Ilona Einwohlt

Wild und wunderbar

ZWEI FREUNDINNEN

GEGEN DEN REST DER WELT

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Ilona Einwohlt wollte eigentlich Ernährungswissenschaftlerin werden. Aber dann las sie mitten in einer Chemievorlesung »Das andere Geschlecht« von Simone de Beauvoir – und widmete sich fortan der Literatur, insbesondere der für Mädchen und Frauen. Längst ist aus der Germanistikstudentin eine erfolgreiche Autorin geworden, die genau die Sprache der Mädchen trifft und Themen behandelt, die sie wirklich interessieren. Ilona Einwohlt, Jahrgang 1968, lebt mit ihrer Familie in Darmstadt. Mehr unter www.ilonaeinwohlt.de

1. Auflage 2018
© 2018 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Coverillustration und Vignetten: Inka Vigh
ISBN 978-3-401-80803-1

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Shark und ich wurden in jener Nacht Freundinnen, als wir die Nacktschnecken in Maries Spind schmuggelten. Wir hatten uns heimlich in die Schule geschlichen und die benachbarte Kirchturmuhr schlug gerade Viertel vor neun. Vor uns lag der lange Korridor im Dämmerlicht und der typische Duft nach Schule hing in der Luft. Unter Tausenden von Gerüchen würde ich ihn herausriechen, es gab ihn nur einmal auf der Welt und er duftete überall gleich nach Käse-Salami-Brot, Lehrersocken und Lehrerinnenhaarspray, Kaugummi, Paprika, Knete und Pupse, durch die Gänge getragen von viel zu warmer Heizungsluft. Dass Maries Spind bis zu uns hinüber lieblich nach Vanille-Mango roch, änderte die Sache kein bisschen, mir taten die armen Nacktschnecken jetzt schon leid, denn sie würden diesen Gestank aushalten müssen. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste es tun.

Shark atmete tief durch und blieb neben der Bronzebüste im Eingangsfoyer stehen, sie fühlte sich nicht wohl, das spürte ich ganz genau. Zu der stickigen Luft im Schulflur kam diese gespenstische Ruhe hinzu, die wir von jenen Räumen nicht gewohnt waren, hier herrschte sonst immer Getobe, Geschrei und Gelächter. Shark hätte nie im Leben zugegeben, dass sie eine Schneckenphobie hatte und dass ihr bammelig zumute war. Ihre linke Hand umklammerte so fest den Griff des Metalleimers, dass die Knöchelchen weiß schimmerten. Ich hingegen trug meinen lässig mit zwei Fingern. Wie eine Wilde hatte ich die Tierchen eingesammelt und hinterher hatte ich tagelang meine Hände abwischen müssen, um den Schneckenschleim wieder loszuwerden.

Wir nickten uns zu und liefen dann weiter, vorbei am Schulsanitätsraum, am Sekretariat und am Lehrerzimmer, vorbei an der grünen Vitrine mit den Pokalen, Urkunden und Medaillen aus den vergangenen glorreichen Tagen unserer Schulbasketballmannschaft. Direkt daneben hing die verblichene Fotocollage mit dem Kollegium unserer Schule und ich brauchte gar nicht erst hinzuschauen, um zu wissen, dass jemand einen Kaugummi auf das Gesicht meiner Mutter geklebt hatte. Sie gehörte mit den Fächern Mathe und Physik nicht zu den Lieblingslehrerinnen der Schulgemeinschaft. Das bekam auch ich immer wieder zu spüren – Marie stand bei ihr glatt Fünf.

Shark und ich wechselten abermals einen Blick, pirschten vorsichtig weiter und blieben dann vor Maries Klassenzimmer stehen. Stumm drückte mir Shark ihren Eimer in die Hand, ich spürte deutlich, dass sich ihrer bewegte. Genauer gesagt, schienen sich die Schnecken darin derart miteinander verknäult zu haben, dass sie wie ein dicker Matscheschleimklumpen auf und ab hüpften. Während ich konzentriert versuchte, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, weil die Schnecken plötzlich erstaunlich schwer wurden, hatte Shark aus ihrer Jackentasche eine Dietrichsammlung gezogen und mit drei Umdrehungen – einmal nach links, einmal nach rechts und dann wieder links – das Türschloss geknackt.

Mit einem leisen Knarzen öffnete sie die Tür und zog mich am Ärmel in den Klassenraum, bevor sie sie hinter uns wieder zumachte. Durch die Fenster schimmerte schwach das Licht der Straßenlaterne, aber wir brauchten nicht lange zu suchen, wir erkannten Maries Spind sofort. Abgesehen von den vielen pinken Aufklebern, war er der einzige, der diesen Vanille-Mango-Duft verströmte und die Luft verpestete. Shark untersuchte fachmännisch das Vorhängeschloss und stellte fest, dass sie den kleinsten Dietrich von allen brauchen würde. Keine Minute später war der Schrank offen.

Wir hatten vorher nie darüber gesprochen, wie es wohl sein würde, die Schneckeneimer über ihr Sammelsurium an Büchern, Heftern und leeren Trinkflaschen auszuleeren, und hinterher war ich auch froh darüber, es nicht gewusst zu haben.

Aber ich hatte es geschafft.

Ich hatte ganz alleine zwei Eimer Nacktschnecken in Maries Spind gekippt, sie mit meinen Händen sorgsam geschichtet und sortiert und in Schach gehalten und die Tür schnell wieder zugemacht, bevor sie wieder hinausdrängeln konnten, nur eine musste ich zwischendurch aufsammeln und zurückstecken. Shark schaute mich mit großen Augen bewundernd an, sie war so bleich wie das Whiteboard. Und sie wollte nicht High-Five mit mir machen, als ich ihr grinsend vor Stolz meine Hand hinhielt, nachdem ich mit klebrigen Fingern das Vorhängeschloss wieder zugedrückt hatte.

Shark hieß in Wirklichkeit Sophie Hyazinth Amanda Ricarda Kornelius. Und eigentlich ging es in unserer Freundschaft nie um Nacktschnecken, sondern immer nur um Fische. Warum, erzähle ich dir in dieser Geschichte.

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Lautes Klackern erschreckte mich am Donnerstagnachmittag und ließ mir die Haare zu Berge stehen. Ich war gerade dabei, meine Hefte, Bücher und Stifte trocken zu föhnen. Marie, Özge und Katharina hatten mir auf dem Heimweg ihre Cola in den Rucksack geleert – als Dank dafür, dass ich ihnen heute Morgen die Lösungen ihrer Physik-Hausaufgaben zugesteckt hatte. Sie seien falsch gewesen, behaupteten sie, aber garantiert waren die drei selbst zum Abschreiben einfachster Ergebnisse zu blöd, das schwöre ich bei meiner Formelsammlung. Nur beweisen konnte ich es ihnen nicht.

»Pech gehabt, Linn«, wiederholte ich Maries Worte und schüttelte mich bei der Erinnerung daran, wie sie mir die Cola in den Kragen kippen wollte. Einer Eingebung folgend, war ich ausgewichen und so hatte sie nur meinen Rucksack erwischt – und getauft. Aber das versiffte Schulzeug war meine geringste Sorge. Viel schlimmer war, dass die MÖKs mich auf dem Kieker hatten und drangsalierten, wann immer sich ihnen die Gelegenheit dazu bot.

Alles nur, weil ich Frau Grüners Tochter war, die kein Erbarmen kannte, wenn es um Mathe- und Physiknoten ging.

Die kein Hehl daraus machte, dass sie Singen und Musikunterricht für die reinste Zeitverschwendung hielt.

Die keinen, absolut keinen Spaß verstand.

Und die kein Verständnis dafür aufbrachte, dass für Mädchen solche Dinge wie Smartphones, Klamotten oder Nagellack wichtiger waren als Albert Einstein und Pythagoras, das wusste ich aus eigener Erfahrung nur zu gut.

Natürlich wollte niemand mit einem Lehrerinnenkind wie mir befreundet sein.

Ich hörte, wie ein Stockwerk tiefer schwere Kisten über den Dielenboden geschoben wurden, es war ein einziges Ächzen und Geschiebe und Gestöhne. An sich war der Lärm aus der Nachbarwohnung unter uns nichts Ungewöhnliches, denn dort lebte Tilda, eine junge Studentin, die zu jeder Tages- und Nachtzeit Besuch von allen möglichen Leuten bekam. Zudem besaß sie eine zahme Elster, die viel zu erzählen, zu schnattern und zu krakeelen hatte. Wir waren es gewohnt, dass die Beats an unseren Fußboden hämmerten und süßer Rauch aus dem Schlüsselloch kroch, wenn man zu welcher Uhrzeit auch immer an Tildas Wohnungstür über zahllose Schuhe und leere Flaschen hinweg nach oben stakste.

Mama hatte uns den Umgang mit »dieser« Tilda strengstens verboten, was sie für meinen kleinen Bruder und mich natürlich noch interessanter machte. Wir fanden Tilda nett und konnten nicht verstehen, was unsere Mutter an ihr auszusetzen hatte. In ihren weinroten Haaren saßen lauter Vogelnester, ihre Klamotten waren immer lustig und bunt. Außerdem besaß sie eine gigantisch große Discokugel, die glitzernd über den Flur funkelte. Noch viel wichtiger: Sie grüßte uns immer fröhlich. Einmal hatte sie uns sogar selbst gebackene Kekse geschenkt, aber die hatte uns Mama sofort mit einem wütenden »Nein!« aus der Hand gerissen und im Bioabfall entsorgt. Manchmal kann unsere Mutter sehr unfreundlich sein. Ehrlicherweise muss ich zugeben: Immer. Oft. Meistens. Mama war die unbeliebteste Lehrerin der ganzen Schule! Genau das aber war mein Glück. Na ja, zuerst nicht, später dann aber schon. Sonst wäre diese Geschichte ganz anders ausgegangen. Aber der Reihe nach.

Neugierig öffnete ich also unsere Wohnungstür und spähte durch das Geländer ins Treppenhaus. Ein schwarzhaariges Mädchen mit einer karierten Strähne und Regenbogenleggings war gerade dabei, lauter Kokosnüsse vom Fußboden einzusammeln, die ihr aus einer Kiste gefallen waren, daher der Krach. Um sie herum lagen lauter bunte DVD-Hüllen verstreut.

»Zieht Tilda aus?«, wollte Oskar wissen, der neugierig hinter mich getreten war.

»Da zieht jemand ein!«, stellte ich glasklar fest.

»Jetzt lass mich auch mal gucken!«, maulte er und wollte sich an mir vorbeidrängeln. Doch ich drückte ihn einfach mit dem Hintern weg und machte mich im Türrahmen noch breiter. Das war typisch Oskar, bis in die letzte Faser seiner Einmeterundzehn an allem interessiert und immer dazwischengequetscht, wo es ihm auch nur einen Millimillimeter gelang. Nur weil er mit seinen zehn Jahren immer noch so klein war. Aber viel schlimmer als seine mangelnde Größe war seine chronische Neugier und Fragerei. Oskar musste immer alles wissen. Er wollte immer alles wissen. Und er wusste immer alles. Deswegen wunderte es mich, dass er nichts von unserer neuen Nachbarin wusste.

Ich streckte mich so lang wie möglich vor und machte einen Giraffenhals, um alles noch besser beobachten zu können. Hier passierte gerade etwas Besonderes, vielleicht auch etwas Wunderbares, das spürte ich genau, und diesen Moment würde ich mir von dem Nervzwerg nicht vermiesen lassen. Unten schepperte es abermals, ich hörte Tilda laut fluchen, woraufhin das Mädchen leise etwas antwortete, von dem ich nur Liebesfilm, Hängematte und Faltpapier verstand, und dazwischen krächzte Pepper ihr Elsterkrächzen. »Schäck-schäck-schäck-schäck«, schimpfte sie empört, als störte es sie gewaltig, dass da jemand in ihr Revier eindrang. Oder hatte ihr etwa jemand den heiß geliebten Zitronenkuchen stibitzt?

Oskar drängelte sich erbarmungslos durch den Türspalt und dann war er doch der Erste, der fröhlich nach unten winken konnte.

»Hallooo! Ich bin Oskaaar!«, rief er auf seine unnachahmlich liebenswerte Art. Normalerweise ließen in diesem Moment sämtliche Mitmenschen alles stehen und liegen und winkten dem kleinen Kerlchen zurück. Teils aus Reflex, teils aus Interesse oder weil es sich einfach so gehörte. Aber das Mädchen würdigte ihn keines Blickes oder vielleicht hörte sie ihn auch nicht, sondern stapfte einfach mit den Kokosnüssen unter dem Arm in Tildas Wohnung.

»Das hast du nun davon, jetzt ist sie weg«, schnauzte ich Oskar an. Warum ich so sauer auf ihn war, wusste ich selbst nicht genau.

»Das hast du nun davon«, äffte er mich nach. »Kannst ja später selber runtergehen und fragen, ob sie deine Freundin sein möchte.«

Wumms!, Volltreffer. Mein kleiner Bruder war der Größte in messerscharfen Schlussfolgerungen. Er wusste genau, dass ich eine nerdige Außenseiterin in meiner Klasse war und keine einzige Freundin hatte – und wie sehr ich mir eine wünschte. Aber kein Wunder! Als Lehrerinnenkind wurde man weder zu Geburtstagsfeiern eingeladen noch gehörte man zum Klassenchat. Noch Fragen? Und sei du mal der Dauer-Babysitter eines etwas zu klein geratenen Bruders, dann hast du sowieso keine Zeit für nichts. Hinzu kam, dass ich nicht so wie die anderen Mädchen in meiner Klasse pausenlos von süßen Jungs und Neonnagellack schwärmte und Normalo- Jeans zu Normalo-Shirts trug.

Ich fand das ja ziemlich dämlich: Toll aussehen und keine Ahnung von nichts. So war ich nicht. Ich hatte viel mehr auf dem Kasten! Ich wollte kein dekorierter Hohlkörper sein, denn innen und außen müssen zueinanderpassen, wenn es richtig sein soll. Zumindest in der Mathematik. Wenn nämlich so elementare Dinge wie die Kongruenzsätze für Dreiecke stimmten – und in der Schule lernen wir doch fürs Leben, oder? –, dann mussten zum Beispiel alle Seiten von etwas deckungsgleich sein, wenn es zu Übereinstimmungen kommen sollte. So hatte es mir Mama erklärt und die musste es ja schließlich wissen.

Bei mir war es leider andersherum. Weil ich mich nicht stylte, merkte niemand, wie knallvoll ich mit allem Möglichen war, nach dem mathematischen Gesetz logisch, aber im echten Leben unfähr. Deswegen konnten die anderen Mädchen mit mir nichts anfangen. Ich mit ihnen allerdings auch nicht. In ihren Augen war ich Madame Curie, eine Einzelgängerin, die man besser in Ruhe ließ und lieber nicht zu irgendwelchen Geburtstagsfesten einlud. Einzig Jonas unterhielt sich in der Pause mit mir und ab und zu auch Suzu, aber die war noch seltsamer als ich.

Unten ging die Tür wieder auf, Oskar und ich standen immer noch draußen auf dem Treppenabsatz. Das Mädchen stakste die Treppe hinunter, um kurz darauf mit einem gigantisch großen Glaskasten in den Armen wieder heraufzukommen. Bevor ich mich darüber wundern konnte, wie sie dieses schwere Dings wohl schaffen konnte, hatte Oskar schon kapiert.

»Oh, ey, die hat ein Aquarium!« Vor Begeisterung hüpfte er auf und ab und ließ einen ziehen, dass die Eier im Kühlschrank salutierten, weil sie dachten, eins von ihnen sei hinüber. »Was für Fische hast du denn?«, rief er. »Ich habe Darios, Guppys und Guramis …«

Ich hielt mir die Nase zu. Oskar hatte ein Faible für alles, was noch kleiner und schutzbedürftiger war als er. Die Nano-Fische in seinem Aquarium waren da noch das größte seiner zahlreichen Besitztümer. Er besaß zum Beispiel jede Menge Kieselsteine, Murmeln, Haselnüsse, Stecknadeln und Radiergummis, die er sorgsam in kleinen, selbst gebastelten und ordentlich beschrifteten Kistchen verwahrte.

Wenn Mama nicht aufpasste, sammelte er Fruchtfliegen, Spinnen und Käfer in Gläsern und umsorgte sie rührend mit Gras, Äpfeln und Zuckerwasser. Einmal hatte er sogar eine Minispitzmaus gefangen, die ihm allerdings aus dem Käfig entwischt war und tagelang unauffindbar blieb. Damals war Oskar tief verzweifelt und am Boden zerstört, er hatte sich riesige Vorwürfe gemacht – und Mama war stinksauer, weil jetzt irgendwo eine Maus in der Wohnung unterwegs war. Irgendwann tauchte sie jedoch gesund und rundgenährt wieder auf, als wir gerade beim Abendessen saßen. Sie hatte offensichtlich in den Rillen von unserem Dielenboden ausreichend Futter gefunden, und wenn sie nicht gestorben ist, lebt sie da noch heute.

Zu meiner Genugtuung reagierte das Mädchen abermals nicht auf Oskars Ruferei, was dieser wiederum natürlich nicht einfach so auf sich sitzen lassen konnte. Prompt machte er Anstalten, ein Stockwerk tiefer zu marschieren. Er war es nicht gewohnt, ignoriert zu werden. Denn auch wenn er schrecklich klein war, zog er mit seiner großen Klappe stets die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen auf sich. Und das nicht nur aus Mitleid.

»Komm, gehen wir rein, wir müssen noch Hausaufgaben machen, bevor Mama kommt«, sagte ich und zog ihn am Ärmel endlich in unsere Wohnung zurück. Dieses Mädchen war etwas ganz Besonderes, das spürte ich genau. Und wenn sie ab heute bei Tilda wohnen würde, hätte ich noch ganz viel Zeit, sie kennenzulernen. In Ruhe. Alleine. Ohne Oskar.

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Wenn ich ein Fischlein wär’
Schwämm ich zu dir.
Luftblasen blubbern,
bis der Ozean Schluckauf bekommt.
Verstecken spielen,
bis die Algen müde sind.
Tintenfische foppen,
bis ihnen die Farbe ausgeht.
Höhlen erforschen,
bis überall Licht ist.
Gegen die Strömung schwimmen,
bis uns die Puste ausgeht.
Und Flosse an Flosse
in der Abendsonne kuscheln.

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Natürlich war an Hausaufgaben nicht zu denken. Ständig spukte mir das fremde Mädchen im Kopf herum und dass es weiterhin unter uns im Treppenhaus rumorte, als würde die Kelly Family einziehen, machte die Sache nicht besser. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der alte Pistorius aus dem Erdgeschoss auf der Matte stehen und in seiner Nazi-Manier für Ordnung sorgen würde.

Oskar hatte sich maulend auf sein Zimmer verzogen, wo er wahrscheinlich entweder seinen Guppys Saltos beizubringen versuchte oder seine Star-Wars-Enzyklopädie auswendig lernte. Wie gesagt, er war überall der Kleinste, aber wenn es ums Wissen ging, unschlagbar der Größte. Mama würde aber später nicht von ihm wissen wollen, welche technischen Details Darth Vaders Sternzerstörer oder Landgleiter von Luke Skywalker hatten, sondern seine Aufgaben im Matheheft nachrechnen und ihn Lateinvokabeln abfragen.

Seufzend wandte ich mich meinen Schulsachen zu und schrieb ein ausführliches Forscherprotokoll über das Experiment mit der Kartoffelbatterie. Seit dem neuen Schuljahr gab es an unserer Gesamtschule eine MINT-AG und Mama hatte natürlich darauf bestanden, dass ich mitmachte.

»Wenn du in der Zukunft erfolgreich sein und ausreichend Geld verdienen möchtest, damit du unabhängig von einem Mann bist, musst du einen technischen Beruf erlernen«, hatte sie gesagt und das Formular mit den Sicherheitsmaßnahmen unterschrieben, womit sie mich quasi zur Teilnahme verdonnerte.

Glücklicherweise fielen mir die Naturwissenschaften leicht, das Talent hatte ich dann wohl doch neben ein paar anderen, meiner Meinung nach nicht so prickelnden Eigenschaften von Mama geerbt (zum Beispiel diesen schrecklich breiten Mund und die vielen Sommersprossen im Gesicht). Im Gegensatz zu den meisten meiner Mitschülerinnen und Mitschüler besaß ich bezüglich Mathe, Physik, Chemie, Bio und Informatik eine rasche Auffassungsgabe: Zahlenkolonnen, Formeln berechnen und Gleichungen lösen bereiteten mir keine Qual – aber auch keine besondere Freude.

Weil es im Treppenhaus immer noch rumpelte, spähte ich vorsichtig aus dem Fenster. Dem Lärm nach zu urteilen, schleppte das Mädchen den Inhalt eines Siebeneinhalb-Tonners die Treppe hoch. Ich wunderte mich, dass Tilda so viel Platz in ihrer Wohnung hatte, die im Gegensatz zu unserer nur aus zwei Zimmern bestand.

Auf der Straße war nichts zu sehen. Doch: meine Mutter, die mit riesigen Schritten und wehendem Mantel nach Hause eilte, wie immer die Ledermappe unter den Arm geklemmt. Mit ihrer typischen sauertöpfischen Miene grüßte sie den alten Pistorius, der natürlich zufällig an den Mülltonnen herumhantieren musste, weil ihm das Gepolter im Treppenhaus längst nicht entgangen war. Ich huschte schnell an meinen Schreibtisch zurück und zählte mit zusammengekniffenen Augen die Sekunden. Eins – zwei – drei – schon hörte ich den Schlüssel im Schloss.

»Bin wieder da!«

Pech gehabt!, dachte ich abermals, bevor ich meinen Füller zur Seite legte, um meine Mutter zu begrüßen. Mal sehen, mit welchen Schulgeschichten sie uns heute beglückte. Oskar hing bereits an ihrem Hals und ließ sich mit Küsschen verwöhnen, wie ein Kleinkind trug sie ihn auf dem Arm. Immerhin schien sie heute einigermaßen gute Laune zu haben.

»Hendrik hat endlich den Energiesatz der Mechanik kapiert, halleluja«, sagte Mama zufrieden und setzte Oskar auf dem Küchentisch ab, um sich einen Tee zuzubereiten. Das war ihr Feierabendritual und niemand durfte ihrer Lieblingstasse die braunen Ränder wegspülen, da war sie eigen, auch wenn sie sonst pingelig Wert auf eine aufgeräumte und saubere Wohnung legte.

»Dann wird Hendrik endlich ein richtiger Lehrer?«, fragte Oskar und ich rollte die Augen. Hendrik war Mamas Referendar, der seit einiger Zeit versuchte, die Prüfung abzulegen, aber immer wieder am Energieerhaltungssatz gescheitert war, den meines Wissen selbst die Zehntklässler schon beherrschten. Und Oskar.

»Wird er nie, wenn du mich fragst«, seufzte Mama und löffelte Zucker in ihre Tasse. »Besser, er sucht sich einen anderen Job, etwas mit Steinen vielleicht, da kann so schnell nichts kaputtgehen …«

Ich rollte amüsiert die Augen. Mama hatte einen Narren an diesem Hendrik gefressen und verhätschelte ihn fast so sehr wie Oskar. Weil sie aber immer so ein kleines Lächeln um die Nase hatte, wenn sie von ihm erzählte – und Hendrik war so furchtbar tollpatschig, wenn es um Versuche ging, sodass es IMMER etwas zu erzählen gab –, machte es mir nichts aus.

Ich wollte sie gerade fragen, wie viele Massenspektrometer er diesmal gecrasht hatte, da hörten wir es im Treppenhaus erneut scheppern und klirren und kurz darauf Tilda lautstark fluchen. Bevor wir es verhindern konnten, flitzte Oskar zur Tür. Ein Fehler, wie sich herausstellte, denn unser Flur füllte sich augenblicklich mit stinkigem Fischgeruch.

Oskar schossen die Tränen in die Augen. »Die haben doch wohl etwa nicht …«

»Das kann ja heiter werden«, meinte Mama kopfschüttelnd und öffnete das Fenster. Da musste ich grinsen, zum ersten Mal an diesem Tag. Denn ich spürte hundertpro, dass sie recht hatte.

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»JEDER IST EIN GENIE! ABER WENN DU EINEN FISCH DANACH BEURTEILST, OB ER AUF EINEN BAUM KLETTERN KANN, WIRD ER SEIN GANZES LEBEN GLAUBEN, DASS ER DUMM IST.«
(ALBERT EINSTEIN)

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»… und die liebe Linn erklärt uns jetzt den Quintenzirkel!« Wie durch Watte drangen am nächsten Vormittag Worte an mein Ohr. Jemand hatte meinen Namen genannt. Ich hatte im Musikunterricht vor mich hingeträumt, pausenlos musste ich an das schwarzhaarige Mädchen von gestern denken. Ob sie Tildas Schwester war? Oder eine Freundin, mit der sie jetzt eine WG aufmachte? Bis spät in die Nacht hatte es noch gerumpelt und rumort, und irgendwann war ich über dem Stimmenwirrwarr und der Musik aus dem Untergeschoss dann doch eingeschlafen.

»Die meint dich …« Jonas stupste mich unsanft in die Seite und riss mich aus meinen Gedanken. »Um bei einer Dur- oder Moll-Tonleiter die verschiedenen Abstände zum nächsten Ton einhalten zu können, gibt es Halb- oder Ganztonschritte …«, flüsterte mir mein Schulkumpel zu, der wie immer ganz genau Bescheid wusste. Okay, Oskar war ja auch nicht ohne, mit seinen knapp zehn Jahren ein Taschenhirn auf zwei Beinen, ein wandelndes Lexikon, Wikipedia to go, aber im Gegensatz zu Jonas nicht so ein schleimiger Lehrerkriecher und erst recht kein Hosenschisser.

»Komm schon, Linn, denk noch mal in Ruhe darüber nach.« Die Okarina war vor meinem Tisch stehen geblieben und lächelte mich erwartungsvoll an. »Wie lautet denn der Merksatz, den ihr euch in der letzten Stunde aufgeschrieben habt?«

Sofort schnipste Jonas’ Finger nach oben, aber Frau Herpel, die wir alle nur Okarina nannten, weil sie uns, wann immer ihr die Klasse zu laut wurde, auf ihrer kleinen Kugelflöte ein Ordnungsliedchen blies, wollte die Antwort natürlich nur von mir hören. Sie hatte irgendwann spitzbekommen, dass ich gerne und gut sang, und förderte mich seitdem bei jeder Gelegenheit, weil sie der Meinung war, ich sollte mein Talent nicht verschleudern.

Seitdem hatte ich ein Problem. Ich liebte singen. Ich konnte singen. Ich sang am liebsten immer und überall. Wenn die Töne meine Lippen verließen, ich anfing zu summen oder Melodien zu entwickeln, mal nach Noten, mal ohne, tauchte ich ab in eine andere Welt, fühlte ich mich frei und froh, vergaß ich alles um mich herum. Es war wie schwimmen ohne Wasser.

Aber Mama hatte es mir verboten. Deswegen musste ich heimlich üben, was mich gerade in jüngster Zeit in unglaubliche Schwierigkeiten brachte. Echt, das glaubt jetzt keiner. Welche Mutter verbietet ihrem Kind schon das Singen? Aber Mama hatte es gemacht. Grundlos. Einfach so. Weil sie es konnte. Sie hatte mir das Gesinge untersagt und jedes Mal wenn ich fröhlich vor mich hinträllerte, erntete ich einen finsteren Blick.

Dabei sang ich schon immer gerne, das hatte ich von Papa geerbt. Erst hatten wir in meiner Bären-Gruppe die Frederik-Vahle und die Rolf-Zuckowski-CD rauf und runter gehört, bis ich alle Lieder auswendig konnte. »Anne Kaffeekanne« war mein absoluter Lieblingshit! Später dann sang ich alle angesagten Lieder der Charts – Adele, Pink, Miley Cyrus, Shakira – und in der Grundschule hatte ich gemeinsam mit Özge, die damals noch meine Freundin war, SingStar und Voice of Germany gespielt. Bis Mama uns den Stecker gezogen hatte. Warum, weiß ich bis heute nicht. Ich schwöre: Es lag garantiert nicht an meiner Stimme, denn ich konnte locker bei den Songs von Rihanna und Beyoncé mithalten und bekam den vollen Score.

Auf der letzten Klassenfahrt dann hatte mich Frau Herpel unter der Dusche »Diamonds« schmettern hören – und seitdem sang ich bei ihr im Chor, weil sie mich unbedingt fördern wollte. Meine Mutter wusste nichts davon. Durfte sie auch nicht.

»Also, Linn?« Die Okarina holte mich aus meinen Gedanken zurück.

»Äh …«, wiederholte ich genervt und zählte innerlich bis zwanzig, irgendwann würde sie mich schon in Ruhe lassen und aufhören, mich zu zwiebeln.

»Quintenzirkel! Halbtonschritte! Vorzeichen!«, ermunterte sie mich jetzt freundlich, aber ich schüttelte nur stumm den Kopf. Merkte die Okarina denn nicht, in welcher Zwickmühle ich mich befand? Sie kannte doch Mama! Natürlich wusste ich alles über Musik, ich liebte Musik. Aber ich liebte auch meine Mutter und wollte keinen Ärger mit ihr, die alle anderen Fächer außer den Naturwissenschaften für Zeitverschwendung hielt. Deutsch ließ sie gerade noch so durchgehen. Aber bestimmt nur, weil man ja bei Versuchsbeschreibungen und bei Textaufgaben verständlich und fehlerfrei formulieren können musste.

»Nun gut, Linn, vielleicht überlegst du dir es noch mal …«, sagte die Okarina, machte sich eine Notiz in ihr Lehrerinnenbüchlein und ließ mich endlich in Ruhe. Doch zu früh gefreut. Nachdem sie den dauerschnipsenden Jonas drangenommen und dieser lang und breit und sehr ausführlich erklärt hatte, wie der Quintenzirkel im Allgemeinen und im Besonderen aufgebaut war, kam es noch übler – für mich.

»Wie ihr wisst, suchen wir für unseren Chor noch Schülerinnen und Schüler, die bei der diesjährigen Weihnachtsaufführung das Solo bestreiten. Wir machen jetzt ein kleines casting …« Die Okarina klatschte begeistert über ihre eigene Idee in die Hände und schaute mich erwartungsvoll. »Linn, wie wäre es mit dir?«

War ja klar. Einmal auf dem Kieker, immer auf dem Kieker. Was blieb mir also anderes übrig, als leise und schräg und schief die Tonleiter anzustimmen.

»Bitte lauter.«

Ich sang etwas lauter.

»Noch lauter, ich höre nichts. Und bitte eine Oktave höher.«

Also sang ich laut. So laut und so hoch, wie ich konnte. Die Okarina konnte ja nicht wissen, dass ich an einem Online-Gesangsworkshop teilnahm und mich in den vergangenen Monaten verbessert hatte, im Ranking lag ich jetzt unter den besten hundert. Gerade übte ich lange Töne singen und halten …

Ich bemerkte noch, wie sich Jonas neben mir erschrocken die Ohren zuhielt und die anderen aus meiner Klasse fluchtartig den Raum verließen. Frau Herpels Gesichtsfarbe wechselte unterdessen von Leichenblass zu Kirschrot und wieder zurück. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder den Mund schloss, schaute sie mich mit einer Mischung aus Bewunderung und Entsetzen an.

»Mir klingeln die Ohren … aber das Solo singst du, keine Frage. Und zwar ohne Mikro.«

»Linn klingt so grell wie Katie Perry und Mariah Carey zusammen!« – »Die könnte Gläser zerspringen lassen!« – »Arme Okarina!« – »Die hat jetzt ’nen Tinnitus!« Die Sprüche meiner Mitschüler dröhnten in meinen Ohren, als ich mich nach der unglückseligen Musikstunde möglichst unauffällig zu ihnen auf den Pausenhof gesellte. Pia, Leonie, Vanessa und Michelle tuschelten hinter vorgehaltener Hand und schauten ständig zu mir herüber.

Danke schön auch, meine Gesangseinlage war also ein voller Erfolg gewesen und hatte mir für die Ewigkeit keine neuen Freundinnen beschert. Dabei gab ich mir so viel Mühe, mich so zu verhalten, wie man es von richtigen Mädchen erwartete, auch wenn ich das dämlich fand. Alles nur, um endlich anerkannt zu sein, aber irgendwie funktionierte das auch nicht. Ich meldete mich sogar kaum noch im Matheunterricht, sodass der Martenstein bei meiner Mutter nachfragte, ob ich wohl in der Pubertät sei und ein kleines Leistungstief hätte …

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Manchmal fühle ich mich alleine und kann nicht schlafen.

Dann stelle ich mir vor, du lägst neben mir, streicheltest meine Haare und sängest mir ein Gutenachtlied mit deiner schönen, weichen und so wundervollen Stimme. Ganz leise summen die Töne in meinem Ohr, dringen in mich ein und füllen mich von innen.