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Über dieses Buch:

Como unter napoleonischer Besetzung, 1797: Mit gebrochenem Herzen kehrt die junge Emilia in ihre Heimat zurück – und schlüpft in die Rolle ihrer Zwillingsschwester Serena, die auf mysteriöse Weise ums Leben kam. Nun liegt es an Emilia, an Serenas Stelle das Seidengeschäft ihrer Familie vor dem Bankrott zu retten – doch als letzter Ausweg bleibt ihr nur noch der Schmuggel von Seidenwaren. Ein gefährliches Unternehmen, das einen Mann auf Emilias Spur bringt, der ihrer Schwester nach dem Leben trachtete. Und welche Absichten hat der charmante Zeitungsverleger Francesco Agnelli, den mehr mit ihrer toten Zwillingsschwester zu verbinden scheint, als er zugeben will?

Ein historischer Roman voller Leidenschaft und Intrigen – und die Geschichte einer starken Frau, die sich gegen alle Konventionen stellt: Berauschend, mitreißend, ein Abenteuer der Sinne.

Über die Autorin:

Hinter dem Pseudonym Gabriela Galvani verbirgt sich die Bestsellerautorin Micaela Jary. Sie wurde in Hamburg geboren und wuchs in der Schweiz und in München auf. Nach ihrem Studium arbeitete sie lange als Journalistin für diverse Printmedien, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Paris pendelt sie heute als freie Autorin zwischen Berlin, München und dem Landkreis Rostock.

Bei dotbooks erschien auch ihr historischer Roman »Die Liebe der Duftmischerin«.

Micaela Jary veröffentlichte bei dotbooks außerdem den Roman »Die Tote im weißen Kleid«.

Die Autorin im Internet:

www.gabrielagalvani.de

www.micaelajary.de

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eBook-Neuausgabe Juni 2018

Copyright © der Originalausgabe 2008 Micaela Jary und Aufbau Verlagsgruppe GmbH, Berlin

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com/Everett-Art und Shutterstock.com/Kiselev Andrey Valerevich

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-207-8

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Gabriela Galvani

Die Seidenhändlerin

Historischer Roman

dotbooks.

Prolog

»Eine Lüge hat keine Beine,
aber ein Skandal hat Flügel.«

Sprichwort

Wien, Anfang April 1797

1

»Figlio di puttana!«

Es war nur ein leises Zischen in ihrem Rücken, aber deutlich genug, um von Emilia Bossi verstanden zu werden und sie für einen Moment von dem »Hurensohn« abzulenken, dem diese Worte galten.

Emilia hätte sich nie erlaubt, in der Öffentlichkeit auszusprechen, was sie insgeheim dachte. Dass eine Fremde Albert von Podlanski beschimpfte und sich dabei Emilias Muttersprache Italienisch bediente, war mehr als bemerkenswert. Es brachte Würze in die Szene, die auf der Bühne des Freihaustheaters hätte spielen können, anstatt im Parterre nobile, und dazu geeignet war, Emilia das Herz zu brechen. In den vergangenen Minuten hatte sie zusehen müssen, wie ihr Leben aus den Fugen geriet und ihre Träume zerbrachen. Sie war wie erstarrt gewesen. Doch dann unterbrach die weibliche Stimme hinter ihr das Entsetzen.

Angefangen hatte alles mit dem Kreischen einer unerzogenen jungen Frau, die sich mit einem Türsteher herumstritt, weil sie keine Eintrittskarte besaß, und die sich schließlich mit den Worten Einlass verschaffte: »Lassen Sie mich durch, ich muss zu meinem Mann. Ein Notfall. Unser Kind ist krank!« Dann war sie auf Albert zugestürzt und hatte geschrien: »Berti, was tust du hier? Schlawinerst wieder einmal herum. Wer ist die Person in deiner Begleitung?«

Unruhe machte sich im Publikum breit, im Zuschauerraum mit den billigen Plätzen, im noblen Parterre und auf den Galerien, in den kleinen wie in den Hoflogen. Köpfe reckten sich, das Tuscheln und Raunen, das anfangs leise wie das Murmeln eines Baches klang, schwoll zu der Lautstärke rauschender Wellen an. Verstohlenes Gekicher und entrüstetes Murmeln begleiteten die verborgene oder unverhohlene Neugier der anderen Theaterbesucher. Als Untermalung stimmten die Musiker im Orchestergraben gerade ihre Instrumente, und das Quietschen falsch eingestellter Saiten korrespondierte mit den unterschiedlichen Gefühlsäußerungen im Parkett.

Emilia war über den Auftritt von Alberts Frau so fassungslos, dass sie vom ersten Moment an wie gelähmt gewesen war und nur mit Schweigen reagieren konnte. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie hatte gesehen, wie Albert erbleicht war, wie er aufsprang und hilflos die Frau ansah, die steif und fest behauptete, mit ihm verheiratet zu sein. Emilias Verstand hatte für einen Moment die Arbeit eingestellt, was vielleicht gut war, denn die Leere in ihrem Kopf half ihr, den ersten Schrecken wie versteinert zu überstehen. Andernfalls wäre sie wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen oder – noch schlimmer – sie hätte sich auf das Weib gestürzt, das ihre Verlobung demontierte und ihr Glück für immer zerstörte. Seltsamerweise zweifelte Emilia jedoch nicht einen Herzschlag lang daran, dass die Andere die Wahrheit sprach.

Die fluchende Fremde in Emilias Rücken brachte die Situation auf den Punkt: Albert war ein Hurensohn!

Endlich richtete Emilia das Wort an ihren Geliebten: »Würdest du mir bitte erklären, was hier vorgeht?«, fragte sie ruhig. Allein dieser gemessene, leise Tonfall war eine Demonstration ihrer guten Erziehung und ein Zeichen für ihre gutbürgerliche Herkunft, denn ihre Stimme überschlug sich nicht wie die von Alberts Ehefrau, die darüber hinaus klein und derb wirkte und nicht so aussah, wie sich Emilia eine Baronin Podlanski vorstellte, von ihrem Benehmen ganz zu schweigen.

Bevor er antworten konnte, ergriff die Frau Alberts Hand und zerrte ihn am Arm. »Komm mit, Berti, du hast hier nichts verloren. Wer diese Person ist, kannst du mir auf dem Heimweg erklären. Komm endlich, Thérèse ist krank, sie weint und ruft dauernd nach ihrem Papa.«

Doch Albert rührte sich nicht vom Fleck. Aber er sagte oder tat auch sonst nichts, was die Szene hätte entschärfen können.

Emilia fühlte sich wie eine Pappel, die in einem Garten am Ufer des Comer Sees stand und dem peitschenden Vento ausgesetzt war, einem Sturm, der meist ohne Vorwarnung bei strahlendem Sonnenschein von Norden auffrischte. Sie fröstelte. Die neugierigen Blicke der anderen Zuschauer bereiteten ihr Unbehagen. Sie war es nicht gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen, geschweige denn, das Zentrum eines Skandals zu sein, der mehr einem Orkan ähnelte als einer Brise.

Der Dirigent, der den Orchesterraum betreten hatte, bevor Alberts Frau hereingefegt war, hob seinen Taktstock. Im nächsten Moment erklangen die ersten Takte des neuen Lieds des berühmten Hofmusikus Joseph Haydn, welches dieser zum Geburtstag Franz' I. vor zwei Monaten geschrieben hatte und das die Österreicher aufrütteln sollte wie die Marseillaise die Franzosen. Doch die enthusiastisch vorgetragene Melodie schien ihr Ziel zu verfehlen, auf dem Schlachtfeld in Oberitalien ebenso wie an diesem Abend im Freihaustheater, wo sich die Aufmerksamkeit der meisten Gäste auf den Skandal im Parkett konzentrierte. Immerhin erhob sich das Publikum, wie es sich beim Klang der Kaiser-Hymne gehörte.

»Bitt'schön, machen'S ka Ärger«, ein Saalwärter war neben der Baronin Podlanski aufgetaucht und erklärte freundlich, aber bestimmt: »Die Vorstellung beginnt. Geh'ns weiter, bitt'schön.«

»Ja, hier haben wir nichts verloren«, stimmte diese zu und begann hoch erhobenen Hauptes ihren Abgang.

Emilia traute ihren Augen nicht: Albert ließ sich wie ein willenloses Schaf von seiner Frau mitzerren, er zog ein Gesicht, als ginge es zur Schlachtbank, und warf Emilia einen flehentlichen Blick zu, doch ihr Mitleid hielt sich in Grenzen. Stumm beobachtete sie seinen Rückzug.

Dies war die perfekte Gelegenheit für einen Nervenzusammenbruch, überlegte sie. Wahrscheinlich sollte sie sich schluchzend und schreiend auf den Boden werfen, sicher hätte sie unter den Zuschauern sogar Verständnis für den Kollaps geerntet. Stattdessen blieb sie still und gefasst.

Zu welchen ungewöhnlichen Verhaltensweisen dramatische Situationen doch verführten. Emilia, die einst in dem Ruf gestanden hatte, zu viel zu reden und nicht an sich halten zu können, ertrug die größte Niederlage ihres Lebens mit stoischer Ruhe und eiserner Disziplin. Unvermittelt fiel ihr ihre Schwester ein, und sie dachte, wie verblüfft Serena über diese Haltung wäre.

»Cazzo!«, zischte es in der Bank hinter ihr. Es war dieselbe Frauenstimme, die Albert einen Hurensohn genannt hatte. Dass sie nun das italienische Wort für Penis benutzte, was ins Deutsche übersetzt eine drastische Variante von »Schuft« bedeutete, traf zum zweiten Mal den Nagel auf den Kopf und zauberte ein Schmunzeln in Emilias angespannte Miene.

Sie drehte sich um – und blickte einer jungen Dame ins Gesicht, die so vornehm aussah, dass Emilia in Anbetracht des Sprachschatzes das Kinn herabsank. Die Fremde war etwa so alt wie sie, vielleicht auch ein oder zwei Jahre älter, etwa Mitte zwanzig, und eine ausnehmend schöne Erscheinung mit einem klassisch geschnittenen Antlitz, dichten mahagonibraunen Locken, die sie nach der neuesten französischen Mode kurz geschnitten trug. Sie war in ein Gewand gehüllt, das der Toga der römischen Republikanerinnen nachempfunden war und als neuester Schrei in Paris galt. Das Kleid war aus Seidenmusselin gefertigt, und der teure Stoff war Indiz dafür, dass die Eintrittskarte für 34 Kreuzer ein Kinderkuss für diese Zuschauerin sein musste.

Die Fremde lächelte ihr aufmunternd zu. »Er ist es nicht wert, dass Sie sich aufregen«, flüsterte sie. Natürlich sprach sie Deutsch mit Emilia, sie konnte nicht wissen, dass Emilia in Como als Tochter eines italienischen Kaufmanns geboren worden war. Man sah ihr die lombardische Herkunft nicht an, denn Emilias blasses, schmales Gesicht mit den großen, veilchenblauen Augen und die aschblonden Haare waren die Attribute ihrer österreichischen Mutter, das Dunkle der Familie Bossi ging ihr – und auch Serena – völlig ab.

»Pst!«, machte jemand.

Die Ouvertüre begann. Es waren die ersten Akkorde der »Zauberflöte« von Wolfgang Amadeus Mozart.

Emilia erwiderte zaghaft das Lächeln der Fremden und wandte sich der Bühne zu.

Plötzlich wurde ihr die Leere neben sich bewusst. Der Platz, auf dem Albert gesessen hatte, war verwaist. Nichts erinnerte mehr an den Mann, der ihr den Theaterbesuch geschenkt hatte – als eine Art Fortsetzung einer leidenschaftlichen, zärtlichen Nacht. Und Emilia hatte geglaubt, er wolle diesen glanzvollen Abend nutzen, um ihr einen Heiratsantrag zu machen. In vielfacher Hinsicht hatte sie etwas Besonderes in Alberts Einladung vermutet.

»Die Zauberflöte« stand zwar seit sechs Jahren regelmäßig auf dem Programm des Freihaustheaters, da das Libretto aus der Feder von Intendant Emanuel Schikaneder stammte, aber Emilia hätte nie das Geld für den Besuch eines Singspiels ausgegeben, da sie sich alle Ersparnisse für den Erwerb von Büchern zurücklegte.

Sie hatte jedoch gehört, dass gerade die Musik dieser Oper eine Verbeugung vor den Freimaurern sein sollte, und war begierig gewesen, den Melodien zu lauschen. Denn Emilia war eine von den Idealen der Französischen Revolution berauschte Anhängerin von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Als Sechzehnjährige hatte sie sich wie eine Bäuerin gekleidet, aus Protest gegen die führende Gesellschaftsschicht, die damals in Como aus italienischen Adligen bestand, die wenig zu sagen hatten, und einer österreichischen Besatzungsmacht, die sich als Blutsauger entpuppte. Sie hatte die Thesen der radikalsten Aufklärer lauthals verteidigt: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte sie die Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin von Olympe de Gouges zitiert und damit sowohl ihren Vater als auch ihren Großvater in Verlegenheit gebracht. Inzwischen aber ging sie milder mit der Emanzipation um. Sie hatte sich der sogenannten Damenphilosophie zugewandt, und beteiligte sich nicht mehr an politischen Disputen, die letztlich Madame de Gouges den Kopf gekostet hatten.

Mit Albert war es anders gewesen. Er war aufgeschlossen für ihre Ideen, hegte selbst radikale Vorstellungen vom Wandel in der Welt. Natürlich hatte der Krieg gegen Frankreich ihre Gespräche bestimmt, kein Wunder, denn der wurde vor allem in Emilias Heimat ausgetragen. Der Italienfeldzug des Generals Napoleon Bonaparte hatte Albert ebenso bewegt wie Emilia, wenn auch aus anderen Gründen: Während Emilia mit Entsetzen die neuen Nachrichten der Ausrufer anhörte, die von einer Niederlage nach der anderen und im Juli vorigen Jahres vom Einzug der Franzosen in Mailand berichteten, bastelte Albert an einer Kriegsmaschine, die das Blatt für die unterlegenen Österreicher wenden sollte: ein mit Sensen betriebenes Gerät, das – im Feld eingesetzt – mit einem Schlag eine ganze Kavalleriearmee vernichten sollte. Bislang waren Alberts Bemühungen, Feldmarschall Wurmser für seine Erfindung zu interessieren, zwar gescheitert, aber es gab ja auch noch keinen Prototyp.

Unwillkürlich fiel Emilia ein, dass sie nun niemals erfahren würde, ob Albert eines Tages erfolgreich wäre.

Tapfer schluckte sie den Kloß herunter, der sich in ihrer Kehle sammelte, doch in ihre Augen traten trotzdem Tränen. Mit verschwommenem Blick sah sie auf das Podium, wo Tamino gerade in romantische Verzückung für ein Bild von Pamina, der Tochter der Königin der Nacht, ausbrach und sang: »Dies Bildnis ist bezaubernd schön ...«

Albert war fort. Ihre Hoffnung auf eine Verlobung mit diesem abenteuerlustigen, phantasievollen, schneidigen jungen Baron war geplatzt wie eine Seifenblase. Schlimmer noch, er war verheiratet und Vater mindestens einer Tochter, und er hatte Emilia in aller Öffentlichkeit bloßgestellt. Mit wachsendem Entsetzen wurden ihr die Konsequenzen des Geschehenen bewusst: Es war zweitrangig, wie sie die Demütigung ertrug; der Skandal konnte aber zu einer Katastrophe führen, wenn er in den Salon ihrer Arbeitgeberin getragen wurde. Die Gräfin Cziffra würde nicht zulassen, dass ihre Kinder von einer Gouvernante unterrichtet wurden, die für einen Aufruhr im Freihaustheater gesorgt hatte. Dabei spielte es keine Rolle, ob Emilia Opfer oder Schuldige der Affäre war.

Was sollte sie nur tun? Bestand die Chance, dass wohlmeinende Freundinnen die Neuigkeit nicht in das Haus der ungarischen Adligen an der Domgasse tragen würden? Nein. Nichts war in Wien so beliebt wie der Tratsch. Und die Folgen eines Skandals waren in ihrem Fall mehr als absehbar: Emilia drohte weitaus mehr zu verlieren als die Liebe eines offenbar untreuen Ehemannes. Wenn sie von der Gräfin Cziffra vor die Tür gesetzt wurde, wusste sie nicht wohin. Bei einer anderen Familie würde sie so rasch keine adäquate Anstellung in Wien finden, nicht, wenn sie ihre Arbeit wegen einer solchen Liebelei verlor.

»Eine Lehrerin, die sich einbildet, Baronin zu werden, können wir in unseren Haushalt nicht aufnehmen«, würde man ihr sagen. »Sicher, Sie stammen aus guten Verhältnissen, aber das rechtfertigt nicht Ihre Impertinenz, sich über alle Standesunterschiede hinwegsetzen zu wollen.«

Dabei würde natürlich außer Acht gelassen werden, dass Albert von Podlanskis Ruf von vorneherein nicht dazu geeignet war, eine Tochter aus adligem Hause zu ehelichen. Immerhin war er ein Deserteur, der nach Preußen geflohen war und nur wegen eines kaiserlichen Pardons hatte zurückkehren dürfen. Wenn sich aber eine bürgerliche Kaufmannstochter erdreistete, sich in ihre gesellschaftlichen Kreise einzumischen, würden die hochwohlgeborenen Herrschaften plötzlich zusammenhalten.

Wie Emilia die Zwänge ihres Alltags hasste! Übelkeit erfasste ihren Magen und breitete sich bei dem Gedanken in ihrem Oberkörper aus, dass sie keine andere Wahl hatte, als vor Gräfin Cziffra zu Kreuze zu kriechen, gleichgültig, welche Erniedrigung dies für Emilia bedeutete. Wenn nötig, musste sie betteln und flehen, um in dem Haus an der Domgasse bleiben zu dürfen. Einen anderen Weg gab es für sie nicht, denn sie konnte nicht einmal in ihre Heimat und zu Serena fliehen. Seit General Bonapartes Armee in Oberitalien gegen die Truppen von Feldmarschall Wurmser kämpfte, war die Reiseroute unterbrochen, waren die Straßen in Richtung Mailand unpassierbar, weil zu gefährlich. Es ging das Gerücht um, sogar Madame Bonaparte sei auf dem Weg zu ihrem Gatten in ein Scharmützel geraten und habe bei Verona in einen Graben springen müssen, um sich vor einer Kanonenkugel zu retten – was in Wien natürlich mit Häme kommentiert worden war.

»Zum Ziele führt dich diese Bahn ...«, sangen auf der Bühne die drei Knaben, die Tamino in den Tempel Sarastros geführt hatten. Die Handlung des Singspiels hatte Emilia jedoch nicht verfolgt, zu sehr war sie mit ihrer eigenen Geschichte befasst.

Wo ist mein Ziel?, fragte sie sich in stummer Verzweiflung.

Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie sich für diesen Gedanken gescholten, doch seit Albert gegangen war, schien es keine Zukunft mehr für sie zu geben: Der Schande folgte die Demütigung, der Schmach die Geringschätzung. War das die Strafe für ihre Rebellion, für ihre ebenso aufklärerischen wie aufrührerischen Gedanken, die sie auch an der Allmacht Gottes zweifeln ließen? Emilia schien es, als sei ihr das eigene Leben entglitten, als erinnerte eine höhere Macht sie daran, dass sie nicht allein über ihr Schicksal entschied.

Panik wallte in ihr auf.

***

Als Emilia während des tosenden Beifalls, der den Ersten Aufzug abschloss, ins Foyer eilte, rechnete sie nicht mit der Aufregung, die dort herrschte. In dem Raum, in dem sich eigentlich erst zur Pause das Publikum vergnügen sollte, hatten sich Herren im Frack oder der weißen Uniform der kaiserlichen Offiziere versammelt, die ihrer Garderobe nach in die Hoflogen gehörten; sie bildeten kleine Gruppen und diskutierten lebhaft. Eines der Eingangstore war aufgestoßen worden, der kühle Abendwind wehte von der Straße herein und mit ihm der Klang von Hufgetrappel, das Klirren von Sporen und Stimmengewirr. Das gesamte Viertel schien ein ungeahnter Tumult erfasst zu haben, Entsetzensschreie wurden laut.

Wortfetzen drangen an Emilias Ohr, die sie nur langsam einzuordnen verstand: »General Bonaparte zweiundzwanzig Postmeilen von Wien entfernt!«

Unwillkürlich zog es sie vor das Tor auf die Schleifmühlgasse, wo ein Zeitungsverkäufer inmitten einer Menschentraube stand und die Neuigkeit herausschrie. Auf der Straße herrschte reger Verkehr, Kutschen rollten in einer scheinbar endlosen Kolonne vorbei, Reiter galoppierten auf schmalen Pfaden, mehr oder weniger frivole Damen hoben die Säume ihrer Abendkleider, um in ihren zarten Pantoffeln oder modischen Sandalen über die Abfälle zu steigen, die die Obst- und Gemüsebauern auf dem alten Aschenplatz, ihrem neuen Markt, von dem Tagesangebot zurückgelassen hatten, Kinder in Lumpen wühlten zwischen den Abfällen nach Essbarem. Es roch nach Pferdedung und verfaulten Früchten, aus den Weinschenken drangen Musik und Gelächter. Immer mehr Ausrufer tauchten vor dem Freihauskomplex auf, um mit einem Extrablatt, dessen Schlagzeile die Nachricht vom Herannahen der Franzosen war, ein paar Kreuzer zu verdienen.

In unmittelbarer Nähe hielt ein Fiaker, dem eine Gruppe junger Leute entstieg, die vermutlich einem Tanzcafé entgegenstreben wollten. Einer der Männer bezahlte den Kutscher, während seine Kameraden es sich anders überlegten und sich spontan den Neugierigen bei einem Zeitungsverkäufer anschlossen.

»Da ist ein freier Wagen«, bemerkte eine Frauenstimme hinter Emilia, die, sofern sie nicht fluchte, sehr weich und angenehm klang, wie der Tonfall einer gebildeten, vornehmen jungen Dame. »Sie sollten die Droschke nehmen, wenn Sie von hier fortwollen. Wer weiß, was heute Nacht noch geschieht.«

Verblüfft fuhr Emilia zu der Fremden herum, die im Theater hinter ihr gesessen hatte. »Sind Sie mir gefolgt?«

»Ja«, erwiderte die schöne Italienerin schlicht. »Ich befürchtete, Sie könnten sich etwas antun. Unter den gegebenen Umständen wäre das kein Wunder, wie ich finde, aber wissen Sie, kein Kavalier ist es wert, dass eine Frau sein Leben für ihn opfert. Von Paris bis Peru und von Rom bis Japan – ist das allerdümmste Tier, meiner Meinung nach, der Mann

Emilia starrte sie sprachlos an. Bevor in ihr Bewusstsein vordrang, dass dies ein Ausspruch von Olympe de Gouges war, fiel ihr unsinnigerweise auf, dass die Fremde ihren Körper in kein Korsett gepresst hatte. Unter dem durchsichtigen Kleid trug sie ein Trikot, und es war offensichtlich, dass sie diese neuen Körbchen benutzte, die man in die Oberteile steckte, deren Taille sich unter dem Busen befand und mit denen man die Brüste stützte. Eine Dame, die lauthals fluchte wie ein Marktweib, sich der Schnürbrust entledigt hatte und die berühmteste Frauenrechtlerin der Französischen Revolution zitierte, war noch unkonventioneller, als Emilia angenommen hatte.

»Französische Truppen stehen in Leoben! Feldmarschall Wurmser bittet um Waffenstillstand!«, hallte die Stimme eines Ausrufers über die Menge.

»Ich lade Sie zu einer Fahrt ein«, entschied die Fremde. »Beeilen Sie sich, bevor uns jemand die Droschke vor der Nase wegschnappt. Eine Zeitung werden wir anderswo erstehen. Kommen Sie, im Wagen können wir uns in Ruhe unterhalten.« Resolut griff sie nach Emilias Arm und zerrte sie mit sich, so wie Albert zuvor von seiner Frau aus Emilias Nähe gezogen worden war. »Ich heiße übrigens Lucia Agnelli«, stellte sie sich dabei vor.

Der Name genügte, um Emilias Schritte zu beschleunigen. »Sie sind Italienerin. Dann sind wir Landsleute. Mein Name ist Emilia Bossi und ich stamme aus Como.«

»Ich bin keine Italienerin«, behauptete die junge Dame mit dem zweifellos italienisch klingenden Namen. Sie fiel in einen schnelleren Schritt, um ein älteres Ehepaar beim Kampf um den freien Fiaker auszustechen, und riss den Schlag auf. Über die Schulter sagte sie: »Ich komme aus den Eidgenössischen Untertanengebieten jenseits der Lombardei, aus Lugano.«

Emilia folgte ihr in den Wagen, hörte, wie Lucia Agnelli dem Kutscher eine Adresse nahe der Hofburg nannte, und lehnte sich auf dem zerschlissenen Polster zurück. Einen Herzschlag lang schloss sie die Augen.

Lugano, dachte sie, eine schöne Stadt an einem See, der weniger weitläufig ist als der von Como, keine halbe Tagesreise von zuhause entfernt. An der Südseite des Lago di Lugano, in den Hügeln des Mendrisiotto, gab es eine Reihe von Seidenraupenzuchten, und der alte Bossi, ihr Großvater, hatte sie in ihren Kindertagen einmal dorthin mitgenommen. Natürlich war Serena mit von der Partie gewesen – und hatte sich schon damals mehr als Emilia für das Geschäft interessiert.

Serena hatte die richtigen Fragen zur richtigen Zeit gestellt: »Nonno, wie kommt die Farbe in die Fäden? Die Raupen sind doch bloß grau und weiß.«

Emilias Kommentar war ein anderer gewesen: »Es ist schrecklich hier, Nonno. Die Puppen werden mit heißem Wasser überbrüht, um die Seidenfäden zu gewinnen. Das muss ihnen doch weh tun. Ich hasse das.«

Mit Emilia hatte der Großvater geschimpft, Serena hatte ein Lob für ihre kluge Frage bekommen. Eigentlich war es immer so gewesen, und Emilia hatte gelernt, zurückzustecken. Doch keine der früheren Niederlagen war so schmerzlich gewesen wie das Drama, das ihr Albert jetzt zumutete.

Was für ein Abend! Erst die Vorfreude auf das Zusammensein mit dem Geliebten, dann die Ernüchterung, der Skandal, schließlich die militärische Katastrophe, über die sie nachdenken wollte, wenn sie die Ruhe dazu fand, und als Krönung die Begegnung mit einer fremden Frau, die sie mit Beschlag belegte, als wären sie Freundinnen.

»Warum haben Sie das getan?«, fragte Emilia matt. »Was?«

»Mich unter Ihre Fittiche genommen. Warum haben Sie das getan? Wir kennen uns doch gar nicht.«

»Ich bin Schriftstellerin«, versetzte Lucia, ohne mit der Wimper zu zucken, und Emilia fand, dass dieser Beruf zu der ungewöhnlichen Person passte. »Liebesgeschichten sind mein tägliches Brot, und ich bin begierig darauf, Ihr Drama zu erfahren ...«

»Woher wussten Sie, dass Albert und ich ... ähm ... dass wir gefühlsmäßig verbunden sind ... waren?«

Lucia schmunzelte amüsiert. »Sie haben einander an den Händen gehalten, wenn Sie glaubten, dass es niemand sieht. Außerdem konnte jedermann in Ihren Augen lesen, wie es um Sie steht. Ehrlich gesagt, verheiratete Männer, die einer jungen Frau den Hof machen und ihre Gattinnen verschweigen, gehören keiner seltenen Spezies an. Aber ich wurde noch nie Zeugin eines solchen Skandals. Ihr Schicksal interessiert mich, deshalb habe ich Sie angesprochen.«

Die Kutsche rumpelte über Kopfsteinpflaster, und die weiblichen Insassen wurden ein wenig durchgeschüttelt. Unwillkürlich griff Emilia nach dem Ledergriff neben dem Fenster. Als sei dies eine Metapher, fiel ihr ein, dass sie auch Halt bei Albert von Podlanski gesucht hatte – doch nicht nur das.

»Ich bin nicht so naiv, zu behaupten, alles sei nur seine Schuld gewesen«, hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen. »Albert von Podlanski ist verwegen, und er war in meinen Augen die Verkörperung des Abenteurers schlechthin. Es war ein Wagnis, sich auf ihn einzulassen, das wusste ich von Anfang an, denn sein Ruf war nicht so bedeutend wie sein Titel. Natürlich schmeichelte es mir, dass ein Baron mit mir poussierte, schließlich bin ich nur eine einfache Lehrerin.«

»Ach, hören Sie auf! Soziale Unterschiede sind nichts als Ungerechtigkeit«, rief Lucia leidenschaftlich aus, um dann sanfter hinzuzufügen: »Ihr Kleid ist aus einer sehr feinen Seide gefertigt. Ich sehe so etwas. Daraus schließe ich, dass Sie nicht nur eine arme Gouvernante von Gnaden einer reichen Familie sind.«

Emilia sah an sich hinunter. Sie trug eine weiße Chemise aus Baumwollmusselin und darüber einen langen Mantel, der ihre Rundungen verbarg, aus hellblauer Seide geschnitten war und Redingote hieß. Wie es sich für eine anständige Frau in Wien gehörte, kleidete sie sich nach der englischen Mode, die weitaus schicklicher war als die modischen Vorgaben, der eine Pariserin folgte. Oder eine ungewöhnliche junge Dame aus Lugano. Wahrscheinlich, überlegte Emilia, zieht man sich auch in Como so an.

»Meine Familie handelt seit Generationen mit Stoffen«, erklärte sie ihrer neuen Bekanntschaft. »Nach dem Tod unseres Vaters führt meine Schwester den Laden für Seidenwaren.«

Lucia war zu höflich, um eine intime Frage zu stellen, die geklärt hatte, warum die eine Tochter eines Seidenhändlers in die Zunft der Kaufleute aufgestiegen war, während die andere auf der Ebene etwas besser gestellten Personals stand. Sie nickte und bemerkte beiläufig: »Ach so, ich verstehe.«

Dann begann sie, freimütig über ihre politische Einstellung zu sprechen: »Man mag es mir nicht ansehen, und seien Sie bitte nicht allzu schockiert, meine Liebe, aber ich bin eine Anhängerin der Jakobiner. Der Satz über die Männer, den ich zuvor zitierte, stammt von einer französischen Republikanerin namens ...«

»Ich kenne die Schriften von Olympe de Gouges«, unterbrach Emilia nicht ohne Stolz auf ihr Wissen.

Tatsächlich war Lucia beeindruckt. »Oh! Dann wissen Sie auch, dass sich das Zitat in der Originalsprache reimt: Japon und homme klingen im Französischen ähnlicher als Japan und Mann.« Als Emilia nickte, lächelte sie zufrieden: »Ich ahnte, dass es sich lohnen würde, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sind Sie auch für die Einführung der Republik nach französischem Vorbild? Ich schon, denn sehen Sie, ich stamme aus einem Land, das von den deutschschweizer Eidgenossen ebenso besetzt und unterdrückt wird, wie es jahrhundertelang die Habsburger in Italien getan haben. Wer nicht für Erniedrigung und Unterwerfung ist, muss für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sein.«

»Kaiser Franz entstammt der italienischen Linie der Habsburger«, antwortete Emilia artig, als befände sie sich im Salon der Gräfin Cziffra. »Er wurde in der Toskana geboren und kennt sich aus mit der Kultur ...«

»Welcher Kultur?«, entgegnete Lucia ernst. »Italien war das reichste und fortschrittlichste Land der Welt, bevor es zum beliebtesten Kriegsschauplatz Europas wurde. Es wurde in drei Jahrhunderten Fremdherrschaft zerstört. Napoleon Bonaparte hat die Lombardei befreit, und nun hoffe ich, dass auch in Lugano das Ende von Willkür und Korruption naht. Nein, ich hoffe nicht nur darauf, ich kämpfe auch dafür.«

»Sie kämpfen?«, wiederholte Emilia perplex. Ihr schwindelte bei dem Gedanken, sich mit einer Wiedergeburt der berühmten Jeanne d'Arc anzufreunden. Sich streitbar für Gerechtigkeit einzusetzen, wie sie es in ihrer Jugend getan hatte, war eine Sache. Mit einer nicht ganz adäquaten Ehe gegen die Zwänge ihres Standes zu rebellieren auch. Sich zu einem weiblichen Ritter aufzuschwingen jedoch eine ganz andere Geschichte. Andererseits klang Lucias Rede gerade so, als sei sie von der alten Emilia gehalten worden, die sich noch nicht dem gesellschaftlichen Leben und den Zwängen des Alltags angepasst hatte.

»Ich schlage meine Gegner mit Worten«, behauptete Lucia kühn. »Ebenso wie mein Bruder. Francesco gibt eine Zeitung heraus, die viel Aufmerksamkeit überall in Europa erfährt. Er hat den Verlag unseres Vaters geerbt und die Gazzetta di Lugano zu einer der führenden Druckschriften in italienischer Sprache gemacht.«

Emilia hatte durch Albert von Podlanski von diesem Blatt gehört. Sie wusste nicht mehr, in welchem Zusammenhang es gewesen war, aber es war gewiss nicht die Lektüre, die die Gräfin Cziffra als angemessen für die Lehrerin ihrer Kinder erachtete. Vor allem dann nicht, wenn es sich bei dem Herausgeber um einen Befürworter der Republik handelte, was bei der kaisertreuen Ungarin einer Todsünde gleichkam.

»Wann werden Sie wieder nach Hause fahren?«, fragte Lucia in Emilias Gedanken. »Sie wollen sicher zurück nach Como.«

»Bisher hatte ich nicht daran gedacht. Jedenfalls nicht bis heute Abend. Aber eine Reise ist ja ohnehin nicht möglich, solange Krieg herrscht.«

Lucias blickte Emilia so aufmunternd an wie zuvor im Theater, als Albert an der Seite seiner Frau die Bildfläche verlassen hatte. »Also, ich warte darauf, dass der Brennerpass endlich wieder sicher zu überqueren ist. Mir wird es langweilig in Wien. Es ist alles so altmodisch hier. Manchmal kommt es mir vor, als befänden sich die Stadt und ihre Bewohner noch mitten im Ancien Régime, und irgendwann biegt eine Kutsche um die Ecke, aus deren Fenster Marie Antoinette winkt – mit ihrem Kopf am rechten Platz, natürlich.«

Sie lachte einen Moment über ihren eigenen Witz, bevor sie fortfuhr: »Sobald es möglich ist, nehme ich die nächste Post in Richtung Mailand. Es wäre schön, wenn Sie sich mir anschließen würden. Es reist sich so viel angenehmer in netter Gesellschaft.«

Die Aufforderung kam überraschend, aber sie war unter den gegebenen Umständen mehr als nur eine Überlegung wert. Vor Emilias geistigem Auge erschienen die hohen, schlanken Zypressen, die die Wege entlang der oberitalienischen Seen säumten. Für sie waren diese Bäume so etwas wie Sinnbilder ihrer Heimat, denn es gab sie in dieser Gestalt nirgendwo sonst außerhalb Italiens. Plötzlich wurde sie von Heimweh überwältigt. Es schmerzte fast ebenso sehr wie der Kummer über Albert von Podlanski – und war letztlich eine Folge davon.

Was würde Serena sagen, wenn ihre Zwillingsschwester nach fünf Jahren Abwesenheit zurückkehrte?

»Wer weiß«, murmelte Emilia, »vielleicht komme ich tatsächlich mit Ihnen.« Serena fällt aus allen Wolken, wenn ich wieder da bin, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Hoffen wir, dass General Bonaparte keine halben Sachen macht und Feldmarschall Wurmser rasch zu einem Friedensvertrag zwingt, damit wir schnell nach Hause fahren können.« Lucia streckte ihre Hand aus. »Versprechen Sie mir, dass Sie mich aufsuchen, wenn Sie sich für die Heimreise entscheiden. Ich wohne im Damenstift der Karmeliterinnen nahe der Hofburg. Und Sie?«

2

Gräfin Cziffra hatte die Anweisung gegeben, die wertvollsten Gegenstände ihres Haushalts in Kissen zu verpacken und einige persönliche Habseligkeiten von sich und ihren Kindern in einer großen Reisetruhe zu verstauen. Obwohl sie wenig Wert auf kostbare Nippes legte, sammelte sich doch einiges an Porzellan und Silber an, das die gebürtige Ungarin gesichert wissen wollte, ebenso wie ihre Kleider. Letztere würde nach Emilias Überzeugung kein französischer Soldat plündern, sofern er denn einen Fuß in dieses Haus setzen sollte, denn Gräfin Cziffra hielt standhaft an Modellen mit ausladenden Dekolletés, Schößchenjacken, Gesäßpolstern und weiten Faltenröcken mit Fischbeinreifen fest.

Seit sie am Morgen die Nachricht erhalten hatte, dass General Bonaparte mit seinen Truppen erschreckend nah vor Wien stand, war sie außer sich. Sie keifte das Personal noch mehr an als sonst und benutzte unaufhörlich ein Fläschchen mit Riechsalz, da sie befürchtete, ob der Bedrohung zu kollabieren. »Eine einzige Ohnmacht«, erklärte sie Emilia, »und ich wache nie wieder auf.«

Uns allen wäre wohler, wenn dies geschähe, dachte Emilia.

»Es ist wie damals, als die Türken vor Wien standen«, behauptete Gräfin Cziffra. »Ich weiß das ganz genau. Der Schweiß der Feinde liegt in der Luft. Man kann ihn riechen.«

»Sehr wohl, gnädige Frau«, erwiderte Emilia geistesabwesend. In aller Regel war es Unsinn und gehörte nicht kommentiert, was die Dame des Hauses von sich gab. Vor allem konnte Gräfin Cziffra gar nicht wissen, wie es gewesen war, als die Metropole der Habsburger von den Türken belagert worden war, denn das war zuletzt vor mehr als einhundert Jahren geschehen. Allerdings räumte ihr Emilia ein wenig Verständnis bei der Furcht vor den Franzosen ein, denn der Graf war vor acht Monaten bei der Ausübung seiner Pflicht als österreichischer Offizier in der Schlacht von Amberg in Bayern gefallen. Darüber hinaus musste Emilia fairerweise eingestehen, dass dies nicht der einzige Haushalt Wiens war, der sich darauf vorbereitete, die Stadt zu verlassen.

»Fast einhundertfünfzig Jahre lang regierten die Osmanen in meiner Heimat«, ereiferte sich Gräfin Cziffra. »Die Türken haben die alte ungarische Königsstadt zerstört. Mein Gott, was werden die Franzosen mit Wien machen, wenn sie erst hier sind? Es ist ein Glück, dass Napoleon Bonaparte von Süden anrückt und nicht von Osten, wie Sultan Süleyman damals. Ach, wie gut, dass Herzog Karl Buda befreite. Deshalb können wir nun auf mein Gut in der Puszta fliehen und dort unbesorgt abwarten, was hier passiert.«

»Es heißt, der Kaiser habe bereits einen Waffenstillstand akzeptiert«, versuchte Emilia ihre Arbeitgeberin zu beruhigen. »Eben hörte ich auf der Straße die neueste Meldung eines Ausrufers: Seine Majestät hat Feldmarschall Graf Bellegarde und den Diplomaten von Merveldt in die Steiermark geschickt, um mit General Bonaparte in Friedensverhandlungen zu treten. Das sind doch durchaus Nachrichten, die Anlass zur Hoffnung geben.«

»Papperlapapp!«, widersprach die ungarische Gräfin mit erhobener Stimme. »Das ist nichts als Gerede und trägt weder dazu bei, meine Gesundheit, noch, mein Leben zu retten. Ich will von diesem Unsinn nichts mehr hören. Wir reisen ab!«

Emilia biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Es war besser, sie hielt den Mund, anstatt Gräfin Cziffra herauszufordern, obwohl sie doch nur ein paar freundliche, mäßigende Worte zu finden gehofft hatte, die den drohenden Nervenzusammenbruch verhindern sollten. Die Meinung ihrer Arbeitgeberin war es nicht wert, in einen Streit über Krieg und Frieden zu versinken. Immerhin konnte Emilia zufrieden sein, dass die herrschende Aufregung ein Gespräch über den gestrigen Abend verhinderte. Die geographische Nähe der französischen Armee war allemal wichtiger als ein Skandal im Freihaustheater, und Emilia sollte eher dem Himmel dafür danken, als ihr Schicksal herauszufordern, indem sie das Falsche sagte, selbst wenn es richtig war – so wie damals, als sie und Serena mit ihrem Großvater die Seidenraupenzucht im Mendrisiotto besichtigt hatten.

Sie nahm sich wieder der ihr zugewiesenen Tätigkeit an. Da ihre Zofe angeblich nicht alleine damit zurechtkam, sollte Emilia der Dienerin von Gräfin Cziffra beim Einpacken der gräflichen Garderobe zur Hand gehen. Nicht nur auf den Sitzgelegenheiten, auf allen möglichen Möbelstücken des Ankleidezimmers, türmten sich Kleidungsstücke. Als junge Witwe trug die Gräfin zwar derzeit ausschließlich Schwarz, aber sie rechtfertigte ihren Befehl, auch die farbenfrohen Sachen einzupacken, mit dem absehbaren Ende des Trauerjahres. Unter den gestrengen, missbilligenden Blicken ihrer Arbeitgeberin faltete Emilia vorsichtig einen Jupon aus cremefarbenem Atlas zusammen, der am Saum mit einer kostbaren Stickerei aus goldenem Garn versehen war.

»Passen Sie doch auf!«, herrschte Gräfin Cziffra. »Gehen Sie um Himmels willen vorsichtiger mit meinem Eigentum um. Knicke ruinieren den Stoff. Ich dachte, Sie stammen aus einer Seidenhandlung. Hat man Ihnen dort nicht beigebracht, mit dergleichen umzugehen?«

Zornig rammte Emilia die Zähne in ihre Unterlippe und schmeckte Blut. Dennoch bat sie unterwürfig: »Verzeihung, Madame, es liegt mir fern, Ihnen Schaden zuzufügen.« Um der albernen Posse ein Ende zu bereiten, schlug sie vor: »Vielleicht sollte ich mich besser um die Sachen der Kinder kümmern, wie es meine Aufgabe ist und ...«

»Ach, ja, über Ihre Gewohnheiten wollte ich mit Ihnen sprechen. Ich hätte das längst tun sollen. Wo habe ich nur meinen Kopf?« Zerstreut drehte die Gräfin an dem kleinen, mit einer winzigen Porzellanrose geschmückten Korken, der das Fläschchen mit dem parfümierten Hirschhornsalz schloss, welches sie zur Belebung ihrer Sinne in Händen hielt. Das Riechpulver war so stark, dass der Duft von Salmiak und Vanille unverzüglich auch in Emilias Nase stieg, obwohl sie zwei Ellen entfernt stand.

»Sie scheinen einen Hang zu haben, sich in die falschen Männer zu verlieben.«

Es war nicht so sehr die Tatsache, von ihrer Arbeitgeberin auf den Skandal im Freihaustheater angesprochen zu werden, die Emilia überraschte, sondern der Zeitpunkt. Nach der ganzen Ruhe des Vormittags hatte sich Emilia sicher gefühlt. Der Angriff kam ebenso unverhofft wie General Bonapartes Einmarsch in Österreich, dachte sie grimmig.

»Bitte?«, fragte sie höflich.

Gräfin Cziffra rang theatralisch die Hände. »Es wird natürlich furchtbar sein für die Kinder, die sich an Sie gewöhnt haben. Andererseits muss ich gerade an die Kinder denken und an den Einfluss, den Sie auf sie ausüben. Eine junge Frau, die mit einem verheirateten Mann in der Öffentlichkeit tändelt, ist ganz sicher kein Vorbild für die noch unreife Jugend.«

Aus den Augenwinkeln nahm Emilia wahr, dass sich die Zofe der Gräfin im Hintergrund des Ankleidezimmers langsamer bewegte, weil sie angestrengt lauschte. Es wäre Emilia angenehmer gewesen, dieses Gespräch ohne Zuhörer zu führen, doch in Häusern wie diesem hatten selbst die Wände Ohren.

»Sie haben selbstverständlich recht, gnädige Frau«, erwiderte Emilia ergeben und hasste sich innerlich für die eigene Unterwürfigkeit, »aber ich kann Ihnen versichern, dass ich mich niemals auf eine Einladung des Baron Podlanski eingelassen hätte, wenn ich über seine Ehe informiert gewesen wäre. Bedauerlicherweise wurde ich völlig im Unklaren darüber gelassen.«

»Mir scheint, Sie wissen nicht, was sich gehört, Fräulein Bossi.«

Emilia hatte damit gerechnet, dass sich ihre Arbeitgeberin nicht mit einer simplen Erklärung abfinden würde. Deshalb versuchte sie, Ruhe zu bewahren und Geduld zu zeigen. Vielleicht konnte sie die Gräfin von ihrer Redlichkeit überzeugen. Jedenfalls musste sie diese Chance wahrnehmen: »Ich widerspreche Ihnen nur ungern, aber ich kann Ihnen versichern, dass mir nichts ferner liegt, als mit einem verheirateten Herrn auszugehen. Die Situation ist für mich äußerst kompromittierend.«

»Schön, dass Sie das so sehen«, Gräfin Cziffra legte eine Pause ein, in der sie wieder an ihrem Riechfläschchen schnüffelte. »Dann verstehen Sie, dass ich Sie unter den gegebenen Umständen nicht weiter beschäftigen kann. Es fügt sich gut, dass ich Wien mit den Kindern verlassen muss, da fällt den Kleinen der Abschied nicht so schwer.«

»Nein!« Emilias Finger, die noch immer den Unterrock umklammerten, krallten sich ungeachtet eines möglichen Schadens in die schwere Seide.

»Hatten Sie geglaubt, ich würde zulassen, dass Sie uns nach Ungarn begleiten? Das ist die Höhe, Fräulein Bossi! Wenn ich bisher noch einen Funken Mitgefühl für Sie aufbringen konnte, so ist dieses nun dahin. Sie halten mich wohl für einfältig. Mich!« In einer dramatischen Geste fuchtelte die Gräfin mit den Armen, wobei sie immer wieder den kleinen Flakon an die Nase führte, nach Luft japste und die runden Augen rollte. »Diese Aufregung«, stöhnte sie und: »Ich sterbe.« Dann machte sie unvermittelt auf dem Absatz kehrt und rauschte sehr lebendig hinaus.

Wahrscheinlich war Emilia einer Ohnmacht näher als ihre Herrin. Doch sie riss sich zusammen. Die verschiedensten Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, wurden zu einem Kaleidoskop von Bildern, die sie im ersten Moment nicht einordnen konnte. Ihr schwindelte, Übelkeit stieg in ihrer Kehle hoch, sie schmeckte Galle auf der Zunge. Am liebsten hätte sie sich gleich hier auf den Jupon der Gräfin Cziffra übergeben – oder auf einen der Kleiderberge gebrochen. Ihre Herrschaft hätte das verdient, und sie hätte sich damit Erleichterung verschafft.

Emilia fühlte die Blicke der Zofe auf sich ruhen, die ihre Arbeit unterbrochen hatte und sie in einer Mischung aus Bedauern und Neugier anstarrte.

In diesem Haushalt mache ich niemandem die Freude, unter Schicksalsschlägen zusammenzubrechen, dachte Emilia trotzig. Es würde sie ja doch keiner trösten. Vielleicht würde Serena eines Tages ihre Tränen trocknen. Emilia wusste nicht, ob ihre Schwester dazu geeignet war, aber immerhin war dies eine Option, die ihr das Herz etwas leichter machte.

General Bonaparte hatte die Armee des Kaisers im Handstreich bezwungen. Wenn bereits über einen Frieden verhandelt wurde, war eine Reise durch Oberitalien sicher bald möglich. Die Gedanken in Emilias Hirn begannen, sich in ein logischeres System einzuordnen: Sie musste einen Brief an Serena schreiben und ihre Heimkehr ankündigen; und sie würde ein Billett an Lucia Agnelli schicken, der sie sich unter den gegebenen Umständen anschließen musste. Und sie musste packen. Wohin sie dann fürs Erste ging, würde sich finden, wenn sie mit ihrer Post fertig war und ihre Koffer bereitstanden.

Die Zwänge des Alltags bringen mich noch einmal um, fuhr es ihr durch den Kopf.

Erstes Buch

»Denn Liebesgenuss hat noch nie genutzt,
man darf zufrieden sein, wenn er nicht schadete.«

Epikur

Eidgenössisches Untertanengebiet, Ende Mai 1797

1

Es war nicht üblich, dass ein Bildhauer sein Modell zu einer Sitzung bestellte, während er den Entwurf seiner Skulptur modellierte. Doch Stefano Castelli nutzte jede Gelegenheit, der Frau nahe zu sein, welche die Verkörperung seiner Venusstatue darstellte. Er wurde nie müde, sie zu betrachten: Ihr schönes Gesicht, die perfekten Rundungen ihrer Brüste, die Ausbuchtung ihrer Halsbeuge. In seiner Phantasie strichen seine Finger nicht über weichen Ton, sondern über Serena Bossis alabasterweiße Haut. Die trockene Luft der Werkstatt war von ihrem Parfüm erfüllt, statt Marmorstaub und Schlamm atmete er den Duft von Mimosen, Jasmin und Orangenblüten ein. All seine Sinne waren wie betäubt von ihr. Noch nie hatte eine Frau das Talent des Bildhauers so herausgefordert wie diese – und bei keiner zuvor hatte er das Gefühl gehabt, den Verstand zu verlieren, wenn er sie nicht besitzen durfte.

Ihm wurde heiß, und er spürte, wie sich seine Wangen röteten. Er benahm sich wie ein Schuljunge im Angesicht seiner ersten Schwärmerei. Verlegen räusperte er sich und versuchte, nicht auf ihren Busen zu starren, sich mehr auf ihr Gesicht zu konzentrieren.

Serena Bossi besaß feine, ebenmäßige Züge, eine kleine, schmale Nase und einen zarten, feucht schimmernden Mund. Ihre dunklen Augen, deren Farbe je nach Lichteinfall von Tintenblau zu Schwarz wechselte, strahlten eine atemberaubende Lebendigkeit aus, waren Zeugnis ihrer Liebe zum Leben und der Leidenschaft. Die Lust auf ein neues Abenteuer, auf Begehren und Erfüllung stand in ihren glänzenden Blicken. Stefano Castelli vermutete, dass dies der Grund war, warum sie zugestimmt hatte, sich eines Tages auszuziehen und ihm für einen Akt Modell zu stehen.

Bislang hatte sie ihre Hüllen allerdings nicht abgelegt. Zwar trug sie ein modisches Sommerkleid aus fast durchsichtigem, weißem Musselin, doch der zarte Stoff ließ die Wonnen nur erahnen, die sich darunter verbargen. Serena ließ Stefano warten. Dass sie das älteste Spiel zwischen Mann und Frau mit ihm trieb und es ihr Spaß bereitete, ihn zu reizen und gleichzeitig zum Narren zu halten, wollte er nicht glauben, wenn ihm auch zuweilen dieser Gedanke kam. Immerhin ahnte er, dass sich hinter der hohen, von niedlichen, goldblonden Löckchen umkränzten Stirn ein messerscharfer Verstand und ehrgeizige Zielstrebigkeit verbargen.