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Patricia Jane Castillo

Exymetrie

3. Chance





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Chance

Chance

 


Alles hätte geschehen können
Im Traum der Zukunft, der in unserer Gegenwart bereits Vergangenheit ist.

Alles ist geschehen,
in unserer Realität und in allen parallelen Dimensionen.

Alles könnte geschehen,
denn wir haben eine Chance.

1.


1.

 

 

 

Es war schon einmal geschehen. All das, hatte sie schon einmal erlebt. Irgendwann in einem verschwommenen Traum der Vergangenheit. In einer diffusen Vision einer ungewissen Zukunft. In einer Gegenwart, die nicht nur einmal stattgefunden hatte. Der Wind wirbelte durch ihr Haar. Es war kühl hier oben, aber es spielte keine Rolle. Für sie gab es nur diesen Weg. Alle anderen Pfade waren versperrt. Sie kamen. Der Abgrund war nahe. Sie wich zurück. Ihre Fersen hingen in der Luft. Sie stand nur noch auf den Spitzen. Ein Windstoß drängte sie zurück. Sie wusste was geschehen würde. Doch sie fiel nicht. Er hielt sie fest und zog sie zurück auf das Dach. Sie sah in sein Gesicht. Die leuchtenden Augen waren zwei Planeten im unendlichen All.

»Komm«, raunte er.

»Wohin? Sie werden uns überall finden.«

»Nicht überall. Nicht an einem Ort, den wir beide erschaffen.«

Sie klammerte sich an die Hoffnung in seinen Worten. Es gab nichts anderes was sie daran hinderte in den bodenlosen Abgrund zu stürzen. Nur der unerschütterliche Glaube erhielt ihren Lebenswillen aufrecht. Nichts anderes.

»Wir können etwas, was niemand von ihnen vermag. Deswegen sind wir hier.« Die Wolken teilten sich. Mondschein fiel auf sein Gesicht. Sie glaubte ihm. Sein Wille war härter als Diamant. Es gab nur zwei Wege. Der eine führte in die schwarze Tiefe, der andere ins Ungewisse. Sie war bereit, ihm zu folgen.

 

 

 

Ihre ferne Vergangenheit...

Sie öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder. Das grelle Licht brannte auf ihrer Netzhaut. Langsam kehrte das Bewusstsein in ihren Körper zurück. Ihr Hals war ausgedörrt. Trockener als Schleifpapier. Ihre Gliedmaßen völlig taub. Sie konnte sich kaum rühren. Ihre Arme und Beine waren an einer Liege festgezurrt. Soweit sie die Umgebung erkennen konnte, lag sie in einem weißen Raum. Ohne Fenster und Türen. Die Glühbirne direkt über ihr schaukelte hin und her. Niemand war hier.

»Hallo?« Sie zerrte an den Bändern. Sie waren so straff gebunden, dass sie sich kaum bewegen konnte.

»Ist hier jemand?«

Stille antwortete ihr. Wo war sie? Und wie war sie hierhergekommen? Sie machte die Augen auf und versuchte zu rekonstruieren, was geschehen war. Tausende Bilder strömten in ihren Geist. Landschaften, Seen, Meere. Gesichter. Sie wechselten sich in Millisekunden ab, verschwammen und lösten sich auf. Sie konnte nicht erkennen, was echt und was ihrer Fantasie entsprungen war.

 

 

 

Es wurde entschieden. Das war die wahrscheinlichste Variante. Vermor sah das Hologramm. Es war schärfer gezeichnet als die anderen Möglichkeiten. Die Figuren plastischer und bunter. Er betrachtete es neutral. Doch die gewünschte Nüchternheit wollte sich einfach nicht bei ihm einstellen. Einen Herzschlag zuvor war noch alles möglich gewesen. Wirklich alles.

Die Entscheidung war gefällt worden. Das war die wahrscheinlichste Option. Die anderen Weisen hielten ihren Blick starr auf das Hologramm der gelebten Gegenwart gerichtet. Ihre Mienen waren verschlossen. Ohne Emotionen. Die Gefühle hatten sie schon lange überwunden. Eine höhere Macht regierte in ihrem Inneren. Vermor unterschied sich von ihnen. Das seltsame Gefühl, dass sich seines Herzens bemächtigt hatte, wollte nicht weichen. Es war wie ein lauer Frühlingswind, der durch die jungen Blätter einer Birke fuhr. Sollte wirklich das eintreten, was er gerade sah?
Normalerweise akzeptierte er die Wege des Schicksals. Doch dieses Mal war etwas anders. Die anderen Varianten waren immer noch stark. Schwächer als die gewählte Option, doch nicht so schwach wie sie sein sollten.

 

An einen solchen Wendepunkt erinnerte er sich nicht, egal wie weit er in die Vergangenheit zurückblickte. Vermor war Jahrhunderte über die Erde gewandelt und reiste immer noch, wenn der Rat ihn nicht zu einer Sitzung rief. Dieser Punkt von dem mehrere Linien in die Zukunft liefen, war eine Anomalie. Die Lösung erschien ihm zu simpel. Es konnte nicht alles sein. Irgendetwas fehlte.

2.


2.

 

 

 

Die U-Bahn war voller als sonst. Die Menschen flüchteten vor der Regenfront, die seit einigen Tagen anhielt. Das Wetter passte gut zu Narilennes Laune. Aber bei diesen Niederschlägen konnte sie nicht mit Fahrrad zur Uni fahren oder zu Fuß gehen. Der Waggon war so vollgestopft wie eine Sardinenbüchse. Die anderen Menschen erlaubten ihr Einblicke in ihre privaten Gefühls- und Gedankenwelten. Die wabernden Auren verdichteten sich hier zu einem undurchdringbaren Nebel. Der Cocktail aus Müdigkeit und Fremdenergien ging nicht spurlos an ihr vorbei.

Narilenne war alles andere als fit. Sie zählte die Haltestellen. Die Bahn hielt und Leute drängten sich nach draußen. Auf dem Bahnsteig warteten hunderte von Anzugträgern. Sie sahen wie Klone aus. Ihre Gesichter zeigten keinen Ausdruck. Eine Gruppe von Schülern strömte vorbei. Bunte Farbklecks inmitten von grau und schwarz. Sie liefen um einen hochgewachsenen Mann herum. Er trug eine große Sonnenbrille. Narilenne trat näher ans Fenster. Er hatte glänzendes, dunkles Haar. Sie wusste nicht, warum sie ihn länger als die anderen betrachtete. Narilenne massierte sich die Stirn. Die Ley-Linien hatten ihren Geist verwirrt. Jemand strich ihr übers Haar. Die Berührung war Balsam. Sie vertrieb ihre Müdigkeit und verscheuchte die Gedanken, die sie seit neuestem heimsuchten.

»Vero.« Sie blickte auf. Er trug eine randlose Brille, die den außergewöhnlichen Grünton seiner Augen noch verstärkte. Sie hatte das Gefühl, er würde auf den Grund ihrer Seele blicken.

»Seit wann fährst du U-Bahn?«

»Ich nehme sie öfter, als du glaubst.« Vero fuhr sich durch das feuchte Haar. Er sah auch heute wieder sehr stilvoll aus. Unter seinem teuren Mantel trug er einen taillierten dunkelgrauen Pullover. Am Hals ragte der Kragen eines farblich passenden Hemdes heraus. Dazu trug er eine olivgrüne Krawatte.

»Krawatten sind etwas für Langweiler.«Narilenne zog daran. Vero runzelte die Stirn.

»Aber dir steht sie.« Narilenne hatte schon oft beobachtet, wie die Frauen auf ihn reagierten. Heute morgen in der U-Bahn geschah das gleiche wie sonst. Ihm wurden heimliche und direkte Blicke zugeworfen. Eine junge Dame schaffte es fast nicht rechtzeitig auszusteigen, weil sie den Hals nach ihm verrenkte.

»Danke.«

»Gerne.«

»Dir geht es nicht gut.« Vero war kein Freund von oberflächlichen Gesprächen. Er kam sofort auf den Punkt.

»Woran erkennst du das?«

»Das sieht ein Blinder.«

Sie war der Intensität seines Blickes nicht gewachsen. Sie fürchtete sich vor diesen Augen, die immer erkannten, was sie verbergen wollte.

»Dies ist nicht der richtige Ort«, sagte er leiser. Ihm war nicht entgangen, dass er in der U-Bahn die größte Aufmerksamkeit auf sich zog.

»Entschuldigung.« Jemand drängte sich an Narilenne vorbei und schob sie in Veros Arme. Seine nassen Haarsträhnen kitzelten ihr Gesicht. Sein süßer Geruch hüllte sie ein wie ein Kokon. Seine Nähe war heilsam.

»Schon gut«, flüsterte er in ihr Haar. Seine Arme legten sich um ihre Taille. Sie hatte nicht gemerkt, wie ihre Hände sich in seinen Mantel gekrallt hatten. Ihr Kopf lag an seiner Brust. Sie lauschte seinem gleichmäßigen Herzschlag.

»Er hat eine Freundin.« Hörte sie eine Frau sagen.

»Zu schade«, meinte eine andere.

Narilenne blendete die Umgebung aus. Die Stimmen wurden zu einem fernen Rauschen.

»Wir sind da.«

»So schnell?« Narilenne löste sich abrupt aus der Umarmung.

»Die Zeit hat ihre eigenen Regeln.« Veros kryptisches Lächeln ließ sie erröten. Was um aller Welt, hatte sie schon wieder getan?

»Wer zuerst oben ist.« rief sie und sprintete die Treppe hoch.

Sie sah sich nicht um. Vero durfte auf keinen Fall ihre roten Wangen sehen. Außer Atem sprang sie die letzten Stufen hoch.

»Nicht übel.« Vero stand bereits oben und musterte sie amüsiert.

»Wie bist du so schnell hier hochgekommen?«

»Rolltreppe.«

»Das ist fies.«

»Die Regeln waren nicht festgelegt.« Vero zuckte mit den Schultern. Sie traten aus dem Eingangsbereich. Es hatte aufgehört zu regnen. Trotzdem war der Himmel noch grau. Die Autos spritzten Pfützenwasser hoch. Auf dem Weg zur Uni erzählte Narilenne Vero von den Ley-Linien. Er wusste, dass sich in der Medienfakultät zwei Linien trafen. Narilenne fuhr mit den Fingern über ihren roten Pony. Sie spielte wieder die Rolle von Milana Damisov. Da dieser Ort Ranxour wie Fliegen anzog, sollten sie weiterhin in das Studentenleben tauchen und wachsam sein. Vor ihrer Fakultät verabschiedete sich Vero. Mit seiner Nähe schwand das angenehme Gefühl in ihrem Bauch. Neben seiner Empathie hatte er die Gabe Emotionen auf andere zu projizieren. Er hatte ihr auf dem ganzen Weg hierher unsichtbare Sonnenstrahlen gesendet.

Jetzt war sie abgeschnitten davon und fühlte sich verloren. Kopf hoch. Sie durfte sich nicht von der Gravitation der schweren Gefühle hinabziehen lassen.

»Du musst nicht immer stark sein.« Veros Lippen waren ganz nah an ihrem Ohr. Sie spürte seine Hände auf ihren Schultern.

Sofort umfing sie das Strahlen seiner Aura. Narilenne schloss die Augen und atmete sein Aroma ein.

»Lass dir Zeit.«

»Danke.« Sie drehte sich um und tat, was sie niemals getan hätte. Sie umarmte ihn wie ein einsames Wesen, dass jahrelang allein durch die Welt geirrt war und zum ersten Mal nach langer Zeit einen Menschen sah. Dabei verließ sie für wenige Sekunden die kalte Welt mit all ihren Erinnerungen. Kurze Zeit später verabschiedeten sie sich zum zweiten Mal. Dieses Mal wirkte Vero gelöster als sonst. Seine Augen glänzten. Auch sie fühlte sich besser.

»Ich hoffe, ich habe dir nicht zu viel Energie geraubt. Wenn es so weitergeht, werde ich noch zum Vampir.«

»Ich habe genug davon«, sagte er leichthin. »Bis später.« Sie sah ihm hinterher, bis er um die Ecke bog und aus ihrer Sichtweite verschwand.

»Was war denn das?« Kendra kam hinter einer Säule hervor geprescht.

»Wie lange stehst du schon da?« Narilennes Wangen hörten einfach nicht auf zu glühen.

»Lange genug.«

Großartig. Das letzte was sie heute brauchte, war eine eifersüchtige Kommilitonin. »Wenn wir hier noch lange herumstehen, kommen wir zu spät zur Vorlesung.«

»Willst du mir nicht etwas erzählen?« Kendra spielte mit den Perlen ihres Armkettchens.

»Da läuft nichts.«

»Wirklich?«

»Nein. Wir verstehen uns einfach gut.«

»Aha.« Kendra glaubte ihr kein Wort aber beließ es dabei. Narilenne sah dreckig gelbe Flecken in ihrer Aura. Eifersucht. Womit hatte sie das verdient?

»Erzähl mir doch wie deine Feiertage waren.« Sie versuchte das Thema zu wechseln. Sie eilten die Treppen zum Vorlesungssaal hoch und kamen wenige Sekunden vor dem Professor an. Sie setzten sich in die vorletzte Reihe. Narilenne holte einen Schreibblock aus ihrer Tasche, als Kendra sie anstupste.

»Los, spuck es aus.«

»Da gibt es nichts zu erzählen.« Narilenne sah nach vorne. Ihr Blick streifte die Hinterköpfe der Studenten. Sie hielt Ausschau nach Auffälligkeiten. Es konnte sein, dass sich hier ein Ranxour befand.

»Wenn es wirklich so ist, kann ich ihn ja haben.« Kendra konnte es nicht lassen über ihn zu reden. Narilenne verdrehte die Augen. Ihre Freundin konnte Veros Fanclub beitreten. Wenn sie wüsste, wie wenig der liebe 'Ivan' von hartnäckigen Verehrerinnen hielt. Narilenne verfolgte die Vorlesung nur mit einem Ohr. Sie fühlte sich seltsam. Müde und aufgekratzt zugleich und dies lag nicht daran, dass sie die Emotionen der anderen Studenten wahrnahm. Ihrem Körper fehlte eindeutig Schlaf. Es fühlte sich so an, als hätte sie mehrere Tage hintereinander kaum ein Auge zugetan. Wie lange lag die letzte Mission zurück?

Narilenne konnte sie nicht rekonstruieren. Wo waren sie gewesen? Es fiel ihr nicht ein. Der Schlafmangel zollte seinen Tribut. Das Ende der Vorlesung kam ihr ganz gelegen. Sie brauchte frische Luft.

»Hey, wo rennst du hin?« Kendra hielt sich am Stuhl fest, um nicht von Narilenne umgerannt zu werden.

»Wir sehen uns nachher in der Mensa«, rief Narilenne. Auf dem Flur herrschte reges Treiben. Leute standen in Grüppchen zusammen. Narilenne schlängelte sich hindurch. Der Boden quietschte unter ihren Sohlen.. Ein paar Studenten saßen auf einer Fensterbank und unterhielten sich. Sie sah aus dem Fenster. Schneeflocken rieselten vom Himmel. Dieses Bild kam ihr seltsam bekannt vor. Doch sie wusste nicht woher. Narilenne erreichte das Ende des Korridors. Rechts führte eine Tür ins Treppenhaus. Unschlüssig setzte sie einen Fuß auf die erste Stufe ins zweite Stockwerk. Wollte sie nicht eigentlich raus gehen?

»Hierher.«

Diese Stimme. Narilenne fröstelte. Einen Stock unter ihr stand eine kleine zierliche Frau. Ihre schulterlangen Haare waren zu einem Zopf gebunden. Auf den ersten Blick wirkte sie unauffällig. Doch ihre Haltung und der zielstrebige Blick in ihren Augen zeigten, dass sie alles andere als eine graue Maus war.

Es war Imrid. Imrid Rotainen war nicht ihr richtiger Name. Sie war eine Arcana, die Zeit manipulieren konnte. Narilenne drückte sich an die Wand, um aus Imrids Sichtweite zu gelangen. Sie erinnerte sich bruchstückhaft. Die Ranxour hatte sie schon einmal in eine Falle gelockt. Der seltsame aufgeputschte und gleichzeitig lethargische Zustand ihres Gedächtnisses war ein großes Hindernis. Die Bilder rieselten in winzigen Fetzen durch ihren Geist. Nichts davon ergab ein großes Bild. Hatte ihr jemand Wolkenpulver ins Essen gemischt? Imrid huschte fast lautlos hinunter ins Kellergeschoss. Was suchte sie dort? Narilenne musste es herausfinden.

»Hier bist du.«

Narilennes Herz machte einen Sprung.

»Kendra«, zischte sie.

»Du hättest ruhig warten können.« Die Stimme der Blonden hallte durch das ganze Treppenhaus. Genauso gut hätte eine Schar Gänse anfangen können zu kreischen. Narilenne sah hinunter. Imrid war verschwunden. Sie hatte nicht gesehen, wohin sie gegangen waren.

»Mein Fehler.« Narilenne hakte sich bei ihrer Freundin unter und zog sie in den Flur.

»Hab ich dich bei irgendetwas gestört?«

»Nein. Ich habe jemanden gesucht. Aber er ist wohl woanders hingegangen.«

»Achso.« Kendras schielte über das Treppengeländer, bestimmt in der leisen Hoffnung Vero zu sehen. Die Neugier ihrer Kommilitonin ging ihr gewaltig gegen den Strich. Zukünftige Journalisten brauchten eine gute Portion davon, aber ihr Interesse überschritt alle Grenzen. Andererseits verstand sie Kendra. Narilenne machte ein großes Geheimnis um ihre Person und erzählte nie mehr als nötig. Was nicht weiter ins Gewicht fiel, weil Kendra selbst am liebsten viel redete. Doch scheinbar hatte sie die Blonde unterschätzt. Sie beobachtete genauer, als es den Anschein machte. Warum war sie ihr gefolgt? Dadurch hatte Narilenne diese wichtige Spur verloren. Wo sich Imrid jetzt wohl befand?Sie gingen hinunter ins Erdgeschoss.

»Du denkst zu viel nach«, sagte Kendra unvermittelt.

»Kann man zu viel nachdenken?«

»Wenn man die Stirn zu oft runzelt, setzen sich dort Mimikfalten fest.«

Narilenne betrachtete ihre Kommilitonin skeptisch. Irgendetwas gefiel ihr nicht. Die Blonde verhielt sich unüblich. Statt über den neuesten Tratsch an der Uni zu reden, mischte sie sich in Narilennes Leben ein.

»Ich mache mir nur Sorgen um dich, Milana.«

»Das brauchst du nicht. Mir geht es gut.«

»Milana.«

Narilenne atmete auf. Seine Stimme beruhigte sie.

»Ivan.« Kendra lächelte breit. »Wie kommen wir zu der Ehre?«

Veros Augenmuskel zuckte unmerklich. Er scannte Kendras Energiefeld.

»Eins meiner Seminare ist ausgefallen.« Seine Miene war gelassen, fast ausdruckslos, aber Narilenne merkte, dass er unruhig war. Er faltete das Papier in seinen Händen unentwegt.

»Hast du es gut.« Kendras Stimme war süß wie Marmelade.

»Ich gehe in die Bibliothek. Ich suche ein bestimmtes Buch«, sagte er. Narilenne hörte den Hinweis heraus.

Treffen in der Bibliothek. Ohne Kendra.

»Sehr fleißig. Ich sollte vielleicht auch mit dem Lernen anfangen«, flötete Kendra.

»Wir sollten gehen, sonst kommen wir zu spät zur nächsten Vorlesung.« Narilenne und Vero tauschten einen vielsagenden Blick aus. Er wollte ihr etwas wichtiges erzählen, aber es gab ein Hindernis. Kendra stand im Weg und wollte sich einfach nicht von der Stelle rühren.

»Das wäre ein Jammer.« Vero strich sich durch sein braunes Haar und sah Kendra intensiv an. »Du willst bestimmt nicht zu spät kommen. Deine Noten hängen davon ab. Du willst die Prüfung bestehen.«

Narilenne beobachtete fasziniert, wie Kendra nickte. Vero manipulierte ihren Geist.

»Ich will die Prüfungen bestehen«, wiederholte sie eifrig.

»Genau.« Er klopfte ihr auf die Schulter. Kendra lächelte selig. Wie ein Kind, dass soeben die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum entdeckt hatte. Sie drehte ab und spazierte davon.

»Ich bin immer wieder verblüfft, wie du es anstellst«, staunte Narilenne.

»Dabei mache ich es äußerst ungern.« Vero sah Kendra mit gekrauster Stirn hinterher. »Es ist nicht richtig in den Willen einer Person einzugreifen.«

»Wir machen es doch nur, wenn es wirklich notwendig ist«, beschwichtigte Narilenne.

»Aber heiligt der Zweck alle Mittel?«

»Genauso gut könnte ich dich fragen, ob das was wir tun, richtig ist.«

»Wir glauben, dass es das Richtige ist. Unsere Sicht ist nie objektiv.«

»Nein.« Narilenne wollte Vero plötzlich alles erzählen. Von ihren Zweifeln. Von ihren vagen Vermutungen über Estra. Das alles lag wie ein Fels auf ihren Schultern.

»Rede, wann immer du willst.« Er spürte was in ihr vorging.

»Ich weiß.«

»Aber nicht hier, wo die Wände Ohren haben.«

Narilenne nickte. Die Uni war der falsche Ort für Offenbarungen. Auch jetzt, wo viele Studenten zurück in die Vorlesungssäle gegangen waren. Er setzte seine Brille ab und massierte sich die Stirn. »Ich habe Imrid beobachtet. Sie verhielt sich seltsam und ist nicht in die Vorlesung gegangen. Ich bin ihr gefolgt. Sie verließ die juristische Fakultät. Danach verlief ihre Spur ins Nichts.«

»Sie war hier. Aber nur sehr kurz«, meinte Narilenne.

»Seltsam. Ich hatte sie fast.«

»Sie ist zeitbegabt und kann in die temporäre Ebene springen wann immer sie will.«

»Kannst du sie im Tempuskorridor aufspüren?«

»Ich habe keine Ahnung.« Narilenne war schon einige Male dort gewesen aber sie wusste nicht, ob sie bewusst Leute finden konnte.

»Wir müssen sie kriegen. Sie hat sich verändert. Ihre Aura ist düsterer. An manchen Stellen schwarz wie Pech. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber sie ist gefährlicher geworden.«

Narilenne fröstelte.

»Zudem habe ich noch einen Ranxour aufgespürt«, murmelte Vero. Eine Tür krachte zu. Die Geräusche verstummten. Narilennes Magen verkrampfte sich. Veros Augen verdunkelten sich.

»Er ist hier irgendwo in der Nähe.«

Narilenne wollte hier weg. Weg von diesem schweren Gefühl, das ihr wie ein Brocken im Magen lag. Der Flur war wie ausgestorben. Wann war es so still geworden? Vero legte einen Zeigefinger an die Lippen und bedeutete ihr leise zu sein. Sie folgte seinem Blick und sah einen Schatten. Dort wo keiner sein konnte. Direkt neben dem Fenster. Mitten im Licht, das von draußen hereinschien. Vero streckte seine Hand aus. Ein Windhauch fegte durch den Flur. Für wenige Sekunden wurde der Umriss einer Person erkennbar. Der Schatten rührte sich. Leise Schritte tappten über den Holzboden. Vero lief los. Im Lauf entließ er einen weiteren Windstoß aus seinen Händen. Narilenne blieb stehen. Sie mussten den Weg ihres Gegners abschneiden. Die Schritte des Unsichtbaren wurden vom Wind abgebremst. Er war nur wenige Meter von ihr entfernt. Sie sah den Schatten. Unschlüssig stand er zwischen ihr und Vero. Narilenne konzentrierte sich. Sie fuhr die Emotionen herunter bis sie klar wie ein Diamant war. Im Geist hob sie den Unsichtbaren in die Luft. Sie löste seine Füße vom Boden und ließ ihn schweben.

Sie hörte ein Keuchen. Ruckartige Bewegungen. Narilenne ließ sich davon nicht ablenken, sondern hob die Person weiter in die Luft. Wie einen Ballon. Die Luft flackerte und die Umrisse der Gestalt wurden sichtbar. Es funktionierte. Vero sprach kurz in sein Voune. Er musste Tjore und die anderen kontaktiert haben. Diesen Ranxour hatte Narilenne bisher noch nicht gesehen. Er hatte kurzes blau gefärbtes Haar und weit aufgerissene, braune Augen.

»Ihr könnt nichts ausrichten.«, rief er.

»Können wir nicht?« Vero grinste. Der blauhaarige Ranxour versuchte sich zu bewegen. Er streckte seine Arme und Beine aus, aber es brachte ihm nichts. Narilenne hielt ihn in der Schwebe.

»Was macht ihr, wenn Studenten vorbei kommen? Wie wollt ihr ihnen erklären, was hier geschieht? Ihr werdet Probleme bekommen«, warnte sie der Mann.

»Lass das unsere Sorge sein«, erwiderte Vero. Auf einmal stieß der Ranxour einen markerschütternden Schrei aus. Narilenne hielt sich die Ohren zu. Ihre Konzentration geriet ins Wanken. Der Blauhaarige trudelte wie eine Feder nach unten. Wenn er so weitermachte, würden sie gleich von einer Menschentraube umringt sein. Der Ranxour spielte seine Karten aus. Er hatte Recht. Wie sollte sie den Studenten und Professoren erklären, was hier vor sich ging?

»Genug geschrien«, meinte Vero und schnippte mit seinen Fingern. Sofort wurde der Ranxour still. Er sah den Estra mit schweren Lidern an. Veros Augen leuchteten gespenstisch grün. Bei Kendra hatte er nur einen Bruchteil seiner Manipulationskraft angewandt. Jetzt demonstrierte er die Bandbreite seines hypnotischen Blickes. Er war sehr stark. Selbst Narilenne musste sich zusammenreißen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Das Licht seiner Augen strahlte durch den ganzen Korridor.

»Wie heißt du?«, fragte Vero.

»Catios«, murmelte der Ranxour.

»Gut Catios. Du wirst mit uns kommen. Ohne dich zu wehren. Leise und unauffällig«, befahl Vero.

»Hmmm.« Catios Augen schlossen sich.

»Du kannst ihn herunterlassen.« Das grüne Leuchten verschwand aus Veros Blick. Narilenne ließ Catios ganz langsam zu Boden gleiten.

»Habe ich etwas verpasst?« Tjore stürmte auf sie zu.

»Uns ist ein Fisch ins Netz gegangen«, meinte Narilenne.

»Ihr habt ihn ohne mich gefangen?«

»Du darfst ihn tragen.«

»Immer muss ich die Drecksarbeit machen. Ich will keinen Ranxour anfassen«, regte sich Tjore auf. Doch Narilenne sah, dass er dabei lächelte. Wenn jemand gerne auf Mission ging, dann er. Wenn er sich nicht genug bewegte und auspowerte, war er schwer zu ertragen. Er hob Catios wie eine Puppe hoch und warf ihn sich über die Schulter.

»Schnell.« Vero fasste sich an die Stirn. »Die Flure werden bald wieder überfüllt sein. «

Sie nahmen die Treppe ins Erdgeschoss. Dann den Hinterausgang, der direkt zum Park führte.

»Daqari hat einen Wagen geschickt«, sagte Tjore. »Der Gute war ganz aus dem Häuschen.«

Das wunderte Narilenne nicht. Wann brachten sie schonmal einen Ranxour ins Hauptquartier? Es war einfach gewesen ihn zu bannen. Viel zu einfach.

 


»Er sagt nichts.«

»Würdest du reden, wenn dich die Ranxour gefangen halten würden?«

»Aber irgendwann muss er etwas erzählen.«

»Warte ab. Irgendwann gibt er auf.«

Narilenne belauschte das Gespräch von zwei Cadets. Sie waren etwas jünger. Narilenne konnte sich nicht mehr genau an ihre Namen erinnern.

Der eine hieß Aleko, aber der andere?

Seitdem Catios sich in Estras Gewahrsam befand, war er das Thema Nummer eins. Daqari versuchte Informationen aus ihm herauszupressen, wie aus einer Zitrone. Doch Catios schwieg. Er sprang auch kaum auf die Bewusstseinsmanipulation von Vero an. Wenn der Ranxour redete, drohte er mit Vergeltung und Rache.

Narilenne betrat den Raum, in dem Catios sich befand. Sein Bereich war von einer Glaswand abgetrennt. Seine Seite war verspiegelt, während sie ihn von hier aus beobachten konnten.

So mussten sich Verbrecher fühlen, die verhört wurden.

»Die haben ihn gut trainiert«, sagte Daqari. »Er ist nicht so beeinflussbar wie ich es gerne hätte.«

Narilenne nickte. Es war ihr bereits aufgefallen, dass er sehr zäh war. »Warum hast du mich gerufen?«

»Er wollte mit dir reden.« Daqari setzte sich auf eine Kante des Tisches.

»Mit mir?« Sie zog eine Augenbraue hoch. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was er mit ihr zu besprechen hatte.

»Frag unseren Freund am besten selbst.« Der Sagent schien etwas zu wittern, was ihr entgangen war. Sie musterte ihn fragend.

»Gut.« Sie trat ans Mikrofon heran und räusperte sich.

»Catios?«

»Ich will allein mit dir reden.« Der Ranxour trat an die Scheibe heran. Seine braunen Augen flogen über den Spiegel.

»Ich gehe.« Daqari seufzte.

»Und ich will dich dabei sehen«, forderte Catios.

»Warum auch nicht. Noch irgendwelche Wünsche? Soll ich ein Fünf-Gänge Menü bringen lassen und einen Masseur rufen?« Daqari stöhnte genervt, aber betätigte einen Knopf seiner Fernbedienung. Sofort begann ein kleines Quadrat mitten auf der Glasfläche zu blinken. Auf Catios Seite wurde der Spiegel an dieser Stelle zu einem verglasten Fenster.

Catios musste in ihrem Alter sein. Sie fragte sich wie seine Ausbildung bei Ranxour ablief. Gab es da Parallelen? Hatten sie auch ähnliche Unterrichtsfächer? Was trieb ihn dazu an, so zu handeln?

Nicht erst seit dem Gespräch mit Vero machte sie sich Gedanken über den Sinn der Organisation. Catios musterte sie lange. Wer hatte bestimmt, auf welcher Seite des Schachbrettes sie standen? Vielleicht dachten die Ranxour, sie seien die weißen Figuren. Seltsam, warum sie an ein Schachspiel dachte. Sie hatte diesen Vergleich schon einmal gehört. Auch wenn sie nicht sagen konnte wann.

»Sieh dich vor. Du lebst gefährlich«, sagte er unvermittelt.

»Warum?«

»Überlege was du in der Vergangenheit getan hast.«

Narilenne presste die Lippen aufeinander.

»Du weißt es«, fuhr Catios sie an.

»Was sollten die von mir wollen?« Sie betonte 'die' übertrieben. Sie ahnte, dass der Mann mit der Kapuze ebenfalls zu ihnen gehörte. Er hatte ihr auf dem Feld Dinge zugeflüstert, die sie nicht losließen. Es gab vieles, das sie nicht wusste. Zusammenhänge, die sich nicht erschlossen, egal wie lange sie darüber nachdachte. Ihr fehlte das Wissen. Die Puzzleteile, die die Ley-Linien an ihre Erinnerungen angefügt hatten, reichten immer noch nicht, um das vollständige Bild zu sehen.

»Jemand hat es auf dich abgesehen«, fuhr er fort.

»Und du hast dich von uns fangen lassen, um mir das zu sagen?« Sie legte ihren Kopf schief.

»Ich wurde auf dich angesetzt.«

Schauer liefen über ihren Rücken. Wenn jemand Catios beauftragt hatte, ihr nachzuspionieren, musste dieser jemand ihre Energiesignatur aufgegriffen haben. Bereits ein Teil davon genügte, um sie zu einer Zielscheibe zu machen.

»Ich würde aufpassen, wem ich mich anvertraue.«

»Nein«, stammelte Narilenne.

»Du hast uns die Pforte geöffnet.«

Narilenne verlor den Boden unter den Füßen. Was hatte sie nur getan? Wie konnte sie so dumm sein und sich einem Ranxour offenbaren? Das seltsame war, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wann es geschehen war.

»Vertraue niemandem.«

»Du bluffst«, presste sie hervor.

Catios zuckte mit den Schulter. Er sah nicht aus, als ob er log.

Das Blatt hatte sich gewendet. Sie fühlte sich plötzlich wie die Gefangene. Sie hatte das ungute Gefühl, dass eines seiner Talente darin bestand, Menschen zu verwirren.

»Genug.« Die Stimme war sanft wie eine Feder und scharf wie ein Dolch. Veros Energie legte sich wie eine Engelsschwinge um sie.

»Du solltest nicht so vorlaut sein.« Catios klopfte gegen das Glas. »Wenn ihr glaubt, dass ihr ein Ass im Ärmel habt, dann täuscht ihr euch gewaltig. «

Veros Gesicht blieb reglos. Doch Narilenne spürte die Unruhe unter seiner ruhigen Oberfläche.

»Wenn du dich mal nicht täuscht.« Daqari tauchte auf und legte seine Hände auf die Schultern seiner Schützlinge.

»Du hast für heute genug geredet.« Er drückte einen Knopf der Fernbedienung und das Fenster schloss sich.

»Sie haben es auf dich abgesehen«, rief Catios und starrte gerade aus.

»Ja,ja«, winkte Daqari ab. »Mal sehen, wie lange er noch große Töne spuckt. Steter Tropfen höhlt den Stein. Bald haben wir ihn.«

»Hoffentlich.« Narilenne knetete ihre Finger. Irgendetwas an seinen Worten machte ihr Angst. Sie wusste nicht, was passiert war. Die Erinnerungsfetzen ließen sich nach wie vor nicht zu Bildern zusammensetzen. Sie waren verschwommene Träume ohne Sinn. Wusste Catios etwas, das ihr entfallen war? Ehe sie die negativen Gedankenspirale weiter hinabrutschen konnte, betrat Dames den Verhörraum.

»Seht euch das an.« Er ließ einen Stapel Papiere auf den Tisch fallen. Narilenne sah Skizzen von Gebäuden. »Wir haben einen weiteren Stützpunkt ausfindig machen können. «

»Hier in Donar?« Daqari wühlte sich durch die Zeichnungen.

Dames nickte.

 

 

3.

 

3.

 

 

 

Jolani kontrollierte ihr Make-Up im Spiegel. Sie hatte sich dezent geschminkt. Als Assistenz der Hotelleitung musste sie seriös wirken. Tjore war ein Mechaniker. Er spielte mit dem Verschluss seines Werkzeugkoffers. Vero arbeitete in der Verwaltung. Der dunkelgraue Anzug saß wie eine zweite Haut. Narilenne sah ihm dabei zu, wie er den Knoten seiner Krawatte lockerte. Er legte seinen Kopf in den Nacken und blickte sie aus dem Augenwinkel an. War da Belustigung in seinen Augen? Sie hatte ihn viel zu lange angestarrt.

»Hast du unsere Registrierung?« Schnell wandte sie sich an ihren Sitznachbarn. Olay und Narilenne spielten Hotelgäste. Damit begaben sie sich tiefer in den Rachen des Monstrums.

»Hier.« Er zog ihre ausgedruckte Reservierung hervor. Narilenne spürte die Aufregung wie eine Welle, die um ihren Körper schwappte. Die anderen bereiteten sich vor. Jeder auf seine Art und Weise. Die Gazer hatten herausgefunden, dass sich eine Gruppe von Ranxour im Zeraton Hotel aufhielt. Dieses hochklassige Hotel befand sich im Herzen von Donar und war der Anlaufpunkt für Geschäftsmänner und Banker. Das besondere am Zeraton war, dass ausgewählte Gäste hier ungesehen ein- uns ausgehen konnten. Das Hotel besaß einen abgetrennten Bereich, den nur das Personal und diese Menschen betreten konnten. Daqari hatte veranlasst, dass Narilenne und Olay eine besondere Reservierung bekamen.

Die Zielpersonen hielten sich nämlich in diesem privaten Bereich auf. Narilenne wusste, dass neben anderen Cadets auch Enjamin und weitere Ventidos bei dieser Aktion mitmachen würden. Jeder von ihnen brach zu einer anderen Zeit auf. Über ihr Voune würden sie Kontakt halten. Narilenne wusste nicht genau, wo die anderen waren, als sie das Hotel betraten. Ein Page geleitete sie durch eine riesige Halle. Cremefarbene Fliesen reflektierten die Sonne, die durch die Glasdecke schien. Sie passierten sprudelnde Fontänen und gläserne Skulpturen und bogen in einen Gang ein. Unvermittelt blieb der junge Mann vor einer Wand stehen.

»Was jetzt passiert, ist Zauberei.« Er zwinkerte ihnen zu und fuhr mit einer Chipkarte über die Tapete. Auf einmal bewegte sich die Wand. Es war eine Schiebetür. Dafür brauchten sie also die Plastikkarten, die ihnen die Frau an der Rezeption gegeben hatte. Sie folgten dem Mann durch einen breiten Flur, der noch edler aussah, als der öffentlich zugängliche Bereich. Die gewölbte Decke war mit Malereien alter Künstler verziert. Exotische Pflanzen befanden sich in vergoldeten Kübeln, die von der Wand hingen. Narilenne hatte das Gefühl eine Epoche aus der Vergangenheit zu betreten.

»Gefällt es ihnen?«, fragte der Page.

»Und wie.« Narilenne lächelte. Sie traten in einen Fahrstuhl und fuhren einige Stockwerke hoch. Kurze Zeit später blieb er vor einer massiven Mahagonitür stehen.

»Hier gilt das gleiche Prinzip«, erklärte er und zog die Karte über ein leuchtendes Dreieck neben der Tür. »Wenn sie noch Fragen haben oder etwas benötigen, rufen sie den Zimmerservice oder melden sie sich bei der Rezeption.«

Er verschwand mit leisen Schritt.

»Wow«, staunte Olay. »Das ist eine Suite.«

»Nichts im Vergleich zu unseren Zimmern.« Narilenne ließ ihr Tasche zu Boden gleiten und schritt durch den großen Raum, der als Wohnzimmer diente. An den Wänden hingen abstrakte Bilder aus dem aktuellen Jahrhundert. Türen führten in drei Schlafzimmer und in zwei Bäder. Eine Couchgruppe stand um einen runden Tisch herum. Dahinter befand sich eine Glastür, die auf einen ausladenden Balkon hinausging.

»Leider sind wir nicht hier, um das zu genießen.« Narilenne öffnete die Balkontür. Eine kühle Brise strich ihr über das Gesicht. Olay ließ sich auf die Couch fallen und öffnete seinen Laptop. Es war ein besonderes Modell. Kompakt und mit besonderen Funktionen versehen. Er konnte damit die Standorte der anderen Estra ausmachen. Narilenne wischte über ihr Voune und überflog ein paar Artikel über berühmte Besucher des Zeraton Hotels. Je mehr Hintergrundwissen sie sich aneignete, desto besser. Eine Werbeanzeige am rechten oberen Bildrand machte sie stutzig. Dort war das markante Profil eines schwarzhaarigen Mannes zu sehen. Er trug eine Fliegersonnenbrille mit metallisch blauen Gläsern.

Sie klickte auf die Werbung. Irgendetwas an diesem Bild kam ihr bekannt vor. Auf der Website des Brillenherstellers sah sie das Model aus einer anderen Perspektive. Es war ein Halbporträt. Der Mann sah direkt in die Kamera. Die Gläser spiegelten die Scheinwerfer. Seine sinnlichen Lippen deuteten ein Lächeln an. Diese Fotografie bereitete ihr Kopfzerbrechen. Sie sah täuschend echt aus. Es fehlte nicht viel und der Mann würde aus dem Voune steigen. Narilenne runzelte die Stirn. Warum starrte sie dieses Bild so lange an?

»Dieser Hotelabschnitt besitzt mehrere Zugänge zur Tiefgarage. Damit die Klientel ungesehen ein und aus gehen kann«, sagte Olay.

»Clever.« Sie blickte ihm über die Schulter. Auf dem Bildschirm erschien ein Grundriss des Hotels. Sie sah ihre Suite und einige Stockwerke darüber ein leuchtendes Kreuz.

»Der Aufenthaltsort unserer Zielpersonen befindet sich im elften Stock.«

»Zwei Etagen über uns.« Narilenne sah sich die anderen Markierungen genauer an. Sie vermutete, dass Jolani sich im Raum direkt hinter der Rezeption befand. Tjore konnte als Mechaniker überall sein. Vero musste sich in einem der Büros der Hotelleitung befinden. Ganz unten leuchteten Punkte auf. Die Ventidos bewegten sich durch die Kellerräume. Narilenne zog ihre High Heels aus. Sie waren beige, passend zum Kostüm das sie trug. Ihre Haare waren zu einem Knoten zusammengebunden. Sie sah aus wie eine Geschäftsfrau. Zum Schein nahm sie jede Rolle an. Doch jetzt galt es sich für den Angriff vorzubereiten. Sie zog bequeme Schuhe an.

»Tjore ist soweit. Er hat alle Geräte verknüpft, die akustische Signale aussenden. Gleich kommt die Durchsage.« Olay stand auf und trat zur großen Musikanlage. Er drückte einige Knöpfe. Es rauschte kurz.

»Sehr geehrte Gäste.« Es war Vero. Seine Stimme war samtig warm. Sanft und beruhigend. »Wir freuen uns, ihnen unser neuestes Angebot vorstellen zu dürfen.«

Narilenne hatte das Gefühl Vero würde die Worte in ihr Ohr flüstern.

»Nutzen sie diese einzigartige Gelegenheit zu relaxen und alle Sorgen des Alltags zu vergessen.«

Narilenne musste sich zusammenreißen. Veros Hypnose war stark. Seine Worte würden hunderte von Menschen in den Tiefschlaf versetzen. Sie war immun dagegen, da sie einen Schutzkreis gezogen hatte. Dennoch gähnte sie. Das Sofa zu ihrer Rechten sah sehr einladend aus. Auch Olay rieb sich die Augen. »Ich könnte auch eine Mütze Schlaf vertragen.«

»Genießen sie die Zeit. Tauchen sie in die Welt des Traumes ein. Lassen sie los. Entspannen sie.«

Danach sagte Vero nichts mehr. Die Übertragung brach ab.

»Vero kann jeden hypnotisieren«, meinte Olay anerkennend.

»Ich fühle mich fast wie Dornröschen«, kicherte Narilenne.

Sie trafen sich im zehnten Stock. Narilenne konnte nicht umhin Vero einen heimlichen Blick zuzuwerfen. Er war ihr nicht gleichgültig. Egal, wie sehr sie sich dagegen sträubte.

»Es sind zwei Suiten«, sagte Jolani. »Ich kenne ihre Namen, aber es sind vermutlich nur Decknamen.«

»Sie schlafen wie Steine«, meinte Tjore. »Ich habe es auf den Bildern der Überwachungskamera gesehen.«

»Briad und Reezan befinden sich in einer Suite direkt daneben«, erklärte Enjamin. »Von dort gibt es einen Zugang.«

Narilenne prägte sich jede Information genau ein. Sie schlichen die Treppe ins elfte Stockwerk. Reezan und Briad öffneten ihnen die Tür. Die blonde Reezan legte einen Finger an die Lippen.

»Im begehbaren Kleiderschrank gibt es einen versteckten Durchgang. Er führt uns direkt in die andere Suite.« Briad führte sie durch ein großes Schlafzimmer in den Ankleidebereich. Seine strohigen Zöpfe wippten. Narilenne gefiel seine lockere Flechtfrisur. Sie ließ ihn wie einen Indiander der Neuzeit aussehen. Er schob die Kleiderbügel auseinander. Die Wand war an einigen Stellen uneben. Als ob die Maler hier keine Lust gehabt hatten, die Wand ordentlich zu streichen. Aber hier pfuschte niemand. Die Unebenheiten markierten eine besondere Stelle.

Briad drückte auf das kaum sichtbare Quadrat. Ein Teil der Wand setzte sich in Bewegung und öffnete die Sicht auf einen dunklen Gang. Die beiden Ventidos gingen voran. Dahinter kam Tjore, der sich mit seinen breiten Schultern mühsam hineinquetschte. »Warum treten wir nicht die Tür ein?«, grummelte er.

»Dann wäre Veros Hypnose umsonst.« Narilenne pikste ihn in den Rücken.

Der Gang zweigte nach ein paar Minuten ab. Briad wählte den rechten Pfad. Diese geheimen Gänge mussten durch alle Stockwerke führen. Kurze Zeit später sah Narilenne Licht. Ein paar Schritte später, kam sie in einem fast identischen Zimmer heraus. Mit dem kleinen Unterschied, dass die meisten Kleiderbügel hier belegt waren. Kleider, Kostüme, Hemden. Röcke, Hosen und viele Schuhe. Diese Suite war nicht leer. Narilenne spähte zur Tür. Dahinter befanden sich Ranxour.

»Bist du dir sicher, dass sie noch schlafen?« Jolani wandte sich an Vero.

»Im Moment ja«, antwortete er. »Wir haben noch einige Minuten bis sie aufwachen.«

Briad nickte und ging zur Tür. Narilenne holte tief Luft. Die Aufregung wuchs. Sie kroch durch ihre Eingeweide und versuchte ihre Ruhe anzugreifen. Doch Narilenne war stärker. Sie trat hinaus ins Schlafzimmer. Auf dem Boden lagen offene Kartons. Der Inhalt musste schon vor einiger Zeit entfernt worden sein. Was war der Inhalt dieser Boxen gewesen?Drogen? Narilenne schlich weiter. Obwohl Veros Stimme alle in Tiefschlaf versetzt hatte, wagte sie nicht zu laut zu sein. Sie ging durch die Tür und betrat ein üppig ausgestattetes Wohnzimmer. Es sah ganz anders aus, als das Zimmer, was sie und Olay bezogen hatten.

Ein Flachbildschirm in der Größe einer Kinoleinwand hing zwischen zwei steinernen Blendbogen. Sie sah ihre dunkle Spiegelung darin. Eine große Hightech-Anlage befand sich daneben. Die Abschnitte des Raumes waren durch Bogengänge getrennt. Licht fiel durch schräge Deckenfenster. Die Gläser waren in dunkelroten, violetten und blauen Tönen gefärbt. Narilenne fühlte sich in der Zeit zurückversetzt. Dieser Raum erinnerte sie entfernt an eine Kirche. An ein hypermodernes Gotteshaus, das mit teuren Möbeln und neuester Elektronik dekoriert war.

»Was die hier wohl für Messen feiern?«, Briad rümpfte die Nase.

»Dunkle.« Tjore schnalzte mit der Zunge.

»Das wollen wir nicht allzu genau wissen.« Jolani schüttelte sich.

Das Zimmer war leer. Kein Mensch befand sich hier. Narilenne beobachtete die anderen Estra. Sie wirkten angespannt. Vor allem Tjore. Er ballte die Fäuste, als wittere er hinter jeder Ecke einen Feind. Niemand sagte etwas. Jeder war höchst konzentriert. Die seltsame Architektur dieses Raumes hatte nicht nur Narilenne völlig in den Bann gezogen. Das hier war kein gewöhnliches Hotelzimmer. Jeder von ihnen spürte es. Sie starrte auf den Altar, der sich im Zentrum eines Steinbogens befand. Jeder Bogen mündete in eine ovale Nische, die entfernt an Seitenschiffe einer Kirche erinnerte.

Es stimmte. Die Ranxour vollführten Rituale. Narilenne hatte viel davon gehört. Doch jetzt sah sie es zum ersten Mal mit eigenen Augen. Ein samtener nachtblauer Teppich war vor einem schwarzlackierten Tisch ausgelegt. Auf ihm standen drei Kerzenhalter aus verziertem Messing. Narilenne war fasziniert von diesem Altar. Bildete sie es sich ein oder rauchte die mittlere Kerze noch? Sie ging ein Stück näher heran. Tatsächlich. Dunst stieg vom erloschenen Docht auf. Roter Rauch? Narilenne näherte sich. Wie konnte so etwas möglich sein? Er roch leicht metallisch.

Sie sah genauer hin. Hinter der Rauchschwade erkannte sie eine Malerei. Sie war ihr zuvor nicht aufgefallen, da sie sich von der hellgrauen Wandfarbe kaum abhob. Das Bild zeigte die Konturen eines Gesichtes. Sie musste noch ein Stück näher heran, um es besser zu erkennen. Das Gesicht wurde immer klarer. Es zeigte einen Mann mittleren Alters. Obwohl er noch nicht so alt war, hatten seine Haare die Farbe von Asche. Seine graue Augen blickten konzentriert geradeaus. Nur noch ein kleines Stück.

»Nein!«, schrie jemand.

 

 

 

Ihre ferne Vergangenheit...

Hatte sie geträumt? Ihr Herz hämmerte wild in ihrer Brust. Wie lange hatte sie geschlafen? Sie richtete sich auf aber die Bänder waren nicht lockerer geworden. Immer noch raubten sie ihr jeglichen Bewegungsspielraum. Wie zuvor war sie allein im weißen Raum. Die Glühbirne wippte hin und her. Weit und breit befand sich keine Menschenseele. Hatte man sie absichtlich hier vergessen? Wie viel Zeit war vergangen? Sie hatte keinerlei Anzeichen. Es konnten Stunden verstrichen sein oder ganze Tage.

»Hallo?«

 

 

»Weg von dem Altar«, rief Tjore.

»So sehen wir uns wieder.«

»Ich helfe deinen Erinnerungen nach.« Er drehte seinen Zeigefinger. Ein weißer Blitz fuhr in Narilennes Kopf. Er zischte leise, als er ihre Stirn berührte. Sofort wusste sie, was er meinte. Der Lichtblitz war eine elektrisierende Erinnerung. Sie hatten ihn gesehen, als ihr Van plötzlich liegengeblieben war. Er war der vermummte Ranxour, der die Astralmonster aus der Erde geholt hatte.

Behalte das Wissen für dich, wenn du willst, dass deinen Freunden nichts passiert.

»Das Bild zu zerstören, wird euch nichts nützen. Ihr begeht Hausfriedensbruch. Ein Wink von mir und die anderen sind wach.« Er schüttelte den Kopf.

»Ich habe ihrem Gedächtnis nur ein wenig auf die Sprünge geholfen.«

Narilenne riss die Augen auf. Dieser Odard könnte alles mögliche mit ihr angestellt haben. Sie hatte direkt am Altar gestanden. Genau dort, wo dunkle Rituale ihren Ursprung nahmen.

»Was man von deinem nicht wirklich behaupten kann.« Tjores Augenbrauen zogen sich zusammen. Narilenne sah aus dem Augenwinkel, wie Reezan, Olay und Briad sich unbemerkt entfernten. Sie standen hinter den Säulen. Odard konnte sie aus seiner Perspektive nicht sehen. Briad nickte ihr fast unmerklich zu. Bei Estra lernten die Cadets Mikrogesten einzusetzen. Es waren kaum sichtbare Bewegungen mit denen sie sich untereinander verständigen konnten, wenn die Sprache zu viel verraten hätte. Narilenne verstand, was er meinte. Sie wollten die schlafenden Ranxour überraschen und einem möglichen Hinterhalt zuvorkommen, während Jolani, Tjore, Vero und sie Odard in Schach hielten. Hoffentlich bemerkte er es nicht.

Wie hatte Vero es herausgefunden? Sie hatte ihre Information über seine Identität nicht mit den anderen geteilt. Odard hatte es verboten. Was wollte er von ihr? Er schien nach wie vor an ihr interessiert zu sein. Aber warum?

Veros Mundwinkel zuckten kaum merklich. Jolanis Augen suchten alle Fenster und Ausgänge ab.

»Mag sein. Aber ich bin in der Lage die Ruhe mit einem Fingerzeig in Chaos zu verwandeln. Ihr solltet von hier verschwinden.«

Narilenne spürte die fragenden Blicke der anderen auf ihr. Welches Wissen konnte ihr Odard geben?

»Schon gut«, murmelte Narilenne. Ihre Gedanken ratterten wie eine Lokomotive. Vero legte seine Hand auf ihre Schulter. »Wir akzeptieren deine Entscheidung.«

»Die Bedingungen stelle ich«, Odard schnalzte mit der Zunge.

Doch er kam nicht weit. Ein unsichtbare Wand hielt ihn davon ab, das Gemälde in die Hände zu kriegen. Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Begrenzung, doch sie gab keinen Zentimeter nach.

»Tu es nicht«, bat Jolani sie.

»Also lässt du dich darauf ein?« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Und gebt mir Deckung, fügte sie in Gedanken dazu.