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Amber Benson & Christopher Golden

Sieben Pfeifer

Umschlagzeichnung & Illustration von

John Howe

Aus dem Amerikanischen von

Bernhard Kleinschmidt

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Deutsche Erstausgabe

ISBN E-Book: 978-3-946330-06-6
ISBN Hardcover: 978-3-946330-05-9
© 2018 Buchheim Verlag, Olaf Buchheim, Grimma
Alle Rechte vorbehalten

Cover, Grafik: Designomicon | Anke Koopmann,
Jenö Gellinek art direction & photography
Lektorat: Claudia Pietschmann
Satz im Verlag
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany

www.buchheim-verlag.de

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

The Seven Whistlers

Copyright © 2006 by Amber Benson and Christopher Golden
Published in agreement with the author, c/o BAROR
INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A.

Inhalt

Zur Einleitung - Ein Gespräch über dieses Buch

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

AUTOREN

ILLUSTRATOR

ÜBERSETZER

ZUR EINLEITUNG

EIN GESPRÄCH ÜBER DIESES BUCH

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Amber: Sprechen wir darüber, wie die Sieben Pfeifer entstanden sind … und wie wir als Co-Autoren zusammenarbeiten, um eine Geschichte zu erschaffen, die Teile von uns beiden enthält, aber trotzdem mit ihrer eigenen Stimme spricht.

Chris: Offen gesagt, habe ich seltsamerweise absolut keine Erinnerung daran, wie das Ganze zustande gekommen ist. Auf jeden Fall haben wir bei der Subterranean Press im Rahmen unserer Reihe Ghosts of Albion eine signierte und limitierte Hardcover-Ausgabe unserer Novelle Astray herausgebracht. Wahrscheinlich hat unser Verleger Bill Schaefer uns dabei gefragt, ob wir noch etwas anderes zusammen vorhaben … so muss es wohl gelaufen sein. Wir sprachen dann über eine der Legenden, auf die ich bei meinen folkloristischen Recherchen gestoßen bin und die mir cool vorkam. Allerdings wollten wir nach den ganzen AlbionGeschichten etwas Modernes machen.

Amber: Und ich war schon immer fasziniert von dem, was mein Großonkel im Zweiten Weltkrieg bei der Navy erlebt hat, besonders während seiner Zeit im Südpazifik, einem der brutalsten Kriegsschauplätze damals. Mir gefiel die Idee, Stücke davon mit einer modernen Geschichte zu verweben … und wie üblich wollten wir beide, dass unser Buch eine weibliche Hauptfigur hat.

Chris: Zum ersten Mal haben wir ja bei einem Comicbuch für Dark Horse zusammengearbeitet. Dazu kam es unter anderem, weil deine Mutter mir erzählt hat, du hättest einen Haufen Theaterstücke geschrieben. Irgendwie sind daraus drei Comics geworden, woraufhin wir den Auftrag erhielten, für die BBC eine eigene animierte Webserie zu gestalten, eben Ghosts of Albion. Interessant an den Sieben Pfeifern ist aber, dass es bis heute unser einziges Projekt ist, das nur deswegen entstand, weil wir es machen wollten – weil wir noch etwas anderes zusammen schreiben wollten. Später haben wir ein Hörspiel für die BBC-Radioserie Man in Black verfasst, und dann ist da auch noch unser noch nicht verfilmtes Drehbuch, aber die Sieben Pfeifer haben einen besonderen Platz in meinem Herzen, weil erst die Inspiration da war und dann die Gelegenheit zur Publikation, während es bei den anderen Sachen umgekehrt gelaufen ist.

Amber: Genau! Wir haben beide eine Mentalität, die uns dazu bringt, auf vielen Bällen zu tanzen. Das heißt, wir nehmen etwas an, was uns angeboten wird, und fragen uns erst dann: Wie zum Teufel kann ich so eine Geschichte eigentlich kreativ umsetzen? Bei den Sieben Pfeifern konnten wir dagegen schreiben, was wir wollten, aus der reinen Freude, Kunst zu erschaffen.

Chris: Kommen wir noch mal darauf zurück, wie du dieses Gespräch begonnen hast. Ganz offensichtlich ist es von Vorteil, wenn man befreundet ist, aber bei unserer ersten Zusammenarbeit – diesem Comic über Willow und Tara – waren wir eher gute Bekannte als Freunde. Die Arbeit daran hat uns zusammengebracht und die Chance gegeben, nicht nur eine echte Freundschaft zu schließen, sondern auch Qualitäten aneinander zu entdecken, die uns Lust zu einer weiteren Zusammenarbeit gemacht haben. Ich glaube, wir haben dasselbe Interesse an bestimmten Aspekten des Geschichtenerzählens, an bestimmten Arten von Figuren und so weiter, aber außerdem haben wir dasselbe Arbeitsethos und dieselben Vorstellungen, wie man ein kreatives Leben führt. Deshalb frage ich mich … was sind deiner Meinung nach die wichtigsten Elemente, die in die seltsame Alchemie jeder Zusammenarbeit einfließen?

Amber: Ich glaube, man muss seine Co-Autoren klug wählen und darauf achten, dass beide kreativ auf der gleichen Wellenlänge sind. Man muss sich einigen können, welchen Verlauf die Geschichte nehmen soll, und man muss flexibel sein, was Geben und Nehmen angeht. Manchmal läuft es so, wie man es selbst haben will, und manchmal muss man das der Perspektive des anderen überlassen. Zu wissen, wann eine Idee des anderen besser ist als deine eigene … tja, das ist der zentrale Punkt. Wenn man darauf versessen ist, immer recht zu haben, verpasst man allerhand richtig tolle Gelegenheiten. Ich finde, was wir zwei zusammen schreiben, ist immer besonders nuanciert und vielschichtig, weil wir beide ernsthaft darauf hören, was der andere zu sagen hat, und weil wir wirklich offen für neue Ideen sind. Aber das Wichtigste an dieser Alchemie ist, dass sie Spaß machen muss. Es hat keinen Sinn, etwas zu schreiben, wenn man sich an diesem Prozess nicht freuen kann … und wenn ich etwas mit dir zusammen schreibe, weiß ich, dass wir einen Riesenspaß haben!

Chris: Und wenn es uns Freude macht, ist die Chance wesentlich größer, dass die Leser auch Freude daran haben.

Amber: Das ist das beste Ende für dieses Gespräch, das ich mir vorstellen kann. Wir sollten den Lesern einfach raten, jetzt umzublättern, meinst du nicht?

Chris: Auf jeden Fall.

Amber: Na, worauf warten Sie? Blättern Sie um!

Chris: Nur zu! Hören Sie auf Amber.

Amber: Blättern Sie um! Lesen Sie weiter …

SIEBEN PFEIFER

I

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Rose Kerrigan stand im sterilen weißen Flur des Pflegeheims und betrachtete die große Pinnwand über der Schwesternstation. Sie überflog die Angebote, während sie darauf wartete, dass die Tagschwester ihren Großvater ankleidete. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem feinen Grinsen, als sie einen Zettel erblickte, auf dem eine Gesamtausgabe der Encyclopedia Britannica mit »leichten Gebrauchsspuren« zum Verkauf stand.

Sie fragte sich, wo einer der Gäste im Valley Glen Rest Home wohl sämtliche Bände einer Enzyklopädie unterbringen sollte. Wenn alle Zimmer so winzig waren wie das ihres Großvaters, musste man die Bücher direkt neben dem Patienten aufs Krankenhausbett stapeln, damit man noch genügend Platz hatte, um durch die Tür zu kommen.

Bei der Vorstellung, wie ihr vogelartiger Großvater umgeben von Lexika in seinem Bett saß, einen verwirrten Ausdruck auf dem mit grauen Bartstoppeln bedeckten Gesicht, wurde das Lächeln von Rose noch breiter. Es war ein garstiger Gedanke, schon klar, aber wie die meisten garstigen Gedanken weigerte er sich, ihr aus dem Kopf zu gehen.

»Worüber grinst du denn da?«, fragte eine Stimme hinter ihr.

Oberflächlich betrachtet war diese Stimme volltönend und anziehend; ein honigsüßer Alt, der trügerisch einlullend wirkte. Nur aufgrund ihrer Erfahrung entdeckte Rose darin einen schroffen, herablassenden Ton. Sie hatte ihre ganze Kindheit über Zeit gehabt, jede Nuance dieser Stimme zu studieren, weil Wissen Macht war. Denn wenn man wusste, welche Stimmung mit welchem Tonfall einherging, konnte man sich vor Angriffen schützen.

Nun, da sie erwachsen war, gab es nur noch eine Person, die allein durch ihre Stimme so viel Anspannung in ihr hervorrufen konnte – die Stimme von Isobel Hartung, der Frau, die sich ihre Großmutter nannte.

Rose drehte sich gezwungen lächelnd um und sah die alte Frau auf sich zukommen. Es klickte, wenn Isobels Absätze auf dem Linoleumboden aufkamen. Sie trug einen eleganten kamelfarbenen Pullover und eine Leinenhose; ihre dichten grauen Haare waren zu einem losen Knoten zusammengefasst, der die feinen Knochen ihres Gesichts betonte. Sie hätte schön sein können, wenn sie nicht so kalt gewesen wäre.

»Dein Großvater hatte heute Nacht einen kleinen Anfall«, sagte Isobel. »Ich nehme an, die Krankenschwester hat schon mit dir gesprochen …«

Rose schüttelte den Kopf. Niemand hatte ihr davon berichtet, dass in der Nacht etwas vorgefallen war.

»Tja«, fuhr ihre Großmutter fort, »offenbar hatte er einen leichten Schlaganfall, der zwar nicht lebensgefährlich war, aber ich will trotzdem nicht, dass du ihn heute Nachmittag aufregst.«

Rose runzelte die Stirn. »Ich habe das Buch mitgebracht, das wir gerade lesen; wir sind schon beim letzten Kapitel. Normalerweise beruhigt es ihn. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Huckleberry Finn irgendjemanden durcheinanderbringt …«

Ihre Großmutter ignorierte sie, als hätte sie überhaupt nichts gesagt.

»Geh einfach zu ihm rein und sag ihm, du hast heute Nachmittag etwas anderes vor. Man darf ihn nicht überfordern, Rose. Wenn du nicht so unachtsam wärst, würdest du das selbst merken.«

Die Worte der alten Frau bohrten sich Rose wie eine scharfe Klinge ins Herz. Sie hasste es, dass sie so stark auf ihre Großmutter reagierte, doch das war schon seit ihrer Kindheit so, und scheinbar konnte sie das noch immer nicht überwinden.

»Aber …«

»Ich muss jetzt mit dem Arzt sprechen, aber dann komme ich wieder her, um mich zu vergewissern, dass du weg bist.«

Damit drehte ihre Großmutter sich auf ihrem graubraunen Absatz um und schritt den Flur entlang. Während Rose der langsam kleiner werdenden Gestalt hinterherblickte, löste sich endlich die Anspannung und ihre Schultern sackten wieder herab.

Mein Gott, wenn ich die Frau nur sehe, würde ich am liebsten schreien, dachte Rose kläglich. Am Rand ihrer Wahrnehmung meldeten sich die ersten Anzeichen einer Migräne. Sie schob das Buch, das sie mit der Hand umklammert hatte, wieder in ihren Rucksack.

Huckleberry Finn musste eben noch einen Tag warten.

Seit ihr Großvater vor sechs Monaten ins Heim gekommen war, hatte Rose es sich zur Pflicht gemacht, ihn so oft wie möglich zu besuchen. Obwohl es ihm durch den Alzheimer, der ihm das Gedächtnis raubte, schwerfiel, auch nur die Gesichter seiner Angehörigen zu erkennen, ließ sie sich davon nicht abschrecken. Sie tauchte einfach alle paar Tage auf, mit einem dicken Buch bewaffnet. Wenn sie schon keine schönen Familienerinnerungen miteinander teilen konnten, würden sie dies wenigstens mit einer guten Geschichte tun. Auch wenn der alte Walter Hartung sie anscheinend nicht erkannte oder sie mit seiner Tochter – der Mutter von Rose – verwechselte, freute er sich sichtlich am Klang ihrer Stimme und an ihrer Gegenwart.

Als Rose das Zimmer ihres Großvaters betrat, saß dieser aufrecht im Bett, ein leichtes Runzeln auf dem verwitterten Gesicht. Schwester Cathy, die tagsüber Dienst hatte, räumte gerade seine verschmutzten Kleider weg und zwinkerte Rose zu, während sie ein Paar Socken in einen kleinen weißen Wäschesack stopfte.

Mit leiser Stimme, damit nur Rose sie hörte, flüsterte sie: »Ich hab gehört, was die alte Hexe da draußen gesagt hat. Hab gehofft, sie würde erst kommen, wenn ich schon lange weg bin.«

Rose nickte matt.

»Tut mir leid, dass Sie das Schlimmste abgekriegt haben«, fügte Cathy hinzu, wohl als Reaktion auf das bleiche Gesicht und die gefurchte Stirn von Rose.

»Ist schon in Ordnung«, erwiderte Rose. »Ich bin das gewohnt.«

»Trotzdem ist es nicht richtig«, sagte Cathy finster, während sie die Schnur des Wäschesacks zuzog und zur Tür ging. Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass ihre kurzen blonden Locken wippten. »So geht man einfach nicht mit seinen Angehörigen um!«

Der Meinung war Rose ebenfalls, sagte jedoch nichts, als Cathy aus dem Raum ging und sie mit ihrem Großvater in dem spartanischen Zimmer allein ließ.

»Worüber jammert die Schwester eigentlich?«, fragte ihr Großvater. Seine Stimme verfing sich in der Kehle, als hätte die Luft Schwierigkeiten, die Lunge zu verlassen. Außerdem hörte er nicht gut und bat Rose ständig, lauter zu sprechen oder zu wiederholen, was jemand anders gesagt hatte.

»Nicht so wichtig, Großvater«, sagte Rose, zog einen Stuhl zum Krankenbett und setzte sich zu ihm. Er hob den Arm, um nach ihrer kleinen Hand zu greifen und sie fest in seinen runzligen Fingern zu halten. Seine Haut fühlte sich wie die papierartige äußerste Schale einer Zwiebel an, trocken und rissig.

»Die werden dir sagen, mir wär heute Nacht übel gewesen«, sagte er. Aus seinen wässrigen Augen lief etwas Flüssigkeit. Er kam Rose aufgewühlter vor als sonst, und sie hatte Angst, ihm zu antworten.

Er spürte ihre Bedenken und machte ein böses Gesicht. »Hör bloß nicht auf den Schwachsinn, den die von sich geben, Mädchen«, knurrte er. »Das war keine Übelkeit heute Nacht, sondern etwas anderes. Etwas wesentlich Schlimmeres als das, was dir der eigene Körper antut, wenn du alt wirst.«

Er umklammerte Roses Hand so kräftig, dass es ihr beinahe wehtat. Sein Ausbruch überraschte sie. So klar hatte sie ihn schon seit Wochen nicht mehr erlebt.

»Ich verstehe nicht, was …«, begann sie, doch er schnitt ihr das Wort ab.

»Es gibt Böses auf der Welt, Liebes. Dinge, die jemand, der so jung ist wie du, nicht begreifen kann, aber glaub mir, sie existieren und lauern auf …«

»Worauf?«, fragte Rose, der sich vor Furcht der Magen verkrampfte.

»Auf deine Seele … deine sündige Seele!«

Er presste ihre Finger zusammen, als wollte er die kleinen, empfindlichen Knochen darin zermalmen.

»Au! Du tust mir weh, Großvater«, sagte Rose und presste vor Schmerz die Zähne zusammen. Anscheinend hörte er sie, denn der Druck auf ihre Hand wurde geringer, doch ihr Großvater ließ nicht los.

Sie starrte ihn an, um ihn zu einem normalen Verhalten zu zwingen, doch an dem glasigen Blick in seinen Augen sah sie, dass er ganz außer sich war. Rose drehte den Kopf und folgte diesem Blick, der sich auf etwas richtete, was sich knapp über ihrer Schulter draußen vor dem Fenster befand. Hinter der Scheibe sah sie nichts Außergewöhnliches, nur das skelettartige Braun der kahlen Bäume und das gedämpfte Grau des Himmels, an dem sich ein Unwetter zusammenbraute.

»Was ist denn, Opa?«, fragte sie. »Was siehst du da?«

Er gab ein leises Wimmern von sich, während ihm Tränen aus den Augenwinkeln strömten. In seinem Gesicht waren die seltsamen Erinnerungen, die ihm offenbar durch den Kopf gingen, nicht zu erkennen; er hatte diesen verlorenen, weggetretenen Blick, an den Rose gewöhnt war. Es brach ihr das Herz, dass sie den Menschen, der er einmal gewesen war, nicht aus seinem Panzer locken konnte.

»Der Tod ist auf der Jagd nach mir, Rose«, krächzte er mit vor Furcht zitternder Stimme. Von Entsetzen geschüttelt, sah er in diesem Moment wie ein kleines Kind aus, das sich vor etwas im Kleiderschrank oder vor dem Donnerschlag eines Gewitters ängstigte. »Sie kommen mich holen, Rose, wegen all meiner Sünden. Bitte lass nicht zu, dass sie mich kriegen!«

Rose versuchte, ihn zu beruhigen und zugleich seine Wahnvorstellungen zu begreifen. Er machte ihr Angst, aber dennoch empfand sie ein bisschen Freude. Es war das erste Mal in mehr als drei Wochen, dass er sie mit ihrem Namen angesprochen hatte.

Eine scharfe Kralle bohrte sich in ihre Schulter, um sie von ihrem Großvater wegzuziehen.

»Was hast du getan?«, rief ihre Großmutter, der eine lose Haarsträhne über das gerötete Gesicht fiel. Sie stieß Rose an die Wand, ohne sich darum zu scheren, dass der Kopf ihrer Enkelin schmerzhaft an die Fensterkante prallte.

»Ich habe überhaupt nichts …«, begann Rose.

Ihre Großmutter fixierte sie mit einem derart bösartigen Blick, dass ihr der Protest in der Kehle stecken blieb.

Hinter Isobel stürzten ein Arzt und zwei Krankenpfleger ins Zimmer. Einer der Pfleger, ein großer, dunkelhäutiger Mann mit einem wilden Afro, schob dem Patienten eine Kanüle in den Arm, um ihm mit kühler Effizienz ein Beruhigungsmittel in die Vene zu spritzen.

»Raus!«, schrie Isobel und richtete ihren knochigen Zeigefinger auf Rose.

Der Arzt und die Pfleger waren zu sehr mit dem Mann im Bett beschäftigt, um zu sehen, welcher Hass sich im Gesicht der alten Frau ausbreitete, doch Rose traf er bis ins Mark.

Eine weitere Aufforderung brauchte sie nicht; dieser Blick reichte völlig aus. Sie drehte sich um und floh aus dem Zimmer.

II

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Während er schlief, hatte er keine Träume gehabt; die waren von dem Beruhigungsmittel in Schach gehalten worden. Seine schütteren weißen Haare klebten verschwitzt am Kopf, und als irgendwo im Raum ein Stuhl zurückgeschoben wurde und dessen Beine über das kalte Linoleum des Bodens quietschten, fuhr Walt Hartung mit einem Ruck hoch.

Unsicher, wo er war, blickte der alte Mann sich um. Das Zimmer kam ihm bekannt vor, doch er konnte es nicht einordnen. Allmählich strömten Bruchstücke seines Gedächtnisses zurück, und er erinnerte sich an diesen Ort. Andere Dinge kamen ihm ebenfalls in den Sinn, dann kehrte die Furcht zurück.

Als er den Kopf drehte und sah, dass er nicht allein war, ließ seine Angst nach, wenn auch nur für einen Moment.

»Bella …?«, fragte er mit heiserer Stimme.

»Ich bin hier, Walter.«

Sie ist immer noch so schön wie an unserem Hochzeitstag, dachte er, während er auf Isobel starrte, die neben ihm steif auf einem Stuhl saß. Er streckte die Hand aus, und sie ergriff sie, um seine Finger zu massieren. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sich auf seinem Arm ein großer, violetter Fleck gebildet hatte. Da erinnerte er sich an die riesige Kanüle und die grimmige Entschlossenheit in den Augen des Pflegers, der ihm die Nadel ins Fleisch gestoßen hatte.

»Lass mich nicht allein«, krächzte Walt. »Bitte bleib bei mir, Bella.«

Sie lächelte ihm zu, doch ihre Augen unter den langen, getuschten Wimpern waren traurig. Ohne etwas zu erwidern, drückte sie seine Hand.

»Sie kommen mich holen«, flüsterte er, während sein Herz in der hageren Brust hämmerte.

Ein Schluchzen entfuhr ihm, und große Tränen rannen an seinem Gesicht herab. Weil er ihnen keinen Einhalt gebieten konnte, drehte er das Gesicht zum Kissen, um sie so gut wie möglich trocknen zu können. Als er wieder aufblickte, zog Isobel ein Papiertaschentuch aus der Schachtel auf dem Nachttisch und tupfte seine Augen damit ab, wobei sie darauf achtete, ihm nicht wehzutun. Worte fielen keine mehr.

Schließlich beugte sie sich vor und berührte mit den Lippen seine Stirn. So blieb sie einen Moment und atmete den Geruch seiner Haut ein, bevor sie aufstand, ihm ihre Hand entzog und den Raum verließ.

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So schnell sie konnte, eilte Rose zwischen den Bäumen hindurch. Sie verfluchte sich, weil sie die Abkürzung über den Friedhof genommen hatte. Es wurde immer dunkler, und normalerweise war sie so ängstlich, dass sie diesen Ort selbst bei Tageslicht mied. Sie hatte keine Ahnung, warum sie sich hierher gewagt hatte, während der Mond wie ein reifer Pfirsich am Himmel über ihr aufging.

Seit sie das Pflegeheim verlassen hatte, war sie wie auf Autopilot. Was sie gerade erlebt hatte, ging ihr ebenso im Kopf herum wie der hasserfüllte Blick in den Augen ihrer Großmutter. Alles spulte sich ständig wieder in ihr ab. Am schlimmsten war, dass sie nicht wusste, was sie falsch gemacht hatte. Sie hatte nicht einmal etwas aus dem Buch vorgelesen, sondern war einfach nur ins Zimmer ihres Großvaters gegangen, um ihm »hallo« zu sagen, und schon war die Hölle los gewesen.

Als in der Tiefe ihres Rucksacks ihr Handy summte, blieb ihr fast das Herz stehen. Sie verzichtete darauf, nach dem Telefon zu wühlen, weil sie wusste, dass das Jenny war. Die wollte sie bestimmt nur daran erinnern, dass sie sich um sechs im Pennywhistle trafen, statt wie üblich erst um sieben.

Das war ein uraltes Ritual – jeden Dienstagabend kamen Rose und ihre Freunde im Pub zusammen, um ein paar Bier zu trinken und darüber zu plaudern, was in der Stadt passiert war. So blieben sie in Kontakt und konnten nebenbei ein bisschen Dampf ablassen. Sich am Dienstag zu treffen, war eine eiserne Regel, die nicht gebrochen werden durfte, aber in manchen Wochen saßen sie auch zwei oder drei Mal im Pennywhistle.

An diesem Abend wäre Rose jedoch beinahe zurück zur Hütte ihrer Eltern gefahren, statt in die Kneipe. Sie war mit den Nerven am Ende, und ihr Kopf pochte. Bei dem Gedanken an ihren Job, in dem sie Pferde striegelte und sattelte, Futtersäcke schleppte und sich mit Touristen herumplagte, die noch nie auf einem Pferd gesessen hatten, tat ihr der Schädel noch mehr weh. Dann fiel ihr ein, dass sie für den nächsten Tag gar nicht eingeteilt war. Sie arbeitete mit Begeisterung im Stall vom Red Oak Inn, aber heute Abend war der Ausblick auf einen freien Tag ein wahrer Segen.

Außerdem stand ihr Wagen in der Nähe ihrer Wohnung. Wenn sie im Zentrum von Kingsbury zu tun hatte, ging sie lieber zu Fuß, statt das Auto zu nehmen. Deshalb musste sie sowieso in die Gegend, in der sich das Pub befand.

Dienstagabend. Das war das Ritual.

Unwillkürlich hatte sie daher die Abkürzung vom Pflegeheim durch den Wald – und den Friedhof – genommen, weil das der schnellste Weg zur Innenstadt und zu den Freunden war, deren Gesellschaft ihr jetzt wohl guttun würde. Dass sie sich dabei fürchtete, war unvermeidlich, doch sie versuchte, dagegen anzukämpfen.

Während Rose über das trockene Laub ging, das den Boden bedeckte, nahm sie all die Geräusche überdeutlich wahr, die die nächtliche Stille durchbrachen. Die meisten erkannte sie und ahnte, woher sie stammten – der Wind, die Nachtvögel, das Rascheln anderer Tiere. Sie wusste, dass sie einfach nur weitergehen musste, weil die kleinen Kreaturen, die ringsum hierhin und dorthin huschten, mehr Angst vor ihr hatten als umgekehrt.

Das redete sie sich jedenfalls unablässig ein, um ihre Furcht in Schach zu halten.

Dann erklang ein seltsames, durchdringendes Pfeifen, das die Nachtluft erzittern und alle Tiere im Wald verstummen ließ.