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Karl Plepelits

Rache folgt der Freveltat

Roman





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Anstelle eines Vorworts: Einige Verse des griechischen Dichters Simonides

          Alle lobe ich und liebe ich,

          die nichts Schändliches aus freiem Willen tun.

          Doch gegen die schicksalhafte Notwendigkeit 

          kämpfen nicht einmal die Götter.

1

„Komm, mein süßer Liebling“, flötet er. „Komm zu mir. Ich kann’s ja schon fast nicht mehr erwarten.“

„Aber Liebster“, flötet sie. „Jetzt hast du dich so lange schon in Geduld geübt. Da wird es dir doch auf ein paar Minuten mehr oder weniger nicht ankommen, bis es für dich Abschied nehmen heißt. Noch dazu, wo dich jetzt sowieso die ganze Ewigkeit erwartet.“

Eine romantische Liebesszene? Ja, so scheint es, zumindest auf den ersten Blick. Strenge Hüter der Moral würden sie wahrscheinlich sogar aufs Schärfste verurteilen und in die Kategorie der sexuellen Perversionen einreihen. Denn erstens sind die Akteure der vorgeblich romantischen Liebesszene ein „alter Kracher“ und ein süßes „junges Ding“, sprich, eine attraktive junge Dame – so jung, dass sie nicht einmal seine Tochter, eher seine Enkelin sein könnte. Und zweitens liegt der „alte Kracher“ bereits splitternackt und mit erwartungsvoll aufgerichtetem „Gemächt“, jedoch an Händen und Füßen und zusätzlich um den Oberkörper gefesselt auf dem Bett und blickt mit ebenso erwartungsvollen Augen auf seine blutjunge Gefährtin, die mit seiner Fesselung soeben fertig geworden ist.

Sie selbst ist allerdings noch nicht einmal entkleidet. Dabei kann er es kaum erwarten, ihren (um Goethe zu zitieren) jungen und morgenschönen Körper zu betrachten und vor allem zu berühren, zumal ihr junges und morgenschönes Röslein zwischen ihren Schenkeln. Unbekleidet hat er sie nämlich überhaupt noch nie gesehen. Auch mit ihr geschlafen noch nicht. Dies soll jetzt die festliche Premiere sein.

Und eben deshalb ist sein sonst so müdes „Gemächt“ erwartungsvoll aufgerichtet. Männer haben es ja in dieser Hinsicht nicht so leicht wie Frauen und bedürfen, wie die Erfahrung zeigt, hin und wieder jungen Blutes, um ihre Liebeskraft zu erneuern. Das ist offenbar ein Naturgesetz. Und je älter, umso stärker sind die Herren der Schöpfung diesem unterworfen, auch wenn die Hüter (und vor allem die Hüterinnen) der Moral darüber die Nase rümpfen.

Aber jetzt sind wir doch ein wenig vom Thema abgekommen. Also zurück zu unserem ungleichen Liebespaar, um zu beobachten, wie der hübsch gefesselte „alte Kracher“ schon sehnsüchtig darauf wartet, dass sich sein junges Betthäschen ebenfalls entkleidet und seinem erwartungsvollen Schwanz (um nicht immer so geschwollen daherzureden) süße Freuden zu bereiten beginnt.

Diese romantische Liebesszene entfaltet sich gerade in der Schlafkammer einer einsamen Almhütte in den Salzburger Bergen. Erleuchtet wird sie durch eine Anzahl Kerzen. Denn die Sonne hat sich schon vor geraumer Zeit zur Ruhe gelegt, und in der urigen Almhütte mit ihren winzigen Fenstern ist es dementsprechend dunkel. Noch zögert das „junge Ding“.

Und da glaubt der gefesselte, liebesdurstige Kavalier, ihr noch bisschen zureden und sie sozusagen ermutigen zu müssen, und „flötet“, wie bereits erwähnt, mit seiner süßesten Stimme: „Komm, mein süßer Liebling. Komm zu mir. Ich kann’s ja schon fast nicht mehr erwarten.“ Und sein „süßer Liebling“ flötet, wie ebenfalls bereits erwähnt, mit, wir ahnen es, nur vorgetäuschter Herzlichkeit zurück: „Aber Liebster, jetzt hast du dich doch so lange schon in Geduld geübt. Da wird es dir doch auf ein paar Minuten mehr oder weniger nicht ankommen, bis es für dich Abschied nehmen heißt, noch dazu, wo dich jetzt sowieso die ganze Ewigkeit erwartet.“

 

2

Die junge Dame übertreibt nicht. Ihr Kavalier hat sich tatsächlich lange in Geduld geübt. Seit Monaten schon verehrt er sie, hat sich aber stets als Kavalier der alten Schule bewährt und sie nie bedrängt. Weiter als bis zu einem leidenschaftlichen Kuss war er bisher nie gegangen – genauer gesagt, weiter hatte sie ihn bisher nie gehen lassen. Um stichhaltige Gründe, ihn auf später zu vertrösten, war sie nie verlegen gewesen. Die Situation sei halt gerade ungünstig; die anderen könnten ja was merken. Oder: Sie habe gerade ihre Periode oder sonst ein unüberwindliches Hindernis. Aber, versprach sie, in absehbarer Zeit werde sich bestimmt eine Gelegenheit zu einem heimlichen Date finden, bei dem sie ihm beweisen könne, wie sehr sie ihn liebt.

Kennen und lieben gelernt haben sich Silvia Höllriegl und Sebastian Hochholdinger, so heißt das ungleiche Liebespaar, auf einer Gruppenreise, die Sebastian als Reiseleiter betreute. Er ist nämlich zwar in der Tat nicht mehr der Jüngste, aber darum beileibe kein gebrechlicher Tattergreis, sondern erstens immer noch ein „fescher Kerl“, dem, wie man so schön sagt, die Herzen der Damen zufliegen, und zweitens ein durchtrainierter Sportler und Bergsteiger. Und die Reise, die Sebastian leitete und an der Silvia teilnahm, war eine durchaus anspruchsvolle Wanderreise in Marokko unter dem Thema „Durch Wüste und Hohen Atlas“.

Zu Silvia fühlte er sich sofort hingezogen, vielleicht weil sie stets getreulich an seiner Seite blieb und aufmerksam seinen Vorträgen und Erklärungen lauschte. Und weil sie ihm, das bildete er sich jedenfalls ein, schöne Augen machte. Und da musste er ungeachtet des eklatanten Altersunterschiedes ständig an den platonischen Mythos von der anderen Hälfte eines Menschen denken und fragte sich: Ist sie meine wahre andere Hälfte?

Schon am ersten Abend in Marrakesch lud er Silvia zu einem Stadtbummel zu zweit ein und hatte keine Hemmungen, ihr alle seine Lebensgeheimnisse zu erzählen – na ja, alle natürlich nicht; aber doch ungewöhnlich viele. Einige Tage später wusste er, warum: Weil er sich in Silvia verliebt hatte. Und als er ihr (flüsternd, um die anderen nicht mithören zu lassen) seine Liebe gestand, gestand sie ihm, sich ihrerseits unsterblich in ihn verliebt zu haben.

Nur, wo sollten sie hier in Marokko ihre gegenseitige Liebe zelebrieren? In seinem Zelt? In ihrem Zelt? Ausgeschlossen. Das wäre niemals unbemerkt geblieben, hätte sicher einen fürchterlichen Skandal entfacht. Ähnlich war die Situation, wenn in einfachen, sprich, primitiven Gästehäusern des einen oder anderen Gebirgsdorfes übernachtet wurde. Und als sie zuletzt noch eine Nacht in einem schönen Hotel in Marrakesch verbrachten, hatte halt leider gerade ihre Periode eingesetzt. Und da wagte er nicht zu sagen, du, mein süßer Liebling, das stört mich aber nicht im Geringsten. Er wollte sie ja nicht vor den Kopf stoßen und ihre Leidenschaft für ihn zum Erlöschen bringen. Und wie gesagt, er war ein Kavalier der alten Schule.

Also trennte man sich nach der Rückkehr aus Marokko am Münchner Flughafen mit einem leidenschaftlichen Kuss und dem Versprechen eines baldigen Wiedersehens an einem abgeschiedenen Ort. Hinzu kam nämlich ein weiteres Problem: Silvia wohnt, noch bei ihren Eltern, in der Nähe von Salzburg, Sebastian mit Ehefrau in Innsbruck.

„Aber“, so erklärte sie, „ich kenne jemanden, der eine Almhütte besitzt. Den werde ich fragen, ob er sie uns eventuell zur Verfügung stellen würde. Falls es dir recht ist.“

„Mein süßer Liebling“, erwiderte er, „mir ist alles recht, wenn ich nur mit dir zusammen sein und dich nach Herzenslust lieben kann.“

„Und ich“, sagte sein süßer Liebling, „freue mich schon darauf, dich nach Herzenslust verwöhnen zu können.“

Ein kleines Weilchen musste sich Sebastian tatsächlich noch in Geduld üben (für ihn war’s natürlich ein großes Weilchen), bis sich eine Gelegenheit fand, Silvia nach Herzenslust zu lieben und sich von ihr nach Herzenslust verwöhnen zu lassen. Das kleine Weilchen dauerte vom Ostermontag bis zum Samstag vor der Sommersonnenwende. In dieser Nacht sollten, so nennt man es, „die Berge in Flammen stehen“, das heißt, von unzähligen Sonnwendfeuern erleuchtet sein. Und, so sagte Silvia, „du wirst staunen. Das ist ein total faszinierender Anblick.“

Sebastian und Silvia trafen sich in Unken, einem zwischen Innsbruck und Salzburg gelegenen Ort, und machten sich gemeinsam auf, um in Silvias Wagen ins Almgebiet des Unkener Heutals einzudringen und zuletzt über Stock und Stein die hochgelegene Almhütte zu erreichen.

„Du? Sebastian?“, begann Silvia unvermittelt, während sie noch schnaufend bergauf stapften. „Hast du dich schon einmal fesseln lassen?“

„Fesseln?“, wiederholte Sebastian erschrocken. „Wieso fesseln? Oder wie meinst du das?“

„Ich meine, zur Steigerung der Lust.“

„Ach so, beim Vögeln, meinst du? Also Sadomaso?“

„Klar.“

„Jetzt hast du mich aber schön erschreckt. Weil, weißt du, fesseln habe ich mich tatsächlich schon einmal lassen müssen, aber nicht von einer schönen jungen Frau, wie du eine bist, und schon gar nicht zur Steigerung der Lust, sondern von der peruanischen Polizei. Und du würdest mir nie glauben, was für einem Horror ich da ausgesetzt war. Nein, so was, was du meinst, habe ich noch nie erlebt. Steigert die Lust, sagst du?“

„Und wie. Weißt du, anders mache ich’s gar nicht mehr, seit mich einer deiner Vorgänger überredet hat, das einmal auszuprobieren. Ha, du wirst begeistert sein, das prophezeie ich dir.“

„Ja? Na, wenn du das sagst ... Also gut. Ich bin schon neugierig.“

Und das war Sebastian wirklich. Denn sein Schwanz, und mochte dieser noch so alt sein, hatte anscheinend mitgehört und wurde ebenfalls neugierig und richtete sich mit (in Anbetracht seiner Alters) erstaunlicher Geschwindigkeit auf, und seinem würdigen Besitzer wurde es in der Hose unangenehm eng. Denn nun wusste er mit letzter Sicherheit (oder glaubte mit letzter Sicherheit zu wissen), dass ihn Silvia heute nicht mehr vertrösten wird und dass seine heißen Wünsche in Kürze in Erfüllung gehen werden.

Und in der Tat: Kaum hatten sie die Almhütte betreten, da begann Silvia auch schon das große, lang ersehnte, nur leider etwas komplizierte Liebesfest zu arrangieren. Sie richtete das Bett her, stellte rundherum nicht weniger als zwölf Kerzen auf, die sie eigens mitgebracht hatte (die Hütte, abgelegen, wie sie ist, besitzt natürlich keinen Stromanschluss), küsste Sebastian zärtlich, entkleidete ihn eigenhändig, liebkoste, süß lächelnd, seinen noch immer oder schon wieder in Erwartungshaltung befindlichen Schwanz, bettete ihn behutsam in die Kissen, liebkoste abermals seinen Schwanz und begann Sebastians Körper mit Stricken und mit ledernen Hand- und Fußschellen zu fesseln. Auch diese hatte sie eigens mitgebracht.

Und nun liegt also Sebastian splitternackt und bewegungslos fixiert auf diesem Bett und fiebert schon ebenso dem verheißenen außergewöhnlichen erotischen Vergnügen entgegen wie ein kleines Kind dem Anblick des geschmückten und von Kerzen erleuchteten Christbaums und der weihnachtlichen Geschenke. Und es hört ja schon die ganze Zeit hinter der verschlossenen Wohnzimmertür das Christkind rascheln und kann es nicht erwarten, bis dieses mit seinen Vorbereitungen fertig wird.

Doch nun scheint Silvia mit einem Mal schon wieder irgendwelche Bedenken zu haben. Denn anstatt sich als Nächstes endlich selbst zu entkleiden, um Sebastian entweder mit einer Peitsche, einer Reitgerte oder einfach mit der flachen Hand seine „Strafe“ zu geben, wie das die Anhänger dieser Art von Liebe nennen, oder einfach gleich seinen Schwanz in ihrem jungen und morgenschönen Körper zu verbergen, hält sie inne, sagt nichts mehr, lächelt nicht mehr, blickt ihn nur mit plötzlich erschreckend ernster Miene an.

„Komm, mein süßer Liebling“, flötet er. „Komm zu mir. Ich kann’s ja schon fast nicht mehr erwarten.“

„Aber Sebastian“, flötet sie. „Jetzt hast du dich so lange schon in Geduld geübt. Da wird es dir doch auf ein paar Minuten mehr oder weniger nicht ankommen, bis es für dich Abschied nehmen heißt, noch dazu, wo dich jetzt sowieso die ganze Ewigkeit erwartet.“

„Ha? Was sagst du da? Was redest du da von Ewigkeit? Und überhaupt, wieso Abschied nehmen?“

„Aber Sebastian, du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff. Du hast mich schon richtig verstanden.“

„Gehören denn solche Scherze zur erotischen Fesselung?“

„Du, das ist absolut kein Scherz. Ich spreche von deiner bevorstehenden Strafe.“

„Soso. Von meiner bevorstehenden Strafe. Aber soviel ich weiß, wird da mit weichen Peitschen oder mit Reitgerten gestraft und nicht mit Drohungen. Habe ich jedenfalls gehört. Oder gelesen. Aber egal. Müssen wir jetzt überhaupt so viel reden? Schau, lass doch das Reden und komm einfach zu mir.“

Sebastians Stimme klang zuletzt bereits ein wenig verärgert. Sicher ist ihm nicht entgangen, dass sein stolzer Schwanz unterdessen auf halbmast gesetzt worden ist.

„O ja, mein lieber Sebastian, wir müssen leider so viel reden und sogar noch ein bisserl mehr. Damit du begreifst, warum du bestraft wirst und wofür. Also hör gut zu. Ja? Bestraft wirst du jetzt für die Ermordung meines Großvaters.“

„Deines Großvaters? Was redest du da? Was habe ich mit deinem Großvater zu tun?“

„Sagte ich doch. Ermordet hast du ihn. Erinnerst du dich nicht mehr?“

„Du, jetzt mach aber einen Punkt.“

„Und dadurch hast du meine Großmutter in tiefe und anhaltende Schwermut gestürzt. Und diese Schwermut hat sich in meiner Mutter und schließlich in mir selber fortgepflanzt. Drei Generationen hast du bis heute unglücklich gemacht. Diese Freveltat muss doch bestraft werden. Findest du nicht auch? Kennst du übrigens das Siegesfest von Schiller?“

Verdrießlich schüttelt Sebastian den Kopf.

„Nein? Dort heißt es: Rache folgt der Freveltat. Und: Böses muss mit Bösem enden. Und wer weiß, wie viele Freveltaten du sonst noch auf dem Gewissen hast.“

Aus Sebastians Gesicht ist unterdessen alle erwartungsvolle Röte geschwunden. Es ist jetzt weiß wie ein Leichentuch. Auch hat es ihm die Rede verschlagen. Aber dann kommt wieder Leben in seine Zunge.

„Du, bind mich sofort los“, knurrt er erbittert. „Oder ...“

„Ja, oder?“, sagt Silvia mit natürlich nur gespielter Freundlichkeit.

Und da er nun wieder schweigt, fährt sie fort: „Also gut. Lass mich deine Erinnerung ein wenig auffrischen. Hör zu. Melk an der Donau, Niederösterreich. Sommer 1958. In der Donau baden zwei junge Burschen. Gemeinsam schwimmen sie ans andere Ufer. Zurück kommt nur einer von ihnen. Die Leiche des anderen wird, ich weiß nicht, wie viele Tage später, ich weiß nicht, wie weit donauabwärts, entdeckt. Der Überlebende heißt Sebastian Hochholdinger. Der Ertrunkene heißt Philipp Neugebauer, war der Verlobte meiner schwangeren Großmutter und wurde vom Überlebenden ermordet. Hat sie mir erklärt. Ist überzeugt davon. Nur das Mordmotiv, sagt sie, das ist für sie noch immer ein großes Rätsel. Aber vielleicht kannst du es mir ja jetzt verraten.“

„Ha, was sagst du da? Du bist die Enkelin von der Steffi, der Stefanie Sabetitsch?“

„Siehst du? Du weißt genauestens Bescheid. Also, das Motiv! Verrätst du‘s mir, bevor’s zu spät ist?“

 

3

Diese doch eher merkwürdige „Sexszene“ begab sich am späten Abend, genauer, in der Nacht des Samstags vor der Sommersonnenwende des Jahres 2004, also am 19. Juni, in einer einsamen Almhütte hoch über dem Unkener Heutal in den Salzburger Alpen. Und überhaupt konnte nach diesen Vorwürfen und Drohungen, die das „junge Ding“ ausgestoßen hatte, von „Sexszene“ natürlich keine Rede mehr sein.

Sebastian Hochholdinger blieb jetzt stumm und sann den von seiner vorgeblichen Geliebten erwähnten Geschehnissen des Sommers 1958 nach. Sie waren in seiner Erinnerung tatsächlich noch ebenso lebendig, wie wenn sie sich erst vor wenigen Tagen ereignet hätten.

Der von Silvia Höllriegl erwähnte Philipp Neugebauer war sein bester Freund. Er war es schon seit fast zehn Jahren, seit jenem Tag im November des Jahres 1948, als ihn Sebastian auf dem gemeinsamen Heimweg von der Schule in kindlicher Unbekümmertheit gefragt hatte, ob er sein Freund sein wolle. Dies geschah nur wenige Tage, nachdem Sebastian mitten im Schuljahr in Philipps Klasse eingetreten war. Kurz zuvor war nämlich seine Mutter mit ihm von Wien nach Melk an der Donau zum künftigen Stiefvater übersiedelt. Sein richtiger Vater war im Krieg gefallen.

So freundeten sich Sebastian und Philipp an und wurden unzertrennlich. Das blieben sie auch, als sie später gemeinsam das Gymnasium des Melker Klostergymnasiums besuchten (und darin zu gläubigen und frommen Katholiken erzogen wurden).

Allmählich stellte sich allerdings heraus, dass sie in manchen Dingen trotzdem höchst unterschiedliche, ja, gegensätzliche Ansichten vertraten. Philipp war, offensichtlich unter dem Einfluss seiner Eltern, noch immer ein begeisterter Anhänger der Lehre vom „Deutschtum“ und vom „Urgermanentum“. Überdies fand er, dass Hitlers Tyrannei durchaus ein Segen für die Menschheit gewesen sei, jedenfalls für die sogenannten „Übermenschen“, und äußerte wiederholt tiefe Verachtung für die Völker der „Untermenschen“. Und dazu gehörten nicht nur die Russen, von denen es in Melk mit seiner Kaserne bis zum Staatsvertrag im Jahre 1955 nur so wimmelte, sondern vor allem auch die Juden, von denen es freilich in Melk kaum noch einen zu geben schien.

Trotz heftigster und anhaltender Bemühungen gelang es Sebastian nie, seinem Freund diesen verhängnisvollen Ungeist auszutreiben. Er selbst hingegen neigte trotz seiner damaligen Frömmigkeit mehr zur Lehre von Karl Marx, vielleicht beeinflusst von der Flut an Propagandaschriften, die die sowjetische Besatzungsmacht verbreiten ließ, solange sie im Lande stand. Und zur sowjetischen Zone zählte eben auch Niederösterreich.

Darum war zum Beispiel das Passagierschiff mit dem schönen Namen „Kaukasus“ bis 1955 ein gewohnter Anblick für Sebastian und Philipp. Das Ufer der Donau war nämlich einer ihrer Lieblingsaufenthalte, insbesondere im Sommer beim gemeinsamen Badevergnügen. Ein Schwimmbad gab es damals in Melk noch nicht. Ein Hauptspaß war es übrigens, wann immer sich die Kaukasus oder ein Schleppdampfer näherte, ins Wasser zu springen und sich in die Nähe des Schiffs zu wagen, um sich in den vom Schiff erzeugten Wellen schaukeln zu lassen. Und wenn man sich schon in der Flussmitte befand, dann schwamm man natürlich gleich bis ans andere Ufer und marschierte dort anschließend weit genug stromaufwärts, um wieder an den Ausgangspunkt zurückzugelangen. Die Strömung der Donau ist nämlich so stark, dass man beim Hinüberschwimmen kilometerweit abgetrieben wird.

Wie man sieht, konnten ihre so unterschiedlichen politischen Ansichten ihre Freundschaft nicht gefährden. Im Gegenteil, die Diskussionen, um nicht zu sagen, Streitgespräche, die sie führten, banden sie nur umso enger zusammen. Dies mag zwar in manchen Ohren unglaubhaft klingen, bestätigt aber nur die in Österreich oft geäußerte Weisheit: Beim Reden kommen die Leut zusammen.

Irgendwann jedoch kam eine Zeit, da bewirkte ausgerechnet die Gleichheit ihrer Ansichten zu einem bestimmten Thema das genaue Gegenteil, sprich, drohte sie zu entzweien.

Unterdessen waren die Besatzungsmächte längst abgezogen, Österreich war wieder ein souveräner Staat, und die zwei Freunde waren entsprechend älter geworden. Und da verliebten sich beide ausgerechnet in dasselbe Mädchen, in Stefanie Sabetitsch vulgo Steffi.

Und Steffi selbst? Ja, das war es eben. Sie konnte sich nicht entscheiden, wen sie mehr liebte, Sebastian oder Philipp. Ihre ebenfalls noch immer faschistisch denkenden und obendrein klerikal gesinnten Eltern gaben aber Letzterem den Vorzug und lehnten Sebastian als einen, der sich unverblümt zum Marxismus bekannte, sogar kategorisch ab. Das war für Steffi deshalb ein Problem, weil die Lebensregel, der ihre Eltern anhingen und die sie ihr eifrig einbläuten, lautete: Verliebst du dich in einen Mann, so musst du ihn heiraten, und damit basta. Aber natürlich nicht sofort. Zuvor müsst ihr lang genug miteinander „gehen“, wohlgemerkt, unter Bewahrung der heiligen Jungfräulichkeit.

Diese Lebensregel befolgte Philipp getreulich. Schließlich war er ein frommer Katholik und damit ein Verehrer eben dieser heiligen Jungfräulichkeit. Und vor allem war er, wie damals bei Jugendlichen beinahe die Regel, noch gänzlich unaufgeklärt.

Sebastian dagegen war mittlerweile nicht mehr gar so fromm, zudem schon längst bestens aufgeklärt. Wie das? Nun, aufgeklärt hatte ihn seine ältere Schwester. Genauer gesagt, sie hatte ihn ganz einfach verführt, sobald sein kindliches Schwänzlein zu gebrauchen war. Und sie gebrauchte es, indem sie sich und bald auch seinem Eigentümer heimlich damit Freude spendete, offenbar inspiriert von dem berühmtesten inzestuösen Geschwisterpaar der Weltgeschichte, Zeus und Hera.

In einer herrlichen Szene der Ilias erzählt Homer, wie die Himmelskönigin Hera, die Schützerin der Ehe, ihren Bruder und Gemahl, den Göttervater Zeus, auf dem höchsten Gipfel des quellenreichen Ida-Gebirges sitzen und den Kampf der Griechen und Trojaner beobachten sieht und, um ihm Schlaf über die Augenlider zu gießen, ihn zu verführen beschließt. Und da beschreibt der Dichter höchst anschaulich, wie sie badet, sich salbt, sprich, parfümiert, sich kämmt und Zöpfe flicht, ein ambrosisches Gewand anlegt, sich mit Juwelen schmückt und sich obendrein von der Liebesgöttin Aphrodite deren magischen Gürtel ausleiht. Und in diesem wohnte Verführung, welche sogar die Weisen betört.

Hera aber stieg eilig hinauf zum Gargaron-Gipfel des hohen Ida-Gebirges. Da sah sie der Wolkensammler Zeus. Und als er sie sah, umhüllte ihm süßes Verlangen die Sinne, so wie damals, als sie sich zum ersten Mal in Liebe vereinigten, ins Bett steigend, heimlich vor den lieben Eltern.

Und da tut sie so, als würde sie sich dagegen wehren: Es sei doch alles offen sichtbar! Einer der Unsterblichen könnte sie sehen! Schön peinlich wäre das!

Zeus aber verspricht, beide mit einer dichten Wolke zu umhüllen, sodass niemand sie sehen werde.

Sprach’s und packte sie mit den Armen. Unter ihnen aber ließ die göttliche Erde frisch sprossendes Gras wachsen und tauigen Lotos und Krokos und Hyacinthos, dicht und weich, der sie vom Boden emporhob. Auf dieser Unterlage legten sich die beiden hin und umhüllten sich mit einer Wolke, einer schönen, goldenen, und aus dieser fielen funkelnde Tautropfen herab.

Um aber wieder zu Sebastian und Steffi zurückzukehren. Also: Wie gesagt, durch seine ältere Schwester war er bereits bestens aufgeklärt (was in den 1950er Jahren alles andere als selbstverständlich war). Nur, mit bloßer Frömmigkeit hätte er niemals eine Chance gehabt, bei Steffi zu landen, zumal seit sie mit Philipp zwar noch nicht offiziell verlobt war, aber doch mit ihm „ging“ und damit bereits als seine zukünftige Ehefrau galt. Also versuchte er (Sebastian) sie eben zu verführen. (Seine Schwester war unterdessen längst verheiratet.) Und siehe da, es gelang. Es gelang ihm, sich heimlich mit Steffi zu treffen, übrigens ausgerechnet im ausgedehnten Klosterpark. Der war zwar für Außenstehende tabu. Doch seine Umfassungsmauer war an einer bestimmten Stelle für geschickte Jugendliche leicht zu überklettern. Es gelang ihm, Steffi, „heimlich vor den lieben Eltern“, heimlich auch vor Philipp und allen anderen, heillos in ihn verliebt zu machen. Und es gelang ihm, Steffi zu verführen, im Klosterpark, bei sich zu Hause, bei ihr zu Hause, ja sogar beim Baden an der Donau.

Unterdessen ging nämlich Philipp nicht mehr ohne Steffi baden, und Sebastian ging nicht ohne Philipp baden. Und da wandte sie sich eines schönen Tages in einem unbelauschten Moment, süß lächelnd, an ihn mit der Frage, ob er nicht Lust hätte, sie auf der Luftmatratze „ein Stückerl flussabwärts zu steuern“. Na, und ob er Lust hatte. Also stiegen sie gemeinsam ins Wasser, sie legte sich auf die Luftmatratze, und er bugsierte diese auftragsgemäß hinaus in die freie Strömung und dann, wie gewünscht, „ein Stückerl flussabwärts“.

Und wie weit war „ein Stückerl flussabwärts“? Nun, jedenfalls so weit, dass sie erst hinter der Mündung eines Seitenarms der Donau wieder an Land gingen, in einem ausgedehnten und menschenleeren Auwald.

Und weiter: Was taten sie dort, fern von jedem menschlichen Auge oder Ohr? Richtig: Sie fielen einander um den Hals und rissen sich gegenseitig die Badesachen herunter und feierten auf der Luftmatratze ein rauschendes Liebesfest, heimlich vor den lieben Eltern (und, so dachten sie, auch vor dem lieben Philipp), und jubilierten in den höchsten Tönen und boten den Vöglein des Waldes nicht nur das entzückendste Schauspiel, sondern auch einen überwältigenden Hörgenuss.

Zwar, mit einer Wolke, einer schönen, goldenen, aus der funkelnde Tautropfen herabfielen, konnten sie sich nicht umhüllen. Es war auch nicht unbedingt notwendig, denn gesehen konnten sie ja nicht werden.

Aber dafür gehört. Denn ihre Lustschreie blieben leider nicht unbelauscht. So fern von jedem menschlichen Ohr, wie sie glaubten, waren Sebastian und Steffi leider doch nicht.

Philipp war zwar gerade nicht dabei gewesen, als die beiden einträchtig ins Wasser stiegen, sah sie dann aber im Fluss treiben und sprang ihnen augenblicklich nach. Einholen konnte er sie zwar nicht. Zu groß war ihr Vorsprung. Aber er sah aus der Ferne, wo sie an Land gingen, ging in der Nähe ebenfalls an Land und konnte sie zwar nicht sehen. Aber hören konnte er sie deutlich genug. Sie zu stören, das wagte er nicht, sondern latschte, total verstört, zurück an den gemeinsamen Badeplatz und wartete. Und als er nach langem Warten die zwei zurückkommen sah, wagte er noch immer nichts zu sagen, hörte sich kommentarlos ihre natürlich frei erfundenen Begründungen an, warum und wo sie so lang geblieben seien. Aber dann forderte er Sebastian auf, mit ihm ans andere Ufer zu schwimmen und sich wieder einmal von den Wellen eines Passagierdampfers, der gerade in Sicht gekommen war (er hieß natürlich nicht mehr Kaukasus), schaukeln zu lassen. Steffi beteiligte sich an solchen Vergnügungen nicht. Sie war keine so gute Schwimmerin. Daher auch das Vergnügen mit der Luftmatratze.

Am Badestrand herrschte verständlicherweise größte Bestürzung, als Sebastian allein zurückkam und Philipp nirgendwo zu finden war. Aufs Höchste bestürzt war übrigens Sebastian selbst. Es war ja niemals seine Absicht gewesen, seinen besten Freund in den gläsernen Palast des Donaufürsten am Grund des Stromes zu schicken und damit diesem ein Menschenopfer darzubringen. Und er konnte nur hoffen, dass Philipp den Wassergeistern dort nur einen Kurzbesuch abgestattet hat und bald wieder lebendig, munter und fidel auftauchen wird.

Ja, Steffi war schwanger. Nur wusste sie es damals selbst noch nicht. Und sobald sie es wusste, verriet sie keiner Menschenseele, dass nicht Philipp der Kindesvater ist. Das Kind, eine Tochter, die zukünftige Mutter des späteren „jungen Dings“ namens Silvia, wuchs auf in der Überzeugung, dass ihr Vater Philipp schon vor ihrer Geburt in der Donau ertrunken ist, genauer, wahrscheinlich von seinem besten Freund ertränkt wurde.

Sebastian selbst hatte übrigens nie die Absicht gehegt, Steffi zu ehelichen, und war über ihre Zurückweisung keineswegs sonderlich bestürzt. Bestürzt war er über das, was in der Donau geschehen war. Philipp war ja immer noch sein bester Freund gewesen, und seine Trauer über dessen Tod war absolut echt. Er hatte niemals vorgehabt, ihn zu töten. Schuld war die Erregung, die Wut, der Streit, Philipp selber. Was musste er mir auch nachspionieren?, fragte sich Sebastian immer wieder voll Bedauern. Was musste er mich auch so zur Schnecke machen? Was kann ich dafür, wenn die Steffi auf mich steht? Hätte ich sie abweisen, enttäuschen, vor den Kopf stoßen sollen? Bin ich ein Unmensch? Bin ich ein Heiliger?