ball, mit dem Hastings auf dem Poster zu sehen ist – könnte derselbe sein.«

»Und hier seine Unterschrift«, sagte Owen und deutete auf das Leder. »Seht ihr?«

Die Zwillinge starrten auf den Schriftzug. »Ga-vin Has-tings«, lasen sie laut vor.

»Der muss ein Vermögen wert sein«, meinte Jamie.

Der ehemalige Kapitän schüttelte den Kopf. »Die wahren Schätze des Lebens sind meist für immer verloren, Jamie. Dies hier stellt nur ein bedeutungsloses Überbleibsel eines altersschwachen Mannes dar, der dachte, er könne seine Erinnerungen einfrieren.«

Jamie überlegte einige Augenblicke. »Das heißt …, Sie hängen nicht mehr an dem Ball?«

»Das heißt es wohl, mein Junge«, antwortete Owen.

»Könnte ich ihn dann haben?«

Der Alte nickte und reichte den Rugbyball wortlos an ihn weiter.

Mit offenem Mund nahm Jamie den Ball entgegen. Er konnte sein Glück kaum fassen.

»Wolltet ihr nicht zum Training?«, fragte Owen.

Alan sah auf die Uhr. »Doch, aber es ist bereits nach sechs.«

»Verstehe, als Nachzügler bekommt man da wohl Probleme.«

»Das stimmt«, sagte Alan. »Unser Coach ist da ziemlich eigen. Am besten lassen wir das Training heute ganz sausen. Eine Ausrede müssen wir uns noch überlegen.«

»Euch wird sicherlich etwas einfallen«, meinte der Kapitän. »Möchtet ihr einen Tee mit mir trinken?«

»Gerne«, antwortete Jamie prompt.

Alan presste die Lippen zusammen.

»Schön, dann setzt euch vor den Kamin! Ich kümmere mich inzwischen um den Tee.« Owen zerknüllte Zeitungspapier und stopfte es in die Brennkammer des Küchenofens. »Es ist kühl geworden. Ihr dürft gerne den Kamin anmachen, wenn ihr möchtet.«

Jamie ließ sich direkt in einen der beiden Sessel sinken und fuhr mit der Begutachtung seiner neuen Errungenschaft fort. So blieb Alan nichts anderes übrig, als für das Kaminfeuer zu sorgen und sich einen Hocker heranzuziehen.

Minuten später saßen sie gemeinsam vor dem knisternden Feuer, wärmten sich daran und genossen Brodies Afternoon Tea mit Milch.

»Gemütlich haben Sie es hier«, meinte Jamie.

»Nicht selten trägt erst ein geselliges Miteinander dazu bei, dass wir Orte oder Momente als wohltuend empfinden.« Owen steckte sich eine Pfeife an und blies den Rauch zur Decke.

»Käpt’n Owen?«, fragte Jamie. »Stimmt es eigentlich, dass sie früher einmal Seeräuber waren?«

»Mensch, Jamie!«, rief Alan mit entsetztem Gesichtsausdruck. »Kannst du nicht die Klappe halten?«

»Schon in Ordnung«, sagte Owen. »Durchaus eine legitime Frage. Ich möchte sie auch gerne beantworten: Den größten Teil meines Lebens bin ich auf Handelsschiffen gefahren und nannte die Weltmeere mein Zuhause. Nur die letzten Jahre vor meinem Ruhestand habe ich auf Fährbooten zugebracht. Glaubt mir, auf Dauer ist dies einträglicher und vor allem sicherer, als Schiffe zu kapern.«

»Haben Sie denn nie gefährliche Abenteuer erlebt?«

»Das Leben selbst ist ein Abenteuer. Ich möchte nicht behaupten, dass ich nie in brenzlige Situationen kam, aber in Filmen oder Büchern wird vieles überzogen dargestellt.«

»Kennen Sie keine coole Geschichte?«

»Seemannsgarn gibt es zur Genüge, mein Junge. Das sind Erzählungen, bei denen der Wahrheitsgehalt oft nur auf ein Minimum beschränkt ist – soll heißen: Vieles davon ist gelogen. Damit gebe ich mich nicht ab.«

Jamie schlug die Augen nieder. »Schade.«

»Na ja«, sagte der Kapitän und nahm die Pfeife aus dem Mundwinkel. »Möglicherweise gibt es da ein Ereignis, das euren Vorstellungen entsprechen dürfte.«

»Erzählen Sie!«, rief Jamie.

Der Alte atmete tief ein. »Also gut. Es ist sehr lange her, da reiste ein russischer Geschäftsmann auf dem Seeweg nach Schottland.«

»Wann war das?«

»Im neunzehnten Jahrhundert, in der Zeit, als Alexander II. das Russische Kaiserreich regierte. Im Land herrschte große Unruhe. Man hatte gerade den Krieg um das Osmanische Reich verloren …«

»Den Krimkrieg«, fiel Jamie ihm ins Wort. »Der ging von 1853 bis 1856.«

»Das stimmt. Du hast in der Schule gut aufgepasst. Ja, Russland kämpfte damals gegen die Türken, die später Unterstützung von Frankreich, Großbritannien und dem Königreich Sardiniens erhielten. Kaiser Alexander II. musste im Anschluss daran notwendige Reformen durchsetzen. Diese beinhalteten unter anderem Veränderungen im Justizwesen, beim Militär und die Abschaffung der Leibeigenschaft.

Selbstverständlich gefiel das nicht jedem – vor allem nicht den Reichen. Widerstand machte sich breit und rief viele Gegner auf die Bildfläche.

Der Geschäftsmann, von dem die Rede ist, war mit der Politik des Kaisers ebenso wenig einverstanden. Er sah seine Existenz in Gefahr und wollte allem entfliehen. So setzte er seinen gesamten Besitz in Diamanten um und kaufte für sich und seine beiden minderjährigen Söhne ein Schiffsticket. Seine Frau war mittlerweile gestorben. Von Sankt Petersburg aus ging die Fahrt auf einem Segelschiff, der Palermo, in Richtung Schottland. Unter dem Regiment von Kapitän Williams geriet der dreimastige Schoner dann am 3. 10. 1872 in Seenot und versank vor der Küste Hoxas.«

»Hoxa? Das ist ja hier ganz in der Nähe«, meinte Alan.

»In der Tat«, brummte der Alte.

»Und warum ist das Schiff gesunken?«, fragte Jamie.

»Aus den Überlieferungen geht leider nicht viel hervor. Hatte der Steuermann zu viel getrunken? Gab es einen Sturm? Wurden falsche Leuchtfeuer gesendet, die das Schiff aufs Riff gelockt haben, oder war womöglich Sabotage mit im Spiel? Man weiß es nicht.«

»Hat der Geschäftsmann mit seinen Kindern überlebt?«, wollte Alan wissen.

Owen lehnte sich in den Sessel zurück und brachte mit einem Streichholz den Pfeifentabak erneut zum Glimmen. »Mmh.« Er ließ den Rauch durch die Nase entweichen. »Keiner, der an diesem Tag auf der Palermo war, ist mit dem Leben davongekommen. Alle sind sie ertrunken.«

»Dann hat die Story also kein Happy End«, meinte Alan.

»Nun, es gibt Legenden über die Palermo. Leute behaupten, das Schiff gesehen zu haben. In Vollmondnächten, wenn dichter Nebel aufzieht, soll die Palermo bei Hoxa Head erscheinen. Sie breche nur wenige Sekunden lang durch den Dunst und verschwinde dann wieder spurlos. An Deck stehe der russische Geschäftsmann und halte Ausschau.«

»Er hält Ausschau? Nach was?«, fragte Jamie.

»Da gehen die Meinungen auseinander«, antwortete der Alte.

Die Zwillinge klebten nun buchstäblich an seinen Lippen.

»Die einen mutmaßen, er wolle seine verloren gegangenen Reichtümer finden, andere wiederum glauben, er suche nach seinen Söhnen. Der Geschäftsmann soll ein sehr fürsorglicher Vater gewesen sein und sie zu ihrem Schutz nie auf seinen Reisen mitgenommen haben – bis auf dieses eine Mal.« Er fuhr sich durch den Bart. »Ein alter Fischer erzählte mir, er habe das Schiff des Nachts ebenfalls gesehen, als der Geschäftsmann mit einer Art Lampe die Felsklippen von Hoxa Head abgesucht habe. Dort, wo der Lichtstrahl aufträfe, wäre der Schatz des Russen vergraben. Zweifelsohne ein Gerücht.«

Jamie saß kerzengerade und sprudelte vor Begeisterung. »Hat man das Schiffswrack und die Klippen denn nie untersucht?«

»Natürlich gab es Nachforschungen, und Taucher erhofften sich, den Schatz bergen zu können – heutzutage gibt es ja ganz andere Mittel, als man sie früher hatte. Doch auch so blieb jegliche Suche bis dato erfolglos. Vielleicht hat man die Palermo aber auch nie gefunden und ihre Überreste wurden von der Strömung weggetragen.«

»Ist Ihnen die Palermo auch mal begegnet?«, fragte Jamie.

Kapitän Owen starrte bewegungslos in die Flammen des Kamins.

Jamie glaubte, der Alte habe die Frage überhört. »Käpt’n Owen?«

»Oh ja«, antwortete der alte Mann. »Auch ich habe die Palermo gesehen.« Die Stimme klang brüchig. Sein Gesicht strömte unendliche Traurigkeit aus.

Jamie erschrak, wagte aber nicht, ihn aus diesem Gemütszustand zu reißen.

»In dieser Nacht fuhren wir leer zurück«, setzte Owen nach einer Weile fort. »Wir steuerten auf eine Nebelwand zu. Der Nebel war so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Ich ließ die Maschinen stoppen. Minutenlang wurden wir von Nebelschwaden regelrecht eingeschlossen. Nur die Wellen, die an die Schiffswände schlugen, waren zu hören.

Mit einem Mal riss der Vorhang auf, und ich sah sie – keine fünfzig Yards entfernt. Im Mondschein las ich den Namen am Bug. Es war die Palermo. Ihre Schratsegel blähten sich auf, obwohl kein Wind herrschte und keine Crew zu sehen war, die sie hätte hissen können. Ein Segelschiff aus dem Jenseits. Allmählich drehte es ab. Achtern stand wie aus dem Nichts dieser Mann – der Russe. Ich bin mir sicher, dass er es war. Ich sah in seine dunklen Augen. Augen, die mich wie ein Magnet anzogen. Ich glaubte, ins Meer springen zu müssen. Irgendwie schaffte ich es, dem Drang zu widerstehen. Dann konnte ich seine Ruhelosigkeit spüren. Die Verzweiflung. Seine unstillbare Wut.« Owen verstummte.

»Was ist dann passiert?«, wollte Jamie wissen.

Der Alte blickte den Jungen an. Seine Augen glänzten. »Nichts weiter«, sagte er. »Die Palermo verschwand im Nebel, so geräuschlos und unmittelbar, wie sie erschienen war.«

»Wow«, sagte Jamie. »Ich wüsste zu gern, wie das Schiff ausgesehen hat. Gibt es Zeichnungen oder Fotos davon?«

»Wäre mir neu«, antwortete der Kapitän. »Es existieren nur die Augenzeugenberichte der Seeleute und … das hier …« Er knöpfte sein Hemd auf. Über Bauch und Brust war das Heck eines Segelschiffs zu sehen.

Gebannt betrachteten die Zwillinge die gelungene Tätowierung.

»Dies soll mein persönliches Mahnmal sein. Es war mein letzter Tag auf See. Seitdem habe ich keinen Fuß mehr auf ein Schiff gesetzt.« Owen knöpfte das Hemd zu. »So, nun habt ihr aber genug gehört. Ihr werdet noch Albträume bekommen.«

Alan und Jamie erhoben sich.

»Danke für den Tee«, sagte Alan.

Jamie schüttelte Owen die Hand. »Und natürlich für den Ball und die Geschichte. Das war richtig klasse!«

»Behaltet das aber für euch, sonst hab ich morgen das Jungvolk von halb Kirkwall hier. Besser sie bleiben im Glauben, ich sei ein übellauniges Ungeheuer.« Er schmunzelte. »Und jetzt raus mit euch!«

Als die Jungen die Scott’s Road betraten, versank die Sonne gerade hinter den Häuserdächern und tauchte die Gegend in ein fast unwirkliches Zwielicht. Die Straßenlaternen flackerten auf.

»Das glaubt uns keiner«, sagte Jamie. »Das war tausendmal besser als jedes Training.«

Alan rümpfte die Nase. »Du glaubst das doch nicht etwa alles, was der Alte da vom Stapel gelassen hat? Der spinnt doch.«

»Das Segelschiff auf seiner Brust war jedenfalls echt.«

»Ein Tattoo von irgend so einem Kahn. Na und?«

Jamie ließ seine Sporttasche sinken. »Ich glaube nicht, dass das nur irgend so ein Segelschiff gewesen sein soll. Das sah alt aus, verdammt alt sogar.« Er sah himmelwärts und kaute auf der Unterlippe.

»Und wenn schon«, meinte Alan und ging weiter.

»Willst du jetzt etwa nach Hause?«, rief Jamie ihm nach.

»Na klar, du kannst ja hier ein Picknick veranstalten, wenn’s dir Spaß macht.«

»Nee, ich weiß was Besseres. Und überhaupt, Mum rechnet noch gar nicht mit uns.«

Alan hielt an und wartete, bis ihn sein Bruder eingeholt hatte. »Was hast du vor?«

»Ich fahre nach Hoxa Head«, meinte Jamie.

»Jetzt?«

»Ja, es ist Vollmond – stand jedenfalls im Kalender –, und wenn Nebel aufkommt, könnten wir heute Nacht den Schatz finden.«

»Jetzt bist du vollends übergeschnappt.«

»Ich hab da so ein Gefühl. Alan, stell dir doch mal vor, wir wären reich, könnten uns alles leisten …«

Sein Bruder runzelte die Stirn. »Nach Hoxa sind es über zwanzig Meilen. Mit dem Fahrrad braucht man für die Strecke sicher an die zwei Stunden.«

»Mit dem Rad vielleicht.« Jamie grinste.

Alan sah seinem Bruder hinterher. »Hey, warte!«

Kurze Zeit später standen sie vor der Türe eines Einfamilienhauses an der Grainbank. Jamie drückte die Klingel. Ein Teenager mit schulterlangem, rotblondem Haar öffnete die Haustür. Lückenhaft überzog Flaum von gleicher Farbe dessen Wangen und Kinn. »Was wollt ihr denn?

»Sei ebenso gegrüßt, Logan«, meinte Jamie. »Fährt dein Roller eigentlich noch?«

»Was geht’s dich an?«

»Wir würden ihn gerne ausleihen.«

»Könnt ihr vergessen«, erwiderte der junge Mann.

»Logan, du weißt, dass ich fahren kann«, sagte Jamie. »Du hast es mir selbst beigebracht. Du kriegst ihn morgen auch wieder zurück.«

»Jamie, nur weil wir weitläufig miteinander verwandt sind, heißt das nicht, dass ich genauso bescheuert bin. Du bist erst vierzehn«, erklärte Logan und zog die Tür zu.

»Du bekommst auch etwas dafür.«

Die Türe öffnete sich einen Spaltbreit. »Wie viel?«

»Wie wär es mit dem?«, entgegnete Jamie und zeigte den Rugbyball vor.

Logans Augen fixierten das ovale Objekt. »Wessen Autogramm soll das sein?«

»Gavin Hastings. Er gehört dir, wenn wir den Roller kriegen.«

»Wenn euch die Bullen anhalten, bin ich mit dran.«

»Dann behaupte ich, ich hätte ihn ohne dein Wissen genommen. Na, wie sieht’s aus?«

»Hm«, gab der rotblonde Junge von sich. »Spätestens morgen Mittag steht die Maschine hinterm Haus – ohne den kleinsten Kratzer und vollgetankt.«

Nachdem sie die Helme aufgesetzt und die grafitgraue Scomadi bestiegen hatten, klappte Jamie sein Visier auf. »Falls unsere Mum anruft: Wir übernachten heute bei dir!«, rief er und drehte am Gasgriff.

Der Motorroller sauste los. Alan schlang seine Arme fest um Jamies Hüften, um nicht hinten hinunterzufallen.

Zunächst ging es auf Nebenstraßen durch Kirkwall. Dunkelheit hatte sich über den Ort gelegt, der inzwischen weitgehend menschenleer wirkte. Am Ende der New Scape Road bogen sie auf die Hauptstraße A 961, die mit fast zweiundzwanzig Kilometern den größten Teil ihrer Wegstrecke ausmachte. Dabei überquerten sie Dämme von fünfhundert Meter Länge, um von East Mainland über die kleineren Inseln Lamb Holm, Glims Holm und Burray bis nach South Ronaldsay zu gelangen. Am Tage hätte ihnen die Gegend mit ihren saftigen Grünflächen, auf denen Rinder, Schafe und Ziegen weideten, den Meeresbuchten und Landzungen mit Fels- und Sandstränden atemberaubende Anblicke geboten. Derzeit sahen die Jungen indessen nur den vom Scheinwerfer des Motorrollers ausgeleuchteten Asphalt der nächtlichen Straße.

Bei Sankt Margaret’s Hope verließen sie die Hauptverkehrsader und erreichten auf der School Road kurz nach zwanzig Uhr schließlich Hoxa Head, das Ziel ihrer Fahrt.

Die Zwillinge stiegen vom Motorroller und blickten sich um. Von Osten her bot sich der Mond in seinem vollen Umfang zur Schau und setzte den zerklüfteten Küstenstreifen in ein bizarres Licht. Zerfallene Betonbunker aus dem Zweiten Weltkrieg mit Schießscharten und Aussichtsluken warfen lange Schatten. Darüber hinaus erlaubte der Mondschein es ihnen, über die Meerenge hinweg bis nach Flotta zu sehen.

Feuchtkalte, mit Salz angereicherte Böen ließen Jamie den Atem stocken, als er den Helm abnahm. Er stellte sich seitlich zum Wind und holte Luft.

»Du hattest recht«, sagte Alan und wies zum Nachthimmel.

Jamie schlug den Jackenkragen hoch und schloss den obersten Knopf. »Jetzt müssen wir bloß noch auf Nebel warten.« Darauf klopfte er sich ab. »Mist!«

»Was ist?«

»Hab mein Smartphone vergessen.«

»Ja, wir sollten Mum anrufen«, meinte Alan und fischte sein Mobiltelefon aus der Hosentasche.

»Ich mach das.« Jamie nahm es ihm aus der Hand. »Komm, wir gehen da rüber!« Windgeschützt hinter einem Betonwall hielt sich Jamie das Telefon ans Ohr. »Nein, Mum, ich bin es«, meldete er sich. »Ja, Alan ist auch da. Wir sind bei Logan. Dürfen wir bei ihm übernachten? … Das Training ging heute nicht so lang … Nein, Tante Vivian und Onkel Ralph haben nichts dagegen. Außerdem sind doch Ferien … Ja … Ja, bestimmt … Danke! Ja, du auch … Und grüß Dad von uns … Mach ich. Bye.«

»Was hat sie gesagt?«, fragte Alan.

»Nun, Mum möchte, dass wir die nassen Klamotten aus den Sporttaschen räumen. Aber sie hat es erlaubt. Ich soll dich grüßen.«

Der Wind zerrte an ihren Jacken und Hosenbeinen. Die Jungen wagten sich bis knapp zum Rand der steil abfallenden Küste vor und blickten hinunter. Hohe Wellen brandeten lautstark auf die zerklüfteten Felsen und bildeten weiße Schaumkronen.

»Da geht’s aber weit runter«, rief Alan und versuchte, mit seiner Stimme gegen Wind- und Meeresrauschen anzukämpfen.

»Ja«, sagte Jamie. »Wenn da einer runterfällt, bleibt nicht viel von ihm übrig.«

»Lass uns lieber etwas zurückgehen!«

»Hast du etwa Schiss?« Jamie setzte den Fuß an die Kante. Er grinste. »Schau mal.«

Gesteinsbrocken lösten sich und stürzten in die Tiefe. Dort prallten sie von einem Felsvorsprung ab und trudelten in die Gischt.

»Hör auf mit dem Scheiß!«, brüllte Alan. Er zog seinen Bruder vom Abgrund weg und hielt ihn fest. »Bist du verrückt geworden? Seitdem der Alte dir den Floh vom Schatz ins Ohr gesetzt hat, bist du wie ausgewechselt.«

»Du verstehst eben keinen Spaß«, erwiderte Jamie und riss sich los.

»Das ist kein Spaß!«

»Ehrlich gesagt hast du dich verändert!«, rief Jamie. »Bist ein richtiger Langweiler geworden. Also, reg dich gefälligst ab, Alan. Ich geh erst mal pinkeln.« Alan sah ihn mit ungläubiger Miene an. Jamie winkte ab. Er ging hinter einen der nahegelegenen Bunker. An die Betonwand gestellt, öffnete er den Hosenschlitz. Warum machte Alan wegen der harmlosen Alberei bloß solch ein Aufheben? Er hatte die Situation im Griff gehabt, schließlich war er nicht lebensmüde.

Auf dem Mauerwerk vor ihm befanden sich Kritzeleien. Während er sich erleichterte, versuchte er, einiges davon zu entziffern. Neben den üblichen Liebesbezeugungen und Hassparolen entdeckte er ein Gedicht. Jamie las:

Wenn nachts der Himmel aufgeht,

der Vollmond in passender Achse steht:

Er rege über den Boden gleißt,

und kühler Nebel dich streift:

So fliehe in höchster Not,

damit der dunkle Mann dich nicht holt.

Gedankenversunken stand Jamie da. Starrte auf die rätselhaften Zeilen. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass es leise um ihn herum geworden war. Der Wind musste nachgelassen haben. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Da sah er den Nebel. Dunstschleier waberten über das Erdreich und strichen um seine Beine. Es gab keine Farben mehr, als existiere seine Umgebung nur noch in Abstufungen von Grau. War er etwa eingeschlafen? Wie lange schon stand er nur so da? Rasch machte er seine Hose zu und rannte um den Bunker herum. Jamie glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er riss die Augen auf. Hoffte, dass das, was er gerade sah, nicht der Realität entsprach: Sein Zwillingsbruder stand am Klippenrand, mit dem Rücken zur See. Hinter ihm dichter Nebelschleier. Alan hob seitlich seine Arme an und bildete mit dem Körper eine T-Form. Ein wages Lächeln huschte über sein Gesicht. Daraufhin ließ er sich gestreckt nach hinten fallen. Langsam wie in Zeitlupe verschwand er aus Jamies Blickfeld.

»Neeeiin!«, brüllte Jamie. Er eilte zum Abgrund. Alans zerschmetterter Körper lag unten auf dem Felsblock. »Nein. Bitte, lieber Gott. Nein!« Er warf sich auf die Knie. Hämmerte seinen Kopf gegen den steinigen Erdboden. »Warum? Alan, warum nur?«

Grelles Licht erfasste ihn. Er hob den Kopf. Sah das Segelschiff durch die Nebelbank brechen. Es näherte sich ihm, geradlinig, behäbig, doch unaufhaltsam. Er konnte den Blick nicht abwenden. Ein Mann stand an der Reling. Augen, schwärzer und tiefer als der tiefste Meeresgrund. In der Hand hielt er eine Laterne.

Lichtstrahlen bohrten sich in Jamies Netzhaut. »Vater?«

Graham Owenhoyer schreckte aus dem Schlaf. Er setzte sich im Bett auf und wischte den Schweiß von seiner Stirn. Danach wankte er ins Badezimmer. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und blickte in den Spiegel. In seinem Mundwinkel zuckte es. Er grinste. Das Grinsen breitete sich aus. Bald fing er an zu lachen. Immer lauter. Sein Lachen steigerte sich zu einem Krampf. Tränen rannen ihm herunter. Er verschluckte sich, hustete und lachte weiter. Er konnte nicht mehr aufhören.

Im Spiegelbild sah der alte Mann die Tätowierung auf seiner Brust. An Deck des Segelschiffs standen zwei Jungen. Sie hielten sich an den Händen. Aus ihren Gesichtern sprachen Furcht und endloser Seelenschmerz.

Susanne Zetzl

Am Ende der Zeit

Stunde Null

Dass etwas nicht stimmte, fiel mir erst auf, als ich in den Speisesaal kam. Davor nicht. In der Zen-Kuppel wurde gerade das Weltall an die Decke projiziert, das hat mich total gefesselt. Und wäre da nicht plötzlich die Katze gewesen, hätte ich die Zeit komplett aus den Augen verloren. Ich hatte keine Ahnung, woher sie so plötzlich kam und warum sie mir auf den Bauch sprang. Daher kann ich auch nicht sagen, ob das der Moment war, in dem sich alles veränderte. Im Nachhinein bildete ich mir ein, einen Ruck gespürt zu haben. Aber der konnte genauso gut von der Katze gewesen sein.

Ich hob sie von meinem Bauch und richtete mich auf. Mir war etwas schummerig von all der ungewohnten Entspannung. Ich tastete mich in Richtung des schweren Vorhangs, durch den Licht fiel. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass ich mich beeilen sollte. Rick würde sicher schon in unserer Lieblingsbar auf mich warten und beim zweiten oder dritten Drink angekommen sein. Es war meine erste Kreuzfahrt auf einem Luxusliner, dessen Vielseitigkeit und Größe mir immer noch schier unglaublich vorkamen.

Der Spa-Bereich war um diese Zeit wenig besucht; ein paar Bademäntel lagen auf der Bank vor der Sauna. Klar, dass ich mir dabei nichts dachte.

Auf das Trocknen meiner kurzen Haare verzichtete ich; schnell schlüpfte ich in mein kleines Schwarzes und verließ den Spa-Bereich, um Rick Gesellschaft zu leisten.

Auf dem Weg dorthin begegnete ich niemandem. In den schmalen Gängen lagen vor einigen Kabinentüren Kleiderhaufen. Offensichtlich hatte ich verpasst, dass sie zu einer bestimmten Zeit vom Schiffspersonal eingesammelt und gereinigt wurden. Nur dass auch Schuhe herumlagen, wunderte mich etwas.

Und über die Stille wunderte ich mich. Kein Motorengeräusch, keine Stimmen, nichts. Nur ein leises Summen der Neonlampen. Als ich mich umdrehte, lief die Katze hinter mir her. In dem hellen Licht sah ich, dass ihr Fell rot war. Aber nur kurz, dann flackerte das Licht, und eine dunklere Notbeleuchtung setzte ein.

Selbst da war ich der Meinung, dass das ja mal vorkommen könnte; kein Grund zur Beunruhigung.

Die Katze ließ sich nicht verscheuchen, und ich fragte mich ernsthaft, wie ich dem Schiffspersonal erklären sollte, dass das nicht meine Katze war, dass sie mir nur zugelaufen war.

Ich musste schmunzeln; das klang seltsam genug: eine zugelaufene Katze auf einem Schiff. Waren Katzen denn überhaupt auf Schiffen erlaubt?

Um zu Rick an die Bar zu kommen, musste ich durch den Speisesaal. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen und sah mich um. Alles war in ein schwaches Licht getaucht. Das war der Moment, in dem mir langsam dämmerte, dass hier etwas nicht mehr stimmte. Kein Mensch war zu sehen. Kein diensteifriger Stewart, kein Gast, kein Rick an der Bar, nichts. Nur die Kleider hingen über den Stühlen oder lagen verstreut am Boden, als wären ihre Besitzer nur mal eben herausgeschlüpft.

Ich ging weiter in den Raum hinein. In der Mitte hielt ich an. Auf meine immer lauter werdenden Rufe antwortete niemand. Ich weiß noch, dass meine Stimme ganz komisch klang, so, als würde ich gegen einen Teppich anschreien. Und je länger ich nach einem Stewart, nach Rick, nach irgendwem rief, desto mehr begann ich zu ahnen, dass ich keine Antwort bekommen würde.

Meine Beklemmung wuchs beängstigend schnell. Ich durchwühlte die Kleider, auf der Suche nach einem Hinweis, einem Zeichen, irgendwas! Stieß dabei Stühle um, rannte gegen die Eisskulptur, die umstürzte und als gefallener Engel auf dem Boden zerbrach.

Spätestens jetzt hätte ein pikierter Ober um die Ecke biegen müssen. Nichts. Aus Beklemmung wurde Angst, harte, knorpelige Angst.

Was dann geschah, daran erinnere ich mich nicht mehr so genau. Ich muss wohl ziellos durch das Schiff gelaufen sein, schreiend, auf der Suche nach irgendeinem Wesen, das mir Antwort geben würde. Aber da war niemand. Absolut niemand.

Ich erinnere mich, dass ich einmal an Deck war, vor mir das schwarze Meer und über mir der schwarze Himmel und meine Stimme nicht mehr den Weg durch meine Lippen fand. Nur noch ein heiseres Keuchen kam heraus, das mich entsetzte. Und dass ich blutete, weil ich mich irgendwo gestoßen haben musste. Dass ich fiel und der Himmel auf mich stürzte.

Die ersten Tage

Da waren immer wieder grüne Augen, funkelnd, mich beobachtend. Die Augen der Katze, die das dünne Fädchen, an dem mein Verstand noch hing, nicht abreißen ließen.

Wie viel Zeit vergangen war, nachdem die Menschen verschwanden und ich wieder einigermaßen klar denken konnte, kann ich nicht mehr sagen. Waren es nur Stunden? Oder Tage? Keine Ahnung. Irgendwann quälte mich ein schrecklicher Durst. Ich lag auf dem Boden, oben an Deck, zwischen zwei Liegestühlen. Auch wenn der Gedanke, noch mal den Speisesaal betreten zu müssen, Wellen der Panik durch meinen Körper jagte, beschloss ich zurückzugehen. Mir blieb immerhin noch ein Fünkchen Hoffnung, mich getäuscht, alles nur geträumt zu haben oder dass Rick mir einen ziemlich miesen Streich gespielt hatte.

Die Katze schnurrte um meine Beine, und ich hob sie hoch. Sie war leicht, warm, und sie lebte. Gefühle aus Trost und Hoffnung raubten mir fast den Verstand. Zitternd presste ich das weiche Fell an meinen Körper. Wir gingen los.

Der Speisesaal war unverändert. Der Eisengel lag noch genauso auf dem Boden, wie er herabgefallen war. Eissplitter umgaben ihn, der rote Teppich unter ihnen trocken. Ich ging auf die Bar zu und öffnete eine Flasche Mineralwasser. Es sprudelte nicht und schmeckte irgendwie anders.

Mein Zittern hatte nachgelassen. Die Katze saß vor mir auf dem Tresen und schnurrte.

»Katze, Katze – sag du mir, was hier los ist?«, bat ich, nur um meine Stimme zu hören. Zwar erwartete ich keine Antwort von ihr, aber ihre Augen gaben mir genau den Halt, den ich brauchte.

Ich verstand nichts von Katzen. Aber mangels männlichen Beistandes beschloss ich, dass es ein Kater sein sollte.

»Ich nenne dich Inspektor«, murmelte ich und trank den Rest des Wassers. Neben der Bar waren ein paar Kanapees aufgeschichtet, und ich langte nach einem Lachsbrötchen. Es schmeckte nach nichts.

Ich nahm ein Schinkenbrötchen und biss hinein. Wieder schmeckte es allenfalls mehlig.

Egal, wenn ich handlungsfähig bleiben wollte, dann musste ich ein paar von den Dingern hinabwürgen. Auch Inspektor bekam einen Teil ab, aber sein Blick sagte mir, dass es ihm genauso wenig schmeckte wie mir.

Das Summen der Notbeleuchtung schnitt durch den Raum wie ein Skalpell. Wie lange würde sie wohl noch halten? Die Nacht kündigte sich an, und ich wollte auf keinen Fall an diesem Ort bleiben.

Ich schnappte mir Inspektor und wollte gehen. Dabei fiel mein Blick auf einen Kleiderhaufen vor einem der Barhocker: Ricks Anzug. Das war der Moment, in dem ich nicht mehr handlungsfähig sein wollte. Im Gegenteil. Ich wollte nur noch raus, raus aus diesem Albtraum.

Wahllos griff ich nach der nächstbesten Flasche mit hochprozentigem Inhalt und trank, bis ich nicht mehr konnte. Es schmeckte wie das Wasser, schal. Als ich absetzte, kam mir der Gedanke, dass mit dem Geschmack der Brötchen vielleicht auch die erhoffte Wirkung von Alkohol verschwunden sein könnte. Doch ich irrte mich. Knappe zwei Minuten später zog es mir die Füße weg wie noch nie in meinem Leben. Als hätte mir jemand eins über den Schädel gezogen.

Genauso fühlte ich mich auch, als ich Stunden später wieder zu mir kam. Eine raue Zunge leckte mir über das Gesicht, und etwas hämmerte direkt neben meinem Ohr. Ich dachte an einen Hubschrauber, doch als ich meine verklebten Wimpern endlich aufbekam, saß da nur Inspektor. Sein Schnurren klang immer noch wie das Schlagen von Rotorblättern in meinem Kopf, und ich setzte mich auf.

Ich hatte in meiner eigenen Kotze gelegen. Es war das erste Mal, dass ich den Umstand begrüßte, nichts mehr schmecken oder riechen zu können. Trotzdem taumelte ich in den Spa-Bereich und ließ mich mitsamt dem kleinen Schwarzen ins Becken fallen.

Die nächsten Wochen

In den folgenden Wochen versuchte ich alles, diesen Zustand, in den ich geraten war, irgendwie rückgängig zu machen. Ich lag stundenlang in der Zen-Kuppel, weil ich dachte, dass sie vielleicht so eine Art Tor war, das mich in meine Welt und zurück zu den Menschen bringen würde. Ich verschaffte mir Zugang zur Brücke und drehte an allen Instrumenten, Rädchen und Steuerknüppeln, drückte alle Knöpfe, die ich dort fand. Ich brüllte in das, was ich für ein Funkgerät hielt, immer wieder, bis ich heiser war.

Ich fand Leuchtpistolen, Leuchtstäbe und in einer Kabine sogar ein Schlagzeug, das ich auf Deck zerrte. Ich suchte nach Radios, die mit Batterie betrieben wurden, und stellte jedes einzelne an. Ich drehte mir die Finger wund, auf der Suche nach einem Ton da draußen, aber es gab nur immer das gleiche, gesichtslose Rauschen.

Ich kramte alle Handys an Bord zusammen, die ich finden konnte und probierte sie alle aus – keines tat das, was ein Handy tun sollte: Kontakt herstellen, kommunizieren.

Irgendwann später begann ich dann, die WhatsApp-Nachrichten auf den nicht gesperrten Handys zu lesen. Kleine, unwichtige Botschaften, die auch mir noch bis vor Kurzem die Welt bedeuteten. Und deren Stumpfsinnigkeit mich jetzt in die Verzweiflung trieben, weil ich mir nichts sehnlicher wünschte, als auf mein tausendfach getipptes »Hallo, ist da wer« zwei blaue Häkchen zu erhalten. Nur zwei winzig kleine, blaue Häkchen, die sonst immer so sicher erschienen, wie die Erde sich um die Sonne dreht.

Stattdessen waren Dinge geschehen, die ich mir bisher nicht im Entferntesten hatte vorstellen können: Alle Menschen an Bord waren verschwunden – gab es überhaupt noch welche? Es existierte kein Geschmack, kein Geruch mehr. Eis schmolz nicht. Essen verdarb nicht; verhungern würde ich also nicht. Eher an Geschmacklosigkeit sterben.

Auch die Notbeleuchtung auf dem Schiff war mittlerweile komplett ausgefallen, es schaukelte einfach mit den Wellen, als wäre es ein Teil davon.

Ich schaute mir die Augen aus dem Kopf, um mit dem Fernglas Land zu entdecken. Oder ein Flugzeug. Oder auch nur einen Vogel am Himmel. Da war nichts mehr.

Da ist nichts mehr.

Aber es gab auch noch nicht diesen dunklen Schatten auf dem Meer.

Die nächsten Monate

Mittlerweile sind fast zwei Jahre vergangen. Viele Monate, in denen ich mich mal mehr, mal weniger mit meiner Situation, nun ja, sagen wir mal: arrangiert habe. Abgefunden habe ich mich damit nie. Auf die kleinen Hochs folgten tiefe Tiefs, die ich meistens mit ein paar kräftigen Schlucken aus der Bar kompensierte. Aber wen scherte es, wenn ich danach den Fußboden vollkotzte?

Ich hasste das Alleinsein, die ewige Stille. Und im nächsten Moment liebte ich sie: Hatte ich mir nicht immer etwas mehr Ruhe in meinem alten Leben gewünscht? Etwas weniger Hektik, mehr Zeit für mich? Jetzt hatte ich mehr als genug davon. Zum Ersticken viel davon.

Allein Inspektor verdankte ich es, dass ich in dieser Zeit nicht vollkommen durchdrehte. Wir beide hielten zusammen, waren ein Team; der eine konnte sich immer auf den anderen verlassen.

Er war mein dankbarer Zuschauer, wenn ich für ihn eine Pyramide aus Sektgläsern aufbaute oder alle Stühle auf einen Haufen schmiss, um zu sehen, wie hoch der Turm werden würde, ihm im Theater Mac Beth aufführte oder mir eine Varietee-Show für ihn ausdachte. Ich konnte alles sein, was ich wollte. Ich konnte Clown sein, ich konnte der Teufel sein, ich konnte Marilyn Monroe sein. Oder Hulk. Oder Lizzy Bennet, die auf Mr. Darcy wartet (zugegeben: meine Lieblingsrolle). Alles, was ich dafür brauchte, fand ich irgendwo an Bord.

Ansonsten bekämpfte ich aufkommende Langeweile damit, durch das Schiff zu streunen, in den Habseligkeiten der Menschen herumzukramen, die jetzt Gott weiß wo waren.

Mit dem gefundenen Zentralschlüssel gelangte ich in jede Kabine. Ich gab den Bewohnern Namen; in Premium Suite 4023 lebte die fette Königin. Eine Dame von monströsem Umfang, wie ein Blick auf ihre Garderobe verriet. Da nahm sich das zierliche Diadem, das ich in einer mit Samt ausgeschlagenen Schatulle fand, eher grotesk aus. Oder der alte Pfeifer aus Kabine 2114: Sein Gebiss lag noch im Wasserglas, sein Bademantel auf dem Bett, wo er zuletzt gelegen hatte. Eine Pfeife lag in Kopfhöhe, also hatte der alte Knabe gegen alle Verbote im Bett geraucht.

»Vielleicht war das der Auslöser, für die Stunde Null, was meinst du, Inspektor?«, fragte ich meinen Begleiter.

Seinem Blick nach fand er die Frage lächerlich; er wusste mit Sicherheit längst, was die Wahrheit war.

Oder der Kindergarten in Kabine 3508. Der Boden war kreisförmig übersäht mit bunten Kinderkostümen: eine Prinzessin mit Krone, (wahrscheinlich das Geburtstagskind), ein Cowboy; sein großer Hut überdeckte fast sein ganzes Kostüm, ein Polizist, dessen Plastik-Schusswaffe unter weißen Handschuhen hervorlugte, ein Indianer, die böse Hexe aus dem Westen.

Glücklichere Tage.