Seebühl am Bühlsee / Kinderheime sind wie Bienenstöcke / Ein Autobus mit zwanzig Neuen / Locken und Zöpfe / Darf ein Kind dem andern die Nase abbeißen? / Der englische König und sein astrologischer Zwilling / Über die Schwierigkeit, Lachfältchen zu kriegen

Kennt ihr eigentlich Seebühl? Das Gebirgsdorf Seebühl? Seebühl am Bühlsee? Nein? Nicht? Merkwürdig – keiner, den man fragt, kennt Seebühl! Womöglich gehört Seebühl am Bühlsee zu den Ortschaften, die ausgerechnet nur jene Leute kennen, die man nicht fragt? Wundern würde mich’s nicht. So etwas gibt’s.

Freilich abends, da setzt sich zuweilen der graue Zwerg Heimweh an die Betten im Schlafsaal, zieht sein graues Rechenheft und den grauen Bleistift aus der Tasche und zählt ernsten Gesichts die Kindertränen ringsum zusammen, die geweinten und die ungeweinten.

Aber am Morgen ist er, hast du nicht gesehen, verschwunden! Dann klappern die Milchtassen, dann plappern die kleinen Mäuler wieder um die Wette. Dann rennen wieder die Bademätze rudelweise in den kühlen, flaschengrünen See hinein, planschen, kreischen, jauchzen, krähen, schwimmen oder tun doch wenigstens, als schwömmen sie.

So ist’s auch in Seebühl am Bühlsee, wo die Geschichte anfängt, die ich euch erzählen will. Eine etwas verzwickte Geschichte. Und ihr werdet manchmal höllisch aufpassen

Vorläufig baden sie alle im See, und am wildesten treibt es, wie immer, ein kleines neunjähriges Mädchen, das den Kopf voller Locken und Einfälle hat und Luise heißt, Luise Palfy. Aus Wien.

Da ertönt vom Hause her ein Gongschlag. Noch einer und ein dritter. Die Kinder und die Helferinnen, die noch baden, klettern ans Ufer.

»Der Gong gilt für alle!«, ruft Fräulein Ulrike. »Sogar für Luise!«

»Ich komm ja schon!«, schreit Luise. »Ein alter Mann ist doch kein Schnellzug.« Und dann kommt sie tatsächlich.

Fräulein Ulrike treibt ihre schnatternde Herde vollzählig in den Stall, ach nein, ins Haus. Zwölf Uhr, auf den Punkt, wird zu Mittag gegessen. Und dann wird neugierig auf den Nachmittag gelauert. Warum?

Am Nachmittag werden zwanzig »Neue« erwartet. Zwanzig kleine Mädchen aus Süddeutschland. Werden ein paar Zieraffen dabei sein? Ein paar Klatschbasen? Womöglich uralte Damen von dreizehn oder gar vierzehn Jahren? Werden sie interessante Spielsachen mitbringen? Hoffentlich ist ein großer Gummiball drunter! Trudes Ball hat

 

Nun, am Nachmittag stehen also Luise, Trude, Brigitte und die anderen Kinder an dem großen, weit geöffneten eisernen Tor und warten gespannt auf den Autobus, der die Neuen von der nächsten Bahnstation abholen soll. Wenn der Zug pünktlich eingetroffen ist, müssten sie eigentlich …

Da hupt es! »Sie kommen!« Der Omnibus rollt die Straße entlang, biegt vorsichtig in die Einfahrt und hält. Der Chauffeur steigt aus und hebt fleißig ein kleines Mädchen nach dem anderen aus dem Wagen. Doch nicht nur Mädchen, sondern auch Koffer und Taschen und Puppen und Körbe und Tüten und Stoffhunde und Roller und Schirmchen und Thermosflaschen und Regenmäntel und Rucksäcke und gerollte Wolldecken und Bilderbücher und Botanisiertrommeln und Schmetterlingsnetze, eine kunterbunte Fracht.

Zum Schluss taucht, mit seinen Habseligkeiten, im Rahmen der Wagentür das zwanzigste kleine Mädchen auf. Ein ernst dreinschauendes Ding. Der Chauffeur streckt bereitwillig die Arme hoch.

Die Kleine schüttelt den Kopf, dass beide Zöpfe schlenkern. »Danke nein!«, sagt sie höflich und bestimmt und

Die anderen Kinder und Fräulein Ulrike schauen perplex von einer zur anderen. Der Chauffeur schiebt die Mütze nach hinten, kratzt sich am Kopf und kriegt den Mund nicht wieder zu. Weswegen denn?

Da dreht sich Luise um und rennt, als werde sie von Löwen und Tigern verfolgt, in den Garten.

»Luise!«, ruft Fräulein Ulrike. »Luise!« Dann zuckt sie die Achseln und bringt erst einmal die zwanzig Neulinge ins Haus. Als Letzte, zögernd und unendlich verwundert, spaziert das kleine Zopfmädchen.

 

Frau Muthesius, die Leiterin des Kinderheims, sitzt im Büro und berät mit der alten, resoluten Köchin den Speisezettel für die nächsten Tage.

Da klopft es. Fräulein Ulrike tritt ein und meldet, dass die Neuen gesund, munter und vollzählig eingetroffen seien.

»Freut mich. Danke schön!«

»Dann wäre noch eins …«

»Ja?« Die viel beschäftigte Heimleiterin blickt kurz hoch.

»Es handelt sich um Luise Palfy«, beginnt Fräulein Ulrike nicht ohne Zögern. »Sie wartet draußen vor der Tür …«

»Herein mit dem Fratz!« Frau Muthesius muss lächeln. »Was hat sie denn wieder ausgefressen?«

»Diesmal nichts«, sagt die Helferin. »Es ist bloß …«

Nun treten die zwei kleinen Mädchen ins Zimmer. Weit voneinander entfernt bleiben sie stehen.

»Da brat mir einer einen Storch!«, murmelt die Köchin.

Während Frau Muthesius erstaunt auf die Kinder schaut, sagt Fräulein Ulrike: »Die Neue heißt Lotte Körner und kommt aus München.«

»Seid ihr miteinander verwandt?«

Die zwei Mädchen schütteln unmerklich, aber überzeugt die Köpfe.

»Sie haben einander bis zum heutigen Tage noch nie gesehen!«, meint Fräulein Ulrike. »Seltsam, nicht?«

»Wieso seltsam?«, fragt die Köchin. »Wie könnens’ einander denn g’sehn ham? Wo doch die eine aus München stammt und die andere aus Wien?«

Frau Muthesius sagt freundlich: »Zwei Mädchen, die einander so ähnlich schauen, werden sicher gute Freundinnen werden. Steht nicht so fremd beieinand’, Kinder! Kommt, gebt euch die Hand!«

»Nein!«, ruft Luise und verschränkt die Arme hinter dem Rücken.

Frau Muthesius zuckt die Achseln, denkt nach und sagt abschließend: »Ihr könnt gehen.«

Luise rennt zur Tür, reißt sie auf und stürmt hinaus.

»Noch einen Augenblick, Lottchen«, meint die Leiterin. Sie schlägt ein großes Buch auf. »Ich kann gleich deinen Namen eintragen. Und wann und wo du geboren bist. Und wie deine Eltern heißen.«

»Ich hab nur noch eine Mutti«, flüstert Lotte.

Frau Muthesius taucht den Federhalter ins Tintenfass. »Zuerst also dein Geburtstag!«

Lotte geht den Korridor entlang, steigt die Treppen hinauf, öffnet eine Tür und steht im Schrankzimmer. Ihr Koffer ist noch nicht ausgepackt. Sie fängt an, ihre Kleider, Hemden, Schürzen und Strümpfe in den ihr zugewiesenen

Lotte hält die Fotografie einer jungen Frau in der Hand. Sie schaut das Bild zärtlich an und versteckt es dann sorgfältig unter den Schürzen. Als sie den Schrank schließen will, fällt ihr Blick auf einen Spiegel an der Innenwand der Tür. Ernst und forschend mustert sie sich, als sähe sie sich zum ersten Mal. Dann wirft sie, mit plötzlichem Entschluss, die Zöpfe weit nach hinten und streicht das Haar so, dass ihr Schopf dem Luise Palfys ähnlich wird.

Irgendwo schlägt eine Tür. Schnell, wie ertappt, lässt Lotte die Hände sinken.

 

Luise hockt mit ihren Freundinnen auf der Gartenmauer und hat eine strenge Falte über der Nasenwurzel.

»Ich ließe mir das nicht gefallen«, sagt Trude, ihre Wiener Klassenkameradin. »Kommt da frech mit deinem Gesicht daher!«

»Was soll ich denn machen?«, fragt Luise böse.

»Zerkratz es ihr!«, schlägt Monika vor.

»Das Beste wird sein, du beißt ihr die Nase ab!«, rät Christine. »Dann bist du den ganzen Ärger mit einem Schlag los!« Dabei baumelt sie gemütlich mit den Beinen.

»Einem so die Ferien zu verhunzen!«, murmelt Luise, aufrichtig verbittert.

Trude lacht. »Du glaubst doch selber nicht, dass jemand anderes so blöd wär, mit deinem Kopf herumzulaufen.«

Steffie schmollt. Die anderen lachen. Sogar Luise verzieht das Gesicht.

Da ertönt der Gong.

»Die Fütterung der Raubtiere!«, ruft Christine. Und die Mädchen springen von der Mauer herunter.

Frau Muthesius sagt im Speisesaal zu Fräulein Ulrike:

Die Kinder strömen lärmend in den Saal. Schemel werden gerückt. Die Mädchen, die Dienst haben, schleppen dampfende Terrinen zu den Tischen. Andere füllen die Teller, die ihnen entgegengestreckt werden.

Fräulein Ulrike tritt hinter Luise und Trude, tippt Trude leicht auf die Schulter und sagt: »Du setzt dich neben Hilde Sturm.«

Trude dreht sich um und will etwas antworten. »Aber …«

»Keine Widerrede, ja?«

Trude zuckt die Achseln, steht auf und zieht maulend um.

Die Löffel klappern. Der Platz neben Luise ist leer. Es ist erstaunlich, wie viele Blicke ein leerer Platz auf sich lenken kann.

Dann schwenken, wie auf Kommando, alle Blicke zur Tür. Lotte ist eingetreten.

»Da bist du ja endlich«, sagt Fräulein Ulrike. »Komm, ich will dir deinen Platz zeigen.« Sie bringt das stille, ernste Zopfmädchen zum Tisch. Luise blickt nicht hoch, sondern isst wütend ihre Suppe in sich hinein. Lotte setzt sich folgsam neben Luise und greift zum Löffel, obwohl ihr der Hals wie zugeschnürt ist.

Die anderen kleinen Mädchen schielen hingerissen zu

Luise kann sich nicht länger bezähmen. Und sie will’s auch gar nicht. Mit aller Kraft tritt sie unterm Tisch gegen Lottes Schienbein!

Lotte zuckt vor Schmerz zusammen und presst die Lippen fest aufeinander.

Am Tisch der Erwachsenen sagt die Helferin Gerda kopfschüttelnd: »Es ist nicht zu fassen! Zwei wildfremde Mädchen und eine solche Ähnlichkeit!«

Fräulein Ulrike meint nachdenklich: »Vielleicht sind es astrologische Zwillinge?«

»Was ist denn das nun wieder?«, fragt Fräulein Gerda. »Astrologische Zwillinge?«

»Es soll Menschen geben, die einander völlig gleichen, ohne im Entferntesten verwandt zu sein. Sie sind aber im selben Bruchteil der gleichen Sekunde zur Welt gekommen!«

Fräulein Gerda murmelt: »Ah!«

Frau Muthesius nickt. »Ich hab einmal von einem Londoner Herrenschneider gelesen, der genau wie Eduard VII., der englische König, aussah. Zum Verwechseln ähnlich. Umso mehr, als der Schneider denselben Spitzbart trug.

»Und die beiden waren tatsächlich in der gleichen Sekunde geboren worden?«

»Ja. Es ließ sich zufälligerweise exakt feststellen.«

»Und wie ging die Geschichte weiter?«, fragt Gerda gespannt.

»Der Herrenschneider musste sich auf Wunsch des Königs den Spitzbart abrasieren lassen!«

Während die anderen lachen, schaut Frau Muthesius nachdenklich zu dem Tisch hinüber, an dem die zwei kleinen Mädchen sitzen. Dann sagt sie: »Lotte Körner bekommt das Bett neben Luise Palfy! Sie werden sich aneinander gewöhnen müssen.«

 

Diese zwei haben einander den Rücken zugekehrt, tun, als schliefen sie fest, liegen aber mit offenen Augen da und starren vor sich hin.

Luise blickt böse auf die silbernen Kringel, die der Mond auf ihr Bett malt. Plötzlich spitzt sie die Ohren. Sie hört leises, krampfhaft unterdrücktes Weinen.

Lotte presst die Hände auf den Mund. Was hatte ihr die Mutter beim Abschied gesagt: »Ich freu mich so, dass du ein paar Wochen mit vielen fröhlichen Kindern zusammen sein wirst! Du bist zu ernst für dein Alter, Lottchen! Viel zu ernst! Ich weiß, es liegt nicht an dir. Es liegt an mir. An meinem Beruf. Ich bin zu wenig zu Hause. Wenn ich heimkomme, bin ich müde. Und du hast inzwischen nicht gespielt wie andere Kinder, sondern aufgewaschen, gekocht, den Tisch gedeckt. Komm bitte mit tausend Lachfalten zurück, mein Hausmütterchen!« Und nun liegt sie hier in der Fremde, neben einem bösen Mädchen, das sie hasst, weil sie ihm ähnlich sieht. Sie seufzt leise. Da soll man nun Lachfältchen kriegen. Lotte schluchzt vor sich hin.

Plötzlich streicht eine kleine fremde Hand unbeholfen über ihr Haar! Lottchen wird stocksteif vor Schreck. Vor Schreck? Luises Hand streichelt schüchtern weiter.

Der Mond schaut durchs große Schlafsaalfenster und staunt nicht schlecht. Da liegen zwei kleine Mädchen ne

›Na gut‹, denkt der alte silberne Mond. ›Da kann ich ja beruhigt untergehen!‹ Und das tut er denn auch.

Vom Unterschied zwischen Waffenstillstand und Frieden / Der Waschsaal als Frisiersalon / Das doppelte Lottchen / Trude kriegt eine Ohrfeige /Der Fotograf Eipeldauer und die Förstersfrau / Meine Mutti, unsere Mutti / Sogar Fräulein Ulrike hat etwas geahnt

Besaß der Waffenstillstand zwischen den zweien Wert und Dauer? Obwohl er ohne Verhandlungen und Worte geschlossen worden war? Ich möcht’s schon glauben. Aber vom Waffenstillstand zum Frieden ist ein weiter Weg. Auch bei Kindern. Oder?

Sie wagten einander nicht anzusehen, als sie am nächsten Morgen aufwachten, als sie dann in ihren weißen langen Nachthemden in den Waschsaal liefen, als sie sich, Schrank an Schrank, anzogen, als sie Stuhl an Stuhl beim Milchfrühstück saßen, und auch nicht, als sie nebeneinander, Lieder singend, am See entlangliefen und später mit den Helferinnen Reigen tanzten und Blumenkränze flochten. Ein einziges Mal kreuzten sich ihre raschen, huschenden Blicke, doch dann waren sie auch schon wieder erschrocken voneinander weggeglitten.