image

ANGELA WIERIG

NAZIS INSIDE

401 TAGE NSU-PROZESS

image

Erste Auflage 2018

© Osburg Verlag Hamburg 2018

www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten,
insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags
sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg

Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-95510-152-7

eISBN 978-3-95510-158-9

Inhalt

OUVERTÜRE

1 VORSPIEL UND AUFWÄRMEN

2 IHR KOMMT HIER NICHT REIN

ZWISCHENSPIEL DER KUMMER

3 ANPFIFF

EXKURS ABLEHNUNGSANTRAG

EXKURS DIE GROSSBILDLEINWAND

4 DIE AKTEN

5 WIR FANGEN AN ZU VERHANDELN

KURZER JURISTISCHER EXKURS: ABTRENNUNG

6 DIE WAFFE

7 DAS MÖHRCHEN

8 DO UT DES

9 DAS FÜRCHTERLICHE KIND

10 DIE VERNEHMUNG DER ALTEN DAME

11 FLIRTING WITH DESASTER

ZWISCHENSPIEL MITTAGSPAUSE

12 DAS LIEBE MÄDCHEN

13 DIE ELTERN

SCHNIPSEL

14 EINE LEICHE MEHR

15 AUFTRITT DES EMPÖRTEN

SCHNIPSEL

16 DIE ZEUGEN

DIE ZEUGEN I (STAATLICH)

DIE ZEUGEN II (PRIVAT)

DIE ZEUGEN III (WELCHE ZEUGEN?)

DIE ZEUGEN IV (BETROFFENE)

17 GEHEIM, GEHEIM

18 EIN SWEATSHIRT FÜR DIE EWIGKEIT

19 SAG MIR, WAS ICH SCHREIBEN WILL

20 DIE VERLETZTEN UND DIE ERSCHRECKTEN

21 UND RAUS BIST DU …

22 DAS VERTEIDIGERDESASTER ODER: MEIN KLEINES PONY

23 IST SIE NOCH VERTEIDIGT?

24 THE BIG BANG

25 FRAU ZSCHÄPE LÄSST SPRECHEN

26 WOLLE LEGT NACH

27 DADA LEBT!

SCHNIPSEL

28 DIE BRAUT HAUT AUFS AUGE

29 ZWEI WELTEN

30 EIN WORT ZU WENIG

31 DER DRIVE IST RAUS

32 … IN DEM EINE ANGEKLAGTE NICHT REDET, OBGLEICH IHR VIELE FRAGEN GESTELLT WERDEN

33 AUCH FRAGEN, DIE NICHT BEANTWORTET WERDEN, DÜRFEN NICHT GESTELLT WERDEN

34 ZEUGENBEISTÄNDE UND ANDERE KATASTROPHEN

ZWISCHENSPIEL 1OO JAHRE REGEN

35 EIN EMPÖRTER UNTER NAZIS

36 PROZESSVERSCHLEPPUNG

37 DIE WETTE

38 DAS VIDEO

39 DER PROZESS IN KUNST UND KULTUR

40 DER SACHVERSTÄNDIGE ALS TOXISCHES ELEMENT DER HAUPTVERHANDLUNG

41 DIE ENTE UND DER VOLKSTOD

42 DIE »LIKE«-KULTUR IN 140 ZEICHEN

43 EINE VERFÜGUNG WIE HIMBEEREN MIT SCHLAGSAHNE

44 DIE KONFLIKTVERTEIDIGER, DIE VERTEIDIGERVERWEIGERER UND EINE DEPENDENTE PERSÖNLICHKEIT

45 FAUST AUF FAUST

46 WACKELPUDDING

47 THE BITTER END

48 DER WORLD LISTENING DAY

49 KEIN ENDE – NIE!

50 DIE MACHT DER SPRACHE

51 WIE EIN INSEKT IM BERNSTEIN

52 ICH PACKE MEINE SACHEN UND BIN RAUS, MEIN KIND

FINALE

DANKSAGUNG

OUVERTÜRE

Ich muss es aufschreiben. Diese ganze wüste Geschichte. In der Enge der durch Funktionalität entseelten Pappschachtel meines Hotelzimmers sprengt es mir den Schädel. Dieses komprimierte Menschentum, das so oft jede Menschlichkeit vermissen lässt. Dieser Gerichtsprozess gegen die mutmaßlichen Unterstützer des »Nationalsozialistischen Untergrunds«, der in erster Linie der Wahrheitsfindung dienen soll, ob die fünf Angeklagten die ihnen vorgeworfenen Taten begangen haben, erschafft Wahrheiten, mit denen ich weder gerechnet habe, geschweige denn den Wunsch hatte, mich damit auseinanderzusetzen.

Natürlich war mir bewusst, dass Wahrheitsforschung keine exakte Wissenschaft ist. Ich bin Strafverteidigerin. Und lebe – wie wir alle – in einer Welt, die sich auf die Annäherung an Wahrheit beschränken muss. Was wir ständig im Verhandlungssaal betreiben, nennt sich nicht von ungefähr »Wahrheitsfindung«. Was im Umkehrschluss wohl bedeutet, dass uns die Wahrheit abhandengekommen ist. Doch wie findet man »Wahrheit«? Ich denke, unerlässlicher Bestandteil der Annäherung an Wahrheit ist die Information. Die wiederum auch von Wahrnehmung, Fehlwahrnehmung und der bösen Schwester Interpretation dar- und entstellt wird. Schwierige Sache, das mit der Wahrheit.

Der NSU-Prozess wird als Jahrhundertprozess bezeichnet. Und dementsprechend ist das Medieninteresse gigantisch. Es vergeht kein Tag, an dem nicht über den Prozess berichtet wird. Insofern könnte man davon ausgehen, dass mein Bericht mehr als überflüssig ist. Man könnte davon ausgehen, dass alles geschrieben ist. Man könnte davon ausgehen, dass alles berichtet ist. Erstaunlicherweise – oder auch nicht – ist das keineswegs der Fall. Vieles, was stattfand, wurde nicht berichtet. Weil es nicht in das Bild passte, das der Journalist vermitteln wollte. Oder einfach die schlechtere Schlagzeile gewesen wäre. Interessen werden verfolgt, bei denen zumindest fraglich ist, wem sie dienen. Mit dem Strafprozess hat das bestenfalls nur noch am Rande zu tun.

Wenn Sie möchten, lade ich Sie ein, sich mit mir auf die Suche nach der Wahrheit zu machen. Die ich Ihnen nicht präsentieren kann. Ich kann Ihnen nur Informationen geben – geprägt von meinen eigenen Wahrnehmungen und Fehlwahrnehmungen. Und die böse Schwester wird auch mal vorbeischauen. Ich werde Ihnen von der anderen Seite erzählen. Von dem, was ich erlebt habe. In meinem eigenen, ganz persönlichen und viel zu nah miterlebten NSU-Prozess.

1

VORSPIEL UND AUFWÄRMEN

Die Geschichte begann wie fast alle Geschichten, die in einer Anwaltskanzlei anfangen. Das Telefon klingelte. Ein guter Bekannter war dran und meinte, ob er nachmittags mit seinem besten Freund und dessen Schwester vorbeikommen könne. Ich verkniff mir die Frage, um was es gehe. Erstens löst sie meistens nur ziemlich verworrene Erklärungen aus, und zweitens wird das juristische Fachgebiet nicht unbedingt richtig eingeschätzt. Es gibt durchaus Mandanten, die in einem Mietrechtsfall darauf beharren, eine Strafverteidigerin engagieren zu wollen, weil sie der Meinung sind, das Verhalten ihres Vermieters sei hochgradig kriminell.

Am Nachmittag saß dann eine zierliche Frau vor meinem Schreibtisch, die ziemlich mitgenommen wirkte. Und erzählte mir von ihrem Bruder, der in Hamburg von Nazis erschossen worden sei. Ich gebe zu, dass ich die Tagespresse nicht aufmerksam verfolge, aber dass ein solches Ereignis komplett an mir vorbeigegangen sein sollte, gab mir zu denken. Kurze Zeit später konnte ich mich dann ob meiner vermeintlichen Ignoranz beruhigen: Die Tat lag damals bereits zehn Jahre zurück. Was mich allerdings dann auch wieder beunruhigte, denn mit fortschreitendem Zeitablauf wird die Mandatierung eines Anwalts auch zunehmend absurder. In diesem Fall ergab aber auch der Zeitablauf einen Sinn, denn meine neue Mandantin erzählte mir, dass die Polizei sich bei ihr gemeldet und mitgeteilt habe, es gebe Erkenntnisse zum Mord an ihrem Bruder – zehn Jahre nach der Tat. Und mich fragte, ob ich mich um die Angelegenheit kümmern könne. Akteneinsicht anfordern, sie über den Stand der Dinge unterrichten und sie bitte vor den Medien abschirmen, die bereits Beute gewittert hätten. Klar, meinte ich, kein Problem. Und machte mir weiter keine Gedanken. Trottel, der ich war.

Erst mal alles wie gehabt: Vertretung angezeigt, Akteneinsicht beantragt. Zum ersten Mal im Leben bekomme ich aber keine Ermittlungsakte in Papierform, sondern eine Festplatte. Dazu eine Anleitung, wie die codierten Aktendateien zu öffnen sein sollen. Ich verbringe einen Nachmittag mit der Anleitung, meinem Laptop und der Festplatte und stelle fest: Wir passen nicht zusammen. In meinem Nacken die Bundesanwaltschaft, die höflich, aber bestimmt um umgehende Anfertigung einer Kopie und Rücksendung der Festplatte bittet. Glücklicherweise kannte ich jemanden, der jemanden kannte, der sowas kann. Kurz darauf halte ich meine eigene Festplatte mit lesbaren Dateien in den Händen. Und fasse nicht, was ich darauf vorfinde. Nun gut – ich hatte Verfahren, in denen die Staatsanwaltschaft bei der Gewährung der Akteneinsicht anfragte, ob ich mit dem Auto käme, da sich die Akten in zwei Umzugskartons befänden. Und ich erinnere mich an einen Fall, den ich als ganz frisch zugelassene Anwältin zu verhandeln hatte – ein Umzugskarton voll mit Akten und der Kopierer ohne Einzelblatteinzug. Bis zum Nachmittag hatte ich dank der Kopiererausdünstungen einen Grad der Bedröhnung erreicht, für den andere Leute viel Geld bezahlen würden. Aber alles nichts gegen den Schock, als ich die Ordner auf meiner neuen Festplatte öffne. Ich versuche erst gar nicht, die Zahl der Dateien in Umzugskartons umzurechnen. Umzugskartons – lächerlich. Wir sind im Bereich der self-storage-container. Eng gepackt. Und es scheint unmöglich, bis zum Prozessbeginn auch nur halbwegs über den Sachstand im Bilde zu sein. Ich fange an zu lesen.

2

IHR KOMMT HIER NICHT REIN

Es stellt sich heraus, dass ich einen Aufschub bekomme. Eigentlich sollte der Prozess vor dem Oberlandesgericht München durchstarten, aber es gibt wohl einige Medienvertreter, die entweder ihre E-Mails nicht lesen oder über ein ähnlich beklagenswertes technisches Verständnis wie ich verfügen und das Akkreditierungsverfahren verpennt haben. Offenbar ist auch bei dem OLG das technische Verständnis ausbaufähig, denn einige Akkreditierungsmails sind im Spam-Ordner des Gerichts gelandet. Wo sie zunächst ein Schattendasein führten. Kurz: Optimal ist es nicht gelaufen. Vorwiegend sind es türkische Medienvertreter, die keinen der raren, aber heißbegehrten Plätze ergattern konnten. In der Presse bricht ein Sturm der Entrüstung los. Allgemeiner Tenor ist, das OLG München wolle im Zuge eines institutionellen Rassismus1 türkische Medienvertreter von der Prozessbeobachtung ausschließen. Die Hürriyet2 betätigt sich dabei als Chefkritisierer. Was dort über das Verfahren sowie den institutionellen Rassismus im Allgemeinen und im Besonderen verbreitet wird, ist geistige Brandstiftung. Ich würde als betroffenes Oberlandesgericht erwägen, rechtliche Schritte zu unternehmen. Und es werden rechtliche Schritte unternommen – allerdings nicht von den Diffamierten, sondern von der auflagenstärksten Tageszeitung der Türkei, der Sabah. Sie bemüht das Bundesverfassungsgericht.

Das in einer Eilentscheidung den Kotau vor der verletzten türkischen Seele macht und das Oberlandesgericht München verpflichtet, ein neues Akkreditierungsverfahren durchzuführen. Wobei die Akkreditierungen diesmal nicht nach dem Windhundprinzip – wer zuerst kommt, mahlt zuerst – vergeben werden sollen, sondern im Losverfahren. Mit verschiedenen »Töpfen«: einem für ausländische Journalisten (international), einem für ausländische Journalisten (türkisch) und einem für deutsche Journalisten. Dann wird zugelost, bis das Kontingent des jeweiligen Töpfchens erschöpft ist, und so ist gesichert, dass aus jedem Bereich jemand dabei ist. Manchmal auch nur irgendjemand. Jedenfalls auch die Benachteiligten, die im freien Wettbewerb im ersten Durchgang gescheitert waren. Zu den sinnigen Folgen des Losverfahrens gehört, dass die Brigitte täglich aus dem Verhandlungssaal berichten und die taz ihre Informationen von der DPA beziehen darf. Das ist cool. Ich empfand das Verfahren sowieso als zu männerlastig und freue mich auf investigative Berichte wie »Backen mit Beate« oder »Schöner Wohnen im Frauenknast«.

Nun, es ist, wie es ist: Die türkischen Medienvertreter haben ihre Plätze ergattert und können jetzt in der ersten Reihe ihre Geschütze gegen das OLG in Stellung bringen. Dem sie im Wesentlichen einen Mangel an Rechtsstaatlichkeit und immer wieder institutionellen Rassismus vorwerfen. Gleichzeitig finde ich in den Aktennachlieferungen Anschreiben türkischer Interessenverbände an das OLG, in denen sie um Sitzplatzreservierungen im Sitzungssaal nachsuchen. Auf den höflichen Hinweis des Vorsitzenden, es gebe keine reservierten Sitzplätze für Zuschauer in deutschen Gerichtsverhandlungen, reagiert man mit Unverständnis: Den Betroffenen werde der gebotene Respekt verweigert. Der institutionelle Rassismus zeigt sich hier offenbar nicht in der Verweigerung der Gleichbehandlung, sondern in der Verweigerung der Besserstellung. Eine originelle Definition. Die gleichwohl insbesondere durch Hürriyet ihrer wohl eher nicht so gut informierten Leserschaft in großen Schlagzeilen nahegebracht wird. Es mutet schon seltsam an, dass ein türkisches Boulevardblatt sich zum Hüter deutscher Rechtsstaatlichkeit aufschwingt. Und ganz klar vermittelt, dass vom Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München ohne ständige strenge Dienstaufsicht durch türkische Beobachter keine vernünftige Verhandlung zu erwarten sei. Ein interessantes Blatt. Ich behalte die im Auge und nehme (durchaus wohlwollend) zur Kenntnis, dass der Chefredakteur von Hürriyet sich dahingehend äußert, die Anwesenheit im Gerichtssaal gehe über den journalistischen Aspekt hinaus. Ich zitiere wörtlich: »Es gibt Wichtigeres, als im Saal zu sitzen. Es geht darum, Solidarität mit den Opfern zu zeigen.«

Gleichzeitig druckt dieselbe Hürriyet einen Artikel, in dem nicht nur falsche Behauptungen über den getöteten Bruder meiner Mandantin aufgestellt werden, sondern auch ein Bild der Familie veröffentlicht wird. Und zwar ohne die Familie zuvor um Erlaubnis zu fragen. Und selbstverständlich haben nicht Angehörige das Foto zur Verfügung gestellt, sondern Hürriyet hat es sich irgendwo »besorgt«. Zu diesem Zeitpunkt habe ich bereits weisungsgemäß sämtliche Medienanfragen, ob die Familie zu Interviews bereit wäre, konsequent abgelehnt. Und alle Medienvertreter, mit denen ich gesprochen habe, haben nach längerer oder kürzerer Diskussion respektiert, dass die Familie sich nicht öffentlich begaffen lassen will. Dass nun ausgerechnet die Hürriyet mit ihrem Solidaritätsanspruch den erklärten Willen der Hinterbliebenen missachtet, spricht für sich selbst. Hürriyet bedeutet »Freiheit«. In erster Linie wohl die Freiheit, mit frei erfundenen Vorwürfen Schlagzeilen zu machen. Ich frage mich, was sich diese Leute denken. Wenn sich denn tatsächlich Türken von deutschen Institutionen schlecht behandelt fühlen, ist es doch mehr als kontraproduktiv, mit einem erfundenen Vorwurf schlechter Behandlung zu weiterer Verunsicherung beizutragen. Und schließlich muss bei allem Verständnis für das Berichterstattungsinteresse der Medien festgestellt werden, dass Leidtragende des erneuten Akkreditierungsverfahrens und der damit verbundenen Verzögerung des Prozessbeginns in erster Linie die Geschädigten und Hinterbliebenen sind. Eine beängstigende Definition des Begriffs »Solidarität«. Hoffentlich kommt Hürriyet nie auf die Idee, mit mir solidarisch sein zu wollen.

ZWISCHENSPIEL DER KUMMER

John Irving hat in seinem zum Niederknien guten Buch The Hotel New Hampshire ein Kapitel mit »Kummer schwimmt obenauf« überschrieben. Irving hat das unglaubliche Talent, Sätze wie Pfeile zu schmieden, die sich mit kleinen, spitzen Widerhaken im Herzen verankern und nie wieder loslassen. Und so hängt dieser Satz in meinem Herzen, als ich meiner Mandantin ins Gesicht schaue. Auch auf ihrem Gesicht schwimmt der Kummer obenauf. Darunter ist noch der Mensch zu sehen, der sie einmal war. Da ist das Gesicht, dem man noch ansieht, dass es viel gelacht hat. Liebe Augen, die müde in die Welt schauen. Ein schiefes Lächeln. Und über allem liegt Kummer. Der Tod des Bruders war schlimm. Die anschließenden polizeilichen Vernehmungen waren schlimm. Dass die Polizei – mal wieder – im Wohnzimmer der Eltern saß, wenn sie zu Besuch kam, war schlimm. Das Getuschel der Nachbarn war schlimm. Aber das Leben ging weiter. Und dann kam der Abend, an dem sie ihren Bruder tot in seinem Blut liegen sah, im Lebensmittelgeschäft. Auf den Fliesen, über die sie so oft gegangen war. Der Screenshot aus dem NSU-Bekennervideo traf sie ohne jede Vorwarnung – ausgestrahlt in einem Politmagazin. Da lag ihr Sülo, von dem sie sich mit einem Kuss verabschiedet hatte, als er in weiße Tücher gehüllt war und den langen Schlaf schlief. Und nun sah sie ihn aller Würde beraubt auf dem Boden liegen. Seine gebrochenen Augen, die kurz zuvor noch seine Mörder gesehen hatten. Und das Schlimme wurde zum unerträglichen Grauen. Und zum Kummer, der sich jeder Bewältigung entzog. Der künftig jeden einzelnen Tag ihres Lebens überschatten würde. Ich würde ihr so gerne helfen – aber es gibt keine Hilfe. Diese Last kann ihr niemand abnehmen – allenfalls erleichtern. Und eine Erleichterung wären Antworten auf die Frage, warum er sterben musste. Ich würde diese Antworten so gerne für sie herausfinden. Lege innerlich das Gelöbnis ab, jeden einzelnen verdammten Tag in diesem Prozess zu sitzen und Augen und Ohren weit aufzusperren. Und habe furchtbare Angst, dass für meine Mandantin die Antworten ein so grausamer Schlag werden könnten wie das Foto ihres armen toten Bruders.

Und dann passiert mir etwas, das mir nicht hätte passieren dürfen: Ich verliere meine Professionalität. Es gibt für Anwälte den eisernen Grundsatz, nie in eigener Sache oder für nahe Angehörige tätig zu werden. Auch wenn man dem Fall fachlich durchaus gewachsen wäre. Es ist die emotionale Beteiligung, die den klaren Blick verstellt. Und ein Anwalt, der emotional und nicht sachlich-juristisch agiert, hat schon verloren. Für mich ist es zu diesem Zeitpunkt aber nicht möglich, die Emotionen zu unterdrücken. Zu nahe sind mir der Schmerz und die Wut meiner Mandantin. Und so verliere ich über ihrer Wut, die zu meiner wird, die Besonnenheit, mit der ich bis dahin zu Werke gegangen bin. Und äußere mich für sie. Sage Sätze, hinter denen ich heute – was sich auch wieder ändern kann – nicht mehr stehe. Ich bin immer noch dabei, mich in die Akten einzulesen, und immer noch weit von einem Gesamtüberblick entfernt. Und kann mir nicht vorstellen, dass bloße Unfähigkeit die Ursache der jahrelangen erfolglosen Suche der Ermittlungsbehörden nach den Mördern ihres Bruders gewesen sein kann. Es muss eine Absicht dahintergesteckt haben. Oder zumindest eine billigende Inkaufnahme. Also äußere ich mich für meine Mandantin, auch öffentlich. Und laufe prompt in die Falle. Es ist die Crux mit dem einmal Ausgesprochenen – es bleibt. Das Internet vergisst nicht. Einer der Gründe, weshalb ich die öffentlichen Äußerungen auch schnell wieder lasse. Was aber die Öffentlichkeit nicht hindert, sich dann eben selbst zu äußern. In Hamburg-Altona, dem Stadtteil, in dem Sülo lebte und starb, formieren sich Trauerzüge. Da laufen wildfremde Menschen mit Bildern von Sülo und mit Transparenten durch die Gegend, auf denen zu lesen ist: »Wir trauern um Süleyman Tasköprü«. Leute, die ihn gar nicht gekannt haben. Die, als er ermordet wurde, vielleicht auch über eventuelle Verwicklung in kriminelle Machenschaften spekuliert haben. Die jedenfalls zu der Zeit, als er ermordet wurde, keine spontanen Kundgebungen abgehalten haben. Die ihn erst betrauernswert finden, nachdem seine Mörder bekannt wurden. Die seinen Tod benutzen, um gegen rechts zu protestieren. Und es wagen, sich als »Trauernde« zu bezeichnen. Wer trauert, das ist meine Mandantin. Und aus politischer Betroffenheit als wildfremder Mensch zu behaupten, man »trauere« ebenfalls, ist eine Anmaßung erster Güte. Die meiner Mandantin das Letzte nimmt, was sie noch von ihrem Bruder hat: die Trauer um ihn.

Aber nicht nur der praktizierende Feierabend-Antifaschist benutzt Sülo für eigene Zwecke. Auch die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident laden ein, um öffentlich ihre Trauer zu bekunden. Und für gute Publicity zu sorgen, dass zwar in ihrem Land Bürger herumrennen, die andere Bürger töten, sie persönlich aber entschieden dagegen sind. Sie haben kein Problem damit, die Trauer öffentlich vorzuführen; haben kein Problem damit, ein paar Lippenbekenntnisse abzugeben, und widmen sich dann wieder dem Alltagsgeschäft. Und die wahrhaftig Trauernden können sich kurz begaffen lassen, das Fernsehpublikum erschauert und ist dankbar für das eigene kleine beschauliche Leben, und dann dürfen die Trauernden wieder abtreten und mit ihrer Trauer nach Hause gehen. Ich frage mich, wie lange der Kummer bei Frau Merkel und Herrn Gauck obenauf schwimmt. Armer toter Sülo.

1Den Begriff kannte ich auch noch nicht. Bedeutet aber wohl, dass es einen privaten Rassismus gibt, den ein jeder nach Lust und Laune praktizieren kann, und – sofern der praktizierende Rassist in eine Behörde eingegliedert ist – nennt man das institutionellen Rassismus. Vielleicht soll es auch bedeuten, dass die staatlichen Institutionen in Deutschland per se rassistisch veranlagt sind. Ich gehe davon aus, dass im Verlauf des Verfahrens weitere Erklärung erfolgen wird.

2Hürriyet ist das türkische Äquivalent zur Bild-Zeitung. Allerdings ohne Blanke-Busen-Bilder, dafür mit dem Motto »Türkiye Türklerindir«, zu Deutsch: »Die Türkei gehört den Türken«, neben dem Logo. Das sollte sich die Bild mal trauen – oben neben das Logo »Deutschland gehört den Deutschen« zu drucken. Ich glaube, die Hürriyet hätte dann etwas zu kritisieren …

3

ANPFIFF

Es ist der 6. Mai und ein schöner Frühlingstag. Ich bin um 4.30 Uhr aufgestanden, um rechtzeitig zum Boarding um 5.45 Uhr am Flughafen zu sein. Was im Übrigen keine Abflugzeit, sondern Körperverletzung ist. Dennoch fing der Tag gut an – der Taxifahrer hatte The Dark Side of the Moon laufen, und ich hatte den Eindruck, wir seien die einzigen beiden wachen Menschen in einer schlafenden Stadt. Nur die Vögel waren auch schon aufgestanden und zwitscherten von Sonne, Insekten und dem hinreißenden neuen Nest. Am Flughafen waren dann schon mehr Leute wach und fingen umgehend an, mir auf den Senkel zu gehen. Nach dem Gruppenboarding – putzige Sache übrigens – durfte ich im Flugzeug zwischen einer warmen Laugenstange (untrennbar verschmolzen mit einer dünnen Papierserviette) und einem warmen Rosinenbrötchen (ebenfalls mit klebender Serviette) wählen. Beides hat die Konsistenz von warmem Kleister und die Serviette kann ruhig mitgegessen werden – geschmacklich macht es keinen Unterschied.3 Wahrscheinlich ist das Ganze auch noch mit Tranquilizern versetzt – oder es ist nur die unmenschlich frühe Abflugzeit: Jedenfalls bietet sich mir bei meinem Rückweg von der Toilette der Anblick von knapp 200 Menschen mit verrenkten Gliedern, die mit offenem Mund schlafen. Was schon ein gruseliger Anblick ist. Ich hätte ahnen können, dass es nach dem schönen Morgen nur noch abwärtsgehen konnte.

Intelligenterweise haben die Münchner ihren Flughafen möglichst weit von der Stadt weg gebaut. Der Flughafenbus braucht satte eineinhalb Stunden für die knapp 40 Kilometer bis in die Innenstadt, und nach einer erfrischenden Morgenwanderung stehe ich vor dem OLG München. Vor mir ragt ein düsterer Plattenbau aus Waschbeton in den Himmel. Auf jedem verfügbaren Sims befinden sich spitze Stacheln, und mir kommt das Bild der Taube wieder in den Sinn, die auf meinem Weg hierher mit verkrüppelten Füßen über den Bordstein torkelte. Nicht dass ich ihre verkrüppelten Füße mit dem grausamen Drahtstacheln in Verbindung bringe – das Gebäude sieht nur so aus, als würde im Keller jemand hocken, der unter irrem Gelächter Tauben die Füße verkrüppelt.

Ich betrete Saal A101, und er macht dem Gebäude alle Ehre. Damit niemand behaupten kann, er müsse in einem fensterlosen Raum sitzen, sind im hinteren Bereich schmale Fensterschlitze mit Milchglas. Ich habe eine Ahnung, dass da draußen eine Welt ist, aber sicher kann ich mir nicht mehr sein.

Zum ersten Mal im Leben sitze ich mit 60 Kollegen in einem Saal. Wie hatte ich mich gefreut – auf die anregenden Gespräche, auf die Scherzworte, die hin- und herfliegen würden. Und dann das: Ich muss feststellen, dass Anwälte, in der Masse auftretend, eher deprimierend sind. Da wird sich gespreizt, geplustert und durch den Saal krakeelt. Bedauerlicherweise haben Les Gens de Justice4 keinesfalls den Glamour, den ich ihnen in meiner Unwissenheit andichten wollte. Ich sacke ein wenig in mich zusammen und denke über Rosinenbrötchen nach.

Urplötzlich passiert was: Der Kollege schräg vor mir springt auf, zückt sein Smartphone und fängt wie besessen an zu fotografieren. Als er sich wieder beruhigt hat, bekomme auch ich mit, dass Beate Zschäpe den Raum betreten hat. Und bin völlig geplättet. Die kenne ich. Verdammt, woher kenne ich die? Eine ehemalige Schulfreundin? Kann nicht sein. Erstens ist sie viel jünger als ich, und zweitens hat sie im Osten gelebt. Von der Piste? Kann auch nicht sein. Aus denselben Gründen. Aber ich kenne das Gesicht. Woher nur? Derweil krümmt sich mein Gehirn vor Lachen. Natürlich kenne ich das Gesicht. Aus dem Fernsehen. Da habe ich es inzwischen so oft gesehen, dass ich es sofort wiedererkannt habe. Aber selbstverständlich ohne die Person tatsächlich zu kennen. Ein kleiner Streich meines Hirns. Und ein Phänomen, das uns in mehreren Spielarten in diesem Prozess noch öfter begegnen wird.

Seit 9.30 Uhr warten wir auf das hohe Gericht, und um 10.27 Uhr gibt sich der Senat die Ehre, den Saal zu betreten. Verblüfft und dankbar stehen wir alle auf.

Jetzt klärt sich für mich auch die Frage, wie die Anwesenheit festgestellt wird. Durch namentlichen Aufruf. Wird das jetzt das Eröffnungsritual an jedem Verhandlungstag? Es steht zu befürchten. Jedenfalls gibt mir die Verzögerung Gelegenheit, die Verteidigerbänke in Ruhe in Augenschein zu nehmen. Bei fünf Angeklagten und elf Verteidigern braucht es ein wenig, sich zu orientieren.

In der ersten Reihe sitzt Beate Zschäpe mit ihren drei Verteidigern. Dem Senat rein räumlich am nächsten. Und chic sind sie, die vier. Könnten direkt aus dem Verhandlungssaal zum After-work-Cocktail.

Daneben sitzt André Eminger mit seinen beiden Verteidigern. Eminger könnte keineswegs mit den Klamotten in eine Cocktailbar. Will er aber wohl auch nicht. Er hat eine Handwerker-Hose und eine Lederweste an. Jedenfalls wird er sich nicht dem Vorwurf aussetzen müssen, sich so rein klamottenmäßig beim Senat anschleimen zu wollen. Der Mann steht zu seiner Bodenständigkeit. Seine Verteidiger machen den Eindruck, sie seien irgendwo aus einem Fenster gestiegen und in diese Verhandlung entschwunden. Spontan erinnern sie mich an Statler und Waldorf aus der Muppet Show. Die gucken im Saal herum, als seien sie noch am Überlegen, ob der Kartenkauf für diese Veranstaltung eine Fehlinvestition war. Und ich habe den Eindruck, sie würden jetzt gerne ein kleines Herrengedeck bestellen.

Hinter Statler und Waldorf sitzen eine Glatze, ein Mensch mit hageren Gesichtszügen und eine Rothaarige, die vermuten lässt, dass auf der Packung etwas von leuchtet im Dunkeln stand. Oder so. Auf jeden Fall hat sie es gekauft. Und aufgetragen. Wenn sie die Verteidigerin der Glatze ist, dann ist das sportlich. Nicht nur, dass vermutlich ein paar Hardcore-Türken sie gerne abknallen würden, dann ist sie auch erklärtes Ziel der Antifa. Quasi mit Zielscheibe um den Kopf. Es stellt sich ziemlich schnell heraus, dass sie nicht die Verteidigerin der Glatze ist, sondern die des jungen Mannes mit dem schmalen Gesicht. Der guckt wie ein Nagetier im Scheinwerferlicht. Wobei »Nagetier« nicht böse gemeint ist. Gibt auch nette Nagetiere, bis rechtskräftig festgestellt ist, dass sie nicht nett sind. Erst mal gehen wir wertfrei von einem Nagetier aus. Die Glatze ist somit der zweite Verteidiger des Nagetiers. Bei dem es sich um Ralf Wohlleben handelt, wie ich jetzt mitbekomme.

Dann gibt es noch Carsten Schultze, der mit Kapuze über dem Gesicht den Verhandlungssaal betreten hat. Weil er im Zeugenschutzprogramm ist und nicht erkannt werden soll. Mit der richtigen Musik, wäre es ein Einlauf wie beim Boxkampf gewesen. Wobei er selbstverständlich nicht tänzelt, sondern eher schleicht.

Seine Verteidiger sind – wie der letzte Angeklagte im Bunde, Holger Gerlach und dessen Verteidigung – eher unauffällig. Erinnern mich weder an Kindersendungen noch an Sportveranstaltungen, und ich werde noch ein wenig brauchen, um sie einzuordnen.

Vielleicht bin ich auch einfach nur von der Glamour-Riege um Beate Zschäpe abgelenkt. Wobei ich es als einen unglücklichen Umstand empfinde, dass die Verteidiger nun ausgerechnet Stahl, Sturm und Heer heißen. Für seinen Namen kann man nichts, und die drei haben auch überhaupt nichts Martialisches im Aussehen oder Auftreten – aber für eine angeklagte Rechtsterroristin wäre eine Verteidigerriege bestehend aus Seide, Aperwind und Schar zumindest unter tiefenpsychologischen Aspekten eventuell hilfreicher gewesen.

Aber ich muss aufhören, über Namen zu sinnieren – es geht los. Der Glatzenverteidiger des Ralf Wohlleben bittet ums Wort – er möchte einen Antrag stellen. Der Vorsitzende guckt ihn ein wenig konsterniert an und bittet seinerseits darum, die Hauptverhandlung zunächst einmal eröffnen zu dürfen. Was sinnig ist, denn ein Antrag, der in der Hauptverhandlung gestellt werden soll, bedarf zunächst der formellen Eröffnung derselben. Aber wenn man einen Antrag stellen will, kann man auf solche Kleinigkeiten keine Rücksicht nehmen. Ebenso ambitioniert erkundigen sich die Verteidiger der Frau Zschäpe nach dem Schicksal ihres Ablehnungsantrags.

Zumindest Ralf Wohlleben und Beate Zschäpe scheinen also ernsthaft verteidigt zu werden. Die Verteidigung Wohlleben kann gar nicht die Eröffnung der Verhandlung abwarten, um den ersten Antrag aus der Hüfte zu schießen und die Verteidigung Zschäpe hat den ersten Befangenheitsantrag bereits formuliert, gestellt und bei Gericht eingereicht. Vor dem ersten Hauptverhandlungstag.

EXKURS ABLEHNUNGSANTRAG

Falls Sie selbst Jurist sind, können Sie den Exkurs ja überspringen. Falls Sie eine intelligentere Berufswahl getroffen haben – dazu später mehr –, erkläre ich Ihnen kurz die Sache mit den Ablehnungsanträgen:

Ein Angeklagter hat das Recht, dass der Mensch, der über ihn zu Gericht sitzt, sich der Sache unvoreingenommen und objektiv annimmt. Wegen der Unschuldsvermutung. Bis zur rechtskräftigen Verurteilung ist jeder Angeklagte zunächst einmal unschuldig. Was in der Wirklichkeit kompletter Blödsinn ist. Denn derjenige, der da über ihn zu Gericht sitzt, hat sich natürlich bereits mit der Akte befasst. Und sich ein Bild gemacht. Schließlich ist das auch nur ein Mensch – wenn auch in Robe. Wobei die Robe an den Denkprozessen des Trägers nichts ändert. Und es ist eine Tatsache, dass jeder Mensch Vorurteile pflegt. Im Alltag ist das nützlich und sichert unser Überleben. Es wäre schlichtweg nicht möglich, in jeder Lebenssituation unbefangen bei null zu starten und jede Entscheidung auf der Grundlage selbstgesammelter Daten erst nach reiflicher Überlegung zu treffen. Und so trifft unser Mensch in Robe seine Entscheidung auf der Grundlage fremdgesammelter Daten in Gestalt polizeilicher Ermittlungsergebnisse. Und bildet sich seine erste Meinung. Zu diesem Zeitpunkt hat er den Angeklagten noch nicht gesehen, hat keine Ahnung, was für eine Person das ist, wie die spricht, wie die aussieht. Aber er hat ein Bild. Welches selbstverständlich auf dieser Grundlage nicht der Wirklichkeit entsprechen kann; das grenzte an ein Wunder. Also ist die Vorstellung des Richters vom Angeklagten eine falsche. Die es in der Hauptverhandlung zu korrigieren gilt. So weit, so gut. Nun hat unser Richter aber nicht nur eine Vorstellung von der Person des Angeklagten, sondern auch von dessen vermeintlich begangener Tat. Und genau um diese Vorstellung von der Tat geht es. Die darf der Richter nicht haben. Jedenfalls nicht in der Form, dass er von vornherein davon ausgeht, der Angeklagte habe die ihm vorgeworfene Tat begangen. Dann wäre er voreingenommen – im Juristensprech: befangen. Wenn Sie so darüber nachdenken … kann es dann den unbefangenen Richter geben? Nach dem Studium der Akten und dem Entschluss, die Verhandlung zu eröffnen? Da verlangt die Justiz viel von ihren Richtern, aber sie verlangt es. Und so darf der Richter zumindest nicht zu erkennen geben, dass er befangen ist. Wofür zum Beispiel ein Hinweis wäre, dass schon beim Betreten des Verhandlungssaals von der Richterbank ein aufmunterndes »Nun gestehen Sie mal – besser wird’s hier nicht« durch den Raum schallt. Der solchermaßen forsch formulierende Richter kann gleich als Nächstes eine Sitzungspause einlegen, in der der Verteidiger einen Ablehnungsantrag formuliert. Sodann muss sich ein anderer Richter mit der Sache befassen und anhand der im Antrag mitgeteilten Fakten darüber entscheiden, ob der Richter nun tatsächlich befangen war und wegen Befangenheit abgelehnt werden kann oder nicht. Lautet die Entscheidung, der Richter war befangen – was angesichts der obigen Ausführungen erstaunlich selten festgestellt wird –, fängt das Verfahren unter dem Vorsitz eines anderen, zunächst mal als unbefangen geltenden Richter von vorne an.

Und um eben solche Ablehnungsanträge geht es an diesem ersten Verhandlungstag in Saal A101. Wobei ich mich frage, wie der Senat es hinbekommen hat, schon vor Eröffnung der Hauptverhandlung zu erkennen zu geben, dass es an der unabdingbaren Voraussetzung der Unbefangenheit mangelt? Die Aufklärung dieser Frage lässt auf sich warten; die einzige Information, die ich bekomme, ist die Mitteilung des Vorsitzenden, das Gesuch von Frau Zschäpe sei eingegangen und heute zur Kenntnis genommen worden. Woraufhin die Verteidiger der Frau Zschäpe nachfragen, ob denn nun die Fortsetzung der Verhandlung geplant sei und wie der Senat mit dem Gesuch umzugehen gedenke. Der Vorsitzende teilt mit, man gedenke zu verhandeln. Die Verteidigung teilt mit, man gedenke dies mit der Mandantin zu besprechen; man bitte um eine kurze Unterbrechung.

Murren unter den Kollegen der Nebenklage. Einige empören sich auch halblaut in den Saal hinein mit Äußerungen wie: »Was soll denn das?« oder »Lächerlich«. Nur bitte nicht so laut, dass der Vorsitzende es hören und den Zwischenrufer zur Ordnung rufen kann. Ich frage mich, was in diesem Zusammenhang als so unverständlich und empörend empfunden wird. Und erfahre umgehend Aufklärung durch zwei weitere Kollegen der Nebenklagevertretung, die sich mehr als halblaut entrüsten, dass solche Leute keine Verteidigung verdienten und kein Verteidiger, der was auf sich halte, so etwas verteidigen sollte. Ich gucke, wer diese sowohl im Lichte der Unschuldsvermutung als auch eines tief empfundenen Hanges zur Rechtsstaatlichkeit – nun, nennen wir es »originelle« – Haltung vertritt. Und bin zunächst von meinen trüben Gedanken über Rechtsstaatlichkeit schlagartig abgelenkt, denn dort sitzen mitten zwischen den Nebenklagevertretern zwei weitere Exemplare Waldorf und Statler, und ich sinniere über meinen Eindruck, dass die Natur nur über eine begrenzte Anzahl an Gussformen verfügt und sich sodann mit minimalen Abweichungen behilft. Und dann sinniere ich über die Vorfälle in Indien, wo es kurz zuvor zu einer äußerst üblen Massenvergewaltigung gekommen war. Dort hatte sodann tatsächlich die örtliche Rechtsanwaltskammer dazu aufgerufen, die Angeklagten nicht zu verteidigen. Ich hatte mich zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit lautstark darüber ausgelassen, was die Kollegen in Indien für ein Berufsverständnis haben. Welche Schande das für den Berufsstand sei. Nun ja, Indien. Die haben eben reichlich aufzuholen. Nicht nur im Umgang mit Frauen, sondern auch im Umgang mit jenen, die Ersteres nicht begriffen haben. Und zack, hast du nicht gesehen, sitze ich inmitten von indischem Gedankengut in München. Sitzungssaal A101. Ohne Fenster. Damit muss ich erst einmal klarkommen.

In dieser Situation rettet mich der Senat, denn es kommt zur Verlesung des Befangenheitsantrags, und das Zuhören lenkt mich von meinen düsteren Überlegungen ab. Aha, es geht um die Zugangskontrollen für Verteidiger und Nebenklägervertreter, die die Verteidigung Zschäpe auch ziemlich daneben findet. Hatte mich auch darüber geärgert. Bevor wir den Sitzungssaal betreten dürfen, müssen wir uns nebst Taschen und Arbeitsmaterial durchsuchen lassen – uns wird also unterstellt, wir seien als »Sicherheitsrisiko« einzustufen. Und die gefühlt dreißig Polizeibeamten im Saal sind bis an die Zähne bewaffnet. Diese Ungleichbehandlung – nicht in der Bewaffnung, sondern in der Einschätzung des Risikofaktors Mensch – findet ihren Grund in der Argumentation, dass Anwälte erpressbar seien. Und somit ungewollt zum Sicherheitsrisiko werden könnten. Polizisten aber nicht? Wen würde sich wohl jemand als Zielperson aussuchen, der den Plan hätte, überhaupt jemanden zu einem Attentat in Saal A101 erpressen zu wollen? Den Anwalt, der ganz toll mit seinem Schreibgerät umgehen kann, oder den schwer bewaffneten und im Umgang mit der Waffe trainierten Polizeibeamten? Und soweit ich informiert bin, waren Kollegen der getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter Mitglieder des Ku-Klux-Klans. Dergleichen Engagement von Anwaltskollegen wäre mir neu. Und warum die Vertreter der Bundesanwaltschaft über jeden Zweifel erhaben sein sollen, ist mir auch ein Rätsel. Wahrscheinlich müssen sie sich verpflichten, keine Familie zu haben. Und keine Haustiere. Und jederzeit bereit sein, kaltlächelnd selbst denjenigen abzuknallen, mit dessen Ermordung gedroht wird. So wie Keyser Söze5. Bundesanwälte halt. Unerpressbar. Egal, um was es geht.

Aus Sicht der Kollegen von der Verteidigung Zschäpe sind die Kontrollen jedenfalls eine Missachtung ihrer Person. Und somit auch eine Missachtung der Rechte der Angeklagten. Und überhaupt sind Spannungen und Animositäten immer ein Grund, an der Unparteilichkeit des Richters zu zweifeln. Da ist was dran.

In der Pause treffe ich beim Rauchen im Anwaltszimmer zufällig auf die Kollegen der Verteidigung Zschäpe. Und frage ganz vorsichtig, ob ich bleiben darf oder vielleicht ob der Bemerkungen aus den Reihen der Nebenklagevertreter in Sippenhaft genommen werde. Die Kollegen offenbaren ein weitaus tieferes Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und heißen mich herzlich willkommen. Ich erinnere mich an ein Interview von Anja Sturm, in dem sie darauf hinwies, dass Verteidiger immer nur den Menschen verteidigen – nicht die Tat. Offensichtlich ist diese Unterscheidung zu feinsinnig für einige Kollegen aus der Nebenklage. Wobei diese Kollegen überhaupt nicht begreifen, wie wichtig für einen funktionierenden Rechtsstaat gerade die Verteidigung derer ist, die uns nicht sympathisch sind. Mit denen man gerne »kurzen Prozess« machen würde. Wobei im Fall von Frau Zschäpe ein Teil dieses Prozesses ja bereits in der Öffentlichkeit stattgefunden hat. Da steht Beate Zschäpe bereits als die »Mörderbraut« fest. Und vermeintliche Fachleute urteilen, die Verteidigung dieser Frau sei ein »Himmelfahrtskommando«. Ist das so? Ist mir ein politischer Prozess in Erinnerung, der mit einem Freispruch endete? Muss ich länger drüber nachdenken; spontan fällt mir keiner ein. In meinen Augen sind die Kollegen jedenfalls um ihr Mandat nicht zu beneiden.

Als die Verhandlung fortgesetzt wird, äußert sich ein Vertreter der Bundesanwaltschaft zu dem Ablehnungsantrag und den beanstandeten Kontrollen. Und schon darf ich mich über den nächsten originellen Gedankengang freuen. Mit Erstaunen stelle ich fest, dass die Bundesanwaltschaft die Begriffe »allgemeine Gefährdungslage« und die »unterschiedlichen Aufgaben und Funktionen der Prozessbeteiligen« bemüht. Und aus diesen unterschiedlichen Aufgaben und Funktionen den kühnen Schluss zieht, die Durchsuchung nur der Anwälte sei aus Sicherheitsgründen in Ordnung. Ich habe naturgemäß des Öfteren über mein Berufsbild nachgedacht; dass bewaffnete Übergriffe dazugehören – ich frage mich, ob ich diese Tätigkeiten unter »Aufgabe« oder »Funktion« subsumieren soll –, ist mir neu. Eröffnet aber ungeahnte Möglichkeiten. Von denen ich umgehend Gebrauch machen würde, hätte ich denn zufälligerweise geeignetes Arbeitsgerät dabei.

Ein Kollege der Nebenklage bittet um das Wort, sprich, er drückt auf eine Taste des Mikrofons auf seinem Tisch. Ein Lämpchen leuchtet auf. Ich freue mich auf kollegiale Unterstützung, hatte ich doch im Vorfeld der Verhandlung auch einen Schriftsatz an das Gericht geschickt, dass ich die Sicherheitsanordnung zur Durchsuchung der Anwälte nicht nachvollziehen könne. Jetzt ist der Moment gekommen, wo wir trotz der unterschiedlichen prozessualen Rollen als Anwälte zusammenhalten. Egal ob wir hier verteidigen oder Nebenkläger vertreten. In erster Linie sind wir Rechtsanwälte. Denke ich. Währenddessen ääähht der Kollege in das Mikrofon, dass »unzutreffende Rechtsansichten nicht die Befangenheit des Richters besorgen lassen«. Was will er uns denn damit sagen? Dass der Vorsitzende zwar das Gesetz nicht kennt, aber dennoch nicht befangen ist? Musste das jetzt sein? Um die Antwort vorwegzunehmen – es musste sein. Es war die Gelegenheit, das eigene Gesicht auf der Großbildleinwand zu präsentieren.

EXKURS DIE GROSSBILDLEINWAND

Für diejenigen, die noch kein Foto vom Schwurgerichtssaal A101 im Strafjustizzentrum München gesehen haben: Der Saal ist ein wenig wie ein Amphitheater aufgebaut. Vorne sitzt der Senat – quasi dort, wo üblicherweise die Bühne wäre –, im Rang sitzen links die Verteidiger und rechts die Bundesanwaltschaft (da es keine Fenster gibt, durch die die Angeklagten flüchten könnten, sitzt die Bundesanwaltschaft natürlich in Türnähe, um sich gegebenenfalls Flüchtenden todesmutig in den Weg zu stellen) und im Parkett die Nebenklägervertreter. Naturgemäß kann man von den hinteren Rängen – wo ich sitze – den Zeugen während der Vernehmung nicht ins Gesicht sehen. Sie sitzen mit dem Rücken zu mir. Was ärgerlich ist. Eine Zeugenaussage kann man nur würdigen, wenn Worte und Mimik im Zusammenspiel wirken. Setzt voraus, dass man beides wahrnehmen kann. Daher ist der Saal mit Kameras ausgestattet und hat rechts und links an den Wänden von allen Seiten einsehbare Leinwände, auf die die Zeugen während ihrer Aussage übertragen werden. Dachte ich. Doch weit gefehlt. Das würde die Zeugen einschüchtern. Und könne ihnen daher nicht zugemutet werden. So die diesbezüglichen Überlegungen des Senats. Die Leinwände dienen einzig dem Zweck, die einzelnen Anwälte der Nebenkläger überlebensgroß abzubilden, wenn ihnen das Wort erteilt wird und sie bei der Zeugenbefragung an der Reihe sind. Wie sinnentleert ist das denn? Dachte ich. Denn so wichtig es für den Vernehmenden ist, die Mimik des Vernommenen beobachten zu können, so unwichtig ist es für den Befragten, das Gesicht des Fragenden zu sehen. Und ob es für den Befragten nun wirklich ein Vorteil ist – und der Wahrheitsfindung dient –, wenn der Fragende wie der Orwellsche6 Big